Bianca Exklusiv Band 385

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VERTRAUE NUR AUF DEIN HERZ! von JESSICA BIRD

Zum ersten Mal in seinem Leben ist Sean O‘Banyon ratlos: Kann es sein, dass Lizzie nicht weiß, dass sie einen der reichsten Männer der Stadt küsst? Will sie wirklich ihn und nicht sein Geld? Seans Herz ahnt, dass ihre Gefühle echt sind – aber sein Verstand kann das nicht glauben …

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  • Erscheinungstag 01.03.2025
  • Bandnummer 385
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531122
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jessica Bird

1. KAPITEL

„Glaub mir! Er kommt heute Abend.“

Der junge Investmentbanker sah seinen Freund fassungslos an. „O’Banyon? Bist du verrückt? Er steckt mitten in den Condi-Foods-Verhandlungen.“

„Ich habe mit seiner Assistentin gesprochen.“ Freddie Wilcox rückte seine Hermès-Krawatte zurecht. „Es steht in seinem Terminkalender.“

„Der schläft offenbar nie.“

„Götter brauchen so etwas nicht, Andrew.“

„Also gut – und wo ist er?“

Sie standen strategisch günstig in einer Ecke des Saals im Waldorf Astoria und ließen den Blick über die Menge gleiten, immer auf der Suche nach dem Mann, den sie The Idol nannten.

Sean O’Banyon war der Boss ihres Bosses. Mit gerade einmal sechsunddreißig Jahren war er einer der Topleute der Wall Street. Er leitete bei Sterling Rochester die Abteilung, die für Fusionen und Firmenaufkäufe zuständig war. Er konnte innerhalb kürzester Zeit Milliarden lockermachen, wenn er wollte – oder einen Mega-Deal platzen lassen, wenn die Zahlen ihm nicht gefielen. Seit er an der Wall Street war, hatte er einen perfekten Deal nach dem anderen durchgezogen. Niemand war so erfolgreich wie er; niemand hatte dieses Gespür für ein gutes Geschäft.

Oder seinen Ruf, hartgesottene Banker zum Frühstück zu verspeisen.

Damit hatte er sich nicht nur Freunde gemacht.

Einerseits war er ein Gott, aber andererseits war er auch den traditionellen Investmentbankern ein Dorn im Auge. O’Banyon stammte nicht aus dem noblen Greenwich, sondern aus Süd-Boston. Er fuhr keinen Mercedes, sondern einen Maserati. Und es war ihm einerlei, was für Vorfahren jemand hatte und ob sich der Familienstammbaum auf die ersten Einwanderer der Mayflower zurückführen ließ oder auf sonst irgendwelche europäischen Wurzeln. Er hatte ein Stipendium der renommierten Universität von Harvard bekommen, anschließend bei der J.P. Morgan-Bank gearbeitet und sich dann ein Studium an der Harvard Business School mit Beratertätigkeit im Investmentbereich finanziert.

Nein, die konservativen Kreise der Stadt mochten ihn nicht – zumindest so lange nicht, bis sie seine Hilfe brauchten, um Kapital für Expansionen aufzutreiben. Abgesehen von den verschiedenen Fonds der Bank, auf die O’Banyon Zugriff hatte, pflegte er Kontakte zu einflussreichen Investoren wie dem großen Nick Farrell oder dem jetzigen Gouverneur von Massachusetts, Jack Walker.

O’Banyon war, was alle anderen gern gewesen wären: ein Rebell mit Mut und Macht. The Idol.

„Oh Gott – da ist er.“

Andrew fuhr herum.

Sean O’Banyon betrat den Saal, als gehöre er ihm. Und nicht nur der Saal, sondern das ganze Hotel. Nein, ganz New York City. Er trug einen eleganten Nadelstreifenanzug mit einer leuchtend roten Krawatte dazu – und immer ein zynisches, angedeutetes Lächeln.

„Die Gucci-Klamotten müssen ihn ein Vermögen gekostet haben.“

„Im vergangenen Jahr hat er eine Viertelmillion Dollar für eine Uhr hingelegt.“

„Es war eine halbe Million. Ich habe im Katalog von Tourneau nachgesehen.“

O’Banyon hatte schwarzes Haar und ein markant geschnittenes Gesicht. Die breiten Schultern, die sich unter der Jacke abzeichneten, waren eindeutig nicht auf Schulterpolster zurückzuführen. Es hieß, dass er regelmäßig am Triathlon teilnahm.

Als die Menschen ihn bemerkten, bildete sich sofort ein Kreis um ihn. Jeder wollte ihm die Hand schütteln oder die Schulter klopfen.

Aber er ging einfach weiter.

„Er kommt in unsere Richtung!“, zischte Andrew.

„Sitzt meine Krawatte richtig?“

„Ja. Und meine?“

„Auch okay.“

„Ich glaube, ich halte das nicht aus …“

Lizzie Bond starrte auf das Krankenbett. Sie dachte an den Mann, der die letzten sechs Tage darin verbracht hatte. Die Geräte, an die man ihn angeschlossen hatte, waren verschwunden.

Eddie O’Banyon war vor zweiundvierzig Minuten gestorben. Im Alter von vierundsechzig Jahren. Allein.

Ihr Blick fiel auf das Fenster, das einen Blick auf den Charles River gewährte. Als Krankenschwester war sie den Geruch des Krankenhauses gewohnt und die Atmosphäre, die von Patient zu Patient zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankte. In dieses Zimmer war sie nicht als Krankenschwester gekommen, sondern aus Freundschaft, daher betrachtete sie es mit anderen Augen als sonst.

Bemerkte bewusst, wie leer und still es war.

Ihr Blick wanderte zurück zum Bett. Sie hasste es, dass Mr. O’Banyon in seiner letzten Stunde allein gewesen war. Sie hatte an seiner Seite sein wollen, hatte es ihm sogar versprochen. Aber als der letzte Infarkt kam, war sie gerade in der Klinik in Roxbury am anderen Ende der Stadt. Sie hatte sich nicht mehr von ihm verabschieden können.

„Lizzie?“

Sie fuhr herum. „Hi, Teresa.“

„Hier sind die Sachen, die er bei der Aufnahme bei sich hatte.“

„Danke.“ Lizzie nahm die persönlichen Dinge ihres Freundes mit einem traurigen Lächeln entgegen. Der Plastikbeutel war durchsichtig, sodass sie den karierten Pyjama und den abgetragenen Morgenmantel erkannte, in dem Mr. O’Banyon am vergangenen Sonntag aufgenommen worden war.

Was für eine schreckliche Nacht war das gewesen, der Anfang seines Endes. Er hatte sie gegen Mitternacht gerufen, weil er Schmerzen in der Brust hatte. Sie war rasch die Treppe hinauf in seine Wohnung geeilt. Er war seit zwei Jahren ihr Vermieter, aber er war auch ein Freund geworden, und sie kümmerte sich gern um ihn. Letztlich hatte sie sich über seinen Protest hinweggesetzt und den Krankenwagen gerufen. Sie war mit ihm ins Krankenhaus gefahren, obwohl er darauf bestand, er brauche keine Hilfe.

Das sah ihm ähnlich. Immer aufbrausend, immer ein Einzelgänger. Aber er hatte Lizzie gebraucht, sie sah es an der Angst, die sich in seinen Augen zeigte. Er hatte ihre Hand umklammert, bis ihre Finger ganz taub waren. Fast war es so, als spüre er, dass es eine Fahrt ohne Wiederkehr war.

„Ich weiß, du hast ihn einliefern lassen“, sagte Teresa. „Hat er Verwandte?“

„Einen Sohn. Aber er wollte nicht, dass ich ihn anrufe. Ich sollte es erst tun, falls etwas passiert.“ Und dieser Fall war wohl nun eingetreten.

„Setzt du dich mit ihm in Verbindung? Jemand muss sich um die Beerdigung kümmern …“

„Ich rufe ihn an.“

Bedrückt öffnete Lizzie den Plastiksack und durchsuchte ihn, bis sie eine Brieftasche fand. Sie hatte das unangenehme Gefühl, in die Privatsphäre des alten Mannes einzudringen, als sie sie öffnete.

Das Blatt Papier, das sie schließlich herausnahm, war vierfach gefaltet und sah aus, als stecke es schon seit Jahren darin. Es standen nur ein Name und eine Telefonnummer darauf, mit einer 212 als Vorwahl. Wahrscheinlich lebte sein Sohn in Manhattan.

Lizzie setzte sich auf das Bett und zog ihr Handy aus der Tasche. Aber sie konnte die Nummer nicht gleich wählen. Zuerst einmal musste sie sich wieder in den Griff bekommen.

Während der vergangenen zwei Jahre war Mr. O’Banyon so etwas wie ein Vater für sie geworden. Anfangs war er brummig und unnahbar gewesen, aber je älter und schwächer er wurde, desto stärker wurde ihre Beziehung zueinander. Allmählich hatte sie immer mehr Aufgaben für ihn erledigt – hatte für ihn eingekauft, aufgeräumt und dafür gesorgt, dass er alle Termine bei den Ärzten einhielt.

Sie übernahm die Verantwortung gern für ihn, da es sonst niemanden gab, um den sie sich hätte kümmern müssen – sie liebte ihre Mutter, aber diese lebte nicht in Boston und war zu exzentrisch, als dass Lizzie wirklich eine Beziehung zu ihr gehabt hätte.

Im Geiste sah sie Mr. O’Banyon vor sich, wie er in seinem Sessel vor dem Fernseher saß mit dem Kreuzworträtsel auf der Lehne und der Lesebrille auf der Nase. Er war so traurig und einsam gewesen – nicht, dass er es je gesagt hätte. Es war nur …. Lizzie war selbst ein bisschen traurig und einsam, und sie erkannte die Zeichen in seinem Blick, so wie sie sie in ihrem eigenen Spiegelbild sah.

Und nun war er nicht mehr da.

Sie starrte auf das Stück Papier, das sie aus der Brieftasche genommen hatte. Sein Sohn hieß offenbar Sean. Sie begann seine Nummer zu wählen, brach dann aber ab. Bevor sie mit ihm sprechen konnte, brauchte sie unbedingt frische Luft.

Sean O’Banyon lächelte Marshall Williamson III. im eleganten Saal des Waldorf Astoria an. Er musste daran denken, wie der Mann versucht hatte, ihn vom Congress Club ausschließen zu lassen. Es hatte nicht funktioniert, aber der gute alte Williamson hatte sein Bestes gegeben.

„Sie sind der Beste“, sagte Williamson gerade. „Mit Ihnen kann niemand mithalten. Sie sind der Mann, den ich bei dieser Fusion dabeihaben will.“

Sean lächelte weiter. Den Schmeicheleien nach zu urteilen erinnerte auch Williamson sich daran, wie er gegen ihn gearbeitet hatte.

„Danke, Marshall. Rufen Sie meine Assistentin an. Sie wird Ihnen einen Termin geben.“

„Ich danke Ihnen, Sean. Nach allem, was Sie für Trolly Construction getan haben …“

„Rufen Sie meine Assistentin an.“ Sean ertrug die unaufrichtigen Schmeicheleien nicht länger. „Ich brauche jetzt einen Drink. Wir sehen uns dann in der kommenden Woche.“

Er wandte sich ab. Es war ihm eine Genugtuung, Männer, die ihn geschnitten hatten, jetzt um seine Aufmerksamkeit buhlen zu sehen. Das machte einiges wieder wett. An der Wall Street herrschte nur eine goldene Regel: King war, wer das Geld hatte oder wusste, wo er es bekommen konnte. Und Sean wusste es, auch wenn er keinen noblen Stammbaum vorzuweisen hatte.

Während er zur Bar ging, ließ er seinen Blick durch den Saal schweifen. Er machte sich keine Illusionen – keiner dieser Gäste war sein Freund. Sie mochten Verbündete sein oder Feinde – manchmal auch beides zugleich. Oder es waren Bekannte, die sich mit ihm fotografieren lassen wollten. Oder Frauen, mit denen er schon einmal im Bett gewesen war.

Aber es war niemand hier, der ihm irgendwie nahegestanden hätte. Und das war ihm recht so.

„Hallo, Sean.“

Er sah auf. Aha, eine der Damen, die bereit war, für ihre Ziele über Leichen zu gehen. „Hallo, Candace.“

Die Blondine setzte auf die Wirkung ihrer Schmolllippen und der großen Augen – nicht zu vergessen der unnatürlich vollen Brüste. Das schwarze Kleid war so tief ausgeschnitten, dass man fast ihren Nabel sehen konnte. Alles an ihr schien käuflich – und so war es wohl auch. Sie wäre mit jedem Mann zum Traualtar gegangen – den richtigen Verlobungsring und eine großzügige Brautgabe vorausgesetzt.

Ihre Stimme klang ein wenig atemlos – wahrscheinlich wegen all des Silikons vor ihren Lungen. „Ich habe gehört, du warst am vergangenen Wochenende in den Hamptons. Du hast gar nicht angerufen.“

„Ich hatte zu tun, sorry.“

Sie schmiegte sich an ihn. „Du musst mich unbedingt anrufen, wenn du in der Gegend bist. Überhaupt solltest du dich viel häufiger bei mir melden.“

Er löste sich von ihr. „Ich habe dir schon einmal gesagt, ich bin nicht dein Typ.“

„Das finde ich nicht.“

„Hast du denn gar nichts über mich gehört?“

„Natürlich habe ich das. Du stehst doch ständig im Wall Street Journal.“

„Das ist die berufliche Seite. Lass dir sagen, wie ich privat bin.“ Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich kaufe einer Frau grundsätzlich keinen Schmuck. Oder Autos. Oder Flugtickets. Oder Kleider. Und die Rechnungen im Restaurant werden immer geteilt – bis hin zum Trinkgeld.“

Sie wich zurück, als habe er ihr einen Schlag versetzt.

Er grinste. „Ich sehe, du verstehst mich. Glaub mir, du wirst mit jedem anderen Mann glücklicher.“

Sean musste ein Lachen unterdrücken, als er sich abwandte und zur Bar ging. Der Witz war: Er hatte es nicht nur gesagt, um sie loszuwerden. Es war tatsächlich seine Devise, dass bei einem Restaurantbesuch jeder für sich zahlen sollte. Er hatte nichts zu verschenken.

Kaum hatte er vor Jahren sein erstes großes Geld verdient, hatten sich die Frauen auf ihn gestürzt – und natürlich hatte er sich prompt die Finger verbrannt. Eine Woche nach dem ersten Coup hatte er eine Blondine kennengelernt. Sie verkörperte alles, was er sich jemals erträumt hatte. Der lebende Beweis dafür, dass er es geschafft hatte. Sie war elegant und kultiviert, eine Antiquitätenhändlerin mit Stil. Mit ihr an seinem Arm war er sich unbesiegbar vorgekommen.

Er hatte sein Bestes getan, um ihr zu kaufen, was auch immer sie haben wollte – und sie war nur zu gern bereit gewesen, ihm im Gegenzug für seine Geschenke ihre Dankbarkeit zu beweisen. Zumindest so lange, bis sie jemanden fand, der noch großzügiger war als er. Beim Abschied hatte sie ihn wissen lassen, dass er zwar nur ein Nobody sei, aber es sicher noch weit bringen werde. Sollte er sich jemals für den Kauf von Ölgemälden interessieren, dürfe er sie gern anrufen.

Sean hatte seine Lektion gelernt.

Es fiel ihm jetzt leicht, die Frauen zu durchschauen – nicht, weil er die Kunst des Gedankenlesens beherrscht hätte, sondern weil so gut wie jede Frau es nur auf sein Geld abgesehen hatte.

So wie eigentlich auch jeder Mann, wenn er es recht bedachte.

Nachdem er sich einen Gin Tonic bestellt hatte, bemerkte er zwei junge Männer, die sich den Weg zu ihm bahnten. Sie waren erkennbar aus gutem Hause. Ihre konzentrierten Mienen verrieten, dass sie cool wirken wollten.

Dagegen sprach nur, dass sie beide verstohlen die Hände an den Hosen rieben, so als fürchteten sie, ihm einen feuchten Händedruck zu bieten.

„’N Abend, Mr. O’Banyon“, sagte der Größere der beiden.

Sean nahm seinen Gin Tonic in Empfang. „Fred Wilcox“, sagte er. „Und … Andrew Frick, richtig?“

Die beiden nickten, sichtlich verblüfft darüber, dass er ihre Namen kannte. Aber er hielt sich immer über die jungen Investmentbanker auf dem Laufenden. Einige von ihnen würden es schaffen und damit nützlich werden. Diese beiden gefielen ihm. Ein wacher Blick, aber frei von der Arroganz, die einige andere Männer ihres Alters zeigten. Außerdem: Wenn er sich recht erinnerte, kamen sie wie er von der Harvard Business School.

„Wie gefällt es Ihnen denn hier?“, fragte er die beiden.

Sie stammelten irgendetwas Nichtssagendes und verstummten, als sich eine Wolke teuren Parfums näherte. Sean warf einen Blick über seine Schulter, und zum ersten Mal an diesem Abend glitt ein aufrichtiges Lächeln über seine Züge.

„Elena!“ Er hauchte der atemberaubenden Brünetten einen Kuss auf die Wange. Sie begrüßte ihn auf Italienisch, und er antwortete in ihrer Sprache. Dabei spürte er förmlich die Heldenverehrung der beiden jungen Männer. Er sah zu ihnen hinüber. „Entschuldigen Sie uns?“

„Natürlich, Mr. O’Banyon.“

„Selbstverständlich, Mr. O’Banyon.“

„Einen Moment“, sagte er spontan, als sie sich abwandten. „Hätten Sie beide Lust, bei Condi-Foods mitzumachen?“

Frick nickte verblüfft. „Äh … ja, natürlich, Sir.“

„Rufen Sie morgen früh meine Assistentin an. Sie wird Sie mit den Analysten in Verbindung bringen. Sie werden Ihnen einen kleinen Part des Deals überlassen, mit dem Sie sich beschäftigen können. Ich werde Ihren Boss anrufen und ihm sagen, dass Sie für eine Weile bei mir mitspielen.“

Die beiden vergaßen für einen Moment, vor Staunen den Mund zu schließen. Sean unterdrückte ein Lächeln. Er erinnerte sich noch zu gut an dieses Gefühl: jung zu sein, noch grün hinter den Ohren, und verzweifelt auf eine Chance hoffen, sich beweisen zu können – und dann eine Tür aufgehen zu sehen.

Ihr Dank klackerte so schnell wie Murmeln auf einem Steinfußboden.

„Keine Ursache.“ Sean musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Setzen Sie einfach Ihren Verstand ein, und alles wird gut werden.“

Er wandte sich Elena zu. Sie sah atemberaubend aus in dem eng anliegenden roten Kleid und der Hochfrisur. Am Hals und an den Ohrläppchen blitzten Rubine.

„Sean“, sagte sie mit ihrem hinreißenden Akzent, „ich muss dich um einen Gefallen bitten.“

„Was kann ich tun, Baby?“ Als sie lächelte, dachte er, dass wahrscheinlich niemand sonst sie Baby nannte. Sie stammte aus der Familie der Medici und war ebenso reich wie ihre Vorfahren aus dem Mittelalter. Doch trotz ihrer Abstammung und ihres Geldes war sie eine ausgesprochen nette Frau. Sie hatten sich vor Jahren kennengelernt und gleich Sympathie und Achtung füreinander empfunden.

„Entschuldigen Sie“, sagte einer der Fotografen. „Darf ich ein Foto von Ihnen machen?“

Sean setzte sein öffentliches Lächeln auf und zog Elena an sich.

„Was kann ich denn für dich tun?“, fragte Sean, als der Mann wieder verschwunden war.

„Ich brauche einen Begleiter für die Gala der Hall Foundation.“

Sean wusste, worum es ging. Elena hatte eine schmutzige Scheidung hinter sich, die von der Presse hingebungsvoll ausgeschlachtet worden war. Die Gerüchteküche brummte. Falls Elena zu dieser Gala nicht erschien, gab sie sich eine Blöße und heizte die Gerüchte damit nur noch weiter an. Erschien sie aber an seiner Seite, war sie stark und begehrenswert.

Er nahm ihre Hand. „Ich stehe hinter dir. Zu hundert Prozent.“

Sie atmete erleichtert auf. „Danke. Das ist im Moment wirklich eine schwierige Zeit für mich.“

Sean zog sie tröstend an sich, wie es ein Freund oder Bruder getan hätte. „Mach dir keine Sorgen, das geht vorbei.“

Sein Smartphone machte sich bemerkbar. Er zog es aus der Hemdtasche. Stirnrunzelnd betrachtete er die Vorwahl 617. Den Rest der Nummer kannte er nicht.

„Nimm das Gespräch an.“ Elena hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Geh nicht weg. Es dauert nur eine Sekunde.“ Er meldete sich. „Ja?“

Im Hintergrund war das Geheul der Sirene eines Krankenwagens zu hören. Dann sagte eine weibliche Stimme: „Sean O’Banyon?“

„Wer sind Sie, und woher haben Sie diese Nummer?“

„Mein Name ist Elizabeth Bond. Die Nummer habe ich von Ihrer Voice-Mail. Ich … es tut mir leid … aber Ihr Vater ist gestorben.“

Plötzlich traten alle Geräusche der Party in den Hintergrund. Es war, als hätte jemand eine dicke Decke über die Musik, die Stimmen und das Gelächter gelegt. Sean hatte plötzlich das Gefühl, ganz allein zu sein in dem Saal. Es war irgendwie unwirklich. „Wann?“, fragte er tonlos.

„Vor einer knappen Stunde. Es war sein zweiter Herzinfarkt.“

„Und wann war der erste?“

„Vor sechs Tagen.“

„Vor sechs Tagen?“

Die Frau räusperte sich. „Gleich nach dem Infarkt hat man ihn hierher ins Mass General gebracht. Wir konnten ihn wiederbeleben, aber die Schädigung seines Herzens war sehr groß. Man hätte mehrere Stents setzen müssen. Er war nicht stabil genug für eine solche Operation.“

Vage nahm Sean das Klirren in seinem Glas wahr. Er bemerkte, dass seine Hand zitterte. Hastig stellte er das Glas ab. „Was passiert jetzt?“ Er schob die Hand in die Hosentasche.

„Er bleibt hier im Mass General, bis die Familie die Beerdigung arrangiert.“ Als er nichts sagte, hakte sie nach: „Mr. O’Banyon? Kümmern Sie sich darum? Äh … hallo?“

„Ja, ja. Ich komme heute Abend nach Boston. Was muss ich machen, wenn ich im Krankenhaus bin?“

Sie erklärte ihm, an wen er sich wo im MGH wenden sollte.

„Es tut mir sehr leid.“ Der Ton der Frau verriet, dass es ihr ernst war. „Ich …“

„Sind Sie eine Krankenschwester?“

„Ja, aber Ihr Vater war nicht mein Patient. Er war …“

„Danke, dass Sie mich angerufen haben. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden – ich muss ein paar Anrufe erledigen. Auf Wiedersehen.“

Er beendete das Gespräch. Offenbar hatte sein Vater ihn als nächsten Angehörigen angegeben.

„Sean? Ist alles in Ordnung?“

Es dauerte eine Weile, bis er die Frau an seiner Seite wieder bewusst wahrnahm. „Mein Vater ist gestorben.“

Elena stieß einen leisen Schrei aus und legte eine Hand auf seinen Arm. „Geh“, sagte sie leise. „Ich entschuldige dich, falls nötig.“

Sean nickte stumm und eilte zum Ausgang. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ein merkwürdiges Gefühl der Panik befiel ihn.

Draußen musste er sich zuerst einmal an die Mauer lehnen und tief durchatmen. Er zerrte an seiner Krawatte.

Tot. Sein Vater war tot.

Er und seine Brüder waren frei.

Endlich frei!

Sean richtete sich auf und fuhr sich durch das Haar. Ja, der Anruf hatte ihm die Freiheit gebracht.

Oder?

Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den dunklen Nachthimmel. Dabei hörte er im Geiste wieder das Bedauern und die Trauer in der Stimme der Frau, die ihn angerufen hatte.

Wie bezeichnend, dass nur eine Fremde um seinen Vater trauerte.

Seine Söhne würden dieses Gefühl mit Sicherheit nicht aufbringen können.

2. KAPITEL

Lizzie legte das Handy beiseite. Der Sohn von Mr. O’Banyon hatte irgendwie merkwürdig reagiert. Vollkommen unbeteiligt. Aber sie war eine Fremde für ihn, und die Nachricht war unerwartet gekommen. Zweifellos stand er unter Schock.

Sie hätte gern auf ihn gewartet, aber es würde Stunden dauern, bis er eintraf. Außerdem wurde es Zeit für ihren Zweitjob. Die Fahrt vom Mass General in Beacon Hill zum Boston Medical Center in Chinatown war nicht lang, führte aber mitten durch die belebte Innenstadt. Das BMC gehörte zur Universität von Boston. In der Notaufnahme war immer viel los, besonders häufig waren Schuss- und Stichwunden.

Im vergangenen Jahr hatte Lizzie hier dreimal pro Woche Nachtdienst gemacht. Sie hatte einen Vollzeitjob an einer kleinen Klinik im Stadtteil Roxbury, brauchte aber das zusätzliche Geld. Ihre Mutter lebte als Künstlerin weitgehend losgelöst von der Realität, deswegen half Lizzie ihr oft aus, indem sie ihre Rechnungen zahlte und dafür sorgte, dass sie genügend Geld zum Leben hatte. Für Alma Bond war die Welt ein Ort der Schönheit und der Magie. Praktische Dinge drangen selten durch den Nebel ihrer Verzückung.

Ein Teil des zusätzlichen Einkommens war auch für Lizzie selbst. Sie hatte sich für einen Studienplatz im Masterprogramm für Öffentliche Gesundheit beworben und war angenommen worden. Wenn sie etwas ansparte, konnte sie das Studium zum Wintersemester aufnehmen.

Jetzt gab es allerdings ein neues Problem. Musste sie sich eine andere Wohnung suchen? Würde Mr. O’Banyons Sohn das Haus behalten? Falls er es verkaufte, würde der neue Besitzer dann die Miete erhöhen? Konnte sie etwas gleich Preiswertes finden?

Während sie auf den Fahrstuhl wartete, der sie in die Notaufnahme bringen sollte, gingen ihr wieder die emotionslosen Worte des Sohns von Mr. O’Banyon durch den Sinn. Vielleicht stand kein Schock dahinter, vielleicht war es einfach nur Gleichgültigkeit.

Himmel, was konnte dazu führen, dass Vater und Sohn sich so weit voneinander entfernten?

Es war kurz nach drei Uhr am Morgen, als Sean den Leihwagen vor dem Haus hielt, in dem er und seine Brüder aufgewachsen waren.

Das zweistöckige hellblaue Haus sah aus, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Die Veranda war so schmal, dass man sie eher als Eingangsstufe betrachten konnte. Oben war alles dunkel. Unten schien ein Licht im Wohnzimmer.

Wer mochte jetzt im Erdgeschoss wohnen? Sie hatten es immer vermietet, und dabei war es offensichtlich geblieben.

Sean stellte den Motor ab. Während des Flugs nach Boston hatte er zwei Telefonate erledigt. Beide waren in der Voice-Mail gelandet. Der erste Anruf galt seinem jüngeren Bruder Billy, der als Footballspieler mit dem Team der New England Patriots unterwegs war. Der zweite Anruf ging an eine internationale Servicenummer – die einzige Möglichkeit, seinen älteren Bruder Mac zu erreichen, der bei einer Sondereinheit der US-Army diente. Niemand konnte sagen, wo er sich gerade aufhielt.

Sean hatte beide Brüder gebeten, ihn zurückzurufen, sobald sie seine Nachricht hörten.

Er sah zum ersten Stock hinauf und spürte, wie seine innere Anspannung wuchs. Obwohl er inzwischen ein erwachsener Mann war, verspürte er wieder die Ängste, die er hier als Zehnjähriger durchlebt hatte. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Hinter den Schläfen pulsierte ein stechender Schmerz.

Wie es ihm doch widerstrebte, dieses Haus zu betreten! Es wäre besser gewesen, im Hotel Four Seasons abzusteigen. Aber aus irgendeinem Grund musste er das Haus noch einmal sehen, auch wenn er es hasste. Er musste hineingehen.

Mit einem leisen Fluch schnappte er sich seine Reisetasche und die zwei Tüten mit Lebensmitteln, die er auf dem Weg hierher in einem Laden erstanden hatte, der vierundzwanzig Stunden geöffnet war. Die Luft roch in Boston anders als in New York. So war es schon immer gewesen. Auch das erinnerte ihn an seine Kindheit.

Mit langen Schritten ging er den Weg hinauf zum Haus. Er hatte keinen Schlüssel, aber wie immer war einer hinter dem Briefkasten versteckt.

Die Tür quietschte immer noch genau wie damals in den Angeln. Ihm war, als griffe eine kalte Hand nach seinem Herzen. Dieses Geräusch war immer die Vorwarnung gewesen. Die unausgesprochene Aufforderung, auf das zu lauschen, was nun kommen mochte. Falls gleich darauf die Wohnungstür unten ging, atmeten er und seine Brüder auf, weil das bedeutete, dass nur der Mieter nach Hause gekommen war. Aber wenn Schritte auf der Treppe zu hören waren? Das bedeutete schiere Panik und die Suche nach einem Versteck.

Als Sean den Hausflur betrat, begann sein Puls zu rasen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass er jetzt ein sechsunddreißigjähriger Mann war. Sein Vater lebte nicht mehr. Niemand konnte ihm mehr wehtun. Niemand.

Nur bedauerlich, dass sein Körper das nicht wusste. Als er die Treppe hinaufging, waren seine Knie weich, und sein Magen schien mit Blei gefüllt. Das Knarren der Stufen unter seinen Schritten klang schrecklich in seinen Ohren. Es waren dieselben Geräusche wie damals, wenn sein Vater nach Hause gekommen war. Er erinnerte sich an die Angst, die er als Kind ausgestanden hatte, wenn die Schritte langsam näher kamen.

Vor der Wohnungstür hielt er für einen Moment inne, bevor er den Schlüssel im Schloss drehte. Er sagte sich, dass dies nichts weiter war als eine Tür, und dass sie zu öffnen nicht bedeutete, in die Vergangenheit zurückzukehren. Er befand sich in keiner Zeitmaschine, Gott sei Dank.

Aber ihm stand dennoch der kalte Schweiß auf der Stirn, als er eintrat.

Wie benommen schaltete er das Licht ein.

Alles war noch wie damals: der abgenutzte Sessel vor dem Fernseher. Die Couch mit dem verblichenen Blumenmuster. Die Lampen aus den Siebzigerjahren. Das Kruzifix an der Wand. Die vergilbten Gardinen.

Die Luft war stickig trotz der Klimaanlage. Sean öffnete ein Fenster. Sein Blick fiel auf das Kreuzworträtsel der Boston Globe, das neben dem Sessel auf dem Tisch lag. Das Datum war vom vergangenen Sonntag, dem letzten Tag, an dem sein Vater hier gesessen und die Kästchen ausgefüllt hatte. Den verwackelten Buchstaben nach zu urteilen, hatte seine Hand gezittert. Es fiel Sean schwer, sich den Mann anders als von brutaler Stärke vorzustellen.

Er zwang sich, durch alle Zimmer zu gehen. Erst als er seinen Rundgang halb beendet hatte, wurde ihm bewusst, dass etwas anders war: Alles war sauber. Die kleine Küche war aufgeräumt. Die Betten in dem Zimmer, das er mit Billy geteilt hatte, waren gemacht, der Teppich war gereinigt. Macs Zimmer sah ebenso aus. Auch das Zimmer ihres Vaters wirkte heruntergekommen, aber sauber.

Sean konnte nicht anders, er musste in alle Ecken und in die Schränke sehen. Er warf einen Blick unter jedes Bett und die Couch. Sah hinter den Fernseher und ging in die Küche, um den Kühlschrank von der Wand zu rücken. Keine einzige Flasche irgendwo. Es gab keinen Tropfen Alkohol im Haus.

Als er die Schulter gegen den Kühlschrank drückte, um ihn wieder an seinen Platz zu schieben, konnte er sein Erstaunen nicht leugnen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sein Vater von der Sucht loskommen würde.

Sean kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er wollte ein paar Stunden schlafen, bevor er sich am Morgen mit dem Krematorium in Verbindung setzte, das die Beisetzung arrangierte. Danach musste er die Wohnung räumen. Keine Frage, dass sie das Haus verkaufen würden.

Er sah sich um. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal hier gewesen war? Nach dem Eintritt ins College war er nicht mehr zurückgekehrt. Für Billy war es genauso gewesen, nachdem er sein Foolballstipendium erhalten hatte. Im selben Monat, als er zum College ging, trat Mac in die Army ein. Alle drei Brüder waren gegangen und nicht zurückgekommen.

Wenn das nicht für sich sprach!

Sean zog sich bis auf die Boxershorts aus und ging ins Bad. Auf dem Rückweg schnappte er sich ein Kissen von seinem Bett und ging zur Couch. Unter gar keinen Umständen wollte er wieder in seinem alten Zimmer schlafen.

Als er in die Dunkelheit starrte, musste er an sein Penthouse in Manhattan denken. Eine Siebzigernummer in der Park Avenue. Die perfekte Adresse. Alles an der Einrichtung war elegant und teuer – bis hin zum unbezahlbaren Ausblick auf den Central Park.

Zwischen dem Penthouse und der Wohnung hier lagen in jeder Hinsicht Welten. Sean versuchte einzuschlafen. Keine zehn Minuten später war er wieder auf den Beinen und ging im Zimmer auf und ab.

Immer wieder. Auf und ab.

Lizzie parkte ihren Toyota vor dem Haus und nahm den Beutel mit den Sachen von Mr. O’Banyon vom Rücksitz. Ihre Füße brannten, und sie hatte Kopfschmerzen. Aber zumindest musste sie erst gegen Mittag in der Klinik sein, weil sie die Spätschicht hatte.

Sie sah am Haus hoch. Alles war dunkel. Tränen traten ihr in die Augen. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass ihr alter Freund nicht mehr da war. Kein blaues Licht vom Fernseher mehr, keine Geräusche seiner Schritte, keine Fahrt zum Supermarkt, um ihm sein Lieblingseis zu holen.

Keine Gespräche mehr mit ihm wie zwischen Vater und Tochter.

Bedrückt betrat sie das Haus. Sie hatte gerade den Plastikbeutel abgestellt, als sie erstarrte.

Jemand ging oben hin und her.

Hatte jemand ihr eine falsche Auskunft gegeben? War Mr. O’Banyon wieder zu Hause? Das konnte nicht sein. Ein Einbrecher vielleicht? Aber wer auch immer da oben war, ging immer nur hin und her. Auf und ab.

Es musste der Sohn sein, der aus New York gekommen war.

Sie wollte schon nach oben gehen, zögerte dann aber. Schließlich kannte sie den Sohn nicht. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm einen Beileidsbesuch abzustatten.

Sie duschte und setzte sich anschließend mit einer Schüssel Cornflakes ins Wohnzimmer. Statt zu essen lauschte sie, wie der Mann über ihr ruhelos auf und ab ging.

Zwanzig Minuten später schlüpfte Lizzie in ihre Jeans, warf sich ein T-Shirt über und ging nach oben. Es wurde augenblicklich still, als sie klopfte. „Hallo? Mr. – äh Sean O’Banyon?“

Nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet.

Der Mann, der ihr öffnete, war einen halben Kopf größer als sie und trug nichts außer Boxershorts. Der Körper war muskulös. Eine goldene Kette mit Kreuz baumelte auf seiner Brust. Auf dem linken Oberarm waren ein altes Tattoo und auf einer Schulter eine Narbe zu sehen. Er wirkte gefährlich – seine markanten Züge mit den zusammengepressten Lippen und dem durchdringenden Blick waren wie versteinert.

„Ja?“ Er sah sie fragend an.

„Ich bin Lizzie – Elizabeth Bond. Wir haben heute miteinander telefoniert – oder viel mehr gestern. Ich wohne im Erdgeschoss.“

„Oh, verdammt, ich mache zu viel Lärm, was? Es tut mir leid“, sagte er zerknirscht. „Ich höre sofort auf damit.“

„Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin gerade erst von der Nachtschicht nach Hause gekommen, und ich habe nur ein paar Minuten von Ihrem Hin- und Hergehen mitbekommen.“ Sie atmete tief durch. Wow! Ein sehr verführerisches Cologne! „Es tut mir sehr leid, dass Sie Ihren Vater verloren haben. Ich …“

„Hey, möchten Sie ein Frühstück?“

„Wie bitte?“

„Frühstück.“ Er fuhr sich durch das Haar. „Ich kann in absehbarer Zeit sowieso nicht schlafen, und ich habe Hunger.“

„Oh … nein … das ist nicht nötig.“

„Natürlich ist es nicht nötig. Aber Sie sind doch gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen, oder?“

„Ja, schon …“

„Dann haben Sie doch wahrscheinlich auch Hunger, oder?“

Eigentlich hatte er recht.

„Für Sie ziehe ich mir sogar etwas über, Elizabeth.“

Es war absurd, aber sie spürte ein Prickeln über ihren Körper laufen. Und ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er eine richtige Schlafzimmerstimme hatte.

Was war nur los mit ihr?

„Lizzie“, sagte sie, als sie eintrat. „Meine Freunde nennen mich Lizzie.“

Sean musterte die Frau, als sie an ihm vorbeiging. Sie war groß und schlank. Sie trug alte Jeans und ein T-Shirt, das mindestens vier Nummern zu groß war. Er war sicher, dass sie später darin schlafen würde. Das schulterlange, blonde Haar hatte sie sich zurückgebunden, und die Spitzen waren noch nass. Wahrscheinlich hatte sie gerade geduscht. Sie duftete nach Ivory-Seife.

Das gefiel ihm.

„Also gut – Lizzie.“ Er schloss die Tür hinter ihr. „Und für dich bin ich natürlich Sean. Du bist Krankenschwester?“

„Das stimmt, aber dein Vater war nicht mein Patient. Wir waren befreundet.“

„Befreundet?“ Hatte er richtig gehört?

„Ja. Ich lebe seit zwei Jahren in der Wohnung im Erdgeschoss. Dadurch haben wir uns kennengelernt. Er war einsam.“

„Ach, wirklich?“

„Ja, sehr.“ Ihr Blick glitt durch das Wohnzimmer. „Wir haben oft zusammen gegessen.“

Aus irgendeinem Grund irritierte es ihn zu sehen, wie sie eine Hand über die Lehne des Fernsehsessels seines Vaters gleiten ließ.

„Na, dann kennst du ja den Weg zur Küche.“ Er holte eine Jeans aus der Tasche. „Hast du etwas dagegen, wenn ich auf ein Hemd verzichte? Es ist verdammt heiß hier oben.“

Überrascht sah er, wie sie errötete. „Oh … nein. Ich meine, ja, das ist in Ordnung.“

Als sie das Zimmer verließ, zog er seine Jeans über. In Gedanken war er bei seinem Vater.

Einsam, ja? Nicht mit dieser Mieterin in der Nähe. Eddie O’Banyon war von Natur aus ein Einzelgänger gewesen, aber eine hübsche junge Frau konnte manches ändern.

Und sie hatte offensichtlich sehr viel Zeit hier verbracht. Nicht nur, dass sie den Weg zur Küche kannte – wie selbstverständlich rückte sie ein Bild gerade. Er hatte das Gefühl, dass die Sauberkeit in der Wohnung auf ihr Konto ging. Und wahrscheinlich war sie auch der Grund dafür, dass sein Vater vom Alkohol losgekommen war. Nichts konnte einen Mann so sehr beeinflussen wie Gefühle für eine Frau. Zumindest vorübergehend.

Die Frage war nur: Was hatte sie in ihm gesehen?

Sean unterdrückte einen Fluch. Musste er die Frage überhaupt stellen? Spontan nahm er seine goldene Uhr ab und ließ sie in der Reisetasche verschwinden. Falls Lizzie sich schon von dem Wenigen angezogen gefühlt hatte, das sein Vater zu bieten hatte, dann musste sie nicht unbedingt wissen, dass der Sohn im Geld schwamm.

Als er in die Küche ging, fragte er sich, ob sie wusste, wer er war. Die Chancen standen fünfzig – fünfzig. Sein Gesicht tauchte oft genug in der Zeitung auf, aber natürlich meist auf den Wirtschaftsseiten. Aber vielleicht hatte sein Vater etwas erwähnt.

Nicht, dass Eddie viel von ihm gewusst hatte.

„Setz dich und lass dich von mir bekochen.“ Sean deutete auf den Küchentisch. „Ich habe nur Speck und Eier, aber das Gute dabei ist: Man kann wenig falsch machen.“

„Klingt lecker.“

Er fand die Pfanne tatsächlich noch an derselben Stelle, an der sie schon früher ihren Platz gehabt hatte. „Ist Rührei okay?“

„Super.“

Er machte sich an die Arbeit. „Du hast meinen Vater also gut gekannt, ja?“, erkundigte er sich beiläufig.

„Er war sehr nett zu mir.“

Was sonst? „Du sagst, du wohnst schon seit zwei Jahren hier?“

„Ja, seit ich die Schwesternschule abgeschlossen habe. Ich war nicht viel zu Hause, da ich in einer Klinik in Roxbury arbeite und zusätzlich noch Nachtwachen im BMC mache, aber wir haben dennoch einige Zeit zusammen verbracht.“ Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Dein Vater hat immer gesagt, dass ich zu viel arbeite.“

Wie fürsorglich! „Du hast dich auch um diese Wohnung gekümmert, oder? Ich meine, man sieht es. Der Haushalt war nie sein Ding.“

„Zuerst wollte er es nicht, aber später brauchte er dann Hilfe.“ Lizzie räusperte sich. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? Ich meine, wenn ich das fragen darf …“

„Es ist schon eine Weile her. Er hat dich gebeten, mich erst anzurufen, wenn es vorbei ist, oder?“

„Ja. Ich fand es falsch, aber ich habe seinen Wunsch respektiert.“

Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment geschah etwas mit Sean. Er verspürte plötzlich ein Verlangen danach, in diesem mitfühlenden Blick zu versinken.

„Ich glaube, der Schinken brennt an“, sagte sie.

Hastig wandte er sich wieder der Pfanne zu. „Woher kommst du?“, fragte er.

„Von der Nordküste. Aus Essex. Meine Mutter lebt noch dort.“ Lizzie lachte leise. „Ich hatte gehofft, deinen Vater und sie zusammenzubringen. Vielleicht hätten sie Freunde sein können. Aber dein Vater wollte lieber für sich bleiben.“

Vielleicht hatte er Lizzie einfach für sich haben wollen. „Hast du einen Mann oder einen Freund, Lizzie?“ Fasziniert beobachtete er, wie sie erneut errötete. Keine Frau in Manhattan würde erröten. Es gefiel ihm. „Entschuldige, war meine Frage zu persönlich?“

„Nein, nein. Ich habe weder einen Mann noch einen Freund – ich bin beruflich zu sehr eingespannt.“

Gut! dachte er und runzelte gleich darauf die Stirn. Wieso gut? Das ging ihn doch überhaupt nichts an!

„Was ist mit dir?“, fragte sie. „Bist du verheiratet?“

„Nein, das ist nichts für mich.“

„Wieso nicht?“

Dafür gab es eine ganze Reihe von Gründen. Eheverträge konnten gelöst werden, und Sean hatte keine Lust, hilflos zuzusehen, wie sich jemand mit seinem hart verdienten Geld auf Stilettos davonmachte. Außerdem musste man sich sicher sein, dass die eigene Ehefrau einen nicht hinterging.

Und er hatte sich schon seit Langem alle Illusionen abgeschminkt, was Vertrauen in Frauen oder Geschäftspartner betraf. Vielleicht hatte er dieses Vertrauen nie gehabt. Eigentlich waren seine beiden Brüder die einzigen Menschen auf der Welt, an die er glaubte. „Ich habe keinen bestimmten Grund“, sagte er ausweichend. „Außer vielleicht, dass ich ein Einzelgänger bin.“

Lizzie lächelte. „Wie dein Vater.“

Er fuhr abrupt herum. „Ich habe nichts mit meinem Vater gemeinsam!“

Sie erschrak sichtlich über seinen heftigen Ton, aber er entschuldigte sich nicht. Einiges musste von vornherein klargestellt werden. Und er wollte nicht mit einem gewalttätigen Alkoholiker verglichen werden!

Das Schweigen wurde unerträglich.

„Möchtest du Pfeffer auf deine Eier?“, fragte er schließlich, um das Eis zu brechen.

3. KAPITEL

Sean O’Banyon mochte empfindlich sein, was seinen Vater betraf, aber sein Frühstück war perfekt. Lizzie lehnte sich zurück und betrachtete Sean. Er aß noch, aber seine Portion war auch doppelt so groß wie ihre. Er hatte überraschend gute Tischmanieren. Überhaupt war er eine Augenweide. Allein diese muskulöse Brust. Und dann diese langen Wimpern. Und seine Lippen …

Lizzie gab sich einen Ruck. Was war los mit ihr? Der Mann lud sie nach dem Tode seines Vaters zu einem Frühstück ein, und sie checkte ihn ab, als sei er der Kandidat einer Singlebörse! Aber wahrscheinlich sprach da nur die Biologie. Wann war sie das letzte Mal mit einem Mann zusammen gewesen? Sie kam auf zweieinhalb Jahre. Unglaublich! Wie hatte das passieren können?

„Was ist?“ Sean hatte ihr Mienenspiel offensichtlich beobachtet.

„Ach, nichts“, sagte sie rasch – diese Gedanken waren ja nun wirklich nicht geeignet, sie mit irgendjemandem zu teilen.

„Was ich dich fragen wollte … deine Mutter. Du sagst, sie lebt in Essex?“

„Stimmt. Sie ist Künstlerin und liebt das Meer. Sie malt in allen möglichen Techniken und experimentiert auch sonst sehr viel.“ Lizzie legte ihre Papierserviette zusammen und dachte dabei an die Origami-Phase ihrer Mutter. In dem Jahr war ihr Weihnachtsbaum mit gefalteten Papierschwänen und Sternen geschmückt gewesen. Die meisten waren leicht verunglückt, aber ihre Mutter liebte sie, und deswegen hatte Lizzie sie auch geliebt.

Aus irgendeinem Grund setzte sie hinzu: „Meine Mutter ist ein bisschen … exzentrisch.“

„Lebt in ihrer eigenen Welt?“

„Genau.“

„Und in allen praktischen Dingen verlässt sie sich auf dich?“

Lizzie errötete. „Entweder bist du sehr sensibel oder ich bin wie ein offenes Buch.“

„Wahrscheinlich beides.“

Sein Lächeln traf sie unvorbereitet, und ihr Herz machte einen Satz. Der Mann war wirklich … atemberaubend.

„Wie lange bleibst du?“ Lizzie war entsetzt. Sie konnte nicht glauben, was sie da laut ausgesprochen hatte. Dabei waren es weniger die Worte, die sie schockierten, als die Erkenntnis, dass sie sich danach sehnte, Sean noch einmal in einer Situation wie dieser zu sehen. Sie beide allein.

„Ich fliege morgen zurück nach New York – das heißt also, heute. Aber ich komme zurück. Ich muss ja das Haus räumen.“

„Willst du es verkaufen?“

„Ich habe keinen Grund, es zu behalten. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

„Danke. Ich habe gern hier gewohnt.“

„Vielleicht musst du ja nicht ausziehen. Ich glaube nicht, dass jemand das ganze Haus für nur eine Familie will.“

„Ich glaube, ich werde dennoch ausziehen.“

„Wieso?“

„Ohne ihn ist es nicht mehr dasselbe.“ Sie trug die Teller zur Spüle.

„Du hattest also ein gutes Verhältnis zu meinem Vater?“

Sie hielt einen Teller unter das laufende Wasser. „Wir haben oft zusammen ferngesehen. Und sonntags haben wir gemeinsam gegessen. Wir haben aufeinander aufgepasst. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass jemand sich Gedanken darum machte, dass ich nach der Nachtschicht gut nach Hause kam. Es gab mir ein Gefühl der Sicherheit.“

Und Geborgenheit.

Bei ihrer Mutter war Lizzie immer diejenige gewesen, die sich um alles kümmerte und sorgte – schon als sie noch ein Kind gewesen war. Sie hatte es genossen, für Mr. O’Banyon mehr zu sein als nur ein Schatten am Rande der künstlerischen Inspiration.

Um dem Gespräch eine neue Wende zu geben, fragte sie: „Wohnst du direkt in Manhattan?“

„Ja.“ Er nickte.

„Ich wollte schon immer einmal dorthin“, bekannte sie, während sie die Teller auf das Trockenrost stellte. „Manhattan klingt so aufregend und glamourös.“

„Es ist ja nicht weit von hier. Fahr einfach mal hin.“

„Das geht nicht. Mit zwei Jobs bin ich mehr als ausgelastet. Meine Mutter braucht das Geld dringender als ich einen Urlaub. Außerdem bin ich gern zu Hause.“

„So wie hier mit meinem Vater?“

„Richtig.“ Sie begann das Geschirr abzutrocknen.

„Hast du mit ihm geschlafen?“

„Was?“ Fast hätte sie den Teller fallen lassen. „Wie kommst du denn darauf?“

Sein Blick war kalt und zynisch. „So etwas soll vorkommen.“

„Wir waren Freunde. Großer Gott …“ Hastig stellte sie das Geschirr in den Schrank. „Vielen Dank für das Frühstück.“

Sean stand auf. „Elizabeth …“

„Lizzie.“ Sie ging um ihn herum. „Einfach nur Lizzie.“

Er packte sie am Arm. „Es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe.“

Sein Ton klang aufrichtig, wenn sein Blick auch distanziert blieb. Sie rief sich in Erinnerung, dass er unter Stress stand, und es war vier … nein, schon fast fünf Uhr am Morgen. Sie räusperte sich. „Ist schon in Ordnung. Du machst im Moment einiges durch.“

„Du auch, oder?“

„Ja“, bekannte sie leise. „Er wird mir fehlen.“

Sean fuhr ihr leicht mit einem Finger über die Wange. „Weißt du was?“

„Was?“

„Eine Frau wie du sollte jemanden haben, der auf sie wartet, Lizzie.“

Plötzlich schien die Luft zwischen ihnen wie elektrisch geladen.

Lizzie sah den dunklen Bartschatten auf seinem Kinn. Sie bemerkte, dass sein Blick auf ihren Lippen weilte, und musste die Lippen leicht öffnen, um atmen zu können.

In dem Moment verschlossen sich seine Züge. „Ich bringe dich zur Tür.“ Dann wandte er sich ab, als sei nichts geschehen.

Hatte sie sich alles nur eingebildet?

Offensichtlich.

Während Sean darauf wartete, dass Lizzie aus der Küche kam, war ihm klar: Entweder musste er sich sein langes Hemd anziehen oder dafür sorgen, dass sie schnellstmöglich ging. Er war sichtlich erregt, und er wollte die arme Frau nicht in Verlegenheit bringen. Es wurde noch schlimmer, als sie näher kam und er sich unwillkürlich fragte, was sich unter dem unförmigen T-Shirt verbergen mochte.

„Soll es eine Trauerfeier für deinen Vater geben?“, erkundigte sie sich.

Die Frage holte Sean unvermittelt zurück in die Wirklichkeit. „Nein. Er wird eingeäschert und neben meiner Mutter beigesetzt. Er hat mir vor zehn Jahren gesagt, dass er keine Feier will.“ Das war ein grausames Telefonat gewesen. Sein Vater war natürlich betrunken gewesen und hatte immer wieder gesagt, er wolle nicht, dass seine Söhne auf seiner Beerdigung einen Freudentanz vollführten. Irgendwann hatte Sean dann aufgelegt.

„Wie schade.“ Lizzie schob sich eine Strähne hinter das Ohr. „Für euch beide. Man sollte sich an Menschen erinnern. Vor allem an den eigenen Vater.“

Ein Blick in ihre grünen Augen war wie ein Blick in einen ruhigen See. Ihr Mitgefühl traf ihn unvorbereitet. Es schien ihn förmlich zu betäuben. Er lachte rau. „Ich werde mich an ihn erinnern, glaub mir. Gute Nacht, Lizzie.“

Sie huschte rasch an ihm vorbei. „Gute Nacht, Sean.“

Er schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich gegen die Wand. Eigentlich war seine Erregung vollkommen erklärlich, denn Lizzie war eine attraktive Frau. Er war halb nackt. Sie waren allein.

Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass da mehr gewesen war.

Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Obwohl er nur vage Erinnerungen an seine Mutter hatte, war sie in seinem Gedächtnis eine warmherzige, liebevolle Frau gewesen. Nach allem, was er gehört hatte, kam sie aus einer sehr guten Familie, die sie enterbte, als sie darauf bestand, einen irisch-katholischen Arbeiter zu heiraten. Ihre Eltern hatten sich sogar geweigert, zu ihrer Beisetzung zu kommen.

Sean war damals fünf gewesen. Der Alkohol wurde bald zu ihrem unsichtbaren Hausgast. Anne schien Eddie Kraft gegeben zu haben. Ohne sie verlor er bald jeden Halt.

Sean starrte auf den Fernsehsessel. Er hörte unten in der Wohnung Wasser laufen und stellte sich vor, wie Lizzie sich die Zähne putzte, um dann ihre Jeans abzustreifen und sich ins Bett zu legen.

Nein, sie war nicht die Geliebte seines Vaters gewesen. Ihre Entrüstung über seine Unterstellung war spontan gewesen, ihre Kränkung offensichtlich. Aber das hieß nicht, dass sie es nicht auf Eddies Geld abgesehen hatte.

Ein Blick in diese grünen Augen, und sogar er selbst war wie unter einem Bann gewesen.

Es überraschte ihn, aber er wollte glauben, dass sie voller Mitleid und Güte war. Es fiel ihm jedoch schwer, ihr die Mutter Teresa abzunehmen. Sie konnte nicht nach Manhattan kommen, weil sie zwei Jobs hatte, um ihre exzentrische Mutter unterstützen zu können …? Das klang doch zu sehr nach einem Kitschroman.

Er legte sich wieder auf die Couch. Als sein Handy um sechs Uhr klingelte, war er immer noch wach. Er warf einen Blick auf die Nummer im Display. „Billy.“

„Ich habe geschlafen, als du angerufen hast“, sagte sein Bruder. „Ist alles in Ordnung …?“

„Er ist tot, Billy.“ Er brachte das Wort Vater nicht über die Lippen.

Billy atmete tief durch. „Wann?“

„In der letzten Nacht. Herzinfarkt.“

„Hast du Mac schon angerufen?“

„Ja, aber wer weiß, wann er die Nachricht bekommt.“

„Wo bist du?“

„In seinem Haus.“

Billy stöhnte. „Das solltest du nicht machen. Das weckt nur Erinnerungen.“

„Glaub mir, ich fahre, sobald es irgend geht.“

„Kann ich etwas tun?“

„Nein, nein. Finnegan’s kümmert sich um die Einäscherung. Er wird neben Mom beigesetzt. Ich komme noch ein paar Mal her, um alles zu räumen und das Haus zum Verkauf anzubieten. Ich will es nicht behalten.“

„Ich auch nicht. Und Mac bestimmt auch nicht.“

Es folgte ein längeres Schweigen. Sean wusste, dass sein Bruder und er sich an dieselben Szenen erinnerten.

„Ich bin froh, dass er nicht mehr da ist“, sagte Billy schließlich.

„Ich auch.“

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, spürte Sean eine bleierne Müdigkeit. Er schloss die Augen und gab den Kampf gegen die Erinnerungen auf. Obwohl er gut einen Meter achtzig groß und eine Milliarde Dollar schwer war, fühlte er sich hier in dieser Wohnung, die für seine Brüder und ihn die Hölle gewesen war, wieder klein wie ein Kind und ebenso hilflos.

Es war keine Überraschung, dass er zwei Stunden später schweißgebadet erwachte. Der Albtraum, der ihn seit Jahren quälte, war wieder da.

Sean rieb sich das Gesicht. Die Morgensonne fiel durch die Gardinen ins Zimmer. Er beschloss zu duschen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es half nicht. Die Erinnerungen ließen sich einfach nicht vertreiben. Sie tanzten in seinem Kopf herum wie Kobolde, die ihre Freude daran hatten, ihn zu quälen.

Er konnte es nicht erwarten, am Abend wieder in Manhattan zu sein.

Zwei Tage später verlor Lizzie ihren Job.

Es war am Ende eines langen Freitags, und sie war im Archiv für die Krankenakten, als ihr Boss sie fand. „Hast du eine Minute für mich, Lizzie?“

Sie sah auf. Dr. Denisha Roberts, die Leiterin der Klinik, wirkte erschöpft. Was nachvollziehbar war. Es war schon fast fünf Uhr am Nachmittag, und es war eine anstrengende Woche gewesen.

Lizzie runzelte die Stirn. „Was ist los?“

„Könntest du mit in mein Büro kommen?“

Lizzie schnappte sich die Krankenakte, die sie gesucht hatte, und folgte ihr.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, bekannte Denisha, als sie sich in ihrem Büro gegenübersaßen. „Man hat mir heute gesagt, dass die Stadt die Gelder für unsere Klinik im nächsten Jahr noch weiter kürzt.“

„Oh nein – sag nicht, dass wir schließen müssen! Die Leute brauchen uns.“

„Wir können weitermachen, und natürlich werde ich ein paar Spendenaufrufe starten, die uns hoffentlich etwas Geld in die Kassen bringen. Aber ich fürchte, ich muss Personalkosten einsparen.“

Lizzie schloss die Augen.

„Es tut mir wirklich leid, Lizzie. Du machst einen hervorragenden Job hier, wirklich. Ich kann dir nur das beste Zeugnis ausstellen. Aber da die anderen auch gut arbeiten, kann ich nur nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gehen. Und ich muss den Schnitt schon jetzt machen, bevor die Zuschüsse sinken, weil wir den neuen Röntgenapparat brauchen.“

„Wann ist mein letzter Tag?“

„Am Ende des Monats. Du bekommst ein Monatsgehalt als Abfindung.“ Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: „Wir haben wirklich Probleme, Lizzie. Bitte, versteh doch … Diese Entscheidung fällt mir nicht leicht.“

Lizzie überlegte einen Moment. „Weißt du, ich kann leicht noch ein paar Nachtschichten machen. Was hältst du davon, wenn ich schon in der nächsten Woche gehe? Dann hast du mich nicht mehr in den Büchern, und mir bleibt ein Monat, um eine neue Stelle zu finden.“

„Das wäre … das Beste, was du für uns tun könntest.“ Denisha konnte ihr nicht in die Augen sehen. „Ich hasse diese Situation. Wir werden dich alle sehr vermissen.“

„Vielleicht kann ich ja noch ehrenamtlich hier arbeiten.“

Denisha nickte bedrückt. „Wir hätten dich gern hier.“

Als Lizzie kurze Zeit später das Büro verließ, stellte sie fest, dass sie mit dem Job auch die beste Vorgesetzte verlor, die sie je gehabt hatte. Dr. Roberts verfügte über eine seltene Mischung von Mitgefühl und praktischem Denken – eine ideale Kombination für diesen Beruf.

Auf dem Weg nach Hause rief Lizzie im Boston Medical Center an, um darum zu bitten, sie auf die Liste der verfügbaren Nachtwachen zu setzen. Sie brauchte ein finanzielles Polster für den Fall, dass sie nicht sofort einen neuen Vollzeitjob fand. Aber bei ihren Zeugnissen und der Anzahl von Kliniken, die es in und um Boston gab, sollte es doch wohl möglich sein, eine neue Stelle zu finden.

Lizzies hoffnungsvolle Stimmung verflog, als sie das aufgeregte Geplapper ihrer Mutter auf dem Anrufbeantworter hörte. „Hallo, Lizzie-Baby, ich musste dich einfach anrufen, weil ich mir heute Brennöfen für meine Töpferarbeiten angesehen habe … ich brauche unbedingt einen, weil ich mich ja im Moment mehr mit dreidimensionaler Kunst beschäftige. Das ist sehr wichtig für meine Entwicklung und …“

Lizzies Mutter schien keine Pause zu gebrauchen, um Luft zu holen. Es sprudelte nur so aus ihr hervor. Die Nachricht nahm gar kein Ende. Irgendwann stellte Lizzie ihre Handtasche ab und ging die Post durch. Rechnung. Rechnung. Werbung. Rechnung.

„Also, Lizzie-Baby, ich habe einen gekauft, und er wird morgen früh geliefert. Die Kreditkarte funktionierte nicht, deswegen habe ich einen Scheck über zweitausend Dollar ausgestellt … ich musste einen Aufschlag zahlen für die Samstagslieferung …“

Entgeistert starrte Lizzie den Anrufbeantworter an. Zweitausend Dollar? Zweitausend? So viel Geld hatten sie nicht auf ihrem gemeinsamen Konto. Es war schon nach fünf. Jetzt konnte sie die Bank nicht mehr anrufen, um die Zahlung zu stoppen.

Der Scheck würde platzen.

Lizzie löschte die Nachricht und ließ sich schwer seufzend in ihren Sessel am Fenster fallen. Die Kreditkarte funktionierte sehr wohl, aber sie hatte ein Limit von fünfhundert Dollar eintragen lassen – gerade um Käufe dieser Art zu verhindern.

Aber vielleicht ließ sich die Situation ja noch retten. Lizzie wollte die Bank gleich am Morgen anrufen und den Scheck sperren lassen. Dann wollte sie sich mit dem Händler in Essex in Verbindung setzen und den Kauf stornieren. Mit etwas Glück kam sie noch rechtzeitig.

Ein dumpfes Geräusch aus der Wohnung über ihr ließ sie aufschrecken. Sie sah zuerst zur Decke, dann zur Straße. Vor dem Haus parkte ein silberner Leihwagen.

Sean O’Banyon war zurück.

Sean stand in seinem alten Schlafzimmer und überlegte. Auf dem Weg vom Flughafen hierher hatte er zwei Dutzend Umzugskartons gekauft, aber wahrscheinlich brauchte er noch mehr.

Vieles war so abgetragen und abgenutzt, dass es nur noch zu entsorgen war, anderes wie das Geschirr wollte er der Kirche geben, damit es auf dem Basar verkauft werden konnte.

Plötzlich entdeckte er auf dem obersten Regal seines Kleiderschranks etwas, das ihm bei seiner Suche nach Alkohol am ersten Abend entgangen war – seine alte Schultasche. Er zog sie heraus – sie schien schwer wie Blei. Der Inhalt verschlug ihm den Atem. Bücher. Seine alten Bücher aus der Highschool.

Er schlug ein Mathematikbuch auf und erkannte seine handschriftlichen Notizen am Rand. Unwillkürlich hob er die Seiten an die Nase und sog ihren vertrauten Duft ein. Wie in Trance legte er alle Bücher vor sich auf den Boden. Ihr Anblick gab ihm das Gefühl, reich zu sein. Wirklich reich. In einer Kindheit mit Geburtstagen ohne Feiern und Weihnachten ohne Geschenke war das Lernen sein Luxus gewesen. Sein ganzes Glück.

Er hatte viele kleine...

Autor

Joanna Sims
<p>Joanna Sims brennt für moderne Romances und entwirft gerne Charaktere, die hart arbeiten, heimatverbunden und absolut treu sind. Die Autorin führt diese auf manchmal verschlungenen Pfaden verlässlich zum wohlverdienten Happy End. Besuchen Sie Joanna Sims auf ihrer Webseite www.joannasimsromance.com.</p>
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Brenda Harlen
<p>Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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