Blitzhochzeit – und dann?

– oder –

 

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„Sie müssen mich heiraten.“ Marcus Moss braucht dringend eine Ehefrau, und Eve braucht Geld, um ihren Traum von einem Biotech-Startup zu verwirklichen. Also sagt sie Ja zu Marcus’ Antrag und der Summe, die er ihr bietet. Schon der erste Kuss nach der Blitzhochzeit ist überwältigend erotisch und die Spannung zwischen ihnen fast greifbar. Eine sinnliche Nacht folgt auf die andere, und Eve wünschte, ihre Ehe hätte kein Ablaufdatum. Doch dann taucht Marcus’ Ex auf und enthüllt ihr ein pikantes Geheimnis …


  • Erscheinungstag 26.09.2023
  • Bandnummer 2308
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515795
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dash Gilbert hörte das Getuschel hinter sich, während er den langen, sterilen Gang im Pflegeheim von Gilbert Corners hinunterging. Einige Leute fanden, er sei vom Glück begünstigt. Andere sprachen von dem Gilbert-Fluch, der über der Stadt lag. Der Stadt, die den Namen seiner Familie trug.

Er war hier, um seine Schwester zu besuchen. Er fürchtete die Sonntage und ließ doch keinen Besuch aus. Vor zehn Jahren hatte Rory bei einem Autounfall eine ernsthafte Kopfverletzung erlitten und lag seither im Koma.

Rory hatte schluchzend mit ihm und seinem Cousin in dem Wagen gesessen, der auf der vereisten Brücke außer Kontrolle geraten war. Seitdem hatte sie kein Wort mehr gesprochen und sich nicht mehr bewegt. Der Arzt, der sich um sie gekümmert hatte, war seit Kurzem im Ruhestand. Das Krankenhaus, das auch das Pflegeheim betrieb, hatte einen Nachfolger eingestellt – Dr. Monroe –, den Dash aber noch nicht gesprochen hatte.

Nachdem er sich bei der Stationsschwester nach dem Zustand seiner Schwester erkundigt hatte, öffnete er die Tür ihres Zimmers und bemerkte, dass die Vorhänge aufgezogen waren. Er hatte einen Artikel darüber gelesen, dass klassische Musik die Hirnfunktionen anregen konnte, und hatte daher die Anweisung gegeben, so oft wie irgend möglich klassische Musik laufen zu lassen. Stattdessen dröhnte ihm laute Rockmusik entgegen. Ein Mann stand über Rory gebeugt an ihrem Bett.

Er war groß und hatte dunkelbraunes Haar. Dash kannte ihn nicht. Der neue Arzt? Dash wusste sofort, dass dieser Mann nicht der Richtige war, wenn er sich über seine expliziten Wünsche hinwegsetzte.

„Entschuldigen Sie – sind Sie Dr. Monroe?“

Der Mann richtete sich auf und drehte sich zu Dash herum. Sein anfängliches Lächeln verschwand rasch. „Nein, das bin ich nicht.“

„Wer sind Sie? Was machen Sie in diesem Zimmer?“ Dash musterte ihn durchdringend. Unter diesem Blick war schon mancher Manager zitternd eingeknickt.

„Ich bin … ein Freund von Rory.“

„Ich kenne alle ihre Freunde – Sie nicht.“

Der Mann drückte die Schultern durch. „Noch nicht“, sagte er und streckte ihm die Hand hin.

„Verschwinden Sie!“, herrschte Dash ihn an.

Der Mann schien widersprechen zu wollen, aber in diesem Moment war hinter ihm im Bett eine Bewegung zu spüren.

„Dash?“

Er traute seinen Ohren nicht. War das die Stimme seiner Schwester gewesen? Sie war etwas brüchig, wohl weil sie lange nicht gebraucht worden war. Verwirrt sah Rory sich um.

„Hier, Süße.“ Ihm war der Hals vor Rührung wie zugeschnürt. Er hatte nicht erwartet, diese Stimme noch einmal zu hören. Er versuchte, ruhig zu bleiben, als er sich auf ihre Bettkante setzte und ihre Hand nahm.

„Wo bin ich?“, fragte sie unsicher.

„Im Pflegeheim.“ Er wandte sich an die Schwester, die hereingekommen war. „Stellen Sie die Musik ab und holen Sie den Arzt!“

Er nahm Rory vorsichtig in den Arm, um die verschiedenen Schläuche, mit denen sie versorgt wurde, nicht herauszuziehen. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Ich erinnere mich an nichts. Wie bin ich hierhergekommen?“

„Wir hatten einen Unfall“, erklärte er.

„Was?“

Eine der Maschinen, an die Rory angeschlossen war, piepte laut. Dash wusste nicht, was er tun sollte – ein Gefühl, das er hasste.

„Aus dem Weg, sie steht unter Schock.“ Eine Frau im Arztkittel schob sich an ihm vorbei.

Dash trat zurück. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Er durfte Rory nicht gleich wieder verlieren, nachdem er sie gerade zurückbekommen hatte. Rasch zog er sein Handy aus der Tasche und schickte Conrad die Nachricht, dass Rory aufgewacht war. Er wollte nicht von der Seite seiner Schwester weichen.

Ärztin und Schwestern arbeiteten am Bett. Der Unbekannte war verschwunden. Eine der Schwestern bat Dash, auf dem Korridor zu warten. Er ging hinaus und lehnte sich an die Wand. Er dachte an das letzte Mal, als er auf dem Korridor eines Krankenhauses gewartet hatte. Es war an dem Abend des Unfalls gewesen, bei dem Rory ins Koma gefallen war und Conrad fast gestorben wäre. Wieder spürte er Panik und Trauer und musste tief durchatmen. Schwere Schritte kamen näher. Sein Cousin.

„Wie bist du so schnell hergekommen?“

„Vergiss nicht, dass ich jetzt in der Stadt lebe“, erinnerte Conrad ihn, während er ihn zur Begrüßung kurz umarmte. „Was ist passiert?“

„Als ich kam, war ein Fremder in ihrem Zimmer. Während ich versucht habe herauszufinden, wer er ist, sagte sie plötzlich meinen Namen … Ich habe sie für einen Moment in meinen Armen gehalten, bevor irgendeine Maschine anfing zu piepen …“

„Sie hat gesprochen? Das ist doch super! Oder?“ Conrad fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

„Ich habe keine Ahnung. Die neue Ärztin ist jetzt bei ihr, aber ich weiß nicht, wie gut sie ist.“

„Die neue Ärztin ist eine Expertin auf ihrem Gebiet.“

Er drehte sich herum. Als ihre Blicke sich trafen, erkannte er sie. Elle Monroe! Sein Date bei dem Winterball vor zehn Jahren. Ob sie sich an ihn erinnerte? Er hatte sie nicht vergessen. Wie sollte er auch? Sie hatten sich gerade heiß geküsst, als er den Schrei seiner Schwester hörte.

An dem Abend hatte sich sein ganzes Leben verändert. Irgendwie erschien es ihm wie ein Wunder, dass es nun Rory war, die Elle zurück in sein Leben gebracht hatte.

„Heißer Typ im Anmarsch!“

Dr. Elle Monroe sah über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg einen großen, breitschultrigen Mann den Korridor entlang- kommen. Da er die Sonne im Rücken hatte, waren seine Züge nicht auszumachen, man sah nur dichtes schwarzes Haar, das gut frisiert war. Er trug einen offenbar maßgeschneiderten Anzug. Alle Schwestern und Ärzte, die sich gerade im Pausenraum befanden, sahen zu ihm.

Diese durchdringenden blauen Augen. Die sinnlichen Lippen. Das kantige Kinn. Kein Zweifel: Dash Gilbert.

Elle wandte sich hastig ab und eilte in ihr Büro am Ende des Flurs. Sie kannte Dash von früher. Sosehr sie auch für einen Neuanfang war – eben deswegen war sie ja nach all den Jahren nach Gilbert Corners zurückgekehrt –, so hatte sie doch nicht die Absicht, diesen Fehler zu wiederholen.

Wieso konnte er nicht ein paar Kilos zugelegt haben? Oder wieso wurde nicht wenigstens sein Haar schon schütter? Wieso musste er immer noch so … so atemberaubend aussehen? Von allen ihren Ex-Partnern – gut, es waren nur drei – war er derjenige, zu dem ihre Gedanken immer wieder zurückkehrten. Dash. Prinz Charming. Mr. Hinreißend. Der Mann, der sie mitten auf der Tanzfläche stehen gelassen hatte.

Genau.

Sie stellte den Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch ab und atmete tief durch. Sie war hier, um zu arbeiten, nicht um in Erinnerungen zu schwelgen. Auf ihrem Tisch lag ein ganzer Stapel von Patientenakten. Viele der Informationen waren auch auf ihrem Laptop digital gespeichert, aber sie hatte die Röntgenbilder und Laborberichte gern in der Hand. Ihr Kopf konnte sie dann besser verarbeiten.

Als Traumatologin war sie auf die Langzeitwirkungen von Kopf- und Rückenmarksverletzungen spezialisiert. Man hatte ihr den Job hier in Gilbert Corners angeboten, nachdem ihr Vorgänger in Ruhestand gegangen war. Sie hatte das Angebot angenommen, weil … nun ja, in sechs Monaten wurde sie dreißig, und sie musste einfach ein paar Kapitel ihres Lebens abschließen, und in Gilbert Corners lag der Ursprung der meisten ihrer Probleme.

Ein Alarm ließ sie in die Schwesternstation eilen.

„Rory Gilbert ist aufgewacht“, teilte ihr die Stationsschwester knapp mit. „Zimmer 323.“

Elle wusste nicht, was sie erwartete, als sie das Zimmer betrat. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Patientin und nicht auf den Mann, an den sie schon zu viele Gedanken verschwendet hatte.

Sie war es gewesen, die die Schwester bat, ihn hinauszuschicken, während sie und eine andere Schwester sich bemühten, die Patientin zu stabilisieren. Die erhöhte Pulsfrequenz deutete auf Stress hin.

„Hi, Rory. Ich bin Dr. Monroe“, stellte Elle sich vor, nachdem Rory wieder bei sich war und ein Glas Wasser getrunken hatte. Sie war bisher über eine Magensonde ernährt worden. Jetzt mussten sie genau beobachten, wie ihr Körper auf das Wasser reagierte.

„Elle, richtig? Du gehst doch mit meinem Bruder aus“, bemerkte Rory.

Elle wusste aus Erfahrung mit hirngeschädigten Patienten, dass sie in der Gegenwart verhaftet waren. Der Kopf brauchte Zeit, um aufzuholen. „Das war ich. Woran erinnerst du dich?“, fragte sie.

Da sie sich vor Jahren gekannt hatten, schien das Du angemessen, obwohl sie eigentlich gegen solche Vertraulichkeiten war. Das Sie schuf eine sichere Distanz, aber in diesem Fall hätte es die Patientin nur unnötig verwirrt.

Rorys Hand begann zu zittern. Elle nahm ihr das Glas rasch ab.

„Nicht an viel. Ich meine, natürlich erinnere ich mich an Dash und an dich. Wie lange war ich ohne Bewusstsein?“

„Fast zehn Jahre.“

„Was? Wie konnte das passieren?“

Elle erklärte ihr einige medizinische Gründe. Ihr Vorgänger hatte die Theorie vertreten, Rory habe an dem bewussten Abend ein Trauma durchlebt, das einen großen Anteil daran hatte, dass sie seither im Koma lag. „Der Kopf beschützt den Körper, und manchmal fährt er alle Aktivitäten herunter, um zu heilen.“

„Mein Kopf dachte, ich brauche zehn Jahre …?“

Elle lächelte beruhigend. „Dein Körper hat auch seine Zeit gebraucht. Dash kann dir wahrscheinlich mehr sagen.“

„Wo ist er?“ Rory sah sich suchend um.

„Wir haben ihn auf den Korridor geschickt, weil wir dich zuerst stabilisieren mussten. Bist du bereit, ihn zu sehen?“

„Ich glaube schon. Zehn Jahre sind eine lange Zeit.“

„Das stimmt. Ich hole deinen Bruder, dann kann er dich auf den neuesten Stand bringen.“

Elle sah zu der Schwester hinüber, die mit einem Nicken bestätigte, dass sie die Patientin im Auge behielt. Ehe Elle die Tür aufzog, hielt sie kurz inne, um sich zu sammeln.

Sie war eine anerkannte Traumatologin, nicht mehr das unbedarfte junge Mädchen von zwanzig. Damals war sie so naiv gewesen zu glauben, er habe sie zu sich nach Hause eingeladen, um nach den ganzen Monaten, die sie zusammen ausgegangen waren, nun um ihre Hand anzuhalten. Heute war sie stärker als damals. Hatte mehr Selbstbewusstsein.

Und sie war definitiv nicht interessiert an Mr. Dash Gilbert.

Sie zog die Tür auf und hörte seine tiefe Stimme. Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Für einen Moment blitzte die Erinnerung daran auf, wie es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen.

Er sagte etwas über ihre Fähigkeiten. Sie wusste, dass er dafür eingetreten war, einen Experten aus Europa kommen zu lassen, der sich um seine Schwester kümmern sollte.

Er war so unglaublich arrogant! Wieso war ihr das früher nicht aufgefallen?

Sie würde ihm jetzt mitteilen, wie es seiner Schwester ging – und ihn dann nie wiedersehen. Sie räusperte sich. „Die neue Ärztin ist eine Expertin auf ihrem Gebiet.“

Dash drehte sich zu ihr herum. „Elle Monroe!“

„Hi, Dash.“ Sie gab sich vollkommen unberührt von dem Wiedersehen. Es half, dass sie ihn schon vorher gesehen und sich auf die Begegnung eingestellt hatte. „Deine Schwester ist jetzt stabil. Du kannst zu ihr. Wenn du mit ihr gesprochen hast, werden wir noch weitere Tests machen. Ich habe ihr gesagt, dass sie zehn Jahre im Koma lag. Ich bin sicher, sie hat viele Fragen.“

„Danke, Elle.“

„Ich mache nur meinen Job.“ Sie ging und tat so, als sei ihr nicht bewusst, dass er ihr mit Blicken folgte, bis sie um die Ecke bog und in ihr Büro verschwand. Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. Gilbert Corners erfüllte alle Erwartungen. Sie war hergekommen, um mit einigen Dingen aus ihrer Vergangenheit abzuschließen, und es sah so aus, als ginge dieser Wunsch gleich an ihrem ersten Arbeitstag in Erfüllung.

Wenn es ihr nun noch gelänge, nicht mehr darüber nachzudenken, dass sich Dash in den letzten zehn Jahren kaum verändert hatte – außer, dass er vielleicht noch besser aussah als früher. Und dass er definitiv noch arroganter geworden war.

Es überwältigte Dash förmlich, in Rorys Krankenzimmer zu sitzen und zu hören, wie sie über etwas lachte, das Conrad gesagt hatte. Er musste sich abwenden, weil ihm plötzlich Tränen in den Augen brannten. Er hatte nicht geglaubt, die beiden noch einmal zusammen lachen zu hören. Normalerweise gestattete er sich keine Gefühle, aber dies war wirklich eine Ausnahmesituation, das wusste er.

Con sah zu ihm herüber und hob eine Braue in der stummen Frage, ob alles in Ordnung war. Dash nickte. Er hatte an jenem Abend am Steuer gesessen, als sie zusammen den Ball verlassen hatten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der andere Wagen sie verfolgte und rammte, als sie auf der vereisten Brücke mitten in der Stadt waren. Sein Wagen war durch den Stoß ins Schlingern geraten, und er hatte vollkommen die Kontrolle verloren.

„Du bist also ein berühmter Küchenchef?“, fragte Rory, nachdem Conrad ihr von seiner Koch-Show im Fernsehen erzählt hatte.

„Ja, und eine Frau habe ich jetzt auch.“

„Ich wette, du hast viele Frauen. So war es doch immer“, bemerkte sie.

„Nein, nur eine. Sie ist etwas ganz Besonderes. Du wirst sie mögen“, sagte Conrad.

„Es hat sich so viel geändert.“ Rory seufzte. „Es ist etwas überwältigend.“

„Ich weiß.“ Dash nahm die Hand seiner Schwester. „Aber wir lassen es langsam angehen. Woran erinnerst du dich?“

„An einen Sommer. Wir waren in den Semesterferien alle zu Hause.“

„Ja, das war schön“, sagte Dash. „Die langen Abende auf der Yacht …“

„Elle hat mir beigebracht, wie man vom Bug einen Kopfsprung macht.“

Das hatte Dash ganz vergessen. In den letzten zehn Jahren hatte er es bewusst vermieden, an Elle zu denken. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Unternehmen zu leiten und nicht daran zu denken, dass seine Schwester im Koma lag. Aber es stimmte, der Sommer mit Elle war schön gewesen. Deswegen hatte er sie zum Winterball eingeladen, obwohl er wusste, dass sie für eine ernsthafte Beziehung nicht die richtigen Verbindungen hatte. Sein Großvater drängte ihn, die Tochter des CEO eines Unternehmens zu daten, das er übernehmen wollte.

„Hat sie das? Das ist mir vollkommen entgangen“, bemerkte Conrad.

„Du warst anderweitig beschäftigt“, bemerkte Dash trocken.

„Offensichtlich. Wann kann Rory das Krankenhaus verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Ich muss mit Dr. Monroe darüber sprechen.“

„Ja, tu das. Ich leiste Rory solange Gesellschaft.“

Er verließ das Krankenzimmer, und eine der Schwestern klingelte nach der Ärztin. Er musste zugeben, dass Elle nur noch wenig Ähnlichkeit hatte mit dem Mädchen, das er aus dem lange vergangenen Sommer in Erinnerung hatte. Damals hatte sie das Haar offen getragen, und es war ihr in weichen Locken bis auf die Schultern herabgefallen. Ihr Blick war voller Leben und Energie gewesen. Nun wirkte sie so … ja, so wie er sich fühlte. Als seien die vergangenen zehn Jahre einfach zu lang gewesen.

„Dash, wie kann ich dir helfen?“

„Wann kann Rory entlassen werden? Im Moment ist sie ja noch sehr schwach.“

„Sie wird viel Therapie brauchen, bis sie wieder fit ist. Das kann dauern.“

„Danke.“ Irgendwie konnte er es immer noch nicht fassen, dass seine Schwester wach war. Er war seit dem Unfall in Psychotherapie gewesen, weil er sehr darunter gelitten hatte, als Einziger den Unfall nahezu unbeschadet überlebt zu haben.

„Alles in Ordnung?“

„Nein“, sagte er ehrlich. „Ich kann einfach nicht glauben, was heute passiert ist.“

„Das ist verständlich. Traumatische Hirnschädigungen sind absolut unberechenbar. Lass dir Zeit und genieße es einfach zu erleben, wie sie wieder zu Kräften kommt.“

Sie blieb distanziert, so als sei er ein Fremder, mit dem sie nur durch zufällige Umstände per Du war. Natürlich war er ein Fremder geworden, aber gleichzeitig wusste er, wie es sich anfühlte, sie in seinen Armen zu halten. Wusste, wie ihre Lippen schmeckten. Nein, sie war keine Fremde für ihn. Nicht wirklich.

Natürlich respektierte er ihren Wunsch nach Abstand und wechselte das Thema. „Als ich heute hier ankam, war ein Mann in Rorys Zimmer. Er sagte, er sei ein Freund von ihr, aber ich kannte ihn nicht, und ich habe ihm nicht erlaubt, sie zu besuchen.“

„Ich sehe mal nach, ob ich etwas herausfinden kann“, versprach Elle. „Ist das im Moment alles?“

„Nein, ich möchte mich noch bei dir entschuldigen. Ich hätte deine Qualifikation nicht anzweifeln sollen. Es tut mir leid. Ich möchte für meine Schwester nur das Beste.“

Sie schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns. „Ich verstehe. Du kannst beruhigt sein, das Krankenhaus hätte mich nicht genommen, wenn meine Qualifikation nicht überzeugt hätte.“

„Ich weiß.“ Und da war es wieder: dieses Lächeln, dem sie nicht widerstehen konnte. „Ich bin es einfach gewohnt, in allem das letzte Wort zu haben, und ich wollte den Kandidaten bestimmen.“

„Dir ist schon bewusst, dass du nicht überall alles entscheidest, oder?“

„Leider ja.“

„Lass uns zu Rory gehen und ihr sagen, was geschehen muss, bis sie entlassen werden kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Patienten in ihrer Lage eine klare Liste von Punkten brauchen, die sie in der Gegenwart verankert. Sonst beschäftigt sie sich in Gedanken nur mit der Zeit, die sie verloren hat. Das ist sehr stressig und könnte einen Rückfall triggern.“

Sie waren gerade vor Rorys Zimmertür angelangt und hatten sie geöffnet, als sie das sagte. Dash griff nach ihrem Arm. „Was soll das heißen?“

Sie sah zu ihm auf und legte eine Hand an seine Brust. Die Berührung ließ seinen Puls jäh ansteigen. Er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals. Ihre Blicke trafen sich, und er vergaß alles bis auf die Tatsache, dass seine Schwester heute wieder zu sich gekommen war und dass er wieder vereint war mit der einzigen Frau, die jemals einen Mann in ihm gesehen hatte und keinen Gilbert. Langsam beugte er sich herab, um zu sehen, wie sie reagierte.

Sie kam ihm etwas näher. Der Duft nach Sommer und Sonnenschein erinnerte ihn an die Zeit, als er sie in seinen Armen gehalten hatte.

Dash trat nahe an sie heran – und küsste sie.

2. KAPITEL

Dash Gilbert zu küssen, war einfach nur dumm. Aber er war ihr so nah, so verletzlich in seinen Gefühlen für seine Schwester. Und natürlich hatte Elle die alte Leidenschaft nicht vergessen. Vielleicht wollte sie auch nur glauben, dass ihre Erinnerungen rosig eingefärbt waren. Dass sie ihr etwas vorgaukelten, das es nicht gab und nie gegeben hatte. Kein anderer Mann hatte seitdem mit ihren Erinnerungen an Dash mithalten können.

Als er die Arme um sie schloss, seine Lippen ihre berührten und seine Zunge mit ihrer spielte, wusste sie, dass sie sich etwas vorgemacht hatte: Ihre Erinnerung hatte nicht getrogen. Niemand küsste so gut wie er.

Jemand räusperte sich. Dash hob den Kopf und sah sie mit undurchdringlicher Miene an.

Elle hätte sich ohrfeigen mögen.

„Entschuldige“, sagte sie.

„Entschuldigung überflüssig, Elle“, sagte er leise.

Sie schob sich an ihm vorbei und mied den Blick seines Cousins Conrad, den sie von der Koch-Show im Fernsehen wiedererkannte. In dieser Stadt drehte sich alles um diese Familie. Sie trat zu ihrer Patientin.

Rory lächelte ihr entgegen. „Ich freue mich so, dass ihr beiden noch zusammen seid. Hattest du Angst, es könnte mich aufregen, wenn ich davon wüsste?“

Was? „Nein, natürlich nicht. Du hast jetzt viel zu verarbeiten. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, da ist viel passiert.“

„Das stimmt, Süße. Ich habe Dr. Monroe gebeten, dass sie einmal mit dir durchgeht, was alles passieren muss, bevor du nach Hause entlassen werden kannst.“ Dash war hinter sie getreten und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Sie spürte, wie seine Berührung einen leichten Schauer in ihr auslöste. Energisch rief sie sich zur Ordnung. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Die Geste war rein platonisch gemeint.

Der Kuss allerdings nicht.

Genau deswegen wollte sie ihn ignorieren.

„Ich werde eine Physiotherapeutin kommen lassen, damit sie feststellt, wo du körperlich stehst.“ Elle beschloss, sich ganz auf ihre Patientin zu konzentrieren. Sie umriss Rory in groben Zügen die Vorgehensweise und in welchen Schritten sie vorankommen mussten.

„Ich verstehe ja, dass ihr mich nicht einfach allein nach Hause gehen lassen könnt. Aber wenn ich bei dir und Dash wohnen würde, wäre es doch in Ordnung, oder?“

Bei ihr und Dash?

„Äh … nein. Ich fürchte, du brauchst rund um die Uhr eine medizinische Fachkraft in deiner Nähe.“

„Ich könnte jemanden einstellen – was auch immer nötig ist“, erbot sich Dash.

Sie verstand, dass ihm daran lag, Rory aus dem Krankenhaus zu holen. Niemand wollte dort länger als unbedingt nötig sein, aber Rorys Zustand war noch instabil. Elle konnte sie noch nicht guten Gewissens in die Familienpflege entlassen.

„Darüber können wir in ein paar Wochen noch einmal sprechen“, entschied sie.

„So lange will ich nicht mehr hierbleiben!“, protestierte Rory. „Ich kann doch bestimmt bei euch wohnen. Elle … du bist meine Schwägerin und meine Ärztin. Bei dir wäre ich doch gut aufgehoben.“

Elle beugte sich über Rory, um ihre Pupillen und den Puls zu kontrollieren. „Wieso glaubst du, ich wäre deine Schwägerin?“

„Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt, und ich erinnere mich, dass du gehofft hast, Dash würde dir beim Winterball einen Antrag machen.“

Elle wurde rot. Sie hatte ganz vergessen, dass Rory dabei gewesen war, als ihre Stiefschwestern sie mit ihrer heimlichen Hoffnung aufgezogen hatten. „Das stimmt nicht ganz. Ich glaube, du bist verwirrt.“

Rorys Puls begann zu rasen, und eine der Maschinen gab Alarmsignale. Dash wollte sofort ans Bett, aber als die Schwester hereinkam, wies Elle ihn an, mit seinem Cousin auf dem Korridor zu warten.

Sie mussten herausfinden, was diese Reaktion hervorrief. Rorys Blick schoss zwischen ihr und Dash hin und her. Sie weinte fast, als sie sah, dass ihr Bruder hinausging, und Elle begriff, dass Dash im Moment Rorys Lebensanker war. Daher winkte sie ihn zurück, und er hielt die Hand seiner Schwester, während die Krankenschwester die Infusion kontrollierte. Conrad kam auch dazu und nahm ihre andere Hand. Rory reagierte sofort positiv auf die Anwesenheit beider Männer.

Die Nähe ihrer Familie schien sie zu beruhigen. Sobald Elle mit Puls und Atmung zufrieden war, verschwand die Krankenschwester, und auch Elle schickte sich an zu gehen. Aus Erfahrung wusste sie, dass Patienten, die längere Zeit im Koma gelegen hatten, einige Zeit brauchten, um sich wieder normal zu fühlen. In der ersten Phase klammerten sie sich oft an eine einzelne Person oder einen bestimmten Moment der Erinnerung.

Es sah so aus, als sei Dash dieser Mensch für Rory. Natürlich war das Letzte, woran sie sich erinnerte, der Winterball auf Gilbert Manor. Dash und Conrad sprachen leise mit ihr.

„Ich lasse euch dann mal allein“, sagte Elle. „Rory, du wirst noch eine Weile hierbleiben, aber keine Angst: Mein Ziel ist es, dich so bald wie möglich nach Hause zu entlassen.“

„Danke.“ Dash nickte ihr zu.

„Ich verstehe das nicht!“, protestierte Rory. „Wenn ihr beiden verheiratet seid, wieso kann ich dann nicht bei euch wohnen?“

„Wir sind nicht …“, begann Elle, aber Dash unterbrach sie.

„Wir haben noch kein Zimmer für dich hergerichtet. Ich kläre das mit Elle, und dann finden wir eine Lösung.“

„Was für eine Lösung meinst du?“, hakte Rory nach.

„Welches Zimmer in Gilbert Manor am besten für dich geeignet ist.“

„Äh … Dash. Wir müssen reden. Jetzt!“ Elle sah ihn durchdringend an.

Dash hatte seiner Schwester noch nie einen Wunsch abschlagen können. Hier ging es allerdings um mehr als ein neues Cabrio oder darum, dass er sie bei ihrem Großvater decken sollte. Er wusste, er brachte Elle in eine unangenehme Situation, aber seine Schwester war zehn Jahre im Koma gewesen. Und nun war sie wieder erwacht.

Endlich!

Er wollte sie nicht eine Minute länger als unbedingt nötig hier im Krankenhaus lassen. Wenn seine Arbeit für Gilbert International für irgendetwas gut gewesen war, dann dafür, dass er jetzt Geld und Einfluss genug hatte, um Rory nach Hause zu holen. Falls es bedeutete, Elle bitten zu müssen, seine Frau zu spielen, dann war er auch dazu bereit.

Rorys Jugend war überschattet gewesen von familiären Katastrophen. Es grenzte für Dash an ein Wunder, sie nun wieder wach zu erleben und zu hören, wie sie sprach. Er war bereit, alles dafür zu tun, dass sie sich gut erholte. Sie schien auf ihn und Elle fixiert zu sein. Vielleicht half es ihr bei der Genesung, wenn sie glauben konnte, sie seien ein Paar. Wenn nötig, mussten sie ihr eben etwas vormachen.

Er würde alles tun, um seine Familie zu beschützen und dafür zu sorgen, dass Rory vollkommen wiederhergestellt wurde.

„Was hast du da gerade zu ihr gesagt? Es ist nicht gut, sie zu belügen“, sagte Elle, kaum dass sie die Tür des Krankenzimmers hinter sich geschlossen hatten.

„Du hast doch gesehen, wie sie reagiert hat, als du sagtest, wir wären kein Paar. Ich will sie nicht noch einmal verlieren“, sagte Dash. „Falls es nötig ist, so zu tun, als seien wir verheiratet, dann werden wir das tun.“

„Ich weiß nicht. Wir haben uns seit der Nacht eures Unfalls nicht mehr gesehen.“

„Wir sind uns doch sehr schnell wieder nähergekommen“, sagte er und dachte an den Kuss. Er hatte jedoch das Gefühl, dass der Kuss kein Argument war, um Elle dazu zu bringen, bei dieser Scharade mitzumachen. „Außerdem hast du doch auch gesehen, wie sie reagiert hat, als du ihr sagen wolltest, dass wir nicht zusammen sind.“ 

„Das ist richtig. Ich habe oft erlebt, dass Patienten mit traumatischen Störungen schneller gesund werden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Welt, an die sie sich erinnern, unverändert ist.“

Autor

Shannon Mc Kenna
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