Das Herz kennt die Wahrheit

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Wagemutig und unerschrocken steuert die junge Darcy das Handelsschiff ihrer Familie über die Meere, den Piraten trotzend - und den tiefen Schmerz betäubend, der sie seit dem Tod ihres Liebsten quält! Da heuert ein geheimnisvoller Fremder auf der "Undaunted" an. Er nennt sich Gryf, hat bei einem Unfall sein Gedächtnis verloren - und erinnert Darcy fatal an ihren verschollenen Verlobten Gray. Vom ersten Moment an hämpfi sie mit ihren Gefühlen für diesen Mann: mit der Sehnsucht, in seinen Armen zu sein - und mit der Scham, dass sie so kurz nach Grays Verschwinden schon einen anderen begehrt. Auch Gryf ist heiß entflammt - aber schon mit dem ersten Kuss erwacht die Angst. Angst vor der Erinnerung an eine Vergangenheit, die womöglich seine Zukunft mit der betörenden Darcy zerstört...


  • Erscheinungstag 23.03.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766757
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Cornwall, 1655

Ein Unwetter zieht auf, Kinder.“ Miss Winifred Mellon, das Kindermädchen der vier Lambert-Kinder, schritt forsch über das steinige Ufer, formte die Hände zu einem Trichter und rief in den Wind hinein. Der Strand nahe dem Wohnsitz der Lamberts, MaryCastle, war mit Felsbrocken übersät. Einige waren von beträchtlicher Größe und boten einem Kind den Anreiz, einen dieser trefflichen Sitzplätze zu erklettern. Von dort oben konnte man wunderbar beobachten, wie die aufgetürmten Wolken über den Atlantik zogen.

Der junge James, mit zwölf Jahren das älteste Kind der Lamberts, schaute auf und ging dann seinem besten Freund Gray Barton nach, der schon bald dreizehn wurde. Grays Vater war ein Schiffskapitän, der seinem Sohn bereits erlaubt hatte, ihn auf See zu begleiten. Im Stillen bewunderten die Lambert-Kinder Gray dafür, denn insgeheim träumten alle vier davon, eines Tages zur See zu fahren.

Grays schwarzes Haar wehte im Wind, als er sicher über eine Reihe rutschiger, eiförmiger Felsblöcke kletterte. James hatte alle Mühe mitzuhalten.

„Wo sind deine Schwestern?“ fragte Miss Mellon besorgt.

James zuckte mit den Schultern. „Als ich sie zuletzt sah, wollte Ambrosia unbedingt von Newt lernen, wie man spuckt.“

Empört rümpfte Miss Mellon die Nase, während die beiden Jungen lachten. Newton Findlay war Matrose gewesen an Bord des Familienschiffs, der „Undaunted“, bis er durch einen Hai ein Bein verloren hatte. Jetzt arbeitete er für die Familie an Land und ertrug gutmütig und geduldig die abertausend Fragen, die vier kleine Kinder jeden Tag zu stellen pflegten.

Seit dem frühen, tragischen Tod von Mrs. Lambert war Miss Mellon für die Kindererziehung verantwortlich. Trotz ihrer hartnäckigen Bemühungen weigerten sich die drei Mädchen jedoch beharrlich, sich wie junge Damen zu benehmen. Sie verachteten Musik, Handarbeit und Kunst und zogen es stattdessen vor, mit Holzschwertern zu kämpfen, auf den Mast des väterlichen Schiffes zu klettern oder im offenen Meer zu schwimmen, in Begleitung allerhand ungeratener Kerle. Allein dieser Gedanke raubte der armen Frau die Kraft.

„Und die beiden anderen? Bethany und Darcy?“

James deutete mit dem Finger in die Ferne. „Bethany hofft, dort oben auf der Anhöhe das Unwetter am besten sehen zu können.“

Beklommen drehte das Kindermädchen sich um und entdeckte den kleinen Rotschopf, der die Arme in den Himmel reckte. „Was macht sie da, James?“

„Sie guckt, ob ein Blitz einschlägt.“

Während die beiden Jungen sich angrinsten, stieß das Kindermädchen einen Schrei aus, raffte die Röcke und rannte, so schnell sie nur konnte, davon. Minuten später verließ sie völlig außer Atem und mit verschmutztem Rocksaum die Anhöhe und zerrte die sechsjährige Bethany hinter sich her.

Als sie endlich wieder in der Lage war zu sprechen, fragte sie das Mädchen: „Und wo ist Darcy?“

„Da draußen.“ Bethany zeigte auf die dunklen, aufgewühlten Wellen, die sich an der Küste brachen.

„Was soll das heißen? Sie ist doch nicht etwa im Meer?“

„Doch.“

Dem Kindermädchen blieb beinahe das Herz stehen. „Wer ist bei ihr?“

„Niemand, Winnie.“

Die Augen der armen Frau weiteten sich vor Angst. „Deine kleine Schwester ist allein? Im Meer? Während ein Unwetter naht?“

Als das Mädchen nickte, wurde Miss Mellon so bleich wie ihre Röcke und rannte in Richtung des Hauses. „Himmel!“ rief sie. „Newt! Newton Findlay! Ihr müsst sofort kommen! Unsere kleine Darcy ist da draußen in dem Sturm!“

Der alte Seemann hörte das Rufen und trat aus dem Schuppen heraus, wo er gerade einige Segel flickte. „Was ist mit unserer Darcy?“

In ihrem grenzenlosen Entsetzen vermochte das Kindermädchen kaum ein Wort hervorzubringen, und so stammelte sie mit erstickter Stimme: „Unsere Kleine hat das Boot genommen, Newton. Seht doch!“ Fassungslos starrten die beiden auf die aufgewühlte See. Das winzige Boot, das wie eine Nussschale hin und her geworfen wurde, war kaum noch zu erkennen.

Mehr hinkend als rennend stürmte der alte Seemann los, so schnell sein Holzbein es zuließ. Doch lange bevor er das Ufer erreichte, hatte Gray Barton bereits sein Hemd abgestreift und war in die kalten Fluten des Atlantiks gesprungen.

„O gütiger Himmel!“ Mit nassen Röcken stand Miss Mellon in der schäumenden Brandung; das Wasser lief ihr in die hohen Lederstiefel. Sie umklammerte den Arm des alten Matrosen so fest, dass ihre Nägel sich in seine Haut bohrten.

Hilflos mussten die Erwachsenen mit ansehen, wie der Junge von einer Welle nach der anderen verschluckt wurde. Jedes Mal, wenn er verschwunden war, glaubten sie mit Sicherheit, er sei ertrunken. Doch immer dann, wenn sie schon alle Hoffnung fahren ließen, erblickten sie ihn wieder und beobachteten, wie er mutig gegen die Wellen ankämpfte, die mittlerweile so hoch waren wie die Reling eines Schiffes.

„O Newton.“ Tränen strömten über Miss Mellons Wangen und nahmen ihr die Sicht. „Das ist alles meine Schuld. Ich habe es zugelassen, dass unsere Kleine ertrinkt. Und jetzt wird auch noch dieser tapfere Junge sein Leben lassen.“

„So beruhigt Euch doch.“ Der alte Seemann tätschelte ihr die Hand, während er unverwandt das klägliche Vorankommen des Jungen verfolgte. „Niemanden trifft irgendeine Schuld. Das Mädchen liebt nun einmal das Meer. Und sie ist zu jung, um die Gefahr zu sehen.“

„Ja. Sie kennt überhaupt keine Angst.“ Die Lippen der armen Frau bebten, und ihr Weinen wurde heftiger. „Auch der Junge nicht. Wie soll ich es jemals Captain Lambert beibringen? Zuerst hat er seine liebe Frau verloren. Und jetzt seine Kleine. Und er hat sie in meine Obhut gegeben.“

„Pst“, versuchte Newton das Kindermädchen zu beruhigen. „Noch besteht die Möglichkeit, dass der Junge sie rechtzeitig erreicht.“ Doch der Stimme des alten Mannes fehlte jegliche Überzeugungskraft. Er traute nur wenigen hartgesottenen Seeleuten zu, gegen solch hohe Wellen anzukämpfen. Und selbst wenn es dem Burschen gelänge, das Boot zu erreichen, wie sollte er es in dieser rauen See sicher zurück an Land bringen?

Der Himmel verdüsterte sich zusehends, und die Kinder scharten sich schutzsuchend um ihr Kindermädchen. Sie waren ungewohnt schweigsam, da sie den Ernst der Lage erkannten.

„Wird Darcy sterben, Winnie?“ fragte Ambrosia leise.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Miss Mellon keine Kraft, um die Frage zu verneinen.

„Wird sie sterben, Newt?“ Mit ängstlicher Miene zupfte James den alten Mann am Ärmel.

Newton war nicht in der Lage zu sprechen. Er legte den Arm um den Jungen und starrte weiterhin in die Ferne, obwohl es inzwischen so dunkel geworden war, dass man weder das Boot noch Gray in den Fluten sehen konnte.

Von ihren Gefühlen überwältigt, sank Miss Mellon im Wasser auf die Knie, drückte Ambrosia und Bethany gegen ihre Brust und begann heftig zu schluchzen.

Plötzlich deutete James aufs Meer. „Schau doch, Newt!“

Der alte Seemann brauchte einen Moment, ehe er erleichtert ausstieß: „Bei meiner Treu.“

„Was ist?“ Das Kindermädchen erhob sich wieder und blickte angestrengt aufs Wasser, aber alles, was es sehen konnte, war die schwarze, aufgeworfene See.

„Dort.“ Als ein Blitz über den Himmel zuckte und auf den Wellen zu tanzen schien, konnten sie die Umrisse eines kleinen Bootes erkennen.

Bei jedem grellen Blitz schien das Boot näher zu kommen.

„Gelobt sei …“, murmelte Newton, als er in die schäumende Brandung lief.

Minuten später zog er das kleine Boot ans Ufer. Völlig außer Atem kletterte Gray heraus und hielt die kleine Darcy in den Armen.

Als Miss Mellon ihm das Kind abnehmen wollte, klammerte sich die Kleine mit beiden Armen an ihren Retter und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge.

„Nein. Ich will bei Gray bleiben. War er nicht tapfer? Er ist den ganzen Weg geschwommen, um mit mir zurückzurudern. Und was für eine aufregende, unruhige Fahrt das war! Ich hatte schon Angst, aber Gray sagte, er würde es nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Niemals.“

Anstatt das Mädchen auf die Füße zu stellen, um wieder zu Atem zu kommen, strahlte der Junge über das ganze Gesicht. „Alles in Ordnung, Miss Mellon. Sie ist nicht schwer. Sie ist ja noch ein kleines Mädchen.“ Er blickte in ihre Augen und sah, dass sie voller Bewunderung zu ihm aufschaute. „Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Darcy hatte nicht einmal Angst. Sie paddelte wie wild und war ein bisschen verärgert, dass sie nicht zurück zur Küste kam.“

Er guckte die anderen an. „Ist sie nicht etwas ganz Besonderes?“

„Ja, mein Junge, das ist sie“, bestätigte Newton. „Genau wie du. Du hast großen Mut bewiesen.“

„Ich habe ihrem Vater feierlich versprochen, dass ich immer auf sie achten werde, wenn er auf See ist.“

„Das hast du heute bewiesen, Junge.“

„Ja, Sir. Denn ich halte mein Versprechen.“

„Das glaube ich.“ Newton legte den Arm um die Schultern des Jungen und führte ihn zum Haus der Lamberts.

Und obwohl Gray am Ende seiner Kräfte sein musste, trug er seine kleine Last den ganzen Weg und setzte Darcy schließlich auf einen Teppich vor dem Kaminfeuer. Dann legte er sich neben sie und hüllte sich in eine warme, trockene Decke.

Als kurze Zeit später die Haushälterin mit Tassen voll warmer Milch hereinkam, war der Junge in tiefen Schlaf gefallen. Mit angezogenen Beinen lag Darcy dicht neben ihm und hatte ihre Hand in die seine gelegt.

Während die Erwachsenen an den Kamin traten und sich die ungeheuerliche Heldentat des Jungen vor Augen führten, wurde ihnen noch etwas anderes klar. Obgleich Gray beinahe acht Jahre älter war als Darcy, waren diese beiden jungen Menschen sich in besonderer Weise zugetan. Beide waren von der See fasziniert und liebten sie. Beide waren völlig furchtlos. Und der Glaube an den jeweils anderen war unerschütterlich.

Newton beobachtete die Schlafenden. Selbst ihre Atemzüge folgten dem gleichen Rhythmus. „Eine vollkommenere Verbindung kann ich mir nicht vorstellen.“ Er schüttelte den Kopf, ehe er zu Bett ging und vor sich hinmurmelte: „Hoffentlich erlebe ich es noch, wenn sie erwachsen sind.“

Einige Menschen, machte er sich bewusst, waren einfach füreinander geschaffen.

1. KAPITEL

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Ambrosia und Bethany jetzt beide verheiratet sind, nicht wahr, Großvater?“ Darcy Lambert, die jüngste der drei Lambert-Schwestern, stand neben ihrem Großvater auf dem Söller des Wohnsitzes MaryCastle, der sich im ersten Stockwerk an der Längsseite des Gebäudes befand. Während sie sprach, blickte sie unverwandt zum Horizont, denn sie hoffte, die hohen Masten der „Carrington“ zu erspähen, des Schiffes, auf dem Gray Barton als Erster Offizier diente.

„Ich habe keine Zweifel, dass du den beiden schon bald in den Hafen der Ehe folgen wirst, mein Mädchen.“ Liebevoll strich Geoffrey Lambert Darcy über die Wange, und sie umschloss seine Hand.

„Ja. Gray sagte, dass er zum letzten Mal unter fremdem Kommando auf See sein wird. Das nächste Mal wird er Kapitän seines eigenen Schiffes sein. Denk nur, Großvater. Kapitän eines Schiffes. Das hat er sich seit langer Zeit erträumt. Und er hat mir versprochen, dass ich mit ihm fahren werde, wenn er wieder die Segel setzt, als seine Gemahlin und Erster Offizier.“

Der alte Mann seufzte. „Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ich meine drei Mädchen in nur einem einzigen Jahr verlieren werde.“

„Aber du verlierst uns doch nicht, Großvater“, erwiderte Darcy beschwichtigend. Sie deutete auf die Arbeiter, die ein neues Gebäude neben dem alten Wohnsitz errichteten. „Ambrosia und Riordan werden bald nebenan wohnen. Bethany und Kane leben nur eine kurze Fahrt entfernt bei der Penhollow Abbey. Was Gray betrifft, so glaube ich, dass er zustimmen wird, hier in MaryCastle zu wohnen, wenn wir nicht an Bord des Schiffes sind. O Großvater.“ Sie schlang die Arme um seine Taille und drückte ihre Wange an die seine. „Denk doch nur an all die süßen Kinder, die wir dir schenken können.“

„Ja.“ Er lächelte. „Eine neue Generation, die dem alten Newt auf die Nerven gehen kann und die arme alte Winnie in den Wahnsinn treibt.“

Darcy fiel in das Lachen ein. „Es wird sie neu beleben, Großvater. Es wird uns alle beleben.“

„In der Tat.“ Als der Wind heftiger wurde, zitterte der alte Mann. „Der Winter wird uns im Griff haben, bevor wir es ahnen. Komm, mein Mädchen. Lass uns hineingehen.“

„Geh du nur, Großvater.“ Darcy zog sich das Tuch fest um die Schultern. „Ich bleibe noch ein wenig hier draußen. Ich habe das Gefühl, dass Grays Schiff heute einlaufen wird. Und ich möchte die Erste unten am Ufer sein, die ihn begrüßt.“

„Ja, mein Mädchen.“ Sacht berührte er ihre Schulter, bevor er sich abkehrte. „Aber bleib nicht zu lange in der Kälte. Du willst doch nicht, dass Gray dich hier angefroren auf dem Söller findet.“

„Mach dir keine Sorgen.“ Sie umfasste das Geländer und wandte sich der See zu. „Mein Herz wird genauso für ihn glühen wie bei seiner Abfahrt. In meiner Seele ist ein Feuer, das nur für ihn allein brennt.“

„Unser Dinner wird bald kalt sein.“ Mistress Coffey, die Haushälterin der Lamberts, blickte sich verstimmt um. „Wo ist Darcy?“

Ambrosia fuhr fort, die Kerzen in der Mitte der Tafel anzuzünden. Sie war soeben von nebenan herübergekommen, wo sie und ihr Gemahl Riordan Spencer ihr neues Haus errichten ließen. „Ich habe sie den ganzen Nachmittag noch nicht gesehen.“

„Wenn ich raten müsste“, sagte ihr Großvater, „würde ich sagen, dass sie vermutlich immer noch auf dem Söller steht und nach Grays Schiff Ausschau hält.“

„Dann solltest du vielleicht mit ihr sprechen, Geoffrey.“ Das alte Kindermädchen, Winifred Mellon, schnalzte mit der Zunge, als sie den gewohnten Platz am Tisch einnahm. „Das ist nun schon das fünfte Mal, dass sie das Dinner verpasst.“

„Du kannst es ihr nicht verübeln, dass sie unruhig ist, Winnie.“ Ambrosia küsste ihren Gemahl auf die Wange, als er den Speiseraum betrat, und hakte sich bei ihm ein. „Grays Schiff hätte schon vor mehr als einem Monat hier sein müssen.“ Riordan hauchte einen Kuss auf die Lippen seiner Frau. „Und du, mein Liebling, solltest besser als alle anderen wissen, dass Schiffe ihren Zielhafen niemals pünktlich erreichen. Es gibt so viele Dinge, die einen Zeitplan durcheinander bringen können, nicht zuletzt das Wetter.“ Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, als die anderen Platz nahmen. „Ich habe von Seeleuten gehört, dass furchtbare Stürme vor der walisischen Küste toben. Wollte Grays Schiff nicht genau dorthin?“

„Ja.“ Geoffrey Lambert verließ plötzlich die Tafel.

„Wohin geht Ihr?“ wollte die Haushälterin wissen.

„Ich hole das Mädchen. Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie Ausschau hält. Aber sie muss bei Kräften bleiben.“

Die anderen warteten und atmeten erleichtert auf, als der alte Mann schließlich mit Darcy an den Tisch zurückkehrte. Ihr blondes Haar war vom Wind zerzaust, und die Wangen leuchteten rot von der kalten Brise, die vom Atlantik herüberwehte. Und obwohl die tiefen Schatten unter ihren Augen von vielen schlaflosen Nächten zeugten, brachte sie ihrer Familie gegenüber ein freundliches Lächeln zu Stande.

„Großvater hat mich überredet, von Eurem feinen Gänsebraten zu kosten, Mistress Coffey.“

„Du wirst es nicht bereuen.“ Die Haushälterin reichte die Platte herum. „Ich habe Eure geliebte süße Honigsauce und Sauerrahmplätzchen gemacht.“

Die alte Frau ging von Platz zu Platz und goss Tee in die Tassen. Man hörte, wie die Haustür aufging. Es konnte nur der alte Newton sein. Das Geräusch verriet, dass er sich den Dreck von seinen Stiefeln schlug. Anscheinend ließ er sich diesmal besonders viel Zeit, ehe er den Speiseraum betrat.

„Wurde auch Zeit.“ Mistress Coffey warf ihm einen finsteren Blick zu. „Noch eine Minute länger, und ich hätte Libby gebeten, deinen Teller vom Tisch zu nehmen.“ Sie rümpfte die Nase, als sie an ihm vorbeiging. „Rieche ich da Alkohol?“ Ihre Augen schienen Funken zu sprühen. „Newton Findlay, bist du wieder in der Dorfschenke gewesen?“

„Ja“, erwiderte er kleinlaut. Der alte Seemann blieb auf der Schwelle stehen und machte keine Anstalten, am Tisch Platz zu nehmen. Und anstatt sich mit der Haushälterin auf einen lebhaften Wortwechsel einzulassen, dem die ganze Familie wieder gespannt entgegensah, blieb Newton ungewöhnlich schweigsam.

Als er sich weiterhin nicht rührte, hielten die anderen inne und schauten ihn fragend an.

„Was ist, Newt?“ Ambrosia zog die Stirn in Falten. „Du siehst aus, als hättest du soeben deinen besten Kameraden verloren.“

„Nicht ich, mein Kind.“ Er räusperte sich und starrte auf seine Stiefel.

Angestrengt suchte er nach den richtigen Worten. Dann schaute er auf und sah Darcy an. „Ich habe Männer unten im Dorf reden hören, mein Mädchen.“

„Männer im Dorf?“ Hastig setzte sie die Teetasse ab. Ihre Augen weiteten sich vor Freude, während ein zartes Lächeln ihren Mund umspielte. „Gray. O Newt. Sie haben von Gray gesprochen.“

„Nicht direkt, Mädchen. Aber sie sprachen über sein Schiff.“

„Ja?“ Unwillkürlich führte sie eine Hand zum Herzen. „Was hast du gehört, Newt? Wann wird er heimkehren?“

„Ich traf einen Mann, dessen Bruder mit Gray an Bord der ‚Carrington‘ war. Sie waren vor der Küste von Wales, als sie in einen Sturm gerieten. Einige sagen, es sei ein Hurrikan gewesen, doch sie glaubten, sie würden es schaffen. Dann muss ein fürchterliches Feuer an Bord ausgebrochen sein. Keiner weiß, wie es dazu kommen konnte. Vermutlich ist während des Unwetters ein Kohlenbecken umgekippt. Auf jeden Fall waren alle Seeleute gezwungen, das Schiff zu verlassen.“

Darcy schob ihren Stuhl zurück und stand abrupt auf. Mit beiden Händen umklammerte sie die Tischplatte und starrte Newton mit weit aufgerissenen Augen an. „Was ist mit Gray, Newt? Sag mir … sag mir, dass er es bis zur Küste geschafft hat.“

Der alte Seemann schüttelte den Kopf. „Sein Kapitän verletzte sich bei dem Feuer. Gray hat sich darum gekümmert, dass er mit dem Rest der Mannschaft in einem Boot Platz fand. Aber Gray weigerte sich, das Schiff zu verlassen, bevor nicht alle anderen in Sicherheit waren. Sie sahen ihn von Flammen eingeschlossen, als die ‚Carrington‘ sank.“

„Sie?“ Ihre Augen verengten sich. „Wer sind die, die so üble Geschichten erzählen?“

„Grays Matrosen, mein Mädchen. Nur drei haben es geschafft. Die übrigen hat die See verschluckt, auch den Kapitän und diejenigen, die mit ihm in dem Boot saßen.“

„Nein“, brachte sie scharf hervor. „Gray ist ein guter Schwimmer.“ Zustimmung heischend sah sie die anderen an. „Nichts hätte ihn aufhalten können, die Küste zu erreichen. Nichts. Nicht einmal ein Feuer.“

„Mädchen …“

„Nein, Newt.“ Darcy stieß sich vom Tisch ab. „Ich würde es wissen, in meinem Herzen.“ Sie starrte ihren Großvater an, dann ihre ältere Schwester, um zu sehen, ob man sie verstand. „Ich hätte den Schmerz verspürt, wenn er ertrunken wäre. Ich hätte selbst aufgehört zu atmen.“

„Darcy …“ Ambrosia war im Begriff, sich zu erheben, doch ihre Schwester schüttelte heftig den Kopf.

„Er ist nicht tot. Ich werde das nicht hinnehmen. Das kann ich nicht.“ Ihre Augen huschten ängstlich von einem zum anderen, wie bei einem Tier, das in der Falle saß. „Gray hat überlebt. Ich weiß, dass er lebt. Es muss so sein.“

„Aber Mädchen …“

Sie hob eine Hand, um Newton am Sprechen zu hindern. „Es kümmert mich nicht, was andere dir erzählt haben. Wie kann ich noch am Leben sein, wenn Gray tot ist? Verstehst du nicht? Es ist unmöglich für mich, ohne ihn zu leben. Wir sind … eins. Wir waren immer schon eins. Wir haben ein Herz. Dieselbe Seele. Denselben Geist.“

„Du magst so denken, mein Mädchen. Aber tatsächlich seid ihr zwei getrennte Lebewesen. Und wie schmerzvoll es auch immer sein wird, es ist möglich, ohne Gray zu leben.“

„Nein. Halt ein, Newt. Es ist nicht möglich. Gray lebt, ich sage es dir.“

Sie floh aus dem Zimmer, während die anderen ihr hilflos nachschauten.

Darcy vergoss keine Tränen und würde es auch in Zukunft nicht tun. Sie ließ es einfach nicht zu. Wenn sie den Tränen freien Lauf gewährte und sich dem Schmerz hingäbe, würde sie sich eingestehen, dass ihr geliebter Gray tot war. Und das wollte sie um keinen Preis.

Stattdessen kehrte sie auf den großen Söller zurück, schritt auf und ab und sah hinaus auf die See, um zu warten. Er würde wiederkommen. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie die hohen Masten, die leuchtenden Segel und das kleine Boot sehen, das die Mannschaft an Land brachte. Und sie stellte sich Gray vor, wie er über den Strand schritt und wie sein wundervolles Lächeln das hübsche, markante Gesicht erstrahlen ließ, wenn er sie in die kraftvollen Arme schloss und sich mit ihr im Kreise drehte.

Bei dieser Vorstellung schloss sie die Augen und lächelte.

Sie liebte ihn, hatte ihn immer geliebt. Und stets hatte sie gleichsam mit einem sechsten Sinn gespürt, dass sie ihr Leben gemeinsam verbringen würden. Sie war nur für ihn allein geboren worden. Und wenn er aus dem Leben geschieden wäre, hätte sie es irgendwie gewusst. Sie hätte gespürt, wenn seine Seele an ihrer vorbeigeschwebt wäre.

Als die Dunkelheit sich wie eine Decke über das Wasser legte, frischte der Wind auf. Erst dann hörte sie es. Ein leises Stöhnen, das ein Prickeln in ihrem Nacken auslöste.

Newton hatte ihr immer erzählt, die See sei eine Frau. Eine Frau, die den Matrosen etwas zurief und viele von ihnen dazu brachte, ihr Leben für sie aufs Spiel zu setzen. Aber das, was sie jetzt vernahm, war die leise, gequälte Stimme eines Mannes, der offenbar Schmerzen litt.

Sie hielt sich die Ohren zu und sank schluchzend auf die Knie. „O Gray. Bitte, Gray. Nein, ich kann es nicht ertragen. Du musst aufhören, bevor du mir mein armes Herz brichst.“

Doch die Klagelaute wollten nicht aufhören, rissen an ihrem Herzen und versengten ihren Geist und ihre Seele. Erschüttert sackte sie an dem Geländer zusammen und verlor die Besinnung.

Es war Newton, der Darcy fand und die breite Treppe hinunter in den Salon brachte.

„O gütiger Himmel.“ Miss Mellon erblickte die reglose, blasse Frau und deutete auf die Chaiselongue. „Bring sie hierher, Newt.“

„Ja.“ Äußerst behutsam legte der alte Mann seine Last ab, als ob er Angst hätte, Darcy könne wie Kristallglas zerbrechen.

„Geoffrey“, rief die alte Frau. „Wir benötigen etwas von dem Whisky.“

„Das denke ich auch.“ Captain Lambert füllte ein wenig in ein großes Glas und führte es an die Lippen seiner Enkelin.

Als ihr die scharfe Flüssigkeit die Kehle hinunterrann, hustete Darcy und rang nach Luft. Dann öffnete sie die Augen.

„Was ist bloß geschehen? Deine Finger sind ja eiskalt.“ Ambrosia begann, die Hände ihrer Schwester zu reiben.

„Ich hörte …“ Darcy schluckte. „Ich hörte, wie Gray nach mir rief. Er leidet furchtbare Schmerzen.“

Ambrosia warf den anderen einen flüchtigen Blick zu, die mit besorgten Mienen auf Darcy hinabschauten. „Du hast bloß geglaubt, ihn zu hören.“

„Nein.“ Heftig schüttelte Darcy den Kopf. „Ich habe ihn gehört. Genauso deutlich, wie ich jetzt euch höre.“ Sie wandte sich Newton zu. „Es stimmt, Newt.“

„Mädchen.“ Er legte seine zerfurchte Hand auf die ihre. „Du weißt, was das Meer uns vorzugaukeln vermag. Die See kann seufzen und stöhnen und sogar sprechen, wenn sie es darauf anlegt. Aber es ist die See, die spricht. Nicht Gray.“

„Es war Gray.“ Eine große glitzernde Träne löste sich aus Darcys Augenwinkel und lief ihr über die Wange. „Er hat Schmerzen. Er braucht mich. Doch ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.“

„Beruhige dich.“ Geoffrey Lambert drückte ihr das Whiskyglas in die Hand. „Ich möchte, dass du das trinkst. Alles. Es wird dich aufwärmen und dich gut schlafen lassen, mein Mädchen.“

„Ich will aber nicht schlafen, Großvater.“

„Dann trink es für mich.“ Er setzte sich neben sie auf das Sofa, umschloss ihre Hand und führte das Glas an ihre Lippen.

Sie trank und verspürte ein Brennen in ihrem Hals, als der Whisky sich wie Feuer seinen Weg bahnte. Schon nach kurzer Zeit legte sich das Zittern, das sie zuvor erfasst hatte. Jetzt erst nahm sie wahr, dass die anderen, die nach wie vor um die Chaiselongue herumstanden, sich besorgte Blicke zuwarfen.

„Mir … geht es wieder gut. Ihr könnt euch nun alle zu Bett begeben.“

„Nicht, bevor du dich hingelegt hast.“ Ambrosia sah ihren Gemahl an, der zustimmend nickte.

„Ich … denke, ich werde schlafen können.“ Darcy reichte der Haushälterin das leere Glas und kam nur mit Mühe wieder auf die Beine.

Sogleich legte Ambrosia einen Arm um ihre Schwester und ging mit ihr zur Treppe. Während sie die Stufen zum zweiten Stock erklommen, strich Ambrosia Darcy über die Wange. „Du hast einen furchtbaren Schock erlitten. Kein Wunder, dass dein Geist dir Dinge vorgaukelt.“

Darcy war im Begriff, zu widersprechen, doch sie hielt sich zurück. Es gab keinen Grund, die anderen zu verstimmen und unnötig aufzuregen.

„Wenn du magst …“, Ambrosia blieb vor dem Gemach ihrer Schwester stehen, „komme ich eine Weile mit herein und wir könnten reden. Oder vielleicht möchtest du gerne, dass ich die Nacht über bei dir bleibe. Wir könnten zusammen in einem Bett schlafen, wie früher, als wir noch klein waren und eine von uns Angst hatte.“

„Nein.“ Darcy schaute an ihr vorbei und sah Riordan Spencer an. „Du hast jetzt deinen Gemahl.“

„Es macht Riordan nichts aus …“

Darcy schüttelte den Kopf. „Ich bin sehr müde. Ich werde schlafen.“

„Bist du sicher?“

„Ja.“ Sie hauchte einen Kuss auf die Wange ihrer Schwester. „Aber hab Dank für dein Angebot. Gute Nacht.“

Sie betrat ihr Gemach und schloss die Tür. Dann lehnte sie mit dem Rücken an der Tür und lauschte, wie die Schritte im Korridor verhallten. Als die anderen im Hause sich zur Ruhe begeben hatten, trat sie an das große Fenster, das zur Seeseite hinausging, kniete sich hin und stützte die Arme auf dem breiten Sims ab.

Darcy wusste, dass in dieser Nacht nicht an Schlaf zu denken war. Sie musste wach bleiben und Acht geben, falls Gray wieder nach ihr rief.

Das Kinn auf die Hände gestützt, sah sie angestrengt in die Dunkelheit hinaus und hoffte, dort draußen ein Stück eines weißen Segels zu erblicken.

War sie dem Wahnsinn nahe? Leugnete sie die Wahrheit beharrlich? War das die Art und Weise, wie andere Leute mit dem Verlust eines Seelenverwandten umgingen?

„O Gray.“ Sie fühlte, wie die Tränen in ihren Augen brannten, doch sie blinzelte rasch und begann zu schlucken, da ihr die Kehle wie zugeschnürt war. Sie durfte ihren Tränen keinen freien Lauf lassen. Gäbe sie dieser Schwäche nach, so wäre ihr letztes bisschen Selbstbeherrschung dahin. Verbissen kämpfte sie gegen die Schluchzer an. „Gray, wie soll ich ohne dich leben? Ich kann es nicht ertragen. Oh, ich kann mir keine Zukunft ohne dich vorstellen.“

Sie hielt sich eine Hand an den Bauch und kämpfte gegen die plötzliche Übelkeit an, die sie geschwächt auf dem harten Holzboden niedersinken ließ. Ihr Leib war von kaltem Schweiß bedeckt. Es pochte in ihrem Kopf, und der Hals tat ihr weh von all der Anstrengung, keine Tränen zu vergießen. Erst nach langer Zeit fiel sie in einen tiefen Schlaf, der angefüllt war mit Bildern eines brennenden Schiffes, das langsam in den aufgeworfenen schwarzen Wogen des Atlantiks versank.

„Darcy?“ Die alte Miss Mellon schlich in das Gemach und erschrak, als sie die junge Frau zusammengekrümmt unter dem Fenster liegen sah.

„Ja?“ Darcy hob den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihr wirr ins Gesicht hing. Ein bleiches und gequältes Gesicht.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und leuchtende Strahlen fielen durch das Fenster.

„Wir haben dich nicht zur Sonntagsmesse geweckt, da wir es für besser hielten, dich schlafen zu lassen.“

„Hab Dank, Winnie. Ich …“ Darcy schaute sich um und machte sich bewusst, dass sie die Nacht auf dem Fußboden verbracht hatte. „Das war nett von dir.“

„Vikar Thatcher Goodwin hat der Gemeinde die Nachricht überbracht. Er hat die Absicht, heute Abend einen Gedenkgottesdienst für all die Männer aus dem Dorf abzuhalten, die an Bord der ‚Carrington‘ dienten und auf See geblieben sind.“

Als Darcy nichts erwiderte, holte die alte Frau tief Luft. „Du musst an der Messe teilnehmen, mein Kind.“

Doch Darcy schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn ich das täte, würde ich zugeben, dass Gray …“

„Das verstehe ich. Aber die anderen in Land’s End werden es nicht begreifen. Sie wissen seit langem, dass du und Gray …“, sie wählte ihre Worte mit Bedacht, „. vorhattet, euer Leben gemeinsam zu verbringen. Wenn du dem Gottesdienst fernbleibst, werden sie denken, dass dir nicht viel an der Teilnahme liegt.“

Darcy seufzte. „Es kümmert mich nicht, was die anderen denken, Winnie. Das war schon immer so.“

Das alte Kindermädchen straffte die Schultern. Mit den Jahren hatte sie gelernt, wann sie nachgeben musste und in welchem Fall diese eigensinnigen jungen Frauen eine Zurechtweisung verdienten. Sie hatte sich auf einen längeren Wortwechsel eingestellt.

„Es mag dich nicht kümmern, was die Dorfbewohner denken. Aber du schuldest es Grays Andenken, teilzunehmen.“

„Aber ich …“

Miss Mellon hielt die Hand hoch. „Du hörst mir jetzt zu, Darcy. Heute Abend wirst du deine eigenen Gefühle zurückstellen. Du wirst die Lesungen aus der Bibel und die Kirchenlieder über dich ergehen lassen, auch wenn dein Herz gebrochen ist. Du wirst das tun, weil es richtig ist und deine Familie und deine Freunde es von dir erwarten. Aber hauptsächlich wirst du es tun, um das Andenken des edlen jungen Mannes in Ehren zu halten, den du immer geliebt hast.“

Darcy hielt ihre Widerworte zurück, die ihr auf der Zunge brannten, und nickte schließlich.

„Fein.“ Miss Mellon tätschelte ihre Schulter. „So ist es recht, Kind. Reiß dich zusammen und bereite dich auf den Gottesdienst vor.“

Sie wandte sich ab und verließ das Schlafgemach. Am unteren Treppenabsatz wartete der Rest der Familie. Miss Mellon nickte steif und sah, dass die anderen vor Erleichterung aufatmeten.

Ohne ein Wort zu verlieren, ging sie weiter, und es gelang ihr, die Tränen so lange zurückzudrängen, bis sie ihr eigenes Zimmer erreicht hatte. Erst dann ließ sie es zu, um das Kind zu weinen, das ihr in all den Jahren so viele ängstliche Momente beschert hatte. Sie trauerte mit der anmutigen jungen Frau, die sie geworden war. Es tat ihr in der Seele weh, dass das arme Mädchen nun den Mann beerdigen würde, der sie zu seiner Braut machen wollte.

Sämtliche Bänke der kleinen Dorfkirche waren besetzt. Aus allen Teilen von Land’s End kamen die Leute herbei, um den Seeleuten ihre Anerkennung zu zollen, die ihr Leben an Bord der „Carrington“ verloren hatten. Die Frauen sahen düster aus in ihren dunklen Gewändern und Hauben, und die Kinder waren ungewöhnlich still. Die Männer, ob jung oder alt, nickten bei jedem Wort, das der Vikar Thatcher Goodwin sprach. Alle Männer, Frauen und Kinder in Cornwall verstanden, welchen Gefahren sich die Seeleute jedes Mal ausgesetzt sahen, wenn sie sich auf den Atlantik hinauswagten. Die See war eine strenge Gebieterin. Eine wankelmütige und oft feurige Geliebte, die einem Mann aus einer Laune heraus das Herz oder auch das Leben rauben konnte – und die trauernde und klagende Witwen und Waisen zurückließ.

Darcy saß bei ihrer Familie und rang um Fassung. Während all der endlosen Gebete, Lesungen und Kirchenlieder, die ihr Herz rührten, blickte sie starr geradeaus und weigerte sich, zu denjenigen hinüberzuschauen, die Tränen vergossen. Denn wenn sie es täte, würde sie sich dem Mitleid öffnen und dem Kummer, der schließlich einen wahren Sturzbach aus Tränen bei ihr auslösen könnte.

Der Trauer der Kirchengemeinde wollte sie sich nicht anschließen. Sie konnte es nicht. Und so saß sie in der Bank, hielt die Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten verkrampft und richtete die starren, trockenen Augen in die Ferne.

Sie hatte sich nach innen gekehrt. Dort lag ihre Stärke, ihre Rettung, sich dieser trauernden Menge zu widersetzen. Sie sah sich allein auf einer Klippe stehen und auf die schäumende See hinabblicken. Das Meer konnte ihr nichts anhaben, vermochte ihr kein Leid zuzufügen. Und bald, wenn die See ihre Kraft erkannte, würde sie den Mann wieder freigeben, den sie ihr hatte wegnehmen wollen.

Als der ermüdende Gottesdienst schließlich zu Ende war, seufzte Darcy erleichtert und folgte ihren Schwestern durch den Mittelgang.

Sie erschrak, da jemand hastig ihre Hand ergriff und eine hohe Stimme an ihre Ohren drang.

„O Darcy. Ich wollte es nicht glauben, als ich erfuhr, dass Gray einer derjenigen ist, die ihr Leben an Bord der ‚Carrington‘ lassen mussten.“ Edwina Cannon stand vor ihr und schlang die Arme fest um sie, obwohl Darcy sich der aufdringlichen Frau entziehen wollte. „Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst.“

Die junge Frau sah mit Befriedigung, dass mehrere Leute stehen geblieben waren und in ihre Richtung schauten. Da sie es stets genoss, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, fuhr Edwina mit einer noch lauteren und höheren Stimme fort: „Mir erging es genauso, als ich meinen geliebten Silas verlor. Er war noch so jung. Wie dein Gray. Ich war am Boden zerstört.“ Sie stieß einen übertriebenen Seufzer aus. „Aber nach einiger Zeit gelang es mir, mich zusammenzunehmen. Auch du wirst es schaffen.“

Darcy löste sich aus Edwinas Armen und fühlte, dass ihr Gesicht brannte, als sie merkte, wie viele Leute sie anstarrten. „Hab Dank, Edwina. Jetzt muss ich wirklich gehen.“

„Nein.“ Edwinas Fingernägel bohrten sich in Darcys Haut, während sie ihr Handgelenk umklammerte. „Diese guten Menschen sind gekommen, um ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.“ Sie drehte sich um und schenkte den Leuten, die zuhörten, ein verhaltenes Lächeln. Kein Zweifel, sie kostete ihre Rolle als Trauernde wahrlich aus. „Allein der Anstand gebietet, dass man etwas verweilt, um die Beileidsbezeigungen all derer entgegenzunehmen, die Gray kannten und liebten.“

In Darcys Augen lag ein wildes Funkeln – ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie sich nicht länger beherrschen konnte. Ihre Schwestern hatten dies bemerkt und stellten sich rasch zwischen Darcy und die junge, taktlose Frau.

Bethany biss die Zähne zusammen, doch sie rang sich ein dünnes Lächeln ab. „Danke für deine Anteilnahme, Edwina. Aber wir müssen jetzt wirklich gehen.“

„Aber ich …“

Die schrille Stimme verstummte, als Bethany einen Arm um Edwinas Schultern legte und die aufdringliche Frau in eine Kirchenbank zog. Im selben Augenblick ergriff Ambrosia Darcys Hand und führte sie inmitten der anderen Gemeindemitglieder zum Portal der Kirche.

„Hier entlang, mein Mädchen.“ Geoffrey erkannte die angespannte Lage und deutete auf einen Seitenausgang.

Wenige Minuten später waren sie unbemerkt aus der Tür geschlüpft. Unmittelbar vor den Treppenstufen wartete Newton schon mit der Kutsche. Als alle eingestiegen waren, knallte er mit der Peitsche, und das Pferdegespann fiel in einen leichten Trab.

Ambrosia und Bethany drehten sich um und sahen, dass Edwina Cannon und ihre Mutter, umringt von zahllosen Dorfbewohnern, gerade ins Freie traten.

„Seht sie euch an“, meinte Bethany. „Wie ich Edwina kenne, wird sie die Menge bestimmt noch eine Stunde lang mit ihrem eigenen schmerzhaften Verlust in ihren Bann schlagen.“

„Ja“, pflichtete Ambrosia ihrer Schwester bei. „Was für eine dumme Gans sie doch ist! Gerade tat sie so, als habe sie einen geliebten Menschen verloren. Hat sie denn ganz vergessen, was für ein niederträchtiger Schurke dieser Silas Fenwick gewesen ist?“

„Da hast du Recht“, schaltete sich Mistress Coffey empört ein, die sich sonst immer mit einem Urteil zurückhielt. „Immerhin hat dieser Lord Fenwick dir und deinem Riordan nach dem Leben getrachtet und obendrein ein Komplott gegen den König geschmiedet. Wie sich ja später herausstellte, hatte er es auch auf Edwinas Leben und das ihrer Mutter abgesehen. Und diesem Mann trauert sie auch noch hinterher?“ Die alte Haushälterin stieß einen unwirschen Laut aus und sah kopfschüttelnd aus dem Kutschfenster.

Ambrosia hob die Stimme und machte Edwinas schrillen Tonfall nach. „Ich Arme. Keiner hat je so gelitten wie ich.“

Während die anderen noch über ihren beißenden Spott lachten, warf Ambrosia einen schnellen Blick auf ihre jüngste Schwester – Darcy hatte die ganze Zeit über teilnahmslos neben ihnen gesessen und sich in ein undurchdringliches Schweigen zurückgezogen.

2. KAPITEL

Das Essen war köstlich, Mistress Coffey.“ Wie immer gelang es Riordan Spencer, der alten Haushälterin mit einem einfachen Kompliment eine leichte Röte auf die Wangen zu treiben. „Ich denke, Ihr werdet es noch bereuen, dass wir unser Haus in unmittelbarer Nähe errichten lassen. Ambrosia und ich werden vermutlich jeden Abend herüberkommen, um Eure Kochkünste zu preisen.“

„Es würde mir Freude bereiten.“ Mistress Coffey goss reihum Tee ein. „Ich wünschte nur, wir könnten Bethany und Kane überreden, öfter zu kommen.“

„Das würden wir gerne tun, wenn Mistress Dove nicht immer so unruhig wäre.“ Bethany nippte an dem Tee und lächelte ihren Gemahl an. „Jedes Mal, wenn wir hier waren, brauchten wir zwei Tage, um ihr zu versichern, dass wir ihre Dienste immer noch schätzen.“

„Nun, es erfüllt mein Herz mit Freude, meine drei Mädchen um mich zu haben.“ Die alte Frau sah Darcy an, die blass und still am Tisch saß. Sie hatte während der Mahlzeit kein einziges Wort gesagt.

In den vergangenen Wochen war sie kaum mit den anderen beisammen gewesen. Zuerst hatte sie Stunden auf dem großen Söller zugebracht und ziellos in die Ferne gestarrt. Doch jetzt, da der Winter gekommen war, hatte sie sich stets in ihr Gemach begeben, um stundenlang aus dem Fenster zu starren.

Bethanys Gemahl, der Earl of Alsmeeth, wandte sich an Ambrosias Mann. „Wie geht es mit dem Haus voran, Riordan?“

„Die Handwerker leisten treffliche Arbeit. Ambrosia und ich hoffen, dass wir sogar noch vor dem Frühling einziehen können.“ Riordan nahm einen Schluck Ale. „Ich würde mich freuen. Doch das bedeutet, dass ich ein verlockendes Angebot verpasse, Waren von Schottland nach Wales zu transportieren.“

„Ah, nun“, lächelte Geoffrey Lambert. „Wenn die Winterwinde heulen, wirst du froh sein, mit deiner Gemahlin am Feuer sitzen zu können. Und ich bin sicher, Ambrosia wird glücklicher sein, wenn sie dich bei sich zu Hause weiß.“

„Fürwahr.“ Riordan lächelte seine Gemahlin an. „Deshalb bat ich den Hafenmeister, den Kapitän eines anderen Schiffes für den Auftrag zu suchen.“

Bei diesen Worten schaute Darcy auf. „Hat er schon jemanden gefunden?“

Riordan zuckte mit den Schultern. „Das bezweifele ich. Ich habe die Anweisung erst heute erteilt.“

„Dann möchte ich den Auftrag übernehmen.“

Verwundert sahen die anderen sie an.

Geoffrey Lambert räusperte sich. „Die Fahrt geht nicht zu einer exotischen Insel, Mädchen, wo das ganze Jahr die Sonne scheint. Wir reden davon, die Gewässer vor Schottland und Wales im tiefen Winter zu befahren. Schwere Stürme wüten dort und …“

„Ich weiß, Großvater. Aber ich möchte es trotzdem tun“, setzte sie beharrlich nach.

„Vielleicht. Doch wo willst du eine Mannschaft auftreiben, die um diese Zeit bereitwillig an Bord geht?“

„Es gibt Seeleute im Dorf, die geradezu um Arbeit betteln.“

„Ich nehme an, du würdest genug Leute finden, um die ‚Undaunted‘ zu bemannen. Aber wie steht es mit dem Ersten Offizier?“

Darcy drehte den Kopf zur Seite. „Würdest du mit mir segeln, Newt, als mein Erster Offizier?“

Der alte Mann dachte an die Winter zurück, als er noch jung gewesen war und gegen Wellen angekämpft hatte, die höher als Berge gewesen waren. Er erinnerte sich an Kameraden, die kein Gefühl mehr in ihren Händen und Füßen gehabt hatten und vor Erschöpfung in die schwarzen Wogen gestürzt waren. Und dann dachte er an die Annehmlichkeiten von MaryCastle im Winter, an die gemütlichen, mit Holz beheizten Räume, die vom wundervollen Duft frisch gebackenen Brotes und köstlicher Suppen erfüllt waren. Nach einem Glas Ale im Wirtshaus freute er sich immer auf sein warmes Bett, und er wusste, dass ihn am nächsten Morgen keine schweren Aufgaben erwarteten, außer dann und wann die Pferde vor einen Schlitten zu spannen.

Jetzt sah er in diese hoffnungsvollen blauen Augen – und er wusste, dass er Darcy nie etwas würde abschlagen können.

„Ja, Mädchen. Wenn du mich an Bord haben willst, werde ich da sein.“

Darcy legte die Hand auf seine. „Hab Dank.“ Sie schaute die anderen an. „Ich möchte es wirklich tun. Ich muss einfach. Versteht ihr mich?“

Einer nach dem anderen nickte, dann sahen sie betroffen zur Seite. Der Schmerz zeichnete sich immer noch scharf auf Darcys Gesicht ab. Ein Schmerz, der all ihre Herzen ergriffen hatte.

„So ist es also abgemacht. Bei Sonnenaufgang werde ich zum Dorf gehen und dem Hafenmeister mitteilen, dass ich den Auftrag übernehme. Newt und ich werden eine Mannschaft anheuern.“ Sie erhob sich, ging langsam um den Tisch und hauchte Küsse auf die Wangen ihrer Familienangehörigen, bevor sie die Stufen zu ihrem Schlafgemach hinaufeilte.

Sie hatte einen Weg gefunden, um Gray näher zu sein. Auch wenn es lediglich bedeutete, dass sie an seiner ewigen Ruhestätte vorbeifahren würde. Denn obgleich sie seinen Tod noch nicht akzeptiert hatte, begann ihre Hoffnung zu schwinden. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er eine Möglichkeit gefunden, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Und daher war dies alles, was sie nun für ihn tun konnte. Doch zumindest war es besser, als zu Hause herumzusitzen und ihren Verlust zu beklagen.

Zum ersten Mal seit Wochen schlief sie tief und fest.

Auf See herrschte eine beißende Kälte, und die Luft brannte in den Lungen der Matrosen, die sich an Deck aufhalten mussten. Zu allem Unglück setzte auch noch ein Eisregen ein, der sich wie Klauen in die Haut bohrte und alle sehnsuchtsvoll an den heimatlichen Herd denken ließ.

Hoch oben aus der Takelage erscholl der Ruf: „Schiff ohne Flagge. Kommt rasch an Backbord näher!“

„Wir haben noch Zeit, ihnen zu entkommen“, rief einer der Seeleute.

„Die ‚Undaunted‘ flieht nicht.“ Darcy hielt das Steuerrad und gab Anweisungen, die Segel einzuholen. „Sie kämpft.“

„Aber Cap…“

Mit einem finsteren Blick unterband sie den Einwand des Seemanns. „Jeder geht auf seine Position und bereitet sich auf den Kampf vor.“

„Aye, Captain.“ Unter Grummeln und Beschwerden wurden die Kanonen freigelegt und mit Pulver gefüllt.

Einer der Seemänner ging an der Mannschaft vorbei und verteilte ein ganzes Waffensortiment. Degen, Pistolen und Messer verschwanden unter den schweren Jacken – genau wie die Hände, die bereits taub von der Kälte waren.

Newton hatte Darcys Ruf gehört und kam an Deck. Er ging auf die junge Frau zu, die wie eine Besessene versuchte, das Schiff in die richtige Position zu bringen, um sich der drohenden Gefahr zu stellen.

„Die Mannschaft ist müde, Mädchen. Sie haben gerade erst das Blut des letzten Kampfes von den Planken geschrubbt. Keiner ist auf einen weiteren Zusammenstoß aus.“

„Es ist unsere Aufgabe, Piraten zu bekämpfen, Newt“, belehrte sie ihn.

„Ja, Mädchen, das stimmt. Aber um das tun zu können, müssen wir stark sein. Noch haben wir Zeit, ihnen zu entkommen, um einen sicheren Hafen zu erreichen.“

„Du willst, dass wir klein beigeben und wie Feiglinge das Weite suchen?“

„Ich will, dass wir überleben, Mädchen.“ Er legte eine Hand auf ihren Arm. „Sieh dich an, Darcy. Du bist kaum mehr als Haut und Knochen. Wir sind seit einem Monat auf See und haben zahlreiche Gefechte überstanden.“

„Dann lassen wir es auf ein weiteres ankommen. Ich bin nicht müde, Newt.“

„Vielleicht nicht. Aber von der Mannschaft kannst du nicht dasselbe behaupten. Es ist jetzt an der Zeit, anzulegen. Lass sie etwas anderes als Fisch essen. Gewähre ihnen ein Glas Ale in einem Wirtshaus und ein richtiges warmes Bett, das eine Frau mit ihnen teilt. Ansonsten wirst du eine Mannschaft befehligen müssen, die bei der erstbesten Gelegenheit von Bord springt.“

Darey seufzte. Newton hatte Recht. Sie hatte zwar die Rastlosigkeit der Besatzung bemerkt, den Bedürfnissen der Seeleute aber keine weitere Beachtung geschenkt. Außerdem galt es, einen anderen Auftrag zu erledigen. Im Laderaum befand sich eine Fracht, die sie abzuliefern hatten.

Sie musterte das Schiff in der Ferne, das sich bemühte, mit der „Undaunted“ mitzuhalten. Es wäre nicht schwierig, in einem der zahlreichen Häfen, welche die Küstenlinie säumten, Schutz zu suchen. Nach einer Nacht im Hafen könnten sie ihre Fahrt fortsetzen und die Fracht abliefern. Und falls die Piraten noch warten sollten, wäre ihre Mannschaft erfrischt und kampfbereit.

Widerwillig nickte sie. „Gut, Newt. Gib die Order, die Segel zu setzen.“

Erleichtert atmete der alte Mann auf, denn er war sich nicht sicher, ob die Seeleute überhaupt noch den Mut zu einem weiteren Kampf aufgebracht hätten.

Der Befehl war ausgeführt, und schon bald blähten sich die Segel in der steifen Brise. Als die „Undaunted“ auf einen Hafen zuhielt, vernahm Darcy das zufriedene Gemurmel, das in der Mannschaft aufkam. Trotz der bitteren Kälte drängten die Seeleute an die Reling, während das Schiff die Küste erreichte. Der Gedanke an ein warmes Feuer und an heißblütige, willige Frauen trieb die Besatzung dazu an, rasch den Anker zu werfen und an Land zu gehen.

Darcy ging gerade zu der Geldkassette in ihrer Kapitänskajüte, als Newton sie zur Vorsicht mahnte. „Ich würde ihnen nicht die ganze Heuer auszahlen, Mädchen.“

„Aber ich schulde sie ihnen doch.“

„Das stimmt. Und du zahlst sie aus, wenn wir wieder den Heimathafen anlaufen. Doch jetzt bist du gut beraten, ihnen nur die Hälfte zu geben. So, wie ich die Burschen kenne, werden sie alles ausgeben, was sie in ihren Taschen haben, sei es ein Schilling oder ein Pfund.“

Sie dachte über die Worte nach und nickte schließlich zustimmend.

Darcy stand allein an Deck und sah zu, wie das Boot die letzten Männer ihrer Crew an Land brachte. Dann begab sie sich nach unten, um die Vorräte durchzugehen, und stellte fest, dass sie nur noch ein Fass mit Trinkwasser hatten.

Kurze Zeit später hörte sie Schritte. Newton steckte den Kopf durch ihre Kajütentür.

„Ich habe dir das Boot zurückgebracht, Mädchen.“

„Danke, Newt. Aber ich werde nicht an Land gehen.“

„Wie meinst du das? Willst du die Nacht hier in der Kabine verbringen?“

„Warum nicht? Ich habe genügend Decken. Und solange ich mein Messer habe, bin ich sicher.“

„Das weiß ich, Mädchen. Es gibt nicht viele, die es mit dir aufnehmen können. Aber ich dachte, du würdest vielleicht an Land gehen wollen, denn wir haben es bis zur walisischen Küste geschafft.“

„Die walisische Küste?“ wiederholte sie überrascht.

„Es ist nur eine kleine Insel vor der Küste. Aber es ist trotzdem Wales.“ Newton bemerkte, wie ihre Augen sich weiteten, bevor die schmerzliche Erinnerung ihren Blick trübte. Er bemühte sich, gleichgültig zu klingen. „Du hast die seltene Gelegenheit, in einem Federbett zu schlafen, Mädchen, bei einem Feuer, das dich wärmt.“ Bevor sie ablehnen konnte, legte er eine Hand auf ihren Arm. „Komm, Darcy. Ich kenne den Wirt. Seine Frau ist eine gute Köchin. Bestellen wir uns einen Teller Suppe und ein Glas Ale. Und dann bekommst du eine Kammer ganz für dich allein, warm und gemütlich. Im Dachgeschoss.“

Sie zuckte mit den Schultern, doch dann schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln. „Du hast immer schon gewusst, wie du mich herumkriegen kannst, nicht wahr, Newt?“

Mit einem schelmischen Lächeln geleitete er sie zur Reling. Darcy kletterte hinter ihm die Strickleiter hinunter und setzte sich an den Bug, während Newton das Boot an Land ruderte.

Autor

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Die Sirenen des Meeres