Der MacKinloch Clan - Eine stolze Familie zwischen Kampf und Leidenschaft (5-teilige Serie)

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SCHICKSALSNÄCHTE IN DEN HIGHLANDS
Der schönen Nairna bleibt fast das Herz stehen, als plötzlich ihr tot geglaubter Gemahl Bram MacKinloch vor ihr steht. Etwas Wildes liegt im Blick des schottischen Kriegers - und zugleich tiefe Wut. Was ist in all den Jahren nur geschehen? Wie im Rausch zieht Bram sie an sich, küsst Nairna und zeigt ihr, wie sehr er sie noch immer begehrt. Noch weiß er nicht, dass sie den Treueschwur längst gebrochen hat …

VERFÜHRT VON EINEM STOLZEN HIGHLANDER
Verhöhnt sie ihn und seine Liebe schmählich? Alex MacKinloch ist fassungslos: Seine schöne Gattin Laren zeigt ihm die kalte Schulter - dabei waren sie doch einst so glücklich miteinander! Doch jetzt verbirgt sie etwas vor ihm, verschwindet immer wieder ohne ein Wort. Und wann sie das letzte Mal sein Lager geteilt hat, weiß der Clan-Führer schon kaum mehr! Schenkt Laren etwa einem anderen ihre Gunst und liegt in dessen Armen? Der stolze Highlander nimmt seinen schwersten Kampf auf: Entweder er erobert das Herz seiner schönen Gemahlin zurück - oder er wird sie ein für allemal aus seinem Bett und seinem Leben verbannen …

EIN ENGEL FÜR DEN HIGHLANDER
Lady Marguerite de Montpierre schreckt hoch. Ein Schrei hallt durch die Burg - wird wieder ein schottischer Gefangener von ihrem grausamen Verlobten gefoltert? Sie will helfen! So findet sie Callum MacKinloch und versorgt seine Wunden. Der Schmerz hat ihm die Stimme geraubt, aber als Dank haucht er ihr einen Kuss auf die Hand. Und erobert im Dunkel der Nacht ihr einsames Herz! Als sein Clan wenig später die Burg überfällt, kommt er frei - und Marguerite ist bereit, ihm den Glauben an das Leben und die Liebe zurückzugeben. Doch eine gemeinsame Zukunft für die schöne Französin und den stummen Highlander scheint unmöglich …

NIMM MICH, MEIN WILDER HIGHLANDER!
Der verwundete Highlander berührt ihr Herz, deshalb verhilft Lady Alys ihm zur Flucht. Vielleicht kann der geheimnisvolle Fremde sich revanchieren, indem er ihre Sehnsucht nach leidenschaftlichen Stunden stillt?

MEIN RETTENDER HIGHLANDER
Schottland, 1312. Frisch verwitwet, muss die schöne Celeste um ihre Existenz fürchten. Verzweifelt wendet die junge Witwe sich an Dougal MacKinloch. Einst bedeutete sie dem stolzen Highlander sehr viel - nun will sie seine Leidenschaft erneut entfachen! In Dougals Nähe wird Celeste bewusst, dass ihr Herz nie aufgehört hat, sich nach ihm zu sehnen. Doch wenn er erfährt, warum sie sich ihm hingibt, wird er sie für immer verachten …


  • Erscheinungstag 28.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717360
  • Seitenanzahl 1124
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Michelle Willingham

Der MacKinloch Clan - Eine stolze Familie zwischen Kampf und Leidenschaft (5-teilige Serie)

IMPRESSUM

Schicksalsnächte in den Highlands erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2011 by Michelle Willingham
Originaltitel: „Claimed by the Highland Warrior“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 303 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Corinna Wieja

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717445

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Ballaloch, Schottland 1305

Bram MacKinloch konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte. Er spürte nur noch Benommenheit, und alles, was er tun konnte, war einfach weiterzulaufen. Jahrelang hatte man ihn in der Dunkelheit gefangen gehalten. Er wusste nicht mehr, wie es war, die Sonne auf der Haut zu spüren. Sie blendete und zwang ihn, den Blick gesenkt zu halten.

Großer Gott, er wusste noch nicht einmal mehr, wie lange er schon auf der Flucht war oder wie viel englische Soldaten ihn verfolgten. Und wo sie sich im Augenblick befanden. Er mied die Täler und suchte sich einen Weg über die bewaldeten Hügel, wo ihn die Bäume vor den Blicken seiner Verfolger schützten.

Um seine Spur vor den Hunden zu verschleiern, hatte er einen Fluss durchschwommen und triefte jetzt vor Nässe.

Waren da überhaupt Hunde gewesen? In seinem Kopf verwirrte sich alles, und er konnte die Wirklichkeit nicht mehr von seinen Albträumen unterscheiden.

Lauf weiter, befahl er sich. Du darfst nicht stehen bleiben!

Als er den Kamm des Hügels erreichte, stolperte er und fiel. Bevor er wieder aufstand, lauschte er, ob seine Verfolger zu hören waren.

Nichts. Stille lag über den Highlands, nur unterbrochen von Vogel­gezwitscher und dem Summen der Insekten. Er stützte sich im Gras ab und rappelte sich wieder auf. Langsam ließ er den Blick im Kreis wandern. Von hier oben aus war niemand zu sehen. Nur die zerklüfteten, sich weithin ausdehnenden grünen Berge und der blaue Himmel über ihm.

Freiheit.

Er sog den Anblick in sich auf, genoss die Weite und das Land, nach dem er sich sieben Jahre lang gesehnt hatte. Auch wenn er noch weit entfernt war von seinem Zuhause, waren diese Berge ihm vertraut wie alte Freunde.

Bram atmete tief durch und gönnte sich einen Augenblick, um auszuruhen. Er hätte dankbar sein sollen, dass ihm die Flucht gelungen war. Stattdessen quälten ihn Gewissensbisse, denn sein Bruder Callum war immer noch an jenem gottverdammten Ort gefangen.

Bitte, lass ihn noch leben, flehte er stumm. Lass es nicht zu spät sein! Er würde Callum befreien, und wenn es ihn seine Seele kostete. Besonders, wenn er an den Preis dachte, den Callum für seine Freiheit hatte zahlen müssen.

Er lief weiter in Richtung Westen, auf Ballaloch zu. Wenn er sein Tempo beibehielt, konnte er die Burg in einer Stunde erreichen. Die MacPhersons würden ihm Schutz gewähren. Aber würden sie sich überhaupt noch an ihn erinnern, geschweige denn ihn wiedererkennen? Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er nicht mehr dort gewesen.

Er rieb sich die vernarbten Handgelenke und spürte nichts als kalte Leere in sich. Seine Hände zitterten. Die Tage ohne Ruhe und Rast forderten ihren Tribut. Was gäbe er nicht für eine Nacht tiefen, traumlosen Schlafs, eine Nacht ohne quälende Gedanken.

Ein Traum hatte ihn über die ganze Zeit hinweg begleitet. Der Traum von der Frau, an die er in den vergangenen sieben Jahren jede Nacht denken musste.

Nairna.

Trotz der albtraumhaften Gefangenschaft hatte er sich ihr Bild bewahrt. Das Bild ihrer grünen Augen und ihres braunen Haars, das ihr um die Hüften fiel. Und das Bild ihres Lächelns, mit dem sie ihn angesehen hatte, als wäre er der Einzige, den sie je begehrte.

Er packte den Saum seiner Tunika und tastete nach dem vertrauten Stein, den er dort verborgen hielt. Ein Geschenk, das Nairna ihm in jener Nacht gegeben hatte, als er zum Kampf gegen die Engländer aufgebrochen war. Wie oft während seiner Gefangenschaft hatte er den Stein umklammert, als könnte er ihr dadurch näher sein.

Wie ein Engel, der ihn vor dem Höllenfeuer schützte, hatte ihr Bild ihn davor bewahrt, wahnsinnig zu werden. Sie gab ihm einen Grund zu leben und zu kämpfen.

Wie kann ich glauben, dass sie immer noch auf mich wartet, dachte er niedergeschlagen. Nach sieben Jahren war er für sie sicher nur noch eine Erinnerung an vergangene Zeiten.

Außer, sie liebte ihn noch immer.

Der Gedanke weckte einen winzigen Hoffnungsfunken in ihm, und der ließ ihn weiterlaufen. Er war jetzt nahe der Burg der MacPhersons und würde dort bestimmt Unterschlupf für die Nacht finden.

Bram stellte sich vor, wie er Nairna in den Armen halten und den Duft ihrer Haut einatmen würde. Wie er ihre Lippen schmeckte und all die schmerzlichen Erinnerungen verdrängte. In ihren Armen würde die Vergangenheit keine Rolle mehr spielen.

Er stieg ins Tal hinab und sah Ballaloch wie eine schimmernde Perle zwischen den Hügeln liegen. Erschöpft setzte er sich ins Gras und betrachtete die Burg.

Da hörte er hinter sich das Hämmern von Hufen.

Mit heftig pochendem Herzen sprang er hoch. Rüstungen blitzten auf. Soldaten!

Nein! Er konnte sich unmöglich gefangen geben. Nicht wieder. Nicht nach all den Jahren, in denen er das Leben eines Sklaven führen musste.

Mit zitternden Beinen wankte er den Hügel hinunter. Aber sein geschwächter Körper ließ ihn im Stich. Seine Knie gaben nach, und er stürzte zu Boden.

Vor ihm lag die Burg, zum Greifen nahe!

Verzweifelt bemühte er sich, wieder aufzustehen und seine Beine wieder zum Laufen zu zwingen.

Es gelang ihm zwar, aber die Soldaten überholten ihn auf ihren Pferden. Behandschuhte Hände packten ihn bei den Schultern. Als er sich wehrte, stülpten sie ihm eine Kapuze über den Kopf, sodass er nichts mehr sehen konnte. Dann schlugen sie zu, und alles um ihn herum versank in Dunkelheit.

„Etwas stimmt hier nicht, Agnes“, flüsterte Nairna MacPherson ihrer alten Amme zu, während sie aus dem Fenster ihrer Kammer in den inneren Hof hinunterblickte. Vier Reiter, ihr Anführer trug Rüstung und Helm mit Nasenschutz, waren durch das Tor des Außenwerks in die Burg gekommen. „Das sind englische Soldaten! Aber warum sind sie hier?“

„Vielleicht sind es Harkirks Männer, und sie sind gekommen, um noch mehr Silber von Eurem Vater zu fordern“, antwortete Agnes und klappte die Truhe zu. „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Das ist seine Sache, nicht deine.“

Nairna wandte sich vom Fenster ab. „Er sollte sie nicht bestechen“, erwiderte sie aufgebracht. „Das ist nicht recht.“

Ein Jahr nach der schottischen Niederlage bei Falkirk hatte Robert Fitzroy Baron of Harkirk im Westen der Burg Garnison bezogen. Es gab hunderte von englischen Stützpunkten in den Highlands, und jedes Jahr wurden es mehr.

Um seine Leute vor Angriffen zu schützen, hatte ihr Vater den Engländern nicht nur seine Loyalität, sondern auch sein Geld zugesichert.

Diese verfluchten Blutsauger! Damit musste endlich Schluss sein.

„Ich will wissen, warum sie hier sind.“ Sie ging zur Tür, aber Agnes stellte sich ihrer Herrin in den Weg.

Die braunen Augen der alten Frau sahen Nairna mitfühlend an. „Wir kehren heute wieder nach Hause zurück, Nairna. Du wirst dich doch nicht noch kurz vor deiner Heimkehr mit Hamish streiten wollen.“

Die mahnenden Worte trafen. Nairna blieb mit hängenden Schultern stehen. Sie hätte ihrem Vater so gerne geholfen. Am Ende würden die Engländer ihn noch völlig ausnehmen. Wenn sie daran dachte, was er um der Sicherheit seines Clans willen in Kauf nahm, wurde ihr ganz schlecht.

Doch Ballaloch war nicht länger ihr Zuhause. Aber auch Callendon nicht, obwohl sie mit dem Oberhaupt des MacDonnell-Clans verheiratet war und die letzten vier Jahre dort gelebt hatte.

Jetzt war Iver tot. Sie hatte ein komfortables Leben mit ihm geführt, aber es war keine erfüllte Ehe gewesen. Nicht zu vergleichen mit der Liebe, die sie zuvor gekannt hatte.

Beim Gedanken an den Mann, den sie vor so vielen Jahren verlor, erwachte wieder der alte Kummer in ihrem Herzen. Bram MacKinlochs Tod hatte sie als eine gebrochene Frau zurückgelassen. Kein Mann würde je an seine Stelle treten können.

Jetzt war sie Herrin von nichts und Mutter von niemandem. Ivers Sohn und dessen Frau hatten bereits die Führung des Clans und dessen Besitztümer an sich gerissen. Nairna war nur noch eine Art Überbleibsel, eine zurückgelassene Witwe. Jemand ohne Bedeutung.

Das zweifelhafte Gefühl der Hilflosigkeit wurzelte tief in ihrer Seele. Ihr Herz war erfüllt von Einsamkeit, und sie spürte den glühenden Wunsch, für irgendjemanden nützlich zu sein. Sie wünschte sich ein Heim und eine Familie – einen Ort, wo sie nicht nur als Schatten existierte. Aber wie es schien, gehörte sie nirgendwo wirklich hin. Weder hierher in die Burg ihres Vaters, noch in das Heim ihres verstorbenen Gatten.

„Ich werde mich nicht einmischen“, versprach sie Agnes. „Ich will nur wissen, warum sie hier sind. Schließlich hat er die Abgaben für dieses Quartal schon bezahlt.“

„Nairna“, warnte die alte Amme. „Lass es sein.“

„Ich will doch nur hören, was sie sagen“, meinte Nairna leichthin. Doch so unbekümmert wie sie tat, fühlte sie sich ganz und gar nicht. „Und ich könnte versuchen, mit Vater zu sprechen.“

Missmutig grummelnd folgte Agnes ihr die Treppe hinunter. „Nimm Angus mit“, riet sie ihr.

Nairna legte keinen Wert auf eine Begleitung. Doch kaum hatte sie den großen Saal betreten, folgte ihr Angus MacPherson auch schon wie ein Schatten. Er war ein breitschultriger Mann mit Armen, so dick wie junge Baumstämme.

Draußen blinzelte Nairna in die Nachmittagssonne. Die englischen Soldaten standen im Innenhof. Über einem der Pferde hing der Körper eines Mannes.

Bei seinem Anblick begann ihr Herz schneller zu schlagen, und sie eilte näher. Ob sie einen der MacPhersons gefangen hatten?

Der Anführer hatte sich an Hamish gewandt. „Wir fanden den Mann nicht weit von hier. Einer der Euren vermutlich“, sagte er und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln.

Nairnas Hand umklammerte unwillkürlich den Dolch an ihrem Gürtel. Ihr Vater sah den Soldaten mit ausdruckslosem Gesicht an. „Lebt er?“

Der Mann nickte und bedeutete einem der Soldaten, das Pferd mit dem leblosen Körper heranzuführen. Sie hatten das Gesicht des Mannes mit einer Kapuze verhüllt.

„Wie viel ist Euch das Leben eines Mannes wert?“, fragte der Engländer. „Fünfzehn Pennies vielleicht?“

„Zeigt mir sein Gesicht“, erwiderte Hamish ruhig und machte seinem Steward stumm ein Zeichen. Nairna wusste, welchen Preis sie auch nannten, ihr Vater würde ihn zahlen. Dabei war noch nicht einmal sicher, dass der Gefangene noch lebte.

„Zwanzig Pennies“, fuhr der Anführer fort, und befahl seinen Leuten, den Mann vom Pferd zu heben und festzuhalten. Der Gefangene mit der Kapuze war allein nicht fähig zu stehen. An seiner zerrissenen Kleidung konnte Nairna ihn nicht erkennen. Nur das lange Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war ein Hinweis.

Nairna trat zu ihrem Vater. „Das ist keiner von uns“, flüsterte sie.

Die Soldaten packten ihr Opfer an den Schultern, ein anderer bog ihm den Kopf zurück und entblößte seine Kehle.

„Fünfundzwanzig Pennies“, forderte der Engländer und zog seinen Dolch. „Sein Leben gehört Euch, wenn Ihr wollt, MacPherson.“ Er hielt dem Gefangenen den Dolch an die Kehle. Als der Stahl die Haut berührte, ballte der Mann plötzlich die Fäuste und versuchte, dem Griff der Soldaten zu entkommen.

Er lebte also.

Mit wild klopfendem Herzen starrte Nairna auf den Unbekannten. Ihre Hände zitterten. Die Männer kannten kein Erbarmen mit dem Fremden. Sie würden ihn jetzt und hier, mitten auf dem Hof, umbringen. Und es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob er ein MacPherson oder ein Feind war.

„Dreißig Pennies“, erklang die Stimme ihres Vaters, der schon nach dem kleinen Beutel griff, den der Verwalter ihm brachte.

Grinsend fing der Anführer die Börse auf, die Hamish ihm zuwarf. Die Soldaten ließen den Gefangenen los. Er fiel wie ein Sack zu Boden und blieb reglos liegen.

„Kehrt zu Lord Harkirk zurück“, befahl Hamish.

Der Engländer stieg in den Sattel und gesellte sich zu den anderen. „Ich habe mich schon gefragt, ob Ihr ihn würdet sterben lassen“, meinte er, während er mit dem Beutel in seiner Hand spielte. „Ich hätte ihn nämlich getötet, müsst Ihr wissen. Wäre ein Schotte weniger gewesen.“ Er lächelte bösartig und warf spielerisch den Beutel in die Luft.

Angus trat einen Schritt vor. Der Speer in seiner Hand wirkte wie eine stumme Drohung. Weitere Krieger der MacPhersons näherten sich bedrohlich den englischen Soldaten, doch die ritten bereits zum Tor zurück.

Dreißig Pennies! Dass ihr Vater so unverhohlen zur Bestechung griff, raubte Nairna den Atem. Ihr war, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Ohne auch nur einen Moment lang nachzudenken, hatte er dem Kerl das Geld gegeben!

Obwohl sie kein Wort gesagt hatte, sah ihr Vater sie an. „Das Leben eines Menschen ist mehr wert als ein paar Münzen.“

„Das weiß ich auch.“ Nairna krampfte die Hände ineinander und versuchte ruhig zu bleiben. „Aber was willst du tun, wenn sie wiederkommen und noch mehr verlangen? Willst du Lord Harkirk wieder und wieder bezahlen? Am Ende nimmt er sich noch Ballaloch und macht unsere Leute zu seinen Sklaven.“

Ihr Vater schritt zu dem am Boden liegenden Gefangenen. „Wir sind am Leben, Nairna. Unser Clan ist einer der wenigen, die sie in Ruhe lassen. Und bei Gott, wenn ich um seiner Sicherheit willen den letzten Penny hergeben muss, dann werde ich es eben tun. Ist das klar?“

Sie schluckte, während er den Mann umdrehte und ihn aufrichtete. „Du solltest aber nicht dafür zahlen müssen. Das ist nicht recht.“

In Nairnas Augen gab es keinen Unterschied zwischen englischen Soldaten und betrügerischen Kaufleuten. Wann immer es möglich war, sorgten beide für ihren Profit. Sie versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle zu beruhigen und kniete sich neben ihren Vater.

„Nun, mein Junge, jetzt lass uns mal sehen, wer du bist“, sagte Hamish und zog dem Mann die Kapuze ab.

Nairna blieb fast das Herz stehen, als sie in das Gesicht des Gefangenen blickte.

Es war Bram MacKinloch, ihr Ehemann, den sie seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gesehen hatte. Und das war sieben Jahre her.

Fahles Mondlicht erhellte das Gemach. Bram öffnete die Augen. Jeder Knochen in seinem Körper tat ihm weh. Er schluckte. Dieser Durst! Er war so durstig.

„Bram“, sagte eine sanfte Stimme. „Bist du wach?“

Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und fragte sich, ob er schon tot war. Es musste wohl so sein, denn er kannte diese Stimme. Sie gehörte Nairna, der Frau, von der schon so lange träumte.

Jemand hob einen Becher an seine Lippen, und er trank gierig das kühle Bier, voller Dankbarkeit dafür, dass sie geahnt hatte, wie durstig er war. Die Frau trat näher und zündete eine Öllampe an. Das bernsteinfarbene Licht fiel auf ihr Gesicht. Bram starrte sie gebannt an. Er hatte Angst, sie könnte nur ein Trugbild seiner Vorstellung sein und verschwinden, sobald er nur kurz blinzelte.

Sie hatte einen weichen Mund und hohe, wohlgeformte Wangenknochen. Das lange braune Haar fiel offen über ihre Schultern. Sie war eine schöne Frau geworden.

Er hätte sie gerne berührt, nur um sicherzugehen, dass es sie wirklich gab.

Ein heißes Verlangen stieg in ihm auf, vermischt mit einem bittersüßen Schmerz. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte und Nairna wie um Vergebung bittend über die Wange strich. Wäre doch nur alles anders gekommen!

Sie wich nicht vor ihm zurück, sondern nahm sein Gesicht in beide Hände und schaute ihn ungläubig an. „Ich kann nicht fassen, dass du lebst.“

Mühsam richtete er sich auf, und sie setzte sich neben ihn. Er ergriff ihre Hand, streichelte ihren Nacken. Ein leichter Duft nach Blumen und Gras schien von ihr auszugehen, und er konnte sich nicht sattsehen an ihr.

Bei Gott, gerade jetzt brauchte er sie. Zärtlich ließ er die Finger durch ihr Haar gleiten, hob ihr Gesicht und küsste sie. Sie war die Hoffnung und das Leben, wonach er sich so lange verzehrt hatte.

Nairnas Herz raste, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie merkte, dass das der gefährliche, rauschhafte Kuss eines Mannes war, der sich nicht um verlorene Jahre kümmerte. Bram hatte nie viel für lange Erklärungen übriggehabt. Ohne große Worte zeigte er ihr, wie sehr er sie vermisst hatte.

Er küsste sie, als könnte er nicht genug von ihr bekommen, als wäre sie die Antwort auf all seine Gebete. Und obwohl sie völlig verwirrt war, erwiderte sie seine Küsse.

Großer Gott, niemals hätte sie so etwas erwartet! Nicht in tausend Jahren. Sie hatte geglaubt, einen Geist zu sehen. Doch mit jedem Kuss überzeugte er sie, dass er aus Fleisch und Blut war.

Ein Wirrwarr der Gefühle tobte in ihr. Unfähig, die Tränen länger zurückzuhalten, schlang sie die Arme um seine Schultern. So sehr hatte sie um ihn getrauert und gegen das ungerechte Schicksal gewütet, das ihn von ihr genommen hatte. Und jetzt, da sie den dumpfen Schmerz des Verlustes allmählich ertragen konnte, schien das Schicksal seinen Spaß mit ihr zu treiben und gab ihn ihr zurück.

Sie war zwischen dem Glück, ihn wiederzuhaben und den Schuldgefühlen wegen ihres Verrats an ihm hin und her gerissen. Schließlich hatte sie einen anderen geheiratet. Und selbst wenn Iver nun tot war und sie sich nicht versündigte, wenn sie Bram küsste, hatte sie doch ein seltsames Gefühl dabei.

Sie spürte seinen Mund über ihre Wange streichen, und ein immer stärker werdendes Verlangen erwachte in ihr. Als Bram sie auf sich zog, bemerkte sie, dass auch er erregt war.

„Nairna“, flüsterte er. Seine Stimme klang heiser und kam dunkel und tief aus seiner Kehle. Ihr Klang ließ eine heiße Welle über Nairnas Haut laufen und eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus.

Sie wusste nicht, woher diese Empfindungen kamen, aber sie machten ihr Angst. Brams Hand glitt über ihren Rücken. Er zog ihre Hüften dichter an sich. Seine erregte Männlichkeit war nun so nah an ihrem Schoß, dass sie feucht wurde vor Verlangen und spürte, wie sich ihre Brustknospen unter dem Kleid aufrichteten.

Seine Küsse waren fordernd und besitzergreifend. Ihr ganzer Körper reagierte auf seine Liebkosungen. Je länger er sie küsste, desto heftiger begehrte sie ihn. Sie stellte sich vor, wie sie ihr Kleid hochschob und sich an seinen nackten Körper schmiegte.

Wieso reagiere ich so auf ihn? dachte sie verwirrt. Er ist doch ein Fremder für mich. Gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wusste sie nicht, wem sie trauen sollte – ihrem Herzen oder ihrem Verstand.

Bram streichelte liebevoll ihre Wange. Seine Zärtlichkeit weckte all die Gefühle, die sie versucht hatte zu begraben. Aber in seinem Blick lag etwas Gequältes. So, als hätte er Dinge gesehen, die er besser nicht gesehen hätte. Und wie entsetzlich dünn er war!

„Bram, wo bist du all die Zeit bloß gewesen?“

Er antwortete nicht gleich. Dann richtete er sich auf und hob sie dabei auf seinen Schoß. Als müsste er sich ihre Züge für alle Ewigkeit einprägen, umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie legte ihre Hände auf seine und sah ihm fest in die Augen. So, als wollte sie ihn zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen.

„Ich war Gefangener auf Cairnross.“

Von dem englischen Earl und seinen Grausamkeiten hatte sie schon gehört. Bei dem Gedanken, dass Bram an einem solchen Ort eine so lange Gefangenschaft hatte erdulden müssen, blutete ihr das Herz.

„Ich glaubte, du wärst tot“, brachte sie mühsam hervor.

Er berührte sie mit zitternden Fingern, als hätte er Angst, sie könnte wieder verschwinden. Seine rauen Hände kratzten auf ihrer Haut. „Und ich dachte, du hättest inzwischen einen anderen geheiratet.“

Das habe ich auch, hätte sie um ein Haar geantwortet. Aber sie hielt noch rechtzeitig inne. Sie wollte ihm nicht wehtun. Sie hatte Iver geheiratet, weil sie sich so verzweifelt nach einem Heim und einer eigenen Familie sehnte. Aber wenn sie jetzt daran dachte, schämte sie sich dafür. Obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte, fühlte sie sich jetzt, als hätte sie Ehebruch begangen.

Nairna errötete und wusste nicht, wie sie ihm von der Heirat erzählen sollte. Eine Träne rann über ihre Wange. Doch sie hätte nicht sagen können, ob sie vor Freude oder vor Kummer weinte.

Bram wischte die Träne mit dem Daumen fort. Seine Hände glitten über ihre Schultern, über ihre Taille, und dann zog er sie in seine Arme und streichelte ihren Rücken. „Du bist zur Frau geworden, seitdem ich dich das letzte Mal sah.“

Nairnas Haut prickelte. Ein verborgenes, wollüstiges Feuer loderte in ihr auf und schien ihr Fleisch zu verzehren. Bram legte die Lippen auf ihre Kehle. Bei dem Gefühl, das die Berührung in ihr weckte, unterdrückte Nairna ein lustvolles Stöhnen. Mit den Daumen zeichnete er langsam und genüsslich kleine Kreise auf ihrem Rücken.

Aber als er ihr die Hände auf die Brüste legen wollte, drehte sie durch.

„Bram, warte.“ Sie schob ihn von sich und erhob sich. „Ich muss wissen, was passiert ist, seitdem du …“

„Morgen“, flüsterte er und stand vom Bett auf.

Etwas Wildes lag in seinen Augen. Eine zügellose Begierde brannte in ihnen, und er erinnerte sie an einen Stammeshäuptling, der gekommen war, um endlich seine Frau einzufordern.

Eine ganze Weile stand er nur da und starrte sie an. So, als wüsste er nicht recht, was er als Nächstes tun sollte. Aber bevor sie ihm noch eine Frage stellen konnte, wandte er sich zur Tür. Die Hand gegen den Türrahmen gestützt, drehte er sich noch einmal um. Einen Herzschlag lang betrachtete er sie, als müsste er einen Entschluss fassen.

Dann ging er ohne ein Wort der Erklärung.

2. KAPITEL

Sieben Jahre zuvor

Um Himmels willen, Bram, schau auf deinen Gegner!“, brüllte sein Vater.

Bram blinzelte und starrte auf Malcolm, der versuchte, ihn mit dem Langdolch niederzustechen. Es war ein Trainingskampf. Zwar waren sie beide sechzehn Jahre alt, aber Malcolm reagierte aus dem Bauch heraus und war daher oft im Vorteil.

Bram stürzte sich wild auf ihn, wurde allerdings prompt selbst getroffen. Doch die Klinge rutschte an dem Kettenhemd ab, das er auf Befehl seines Vaters trug, und verletzte ihn nicht.

Bram korrigierte seine Position und versucht aufs Neue Malcolms Schwachstellen herauszufinden. Eine Weile gelang es ihm ganz gut, sich zu verteidigen und vorauszusehen, von welcher Seite der nächste Angriff kommen würde. In der Vergangenheit hatte er schon oft solche Kämpfe ausgetragen, aber noch nie vor so vielen Zuschauern. Er spürte, dass das Oberhaupt der MacPhersons ihn beobachtete, gerade so, als wollte er ihn auf seinen Wert hin begutachten. Bram bekam heiße Wangen. Ein Kampf ohne Zuschauer wäre ihm lieber gewesen.

Die Schlacht ging weiter, und seine Aufmerksamkeit ließ wieder nach, als er aus dem Augenwinkel ein Mädchen herantreten sah. Es war Malcolms Schwester Nairna. Sie war nur ein Jahr jünger als er. Er hatte sie früher auch schon gesehen, aber bemerken tat er sie erst jetzt.

Ihr Kleid leuchtete so grün wie frisches Gras im Frühling. Sie hatte langes braunes Haar, das ihr bis zur Taille ging, und eine bestickte Kappe schmückte ihren Kopf. Bram war wie verzaubert. Er spürte, dass sie dem Kampf zusah.

Fast hätte ihn die Klinge getroffen, die auf seine Kehle zukam. Erst im letzten Augenblick konnte er sich noch auf den Boden werfen, als sich Malcolm schon auf ihn stürzte, um ihm niederzu­drücken.

„Du lässt dich durch ein Mädchen ablenken?“, spottete er. „Würdest du vielleicht gerne ihre Röcke tragen?“

Bram hörte die Beleidigung und ein roter Schleier senkte sich vor seine Augen. Indem er seiner Wut jetzt freien Lauf ließ, konnte er Malcolm heftig von sich stoßen. Mitleidslos drehte er ihm den Arm um, bis er den jungen Mann entwaffnet hatte. Dann hielt er ihm die Klinge an die Kehle.

„Sie ist deine Schwester“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zeig ein bisschen Respekt.“

Und um deutlich zu demonstrieren, dass er es war, der sich in diesem Kampf behauptet hatte, verweilte er eine ganze Weile in dieser Stellung. Dann stand er auf und steckte den Dolch in die Scheide.

Ohne noch ein Wort mit seinem Vater oder dem Oberhaupt von Ballaloch zu sprechen, ging er fort. Vor mehr als zwei Wochen hatte sein Vater ihn zu diesem Besuch hierher mitgenommen. Bram hatte keine Ahnung, weshalb. Zu den Gesprächen der beiden Clan-Führer wurde er nicht hinzugezogen. Aber er wusste, dass sie ihn beobachteten.

Jetzt ging er ziellos einfach immer weiter, bis ihm plötzlich jemand einen tropfenden Becher Wasser in die Hand drückte. Bram blieb stehen. Vor ihm stand Nairna. Einen kurzen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, dann drehte sie sich um und ging.

Das Wasser war kalt und stillte seinen Durst. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie durstig er war. Bram warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Nairna weder ihrem Bruder noch sonst jemandem etwas zu trinken gebracht hatte. Nur ihm. Warum?

Er leerte den Becher und spürte, dass er heiße Wangen hatte. Wenn es um das weibliche Geschlecht ging, verhielt er sich scheu und schwerfällig. Ihm war es lieber, wenn er unbemerkt im Hintergrund bleiben konnte. Er wusste nicht, was und wie er mit Mädchen reden sollte. Deshalb ging er ihnen die meiste Zeit aus dem Weg.

Aber nicht nur im Umgang mit Mädchen fühlte er sich unbehaglich. Er war überhaupt ziemlich schweigsam und hasste es, mit vielen Menschen zusammen zu sein. Er wusste nie so recht, was er sagen sollte. Sein Vater schalt ihn für seine Zurückhaltung und forderte ihn immer wieder auf, sich mit den Gästen zu unterhalten und sich gefälligst wie ein künftiger Chief zu benehmen.

Kämpfen war da viel einfacher. Solange er ein Breitschwert oder einen Langdolch schwang, fragte keiner danach, wie gut er Konversation führen konnte. Und wenn sie auf fremden Jagdgebieten wilderten, hatten die anderen kaum Zeit, ihn zu beobachten. Dann waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, ihren eigenen Hals zu retten.

Er ging zurück zur Mauer, wo er seine Tunika gelassen hatte und stellte den Becher auf dem Boden ab. Plötzlich sah er etwas Rundes zwischen den Stofffalten liegen. Es war ein kleines Brot, und es war noch warm. Er blickte sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken.

Er brach ein Stück davon ab und stopfte es sich heiß in den Mund. Noch nie hatte ihm etwas so gut geschmeckt. Aber es war auch ein hartes Training gewesen, das den ganzen Morgen gedauert hatte.

Das Brot war von Nairna, da war er sich sicher. Er aß es auf und fragte sich, ob sie es ihm vielleicht noch aus einem anderen Grund dagelassen hatte. Vielleicht mochte sie ihn auf diese geheimnisvolle Weise, wie Frauen es taten.

Und auch wenn er sich dabei wie ein kompletter Narr vorkam, konnte er einfach nicht aufhören, still vor sich hin zu lächeln.

Während der nächsten Woche blieb es bei solchen kleinen Aufmerksamkeiten. Es konnte sein, dass eine zerrissene Tunika plötzlich ausgebessert war. Oder ein anderes Mal fand er beim Griff in seinen Mantel eine kleine Handvoll frische Brombeeren.

Und da es nicht richtig war, Geschenke anzunehmen, ohne ebenfalls etwas zu geben, begann er, hübsche Steine oder getrocknete Blumen vor Nairnas Kammertür zu legen. Einmal hatte er ein rotes Band für sie eingetauscht. Sie flocht es in ihre braune Haare und lächelte während des ganzen Tags.

Er verstand nicht, warum sie ausgerechnet ihm ihre Zuneigung schenkte. Aber je länger er bei ihrem Clan zu Besuch war, desto mehr faszinierte sie ihn. Nie belästigte sie ihn, nie versuchte sie, ihn direkt anzusprechen. Aber die stille Freundlichkeit, die sie ihm gegenüber zeigte, machte es ihm unmöglich, nicht an sie zu denken.

Eines Nachmittags fand er sie während eines Wolkenbruchs zusammengekauert unter einem Baum. Niemand sonst war in der Nähe. Sie hatte einen Korb bei sich und war wohl auf der Suche nach Pilzen gewesen.

Bram stieg vom Pferd, löste die Schnüre seines Mantels, zog ihn aus und reichte ihn ihr. „Hier. Du siehst aus, als würdest du frieren.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon gut. Der Regen hört sowieso bald auf.“

Er achtete nicht auf ihre Worte und trat näher. Immer noch hielt er ihr den Mantel hin. Nairna zog einen Teil davon über ihre Schulter und bot ihm den anderen an. „Teile ihn mit mir.“

Er wollte nicht. Der Gedanke, sich neben diese schöne junge Frau zu setzen, machte ihn verlegen. Gut möglich, dass er etwas Dummes sagte und sich unsterblich blamierte.

Aber dann sah Nairna ihn mit ihren grünen Augen an. „Bitte.“

Ihre sanfte Stimme erinnerte ihn an alles, was sie für ihn getan hatte. Gegen alle Vernunft setzte er sich neben sie und lehnte sich gegen den Baum.

Nairna zog das andere Ende des Mantels über seine Schultern. „Du hast doch nichts dagegen?“, fragte sie und kuschelte sich Wärme suchend an ihn. Er legte den Arm um sie und wickelte sie in den wollenen Umhang ein. Der Regen fühlte sich kalt an auf seinem Gesicht, aber der Mantel schirmte sie gegen das Schlimmste ab.

Doch selbst wenn es wie aus Eimern gegossen hätte, er hätte es nicht bemerkt. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Nairna. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Sie versuchte nicht, die Stille mit bedeutungslosen Worten zu füllen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber schließlich wagte er es und griff nach ihrer Hand.

„Mein Vater kam heute Morgen, um mit mir zu reden“, sagte Nairna leise, während ihre kühle Hand in seiner ruhte. Ihre Stimme klang nervös, als hätte sie Angst zu sprechen.

Bram zeichnete mit dem Finger die Form ihrer Handfläche nach und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

Nairna wurde rot. Sie drückte seine Hand, als müsse sie Kraft sammeln. „Er sagte, dass … dass ich heiraten werde.“

Alles hatte er erwartet, nur das nicht.

Eine düstere Leere breitete sich in seinem Herzen aus. Er spürte, wie der Zorn in ihm erwachte. Es war so unfair! Auch wenn er sie erst seit ein paar Wochen kannte, fühlte er sich doch als Nairnas Beschützer. Du gehörst aber mir, hätte er am liebsten geknurrt. Jeden Mann, der sie anrührte, würde er mit seinem Schwert aufspießen.

„Du wirst nicht heiraten“, stieß er gepresst hervor. „Du bist zu jung.“

„Ich bin fünfzehn“, erwiderte sie. „Aber du verstehst mich nicht. Sie wollen, dass ich …“

„Nein“, schnitt er ihr das Wort ab. Er wollte es nicht hören. Eine drängende Eifersucht fraß ihn fast auf und schürte noch mehr seinen Zorn. Erregt warf er seinen Teil des Mantels ab, sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. Er musste nachdenken, eine Entscheidung treffen.

Aber Nairna stand auf und trat zu ihm. Errötend nahm sie seine Hand. „Nein, Bram, sie wollen, dass ich dich heirate.“

Der Schock machte ihn sprachlos, und langsam wich sein Zorn. Er holte ein, zwei Mal tief Luft und versuchte zu verstehen, was sie da gesagt hatte.

„Deshalb haben sie dich hierher gebracht. Damit wir … einander kennen lernen können.“

Heiraten. Dieses Mädchen. Sie würde ihm gehören. Allein der Gedanke daran machte ihn ganz benommen. Was, wenn er ihr nicht gefiel? Sie kannte ihn doch gar nicht richtig. Er war nicht der geborene Anführer wie sein jüngerer Bruder Alex. Und er kämpfte auch nicht so gut, wie sein Vater es gerne gehabt hätte. Er musste noch so viel lernen. Obwohl er schon sechzehn war, fühlte er sich furchtbar mittelmäßig. Er würde sie ganz bestimmt enttäuschen.

Nairna sah auf ihre verschränkten Hände hinunter. „Sag doch was. Wenn du mich nicht heiraten willst, dann rede ich mit meinem Vater.“

Bram suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, aber kein Wort, das ihm einfiel, machte Sinn. So streckte er nur die Hand aus und ließ die Finger durch ihre Haare gleiten. Er sollte diese Heirat ablehnen. Es wäre das einzig Richtige. Aber seine Sehnsucht nach Nairna war zu groß. Er konnte unmöglich auf sie verzichten.

Als er Nairnas bestürzten Blick bemerkte, beugte er sich vor und küsste sie zum ersten Mal. Er schmeckte den Regen und ihre Unschuld, und als sie die Lippen auf seine drückte, stieg ein hemmungsloses Verlangen in ihm auf.

Er wollte sie. Sie sollte ihm gehören, auch wenn sie einen Besseren verdient hatte. Als sie dann die Arme um ihn schlang und das Gesicht an seine Brust schmiegte, schwor er sich, alles zu tun, um der Ehemann zu sein, den sie sich wünschte.

3. KAPITEL

Gegenwart

Bram verbrachte den Rest der Nacht im Stall. Er konnte nicht schlafen, so sehr er sich auch bemühte. Die Augen brannten ihm vor Müdigkeit, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Du wirst nie schlafen können, solange Callum in Gefangenschaft ist, höhnte sein Gewissen. Und obwohl er sich nichts mehr ersehnte, konnte er den Schlaf nicht herbeizwingen.

In seinem Kopf klangen immer noch die Schreie. Unvorstellbare Bilder hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Die Dunkelheit hielt nur Schrecken für ihn bereit. Kein Wunder, dass er es nicht wagte, die Augen zu schließen.

Stattdessen verbrachte er die Stunden damit, an seine Frau zu denken. Die Jahre hatten das Mädchen mit den strahlenden Augen zu einer atemberaubenden Frau werden lassen. Ihr Kuss hatte ihm den Verstand geraubt, und es war ein kleines Wunder, dass er es über sich gebracht hatte, sie wieder zu verlassen.

Selbst jetzt zitterten ihm noch die Hände, wenn er an sie dachte. Er wünschte sich nichts mehr, als sie auf sein Lager zu legen und sie zu besitzen.

Doch obwohl er als ihr Ehemann das Recht dazu hatte, war sie nicht bereit, sich ihm hinzugeben. Jedenfalls nicht, solange sie sich noch fremd waren.

Er dachte an den Ratschlag, den sein Vater ihm in der Hochzeitsnacht gegeben hatte. Du wirst schon wissen, was du tun musst, hatte Tavin gesagt. Vertrau deinem Instinkt.

Wenn er gestern Abend seinem Instinkt gefolgt wäre, hätte er Nairna die Decke fortgerissen und jeden Zoll ihres Körpers mit den Lippen erkundet. Ob das seine unschuldige Frau nicht erschrecken würde?

Wenn er doch nur eine einzige Nacht mit ihr verbracht hätte! Aber dazu war nach der Hochzeit keine Zeit mehr gewesen. Weil er sich dazu entschloss, Seite an Seite mit seinem Vater zu kämpfen, hatte seine frischangetraute Gattin allein in ihrem Ehebett schlafen müssen. Ihre Familien wussten es zwar nicht, aber die Ehe war nie vollzogen worden.

Er hatte so viele dumme Fehler gemacht!

Jetzt verstand er, warum sein Vater ihn in der Schlacht nicht dabeihaben wollte. Ein hitzköpfiger, unerfahrener Bursche von sechzehn Jahren war noch nicht bereit, den Engländern gegenüberzutreten. Tavin MacKinloch hatte ihn mit seinem Körper geschützt und den Schwerthieb empfangen, der eigentlich Brams Leben beenden sollte.

Bram war vor dem Leichnam seines Vaters auf die Knie gefallen. Es hatte ihn nicht gekümmert, dass man ihn gefangen nahm. Das Blut seines Vaters befleckte seine Hände. Nichts konnte ihn mehr ins Leben zurückholen.

Sein Versprechen halten und Callum befreien – das war die einzige Wiedergutmachung, die ihm noch blieb. Sein Nacken juckte, als würde das schwere eiserne Band noch immer seinen Hals umschließen.

Er betrachtete seine vernarbten Handgelenke. Ohne Zweifel wäre Nairna entsetzt, wenn sie auch noch den Rest seiner Wunden sah.

Je mehr er nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob er überhaupt das Recht hatte, hier zu sein.

Wollte Nairna ihn denn noch als Ehemann? Letzte Nacht hatte sie ihn von sich gestoßen, und er wusste nicht, ob es aus Schüchternheit oder aus Abneigung geschah. Was, wenn sie ihr Leben fortgeführt hatte und er für sie nicht mehr war als ein Fehler, den sie vor Jahren begangen hatte?

Bram schloss die Augen. Sein Verlangen nach einem Leben mit Nairna saß tief. Vielleicht würde sie ihm die Erlösung bringen.

Er hatte zwar kein Auge zugemacht, aber er war erfüllt von einer nervösen Energie. Alles in ihm drängte danach, wieder mit ihr zusammen zu sein, sich davon zu überzeugen, dass er alles nicht nur geträumt hatte.

Schritte näherten sich. Bram sprang auf die Füße und griff automatisch nach seinem Dolch, der nicht da war.

Hamish MacPherson, der Chief of Ballaloch, stand in der Tür, hinter ihm sein ältester Sohn Malcolm. Nairna war nirgends zu sehen.

„Du musst doch nicht im Stall schlafen, Junge“, schalt ihn das Oberhaupt des Clans. Er musterte ihn scharf von Kopf bis Fuß, dann nahm er ihn zum Willkommensgruß in die Arme. „Es tut gut, dich wiederzusehen. Bei Gott, wir alle hielten dich für tot. Wo warst du all die Jahre?“

„Cairnross“, antwortete Bram und hob die Hände, um ihm die Narben an den Handgelenken zu zeigen, Zeichen seiner jahrelangen Gefangenschaft.

Sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet Bram, dass er verstand. „Ich frage dich nicht, wie du entkommen bist. Aber du hattest Glück, dass Harkirks Männer dich nicht getötet haben.“

Bram antwortete nichts darauf. Er erinnerte sich kaum an das, was passierte, nachdem man ihm die Kapuze übergezogen hatte. In dem einen Augenblick hatte er das kalte Metall einer Klinge an der Kehle gespürt und im nächsten öffnete er die Augen und sah Nairna, die sich über ihn beugte.

Hamish sprach weiter. Die Worte zogen an ihm vorüber. Irgendetwas darüber, dass sie froh waren, ihn wiederzusehen und noch einige Sätze über Nairna. Bram versuchte, ihren Sinn zu verstehen, aber der Hunger und die Müdigkeit machten es ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Der Chief sah ihn jetzt ernst an und machte das Kreuzzeichen. „Es ist gut, dass Iver MacDonnell gestorben ist, möge er ruhen in Frieden. Das hätte sonst ein schönes Durcheinander gegeben.“

Bram hatte keine Ahnung, wovon der andere sprach. Hamish sah seinen verständnislosen Blick und fluchte. „Sie hat dir nichts davon erzählt, oder?“

„Was erzählt?“

„Nairna hat vor vier Jahren den Chief des MacDonnell-Clans geheiratet. Er starb letzten Sommer.“ Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Obwohl ich glaube, dass ihre Ehe nicht legal war, da du noch lebst.“ Er rieb sich den Bart und dachte nach. „Ich werde mit Vater Garrick darüber sprechen und ihn fragen, wie es jetzt weitergeht.“

Bram hörte nichts mehr von dem, was Hamish sagte. Ein leises Summen war in seinen Ohren, und er hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand zu Boden geschlagen.

Sie hatte einen anderen geheiratet. Schlimmer noch, sie hatte es ihm nicht gesagt!

Die Nachricht ließ seine Selbstbeherrschung zusammenbrechen. Er hatte in dem Glauben gelebt, dass Nairna auf ihn wartete. Dass es niemals einen anderen für sie gegeben hatte.

Er hatte sich geirrt.

Die Wut zerstörte jedes vernünftige Gefühl in ihm. Er wünschte, der Anführer der MacDonnells wäre noch am Leben, so dass er ihn töten konnte, weil er angerührt hatte, was ihm gehörte. Dieser Bastard hatte ihre Jungfräulichkeit für sich gefordert. Je länger er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Wut.

Es kostete all seine Kraft, diese Wut tief in sich zu begraben und ein ausdruckloses Gesicht aufzusetzen. Er würde Nairna damit konfrontieren, wenn er sie sah.

„Ich werde Nairna mit mir nehmen“, sagte er dem Chief.

„Du wirst auch ihre Mitgift wollen“, meinte Hamish und verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. „Da du ja in den Kampf gezogen bist, bevor du sie in Empfang nehmen konntest.“

Großer Gott, soweit hatte er noch gar nicht gedacht! Im Moment wollte er nur mit Nairna sprechen, wollte erfahren, was in den letzten sieben Jahren geschehen war. Und warum sie einen anderen geheiratet hat.

Das Geld war nicht wichtig. Aber andererseits: Bevor er nicht wusste, wie es um Glen Arrin stand, sollte er besser auf alles vorbereitet zu sein. „Ich werde die Mitgift mitnehmen, wenn wir zurückkehren.“

Hamish hob die Augenbrauen. „Sie wird nicht mehr so viel besitzen wie früher. Und sie wird ihren Witwenanteil verlieren, wenn ihre Stiefsöhne erfahren, dass die Ehe ungültig war.“

Ein neuer, beunruhigender Gedanke schoss Bram durch den Kopf. „Hat sie … hat sie Kinder?“

„Der Verbindung entstammen keine Kinder.“

Hamish schien sich unbehaglich zu fühlen. Bram stieß die Luft aus, die er angehalten hatte. Halb hoffte er, dass es wegen der Impotenz des Gatten so war. „Wo ist Nairna jetzt?“

„In ihrer Kammer. Sie hat uns geschickt, dich zu suchen.“ Hamish legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wegen der MacDonnells musst du dir keine Sorgen machen. Ich werde mich mit ihrem Oberhaupt treffen und die Einzelheiten besprechen, was Nairnas Besitz betrifft.“

„Sie wird nicht zu ihnen zurückkehren“, schwor Bram. „Sie können behalten, was immer sie wollen. Nairna bleibt bei mir.“

Hamishs Mundwinkel zuckten. „Ich freue mich, dass du wieder da bist, Bram. Denn ich glaube, du bist genau das, was Nairna jetzt braucht.“

Nairna beugte sich über eine Truhe, während sie ihre Strümpfe nach Farben sortierte. Zuerst all die dunklen Töne, dann die helleren und zuletzt die dicken Wollstrümpfe, die sie nur im Winter trug. Sie rollte sie zu festen, adretten Ballen zusammen und ordnete sie in Reihen. Zwar hatte sie schon gestern all ihre Sachen gepackt, aber sie musste etwas tun, um ihre Nerven zu beruhigen.

Nachdem Bram letzte Nacht gegangen war, hatte sie wach gelegen und über ihn nachgedacht. Es schien fast so, als hätte sie sich nur eingebildet, dass er sie geküsst hatte. Schon lange hatte sie sich die Erinnerungen an ihn bewahrt. Aber die waren nichts gegen diesen Mann, der einfach Besitz ergriffen hatte von ihren Lippen, der sein Recht in Anspruch nahm, sie berühren zu dürfen.

Er hatte sie geküsst, bis ihr ganzer Körper auf seinen Kuss reagierte und ihre Haut unter seinen ungestümen Lippen, seiner Zunge, geglüht hatte. Etwas Unerwartetes war in ihr erwacht. Es war, als würde er sie dazu bringen, ihre strenge Selbstbeherrschung aufzugeben und sich seinem Willen zu beugen.

Iver hatte sie nie so geküsst.

Ihre Wangen brannten vor Scham bei dem Gedanken an den Mann, den sie für ihren zweiten Gatten gehalten hatte. War es eine Sünde gewesen, als sie sich ihm hingab im Glauben, rechtmäßig verheiratet zu sein? Und sollte sie jetzt diese Ehejahre einfach vergessen, als hätten sie nie existiert?

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, bis sie nicht mehr ein noch aus wusste. Einst, vor langer Zeit, hatte sie Bram ihr Herz geschenkt. Und wenn sie jetzt auch so verwirrt war, dass sie nicht sagen konnte, was sie für ihn fühlte, die wilde Hoffnung, die in ihr erwacht war, konnte sie nicht leugnen. Er war zu ihr gekommen, kaum dass er die Freiheit erlangt hatte. Er wollte sie, trotz all der Jahre, die inzwischen vergangen waren.

Vielleicht konnten die schon begrabenen Gefühle wieder zum Leben erwachen? Und vielleicht … vielleicht kann Bram mir ein Kind schenken, dachte sie und ihr Herz schlug erwartungsvoll. Sie war nicht bereit, den Traum von eigenen Kindern aufzugeben. Noch nicht.

Würde er sie jetzt mit sich nach Hause nehmen? Als seine Frau wurde von ihr erwartet, dass sie mit ihm ging und bei dem MacKinloch-Clan lebte. Brams Familie wohnte weiter nördlich. Nairna war erst einmal dort gewesen. Die Männer waren heißblütige, wilde Krieger und von den Engländern gefürchtet. Mit einem Mal fühlte sie sich beklommen.

Es wird alles gut werden, beruhigte sie sich. Es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Sie musste es als eine zweite Chance auf ein Heim und eine eigene Familie ansehen. Und Bram würde an ihrer Seite sein.

Sie stand auf, ging zu der Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte, und zog ein schon verblasstes rotes Band daraus hervor. Seine Ränder waren zerfranst und abgenutzt.

Sie hielt es in der Hand, als könnte sie so die verlorenen Jahre festhalten. Der Boden schien sich unter ihr aufzutun. Sie war nicht länger eine Witwe. Sie war eine Ehefrau. Und wenn Bram ging, musste sie ihm folgen.

Sie flocht das Band in ihre Zöpfe.

Die Tür ging auf, und Agnes betrat eilig die Kammer. „Sie haben Euren Mann gefunden.“

Nairna atmete tief aus und ließ entspannt die Schultern sinken. „Gut. Er wird etwas zu essen brauchen. Und frische Kleider und ein Bad.“

Agnes, schon älter und Witwe, war für Nairna wie die Mutter, die sie vor vielen Jahren verloren hatte.

„Ich kümmere mich schon drum.“ In der Tür blieb Agnes noch mal stehen. „Freust du dich, ihn wiederzuhaben?“, fragte sie besorgt.

„Oh ja.“ Nairna zwang sich zu einem Lächeln, aber in Wahrheit machte sie sich Sorgen.

„Nun, das ist gut zu hören. Wenigstens hast du keine Angst vor dem Brautbett. Du weißt ja, was dich erwartet.“ Die Amme schenkte ihr ein warmes Lächeln, bevor sie die Kammer verließ und die Tür hinter sich schloss.

Was Agnes gesagt hatte, stimmte ganz und gar nicht. Auch wenn sie keine Jungfrau mehr war, ließ sie der Gedanke, dass sie mit Bram das Lager teilen sollte, vor Befangenheit erröten. Der einzige Mann, den sie intim gekannt hatte, war Iver gewesen. Und, um die Wahrheit zu sagen: An seinem Liebesspiel gab es nicht viel Aufregendes zu entdecken. Sie hatte gelernt, still zu liegen und ihn machen zu lassen, wozu er Lust hatte. Und das war es auch schon. Es hatte nie viel länger als ein paar kurze Augenblicke gedauert.

Aber letzte Nacht, als Bram sie küsste – das war etwas ganz anderes gewesen. Er hatte sie angesehen, als gäbe es für ihn keine andere Frau auf der Welt. Als wollte er sie für sich fordern, sie nehmen und sie alle Sinnesfreuden lehren. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, bei ihm zu liegen, seine warme Haut zu berühren und zu spüren, wie er sich auf ihr bewegte.

Eine heiße Welle raste durch ihre Adern. Nairna dachte an Brams Gesicht in der Kammer letzte Nacht. Das schwache Mondlicht hatte scharf geschnittene Züge mit einer leicht gekrümmten Nase zum Vorschein gebracht.

Dunkelbraunes Haar von der Farbe nasser Erde fiel ihm über die Schultern. Er trug einen Bart, aber er hatte sich seidig an ihrem Mund angefühlt. Und, bei allen Heiligen, sein Kuss konnte eine Frau dazu bringen, ihre Seele dem Teufel zu verschreiben.

Der scheue Junge von damals war verschwunden. Jetzt war da ein leidenschaftlicher Mann, den sie nicht kannte. Ein Mann, der die Pforten der Hölle durchschritten und es überlebt hatte.

„Wann wolltest du mir sagen, dass du wieder geheiratet hast?“

Mit einem Schrei ließ sie den Deckel der Truhe fallen. Ihr Herz hämmerte wie wild und es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass es Bram war.

„Du hast mich erschreckt“, keuchte sie und griff sich ans Herz. „Ich habe dich nicht eintreten hören.“

„Wann ist es geschehen?“, wollte er wissen und kam langsam näher. Er sah zornig aus, und sie spürte, dass sie vorsichtig vorgehen musste.

„Drei Jahre nach deinem angeblichen Tod.“ Sie rührte sich nicht, bis er dicht vor ihr stand. Sie fühlte, wie seine nervöse Stimmung auf sie übersprang, aber sie wich nicht zurück. Er sprach kein Wort, als müsste er gegen seinen Zorn ankämpfen.

„Ich weiß gar nicht, wo du letzte Nacht warst“, murmelte Nairna. „Du bist so plötzlich fortgegangen.“

„Ich war mir nicht sicher, ob du wolltest, dass ich bleibe.“ Brams Augen waren wachsam. Er betrachtete sie, als wüsste er nicht so recht, was er sagen oder tun sollte. Je genauer sie ihn musterte, desto mehr erkannte sie sein Verlangen. Seine Haltung drückte Hunger und Erschöpfung aus. Einige kleinere Wunden hatte er auch. Darum konnte sie sich kümmern. Doch hinter alledem lag noch etwas anderes, etwas Gequältes, das sie nicht verstand.

„Hat er dir etwas bedeutet?“, fragte er ruhig. „Der Mann, den du geheiratet hast?“

„Iver war ganz nett.“ Sie verbarg die zitternden Hände hinter ihrem Rücken.

„Wahrscheinlich wäre es dir lieber, ich wäre nicht zurückgekommen.“ Bram verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du irrst dich.“ Dass er vor ihr stand, war ein Geschenk, auf das sie nie zu hoffen gewagt hätte. Ihr war, als könnte sie die verlorenen Jahre ausstreichen und von vorne anfangen. Denn die wenigen Erinnerungen, die sie und Bram gemeinsam hatten, waren gute Erinnerungen.

„Ich habe aufgetragen, dir etwas zu essen zu bringen und ein Bad vorzubereiten“, sagte sie, um das Thema zu wechseln.

Bram trat dicht an sie heran und musterte sie, als wollte er sich ihr Gesicht für immer einprägen, es in sein Gedächtnis einbrennen. Dann strich er mit dem Daumen über ihre Lippen und legte ihr zart die Hand an die Wange. Nairna spürte, wie sie errötete.

Sie sah die tief eingegrabenen Linien an seinen Handgelenken und eine ähnliche Linie, die sich um seine Kehle wand. Sie hätte gerne erfahren, was ihm zugestoßen war. Aber Brams stoischer Gesichtsausdruck sagte etwas anderes: „Keine Fragen.“ Sie wusste nicht, wie sie die Last der Vergangenheit von ihm nehmen konnte. Wahrscheinlich war es das Beste, gar nichts zu sagen.

Er wandte sich ab und stützte sich schwer auf den Tisch. Wie er so mit hängendem Kopf da stand, sah er aus, als hätte er Schmerzen. Wahrscheinlich würde er beim Baden ihre Hilfe brauchen. Ihr machte es nichts aus, einen unbekleideten Mann zu sehen, aber wie würde Bram sich dabei fühlen?

Bevor sie ihn fragen konnte, kam Agnes mit dem Essen und sauberen Kleidern. Mit ihr kamen Bedienstete, die einen Zuber brachten. Sie stellten ihn ab und füllten ihn eimerweise mit heißem Wasser.

„Lasst uns allein“, befahl Bram. Die alte Frau zögerte, aber Nairna nickte ihr zu, und Agnes eilte davon.

Die Tür hatte sich geschlossen. Bram sah Nairna an. „Hast du schon gegessen?“

Sie nickte. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie ausfragte. Er betrachtete das Essen, das Agnes zubereitet hatte. Es war nicht viel, nur etwas Hammelfleischeintopf und ein paar Fladenbrote. Aber er sah alles mit hungrigen Augen an und sog den Duft ein, als hätte er Angst, es könnte plötzlich verschwinden.

Plötzlich dämmerte ihr die Wahrheit. „Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“, murmelte sie.

„Seit zwei Tagen“, gestand er. Er nahm ein Stück Brot und tunkte es in den Eintopf. Dann kaute er langsam, als würde er jeden Bissen genießen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er über das Essen herfallen würde. Stattdessen aß er langsam und auch viel zu wenig. Das meiste ließ er liegen. Als sie die Reste forträumen wollte, hielt er sie zurück. „Lass es da. Ich versuche, später noch etwas zu essen.“

Mit einem Blick auf den Badezuber begann er, seine Tunika aufzuschnüren. Nairna wusste nicht, ob er von ihr erwartete, dass sie ging oder dass sie blieb. Als er sich dann das Gewand über den Kopf zog, hielt sie unwillkürlich die Luft an.

Schwere Narben bedeckten seine Brust, hunderte von rot-weißen Striemen. Es sah aus, als hätten sie versucht, ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.

Großer Gott im Himmel! Was hatten sie ihm angetan? Alles in ihr krampfte sich zusammen beim Anblick der Ungerechtigkeit, die er hatte erleiden müssen. Sie hatte Angst, dass schon die Berührung mit warmem Wasser ihm Schmerzen bereitete.

Ihn so zu sehen, weckte in ihr den Wunsch, wieder für ihn zu sorgen, die Qualen zu lindern, an denen er litt. Welche Foltern hatte er wohl in seiner Gefangenschaft erdulden müssen? Es jagte ihr Angst ein, daran zu denken.

Bram erklärte nichts. Als er sich weiter auszog, wandte sie sich ab. Sie wartete, bis sie ein leises Platschen hörte. Dann fragte sie: „Soll ich gehen oder bleiben?“

Als er nicht antwortete, wagte sie einen Blick über ihre Schulter. Mit angezogenen Knien saß er vornüber gebeugt im Wasser. Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.

„Ich nehme es dir nicht übel, wenn du lieber gehen willst“, meinte er schließlich. „Ich weiß, wie ich aussehe.“

Sie biss sich auf die Lippen und war wie erstarrt. Es gab keine Worte, um die furchtbaren Narben auf seiner Brust zu beschreiben. „Erzähle mir, was geschehen ist.“

Aber wieder gab Bram ihr keine Antwort. Er lehnte nur den Kopf an den Rand des Zubers. Sie ging zu ihm und hielt ihm die Seife hin.

Er nahm sie und schien zu verstehen, dass sie zögerte, ihn anzufassen. Es war aber die Angst, ihm wehzutun, die sie zögern ließ. Sie nahm ein Handtuch und legte es so, dass er es greifen konnte. Plötzlich herrschte ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen. Es gab wenig, was Nairna noch sagen oder tun konnte.

Sie sollte nicht so nervös sein. Du lieber Himmel, schließlich hatte sie Iver so oft beim Baden geholfen.

Aber das hier war Bram, ein Mann, den sie sieben Jahre lang nicht gesehen hatte. Sie wusste nicht, wie er gerne badete. Und je länger sie wartete, desto mehr nagten Zweifel an ihr.

Sie griff nach seinem langen dunklen Haar. „Soll ich dir die Haare schneiden?“, schlug sie vor.

Er hielt ihre Finger fest. „Sie sind seit sieben Jahre nicht geschnitten worden.“ Er ließ die Hand auf ihrer ruhen, und Nairna überlief ein Schauer.

„Dann werde ich mich jetzt darum kümmern.“ Wenigstens hatte sie so etwas zu tun. Etwas, das ihm keine Schmerzen bereiten würde.

Er zeichnete mit dem Daumen kleine Kreise auf ihre Handfläche. „Es tut mir leid, Nairna.“

In den drei Worten lag die Entschuldigung für die vergangenen Jahre. Ihre Blicke trafen sich. Unwillkürlich beugte sie sich vor, und ihr Herz fing an, schneller zu klopfen. Wenn sie es zuließ, würde er sie jetzt wieder küssen.

Sie fühlte ihre Wangen heiß werden, und das Atmen fiel ihr mit einem Mal schwer. Es war so lange her, dass ein Mann ihr seine Zuneigung gezeigt hatte. Iver hatte sich, was das betraf, keine große Mühe gegeben.

Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und wartete. Hinter dem heimlichen Begehren in Brams Augen entdeckte sie noch ein anderes Gefühl, das sie nicht deuten konnte. Sie wusste nicht, ob es der Widerwille oder der Zorn darüber war, dass sie sich wieder verheiratet hatte.

Er ließ ihre Hand los und schloss die Augen.

Nairna verbarg ihre Enttäuschung und ging einen scharfen Dolch holen, um ihm die Haare zu schneiden. Als sie zurückkam, sah sie, dass Bram den Rand des Zubers umklammerte. Und als sie sich mit dem Dolch in der Hand neben ihn kniete, erstarrte Bram, als könnte er den Anblick der Waffe nur schwer ertragen.

Vorsichtig griff sie nach einer der strähnigen Locken. Bram presste die Lippen zusammen und sah starr geradeaus.

Sie zögerte. Die Locke in der Hand fragte sie: „Möchtest du, dass ich es lieber sein lasse?“

„Nein. Aber mach schnell.“ Seine schroffen Worte trieben sie an.

Sie schnitt ihm die Haare auf Schulterlänge ab und bemühte sich, den Schnitt einigermaßen gleichmäßig hinzubekommen. Hätte ich eine Schere, würde es sicher besser aussehen, dachte sie. Ihre Hände glitten über seinen Kopf, und erst als sie den Dolch zur Seite legte, schien die Anspannung von Bram abzufallen.

Sie half ihm, den Kopf ins Wasser zu tauchen und seifte dann seine Haare ein. Dabei spürte sie, wie der warme Wasserdampf sich auf ihre Haut legte.

Als die Haare schließlich sauber gespült waren, richtete Bram sich wieder auf. Sein Blick bohrte sich in ihren, und sie las in seinen dunklen Tiefen den gleichen Hunger wie schon zuvor. Seine stoppeligen Wangen waren nass, sein Mund fest und entschlossen. Das Wasser rann ihm über das Gesicht auf seinen vernarbten Rücken, und die Luft wurde zu schwer zum Atmen.

Nairna betrachtete seine Brust. Wenn er sie so ansah, fiel es ihr schwer, klar zu denken. „Erzähle mir, was mit dir geschehen ist nach unserer Hochzeit“, bat sie in der Hoffnung, ihn damit abzulenken. „Ich weiß, dass Glen Arrin angegriffen wurde.“

Es war verwirrend und demütigend zugleich gewesen. Eben hatten sie noch Hochzeit gefeiert, und im nächsten Moment machte sich ihr Ehemann mit seinem Vater und der ganzen Verwandtschaft auf und davon.

„Als wir ankamen, wurde die Burg belagert. Die Engländer legten Feuer und erschlugen unsere Clansleute. Und alles nur, weil mein Vater sich weigerte, Longshanks den Treueid abzulegen“, sagte Bram. Er verzog angewidert das Gesicht, als er den Spitznamen des englischen Königs aussprach.

Sie sah die Wildheit in seinen Augen. Die Wut schien in ihnen zu brodeln. „Sie haben immer noch meinen Bruder Callum in ihrer Gewalt.“

Er erhob sich aus dem Wasser. Die Tropfen perlten über seine Haut, liefen ihm über die Rippen und die Schenkel hinunter. Es schien ihm nichts auszumachen, sich ihr so zu zeigen. Nairna brannten die Wangen beim Anblick seiner Männlichkeit. Er schien leicht erregt, als ob er sie begehrte.

Schau nicht so hin! ermahnte sie sich. Rasch wandte sie den Blick ab. „Wie willst du deinen Bruder befreien?“, fragte sie Bram, während sie ihm das Handtuch reichte.

„Das weiß ich noch nicht. Vielleicht stellen wir eine Armee auf. Oder wir zahlen ein Lösegeld.“ Er trocknete sich das Gesicht und die Brust ab, bevor er sich das Tuch um die Hüften schlang.

Lösegeld? Glaubte er wirklich, dass die Engländer eine Bestechung annehmen und ihm seinen Bruder aushändigen würden?

„Das mit dem Lösegeld wird nicht gelingen“, stellte sie sachlich fest. „Sie werden euer Geld nehmen und Callum als Gefangenen behalten.“

„Ich werde ihn befreien, Nairna.“ Die Entschlossenheit in seiner Stimme zeugte von einem Mann, der sein Wort hielt, selbst wenn es seinen Tod bedeutete. Er griff nach seinen Kleidern, die auf dem Boden lagen und holte etwas heraus. Sie konnte nicht erkennen, was es war.

„Ich hoffe, es gelingt dir.“ Nairna drehte sich weg und räumte die Essensreste fort, während er die frischen Kleider anzog. Sie wusste nicht, wie sie auf ihn reagieren sollte und fühlte sich, als hätte man ihr Leben einfach auf den Kopf gestellt und den ganzen Inhalt wie aus einer Truhe über den Boden verteilt.

Ihre Hände ruhten auf der Tischplatte. Sie holte ein, zwei Mal tief Luft. Hinter sich hörte sie, wie Bram näher kam. Er fasste sie um die Taille und drehte sie zu sich um. Durch die raue Wolle ihres Kleides hindurch spürte sie, wie seine Berührung sie wärmte. Sein fester Griff hielt sie gefangen. Sie wich seinem Blick nicht aus, aber als sie ihm in die Augen sah, konnte sie plötzlich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Er hat dich angerührt, nicht wahr?“ Sein warmer Atem streifte ihre Wange und schickte kleine Hitzewellen über ihre Haut. „Er hat die Ehe vollzogen.“

Sie nickte nur und sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Aber sie konnte nicht lügen. Nicht, was das hier betraf.

Sie hatte Iver MacDonnells geheiratet, weil es ihr vernünftig erschien, auch wenn sie keine Gefühle für ihn hegte. Mit achtzehn Jahren wünschte sie sich eine eigene Familie und wollte nicht weiterhin im Haus ihres Vaters leben.

„All die Jahre lag ich in Ketten und träumte von dir“, murmelte er. „Nur, um jetzt zu erfahren, dass du einen anderen geheiratet hast …“ Die Stimme stockte ihm, und sie konnte spüren, wie wütend er war.

Aber sie spürte auch den eigenen alten Kummer in sich aufsteigen. „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, Bram.“ Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen. „Aber ich kann alles hinter mir lassen und neu beginnen.“

Er griff nach ihren Händen. Der leere Ausdruck in seinem Gesicht gab ihr das Gefühl, ihn verraten zu haben. Worte würden es ihm nicht leichter machen.

Dann senkte er den Kopf und küsste sie, als wollte er ihr seinen Stempel aufdrücken, als wollte er sie dafür bestrafen, dass sie einen anderen Mann geheiratet hatte.

Doch kurz darauf änderte sich seine Umarmung, wurde sanfter. Der zweite Kuss war so zärtlich wie der allererste, den er ihr geschenkt hatte. Er erinnerte sie an die Jahre, die sie miteinander geteilt hatten und an das, was sie damals für ihn fühlte.

Bram sah sie an. Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte. „Wir brechen in wenigen Stunden auf, Nairna. Mach, dass du mit dem Packen fertig wirst.“ Dann drückte er ihr etwas Hartes, Kaltes in die Hand.

Sie öffnete die Hand erst, nachdem er das Gemach verlassen hatte. Ein grauer Stein lag darin, mit glitzernden Streifen aus Rosenquarz. Sie hatte ihn ihm an ihrem Hochzeitstag gegeben.

Nairna umklammerte den Stein und ließ ihren Tränen freien Lauf.

4. KAPITEL

Ich habe dem Anführer der MacDonnells eine Nachricht gesandt“, teilte Hamish MacPherson ihr mit. „Vater Garrick wird über die Auszahlung deines Besitzes verhandeln.“

„Was für eine Auszahlung?“, fragte Nairna. Die ganze Situation war ihr unangenehm. Ihr Stiefsohn war zwar ein vernünftiger Mann, aber der Gedanke, dass ihre zweite Ehe ungültig gewesen war, bedrückte sie. Sie hatte sich ein zweites Leben aufgebaut, dabei war Bram doch gar nicht tot gewesen. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass sie keinerlei Schuld an diesem Irrtum hatte. Trotzdem schämte sie sich.

„Die Rückgabe deiner Mitgift“, erwiderte ihr Vater. „Da du kein Wittum vom Besitz der MacDonnells erhalten wirst, muss dir deine Mitgift zurückgegeben werden.“ Er trat zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter. „Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen. Ich erledige alles für dich, damit du mit deinem Gatten nach Hause zurückkehren kannst.“

Nairna nickte. Sie war hin und her gerissen zwischen Dankbarkeit und Verwirrung. Es hatte sich alles so plötzlich verändert. Sie musste nicht länger nach Callendon zurückkehren. Sie konnte dieses Leben hinter sich lassen und mit Bram neu beginnen. Ihre Finger ertasteten den bunten Stein, den er ihr gegeben hatte, und sie flehte stumm den Himmel um eine gute Ehe an.

„Alles wird gut, Nairna“, beruhigte ihr Vater sie. „Aber ihr solltet euch langsam auf den Weg nach Glen Arrin machen. Nur für den Fall, dass noch mehr Soldaten kommen und nach Bram suchen.“

Nairna wurde ganz kalt bei dem Gedanken, dass er um ein Haar vor ihren Augen ermordet worden wäre. Hätte ihr Vater sich nicht eingemischt, hätte er die Soldaten nicht bestochen … Nein, sie wollte lieber nicht daran denken.

„Ich habe einen Wagen mit Proviant für euch herrichten lassen“, fuhr Hamish fort. „Geht jetzt, solange es noch hell ist. Euer Weg führt an Lord Harkirks Burg vorbei“, fügte er mit finsterem Gesicht hinzu.

Hätten sie doch nur einen anderen Weg nehmen können. Aber die Burg des Barons lag zwischen den Bergen, und sie mussten an ihr vorbei, wenn sie nach Glen Arrin wollten.

Ihr Vater begleitete sie in den äußeren Burghof, wo Bram bereits wartete. Auf dem Wagen, den Hamish für sie bereitgestellt hatte, sah Nairna die Truhe, die all ihren Besitz enthielt, außerdem Säcke voll Lebensmittel und noch andere Vorräte.

„Ich habe dir noch fünfzig Pennies mitgegeben“, sagte ihr Vater.

„Nein, behalte sie für den Clan. Er wird sie brauchen.“ Keine einzige Münze wollte sie von ihm annehmen.

„Ich bekomme sie durch die MacDonnells wieder. Schließlich werden sie mir deine Mitgift zurückschicken. Ich bekomme schon noch mein Geld, mach dir da mal keine Sorgen.“

Mit Tränen in den Augen umarmte Nairna ihn zum Abschied. „Ich danke dir.“

„Auf jetzt! Schickt eine Nachricht, wenn ihr gut angekommen seid“, befahl er. Und an Bram gewandt fügte er hinzu: „Pass auf meine Tochter auf.“

Bram erwiderte seinen Blick und nickte. Die Zügel in der Hand, wartete er bereits auf dem Wagen auf Nairna. Sie sah sich nach ihrer Amme um. Aber die alte Frau war nirgends zu sehen.

„Agnes kommt doch mit uns, oder?“, fragte Nairna.

Bram schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Vielleicht später, wenn ich weiß, wie es auf Glen Arrin aussieht.“

„Und was ist mit einer Eskorte?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ganz allein mit ihr reisen wollte. Nicht in diesen unruhigen Zeiten hier in den Highlands.

„Sie würde nur die Aufmerksamkeit von Cairnross und seinen Leuten wecken, falls sie immer noch nach ihm suchen“, gab ihr Vater zu bedenken. Er wechselte einen Blick mit Bram. „Und nach allem, was gestern mit Harkirks Männern geschah, wollen wir nicht ihre Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“

Das gefiel Nairna nicht. Es war gefährlich, ohne Begleitung zu reisen, besonders, wenn der Weg durch Feindesland führte. Bram spürte ihr Unbehagen und legte die Hand auf den Griff eines Breitschwerts, das Nairna zuvor nicht gesehen hatte. Es war, verborgen unter seinem dunklen Wollumhang, auf seinem Rücken festgeschnallt. „Es kann uns nichts passieren.“

Er half ihr, auf den Wagen zu klettern und sich zwischen die Ladung zu setzen. Der Wagen rumpelte zum Tor hinaus, und Nairna betete, er möge recht behalten.

Je weiter sie nach Nordwesten kamen, desto höher wurden die sanften Hügel, die schließlich in Berge übergingen. Die silbrig schimmernden Wellen des Sees leckten am steinigen Ufer und hoben sich von den weiten grünen Grasflächen ab. Der Baumbestand wurde spärlicher. Regen klatschte auf die Kapuzen ihrer Wollmäntel.

Nairna war an Regen gewöhnt, aber heute sorgten die tief hängenden Wolken über dem Gebirge für eine geisterhafte Stimmung.

Der Clan der MacKinlochs lebte zwei Tagesreisen entfernt. Bisher war Nairna nur einmal dort gewesen. Nachdem Bram für tot gehalten wurde, hatte sie es vorgezogen, bei ihrer Familie anstatt unter Fremden zu leben.

Sie sah unter der Plane hervor. Ihr fiel auf, wie zusammengesunken Bram auf dem Bock saß und wie er die Schultern hängen ließ. Er sah starr geradeaus und hielt nach Feinden Ausschau. Die Erschöpfung lastete schwer auf ihm, schien ihn niederzudrücken. Nairna fragte sich, wie sie ihm helfen und es ihm leichter machen konnte.

Nach einer weiteren Stunde ging sie nach vorn und setzte sich neben ihn. Sie konnte ihm am Gesicht ablesen, was er von dieser Reise erwartete. Sie erriet es aus der Art, wie er das Kinn vorreckte.

„Du hast deine Familie nicht mehr gesehen, seitdem du gefangen genommen wurdest?“, brach sie schüchtern das Schweigen. Sie hoffte, ihn zum Sprechen zu bringen, auch wenn sie sich die Antwort schon denken konnte.

Zuerst schüttelte Bram nur den Kopf.

Sie versuchte es noch einmal. „Meinst du, dein Bruder freut sich, dich zu sehen?“ Er zuckte die Schultern, als wüsste er es nicht.

Das würde eine lange Reise werden, wenn er kein Wort sprach. „Hast du deine Stimme in Ballaloch vergessen? Oder hast du beschlossen, mich zu ignorieren?“

Bram ließ die Pferde langsamer gehen und drehte sich zu ihr um. In seinen Augen las sie eine brodelnde Unruhe. Und einen unausgesprochenen Zorn. „Sie versuchten nicht, uns zu befreien, Nairna. Mein Bruder und ich waren jahrelang eingesperrt. Kein Einziger meiner Familie kam, um nach uns zu suchen. Und ich weiß nicht, warum.“

Seine Stimme klang heftig und Nairna bereute sofort, dass sie ihn so bedrängt hatte. „Sie schickten deinem Vater die Nachricht, du wärst bei der Belagerung getötet worden.“ Nairna legte ihm die Hand auf den Arm. Sie konnte nur hoffen, dass seine Familie ihn nicht wirklich im Stich gelassen hatte. „Vermutlich kannte keiner die Wahrheit. Es tut mir so leid.“

Ihre Worte änderten kaum etwas an seiner düsteren Stimmung. Bram trieb die Pferde wieder an, und der Wagen rumpelte den Weg entlang.

Langsam wurde es Abend. Der Nebel lichtete sich so weit, dass sie den vor ihnen liegenden Pfad erkennen konnten. Nahe einem Abhang und an allen Seiten von einem tiefen Graben umgeben lag die Burg, die von Robert Fitzroy, Baron of Harkirk, verteidigt wurde.

Nairna fühlte, wie die Angst in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Sie griff nach Brams Hand. „Die Männer, die dich gestern töten wollten … sie kamen von Harkirks Burg dort.“ Sie deutete zu dem Bauwerk hinüber.

Früher war es nur eine Garnison aus Holz gewesen, aber wie es aussah, hatte Harkirk begonnen, die Anlage in eine massive Turmfeste umzuwandeln. Dass das Geld ihres Vaters in diesem Ausbau steckte, machte Nairna noch wütender.

Bram drückte ihr kurz die Hand und betrachtete die Burg. „Wie lange steht die schon hier?“

„Die erste Befestigung wurde vor fünf Jahren gebaut. Doch sie hat sich seitdem verändert.“ Leider war sie größer geworden. Es schien, als hätte Harkirk vor, eine richtig große Burg zu bauen.

„Ich dachte, das Land gehörte zum Besitz deines Vaters.“

„Nicht mehr.“ Nicht, seitdem Harkirk den Friedensvertrag mit den Engländern unterschrieben hatte. „Lord Harkirk herrscht jetzt dort. Er forderte die Burg zu unserem Schutz.“

Bram zog sein Breitschwert aus der Scheide auf seinem Rücken und legte es zu seinen Füßen auf den Boden. Die Waffe war ein Geschenk seines Vaters. Von der Spitze bis zum Knauf reichte sie Nairna bis zur Brust. Das Schwert zu schwingen verlangte Kraft. Sie fragte sich, ob er so kurz nach seiner Gefangenschaft in der Verfassung war, sie damit zu verteidigen.

Bram nahm zwar wieder die Zügel auf, aber seine Haltung hatte sich sichtlich verändert. Sein Gesichtsausdruck war abweisend, sein Blick suchte die Umgebung ab.

Als sie an der Vorburg vorbeiritten, tauchten zwei Soldaten zu Pferd auf, um sie abzufangen.

Nairna sank das Herz. Sie hatte gehofft, unbemerkt die Burg passieren zu können. Tapfer versuchte sie, ihre aufsteigende Angst zu unterdrücken, aber ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Immerfort musste sie an die Soldaten denken, die Bram gefangen genommen hatten, um ihn umzubringen.

Als die Soldaten näher kamen, lenkte Bram den Wagen ruhig weiter.

„Sollten wir nicht schneller fahren?“, meinte Nairna vorsichtig.

Aber sie bekam keine Antwort. Wie in Trance starrte er geradeaus. „Bram?“, fragte sie erneut.

„Es sind nur zwei. Wenn sie dich bedrohen, bekommen sie es mit mir zu tun.“ Der emotionslose, leere Ton, mit dem er es sagte, jagte ihr genau so viel Angst ein wie die Soldaten. Vermutlich würde er erbarmungslos töten. Nairna betete, dass es nicht nötig sein würde.

Sie riskierte einen Blick zurück. Die Soldaten trugen Kettenpanzer und waren beide mit Speeren bewaffnet. Soldaten niedrigen Ranges, erkannte Nairna. Wahrscheinlich sollten sie nur ein paar Fragen stellen.

Bram behielt das ruhige Tempo bei. Die Soldaten kamen näher, und Nairnas Anspannung stieg. Jetzt ritten die Männer rechts und links vom Wagen und passten sich ihrem Tempo an. Einer von ihnen schenkte ihr ein lauerndes Lächeln, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief.

Bram blieb ruhig und wich nicht von seinem Kurs ab. Wenn sie nicht seine fest zusammengeballten Fäuste gesehen hätte, Nairna hätte nicht gewusst, ob er die Soldaten überhaupt bemerkte. Sein Blick blieb starr auf den Weg vor ihnen gerichtet.

„Willst du nicht anhalten?“, höhnte einer. „Lord Harkirk würde euch gerne seine … Gastfreundschaft anbieten.“

Nairna antwortete nicht. Eine Reaktion von ihr hätte die beiden nur ermuntert. Sie rutschte näher zu Bram und vermied jeden Augenkontakt mit den Soldaten. Stumm flehte sie zum Himmel, die Männer möchten sie in Ruhe lassen. Aber stattdessen ritten sie weiter, jeder auf einer Seite des Karrens.

„Ich hätte Lust auf so ein Weibsstück“, ertönte die Stimme des anderen Soldaten. Er grinste schmierig, und Nairna fuhr erschrocken zurück.

Zur Antwort hob Bram sein Schwert. Die Muskeln an seinem Arm traten hervor, als er mit dem Schwert auf den Soldaten zeigte, der sie bedrohte. In der anderen Hand hielt er einen Dolch.

Nairna nahm an seiner Stelle die Zügel in die Hand und hielt den Atem an. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass er die Kraft besaß, das Breitschwert mit einer Hand zu führen.

„Wenn Ihr sie anrührt, kostet es Euch die Hand. Oder den Kopf. Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Die Soldaten sahen einander an. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, ob er seine Drohung nicht doch wahr machen würde. Schließlich blieben sie zurück.

„Fahrt weiter.“

Bram ließ sie keinen Moment lang aus den Augen, bis sie die Männer weit hinter sich gelassen hatten. Der Zwischenfall hatte ihn nicht unberührt gelassen, die Schatten seiner Vergangenheit huschten über seine Miene. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt wie eine Bogensehne. Endlich ließ er Schwert und Dolch sinken und nahm Nairna die Zügel aus der Hand.

Erst als einige Meilen zwischen ihnen und der Burg lagen, atmete Nairna ruhiger. Zu viel hätte schief gehen können. Sie hätten Bram verhören oder ihn in Gewahrsam nehmen können.

Ihr Vater hatte recht. Sie mussten fort von Ballaloch. Weit fort. Nur in Glen Arrin, bei Brams Familie, würden sie in Sicherheit sein.

„Wo willst du unser Nachtlager aufschlagen?“, fragte Nairna, als die Sonne sich anschickte unterzugehen. Sie war noch nicht müde, aber sie hatte Hunger.

Keine Antwort. Es war, als hätte sie gegen eine Wand gesprochen.

„Bram?“, drängte sie. Er drehte sich nicht zu ihr um, rührte sich nicht. Stumm starrte er auf die Straße vor ihnen. Erst jetzt merkte sie, dass seine Hände zitterten. Auch wenn er kerzengerade dasaß, stimmte etwas nicht.

Seine Augen waren blicklos, als wäre er in einem Traum gefangen. Nahm er seine Umgebung überhaupt wahr?

„Was ist los?“

Er antwortete nicht. Nairna griff in die Zügel und hielt die Pferde an. Er schien noch nicht einmal zu bemerken, dass sie nicht mehr fuhren. Sein Blick ging ins Leere. Nairna griff nach seiner Hand. Sie war eiskalt.

„Sprich mit mir“, flüsterte sie und bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Der Himmel wurde dunkler und Wind erhob sich. Bram schien in der Welt seiner eigenen Gedanken verloren zu sein. Sie hatte den Verdacht, dass er sie gar nicht hörte.

Vorsichtig berührte sie seine Wange. Vielleicht konnte sie so den Zauber vertreiben, der auf ihm zu liegen schien. Sanft ließ sie die Fingerspitzen über seine Haut bis hinunter zu seiner Kehle gleiten. Aber als sie seine Narbe berührte, schoss seine Hand vor und packte ihr Handgelenk. Wahnsinn loderte in seinen Augen. Er sah sie an, als wäre sie ein Feind, der ihm ans Leben wollte.

Der plötzliche Schmerz ließ sie nach Luft schnappen. Sie schloss die Augen. Wie, um Himmels willen, sollte sie zu ihm durchdringen? Er war zwar bei Weitem nicht mehr so stark wie früher, aber das Handgelenk konnte er ihr sicher brechen.

„Bram, ich bin es, Nairna“, flüsterte sie. „Sieh mich an. Ich bin …“, sie stieß zitternd den Atem aus, „… deine Frau“, brachte sie mühsam hervor.

Als er immer noch nicht reagierte, unterdrückte sie mit aller Kraft den heftigen Schmerz. „Du tust mir weh, Bram.“

Qualvoll lange sprach sie beruhigend auf ihn ein und hoffte, dass er sie irgendwie erkennen würde.

Und dann ließ er sie plötzlich los. Er kniff die Augen zusammen und blickte sie verwirrt an. Als er sah, wie sie sich das gerötete Handgelenk rieb, seufzte er gequält auf.

„Was hab ich dir angetan, Nairna?“

Sie schüttelte den Kopf und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Herz raste, und sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen.

„Es tut mir leid“, flüsterte er und wollte ihre Hand untersuchen. Aber sie verbarg sie vor ihm. „Ich habe geträumt. Ich muss eingeschlafen sein.“

„Deine Augen waren aber offen.“

Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Gesicht in die Hände. Sie sah, dass seine Finger immer noch zitterten und bekam es mit der Angst zu tun. Hatte er die Wahrheit gesagt? Vielleicht war es wirklich ein Wachtraum gewesen, vielleicht aber auch der Wahnsinn. Sie wusste es nicht.

„Lass uns hier die Nacht verbringen“, bat sie ruhig. „Wir werden uns etwas ausruhen und am Morgen wieder aufbrechen.“

„Nairna.“ Er hob den Kopf und sah sie voll Reue an. „Niemals, auch in tausend Jahren nicht, würde ich dir wehtun wollen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.“

Sie rückte von ihm ab und sprang vom Karren. In ihrem Kopf herrschte ein solches Durcheinander, das sie nicht zu sprechen wagte. Deshalb nickte sie nur, während sie sich das schmerzende Handgelenk hielt und zum nahen Fluss ging.

Bram hielt sie nicht zurück, aber er ließ sie nicht aus den Augen. Er sah zu, wie sie am Ufer niederkniete und ihr Handgelenk im kalten Wasser badete. Ihm war, als hätte jemand ein Messer genommen und ihm die Seele aus dem Leib geschnitten.

Er hatte ihr dies angetan. Er hatte zugelassen, dass die Albträume ihn in einem Mann verwandelten, den er nicht kannte. Nairna musste irgendetwas zu ihm gesagt oder ihn vielleicht angefasst haben. Und er besaß keine Kontrolle über die Visionen, die ihn quälten.

Die Begegnung mit den englischen Soldaten hatte eine Dunkelheit heraufbeschworen, der er sich nicht stellen wollte. Der Anblick ihrer Rüstungen, ihre Drohungen gegen Nairna hatten ihm die vergangenen Jahre wieder zurückgebracht. Die Männer unterschieden sich in nichts von den zahllosen Soldaten, denen er schon früher begegnet war. Aber ihr Anblick wirkte wie Öl auf die Flammen seiner Erinnerungen.

Und deswegen hatte er seine unschuldige Frau verletzt, die er doch beschützen wollte. Es gab nicht genug Worte der Entschuldigung für das, was er getan hat. Und trotzdem würde sie nicht verstehen können, was passiert war.

Die jahrelange Folter hatte ihn verändert. Er schlief nicht mehr wie ein normaler Mensch, sondern blieb stundenlang wach, bis die Erschöpfung ihn ohne Vorwarnung überwältigte. Nie konnte er nachts schlafen oder zu einem Zeitpunkt, da er sich nach Ruhe sehnte.

In einem Augenblick stand er noch aufrecht da und im nächsten konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie viel Zeit vergangen oder was mit ihm geschehen war. Mehr als einmal war ihm das beim Aufschichten dieser verdammten Steinmauern passiert. Der Schmerz der Peitschenhiebe hatte ihn immer wieder geweckt. Hiebe, die erst aufhörten, wenn er wieder seine Arbeit tat.

Du bist nicht mehr dort. Das alles ist Vergangenheit.

Aber Callum war noch dort. Und niemand schützte seinen Bruder vor den Misshandlungen der Engländer.

Er stieg vom Wagen, nahm dem Pferd das Geschirr ab und führte es zum Wasser. Seine Frau blieb, wo sie war, aber Bram entging nicht die Angst in ihrem Blick. Das ließ seinen Selbsthass noch größer werden.

Während das Pferd trank, starrte er ins Wasser und verfluchte sich für das, was er getan hatte. Er musste etwas zu ihr sagen. Oder besser, etwas tun, um sich zu entschuldigen. Worte waren nicht genug.

Das leise Rascheln ihrer Röcke, die über das Gras streiften, verriet ihm, dass sie hinter ihn getreten war. „Alles in Ordnung, Bram?“

Er nickte. „Tut dein Handgelenk noch weh?“

„Ein wenig.“ Er hörte ihrer Stimme an, wie besorgt sie war.

Vorsichtig griff er nach ihrer Hand und streichelte sie sanft. Er war so wütend auf sich.

„Es ist schon gut“, sagte sie ruhig. In ihren grünen Augen las er, dass sie sich wegen eines Augenblicks der Dunkelheit nicht von ihm abwenden würde. Ihre beruhigenden Worte waren eine stumme Vergebung, die er nie erwartet hätte.

Er betrachtete ihr Handgelenk. Dann ergriff er den Saum seiner Tunika und riss ein langes schmales Stück davon ab.

„Was machst du da?“

Bram nahm ihr Handgelenk und wickelte das Stück Stoff als Bandage darum. Seine Hände zitterten, aber er wickelte weiter, bis ein fester Verband die Verletzung bedeckte. Es sah nicht sehr fachmännisch aus, aber Nairna verkniff sich jede Kritik. Das war sein Versuch, das Geschehene wiedergutzumachen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Sie wusste, dass er ihr niemals hatte wehtun wollen.

„Du musst das nicht machen“, murmelte sie. Er wollte nach ihrem anderen Handgelenk greifen, aber sie hinderte ihn daran. „Ich weiß, dass dir nicht bewusst war, was du gemacht hast. Ich hätte deine Narbe nicht berühren dürfen.“

Er hielt lange ihre Hand und starrte auf den Verband, als suchte er nach den richtigen Worten. „Ich habe die Beherrschung verloren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geschlafen habe. Und seit Jahren habe ich nicht richtig gegessen.“

Als sie ihm übers Gesicht streichen wollte, sah er auf und blickte sie an. Dann umklammerte er ihre Hand, als suchte er bei ihr Halt.

Sein Griff wärmte ihre Haut. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn eingehend betrachtete. Es gab Wunden, die sie nicht sehen konnte und die tiefer gingen als alle körperlichen Wunden. Sie wusste, dass sein Körper und seine Seele durch die Gefangenschaft verletzt worden waren, aber hinter alledem sah sie einen Mann, der gerettet werden musste.

Bram ging Brennholz sammeln, und sie begleitete ihn, um Zunder zu suchen. Keiner sprach ein Wort, bis es ihnen gelungen war, ein Feuer zu entzünden.

Sie suchte im Karren nach dem Proviant und brachte Bram etwas zu essen. Er versuchte, ein Fladenbrot zu sich zu nehmen. Aber er brachte nur ein oder zwei Bissen hinunter, dann legte er es beiseite.

„Wie willst du denn wieder zu Kräften kommen, wenn du nichts isst?“, fragte sie und betrachtete die Essensreste.

Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu viel. Und zu früh.“ Die Arme auf die Knie gestützt blickte er ins Feuer. „Geh schlafen, wenn du müde bist, Nairna. Ich werde dich in Ruhe lassen.“ Er deutete mit dem Kopf zum Wagen hin.

Aber wenn sie ihn verließ, würde er nicht schlafen, das wusste sie. Nairna setzte sich neben ihn. „Komm, und leg dich zu mir. Ich glaube, du bist müder als ich.“

An seinem erschöpften Gesicht konnte sie die jahrelangen Strapazen ablesen. Aber er schüttelte den Kopf. „Ich bleibe hier und halte Wache.“

Ein anderer Gedanke ging ihr durch den Kopf. „Hast du Angst zu schlafen?“ Vielleicht quälten ihn ja Albträume, Traumbilder der Vergangenheit.

Sie streckte die bandagierte Hand nach ihm aus, und Bram hob sie an seine Lippen und küsste die Stelle, wo der Puls schlug. Nairna überlief ein Zittern. Ein heftiges Verlangen erwachte plötzlich in ihr.

„Geh schon, und schlaf ohne mich im Wagen“, drängte er. Aber stattdessen kauerte sie sich neben ihn und legte den Kopf in seinen Schoß. Sie würde ihn jetzt nicht verlassen.

Er war ihr Ehemann. Und er brauchte sie.

Sie fühlte, dass er ihr sanft über die Haare strich. Obwohl sie wusste, dass sie nicht schlafen würde, schloss sie die Augen. Bram streichelte sie so liebevoll, als wäre sie die Erlösung, nach der er sich schon so lange gesehnt hatte.

5. KAPITEL

Am nächsten Abend erreichten sie Glen Arrin. Der Anblick der Burg hätte ihn eigentlich mit Erleichterung und Dankbarkeit erfüllen müssen, aber Bram quälte ein Gedanke. Was würden die anderen sagen? Es war seine Schuld, dass Callum in Gefangenschaft geraten war. Seine Schuld, dass sein Vater starb. Und wenn er sich auch danach sehnte, seine Brüder wiederzusehen, so fürchtete er die Schande, der er sich würde stellen müssen.

Je näher sie der Burg kamen, desto schwerer wurde ihm ums Herz. Vor Jahren mochte Glen Arrin eine prächtige Burg gewesen sein. Doch diese Zeit war vorüber.

Ein halbes Dutzend Hütten umgaben den Wohnturm. In der äußeren Palisadenwand fehlten große Teile. Zerbrochen und morsch wie sie war, hielt die Burg kaum noch zusammen. Sie erinnerte an einen alten Mann, der zu dickköpfig war, sich seine Schwäche einzugestehen.

Vor Jahren hatte sein Vater versprochen, eine gute Burg zu bauen. Eine, die den Clan vor jedem Angriff schützen würde. Wie es schien, war das Versprechen nicht eingelöst worden.

„Sie müsste etwas besser befestigt werden, oder?“, meinte Nairna, als er den Wagen anhielt. Sie betrachtete die Burg, als suchte sie nach etwas Positivem, das sie über sie sagen könnte. „Ein Strohdach und neue Holzbalken würden schon einiges ausrichten.“

Er sah sie ungläubig an und richtete dann den Blick wieder auf Glen Arrin. Ihr Urteil war viel zu gnädig. Wie gerne hätte er mit ihr an einem Ort gelebt, auf den sie stolz sein konnten. Die Burg sah noch schlimmer aus, als er erwartet hatte.

„Ein starker Wind bringt sie zum Einsturz“, stellte er bekümmert fest. „Es ist eine Katastrophe.“

„Na ja, das würde ich so nicht sagen. Man braucht nur ein paar Männer, die sie wieder herrichten.“

„Und das die nächsten fünf Jahre lang“, erwiderte er trocken.

„Man braucht nur ein neues Fundament, neue Mauern, ein neues Dach und eine neue Tür.“ Sie schenkte ihm ein etwas gequältes Lächeln. „Gar nicht so viel.“

Als er auf ihr Necken nicht reagierte, drückte sie seine Hand. „Du bist wieder zu Hause, Bram“, ermahnte sie ihn. „Nach all der Zeit wirst du endlich deine Familie wiedersehen.“

Ihre Worte brachten ihn wieder zur Vernunft. Sie hatte ja recht. Statt für seine Freiheit dankbar zu sein, klagte er über den Zustand und das Aussehen der Burg.

Er atmete tief die frische, klare Luft, und einen Augenblick lang gewann er Trost aus dem vertrauten Anblick. Er war wirklich froh, wieder zu Hause zu sein.

Dann half er Nairna vom Karren. „Komm. Lass uns hineingehen. Hoffentlich fällt uns nicht das Dach auf den Kopf und begräbt uns unter sich.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie zur Burg. Als sie an den ärmlichen Hütten vorübergingen, hoben einige neugierige Männer die Hand zum Gruß und riefen ihnen lächelnd ein Willkommen zu. Er erkannte die Gesichter seiner Clansleute, auch wenn er sich nicht an alle ihre Namen erinnerte.

Sie gingen weiter, bis sie den schmalen Turm erreichten. Bei näherem Hinsehen sah Bram, wie baufällig er war. Das Holz war wurmzerfressen und trug Zeichen des Verfalls.

Bevor er noch länger darüber nachdenken konnte, stand sein Bruder vor ihm. Hochgewachsen, mit dunklem Haar und dunklem Bart war er jetzt das Ebenbild ihres Vaters.

Er starrte ihn an, als könnte er nicht glauben, was er sah. „Mein Gott, du lebst“, keuchte er und riss ihn in seine Arme.

Bram umarmte seinen Bruder genauso stürmisch. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Aus Angst, die lang unterdrückten Gefühle könnten hervorbrechen, brachte er noch nicht einmal ein Wort der Begrüßung heraus. Alex als erwachsenen Mann vor sich zu sehen machte ihm bewusst, wie viele Jahre er verloren hatte.

„Du bist größer, als ich dich in Erinnerung habe“, brachte er endlich hervor.

Alex trat zurück und grinste. „Und du hast dir einen Bart wachsen lassen, damit du mit deinem Gesicht nicht mehr die Leute erschreckst, was?“

„Ich sehe immer noch besser aus als du“, erwiderte er mit breitem Feixen. Eine unendliche Dankbarkeit stieg in ihm auf. Auch wenn Callum nicht hier war, waren ihm zwei Brüder doch ge­blieben.

„Was ist mit dir geschehen, Bram?“, fragte Alex.

„Lord Cairnross.“ Er vermied es, Alex anzusehen, aber er aus dem Augenwinkel sah er dessen verständnisvollen Blick. „Callum ist immer noch sein Gefangener.“

Alex fluchte. „Bram …“, er sah ihn schuldbewusst an. „Sie sagten, ihr wärt beide tot. Ich schwöre dir, wenn ich gewusst hätte …“

„Du warst vierzehn, als sie uns schnappten“, erinnerte Bram ihn. „Du hast geglaubt, was sie erzählten.“

Sein Bruder nickte nur mit versteinerter Miene. „Trotzdem war es nicht richtig.“ Nach einer bedrückenden Pause fügte er hinzu: „Nach Vaters Tod wurde unser Onkel Anführer des Clans.“ Er sah Bram an, als versuchte er, sich zu entschuldigen. „Und als dann Donell vor zwei Jahren starb, nahm ich seinen Platz ein. Aber ich weiß, dass unser Vater dich zum Oberhaupt bestimmt hatte.“

Das Letzte, was Bram sich wünschte, war die Herrschaft über den Clan. Er schüttelte den Kopf. „Der Titel gehört dir, Alex. Ich will ihn nicht.“ Weder den Titel noch die Verantwortung. Ob man es nun von ihm erwartete oder nicht, er hatte nicht vor, seinem Bruder das Amt des Anführers zu nehmen.

Alex schien nicht überzeugt. „Später ist noch Zeit genug, darüber zu entscheiden.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Nairna, und Bram merkte, dass er sie seinem Bruder noch nicht vorgestellt hatte.

Er ging zu ihr und nahm sie bei den Schultern. „Du erinnerst dich doch an Nairna, meine Frau.“

Sie neigte grüßend den Kopf. „Alex. Es ist lange her.“

Um Alex’ Mund spielte ein kleines Lächeln. „Ja, da hast du recht“, meinte er. „Es überrascht mich nicht, dass Bram dich mitbringt. Du warst schon immer ein hübsches Mädchen.“

Das Kompliment war nett gemeint, aber es weckte Brams Eifersucht. Er mochte es nicht, wenn man Nairna in Verlegenheit brachte. Unwillkürlich zog er sie enger an sich.

Alex schien seine Gedanken zu lesen. „Keine Angst, Bruder“, beruhigte er ihn. „Laren ist meine Frau, und ich habe schon eigene Töchter.“

Eigene Töchter? Es fiel Bram schwer genug, sich vorzustellen, dass sein Bruder eine Frau hatte. Und dann auch noch Kinder! Es sah aus, als hätte Alex das Leben gelebt, das Bram sich gewünscht hatte. Wieder stellte er entsetzt fest, wie die Zeit vergangen war.

„Ich würde deine Frau und deine Kinder gerne kennen lernen“, sagte Nairna. „Sind sie drinnen?“

Alex zuckte die Achseln. „Möglich. Vielleicht spaziert Laren auch draußen herum. Wenn du willst, geh sie ruhig suchen.“

Nairna ging, und als sie fort war, machte Alex seinem Bruder ein Zeichen, mit ihm zu kommen. Sie gingen die Burgmauer entlang. Eine ganze Zeit lang sprach keiner von ihnen ein Wort.

Die vertrauten Mauern, auch wenn sie verfallen und zerbrochen waren, strahlten etwas beruhigend Friedliches aus. „Ich erinnere mich, wie wir als Jungen da hinaufkletterten“, sagte Bram.

„Du bist immer oben über die Mauer gerannt.“ Alex grinste ihn verschmitzt an. „Und hast mich dazu angestachelt.“

„Du hattest aber zu viel Angst.“

„Stimmt nicht, ich war nur nicht so verrückt wie du“, entgegnete Alex. „Dann hast du das Gleichgewicht verloren und bist in Ross MacKinlochs Schweinepferch gefallen.“

Das hatte er fast vergessen. „Und du hast nicht im Traum daran gedacht, mir zu helfen. Hast nur da gesessen und hast mich ausgelacht, während ich im Dreck saß.“

Alex grinste genüsslich. „Das war ein schöner Tag.“

„Für dich. Mir zog Mutter die Ohren lang und schimpfte, weil ich mir das Genick hätte brechen können.“

Was waren sie für dumme Jungen gewesen. Unwillkürlich spielte ein Lächeln um seine Lippen.

Sein Bruder lachte. „Es ist gut, dich wieder hier zu haben, Bruder“, meinte er. Bram entgingen nicht der sorgenvolle Klang seiner Worte und die Art, wie Alex seinen abgemagerten Körper musterte. „Wie geht es dir? Brauchst du eine Heilerin?“

Bram schüttelte den Kopf. Die meisten seiner Wunden waren verheilt und hatten nur Narben zurückgelassen. „Mir geht es jeden Tag besser. Ich muss nur wieder etwas trainieren, damit wir Callum befreien können.“

Jetzt schüttelte Alex den Kopf. „Du bleibst hier. Um Callum kümmern wir uns.“

Es kam überhaupt nicht in Frage, dass er zurückblieb. „Wieso? Glaubst du, ich bin zu schwach, um mitzukommen?“

„Aye.“ Alex gab sich keine Mühe, die Wahrheit zu verschleiern. „Du warst sieben Jahre lang eingekerkert. Selbst Dougal könnte dich besiegen, so dünn wie du geworden bist.“

„Dougal?“, er schüttelte empört den Kopf. „Der ist doch erst sieben …“ Er verstummte, als ihm klar wurde, was er gerade über ihren jüngsten Bruder gesagt hatte.

„Vierzehn“, korrigierte ihn Alex.

Die Erinnerung an all die verlorenen Jahre nahmen ihm die Worte. Alle waren sie älter geworden. An Dougal hatte er kaum gedacht. Der Junge war seit seinem vierten Lebensjahr bei Pflegeeltern gewesen. Eigentlich wusste er kaum noch, wie er aussah, und das bekümmerte ihn.

„Ist er wieder zurück?“

Alex nickte. „Er ist drinnen. Ich bring dich zu ihm.“ Bram betrat mit ihm die Halle des Wohnturms. Die Bretter und Gestelle, die sonst als Tische benutzt wurden, waren beiseitegeräumt. Hunde bellten und balgten sich knurrend um herumliegende Knochen. Unvermittelt stieg ihm der muffige Geruch verrottender Binsen in die Nase. Er erinnerte ihn so sehr an den Kerker, dass er erstarrte.

Die Mauern schienen näher zu kommen, und seine Haut fing an zu prickeln. Wenn er die Augen schloss, war ihm, als wäre er wieder dort, läge in Ketten gefesselt im Stroh. Stolpernd wich er zurück und stieß fast gegen Nairna, die ungläubig die Szene betrachtete.

Kaum stand er neben ihr, umfing ihn ihr unverwechselbarer Duft und vertrieb das düstere Gefühl. Am liebsten hätte er das Gesicht in ihren Haaren vergraben und so die bösen Erinnerungen ausgelöscht. Aber er wagte es nicht.

„Ich hau dich zu Brei, du Puddinggesicht! Verdammter Bastard!“, gellte eine Stimme. Die Beleidigungen kamen von einem jungen Mann, in dem Bram kaum noch Dougal erkannte. Auch wenn der Junge ziemlich groß und stark war für sein Alter, hatte er gegen Ross MacKinloch keine Chance, der sich einen Spaß mit ihm zu machen schien. Dougal holte zu einem unbesonnenen Schlag aus, der auch prompt seinen Gegner verfehlte.

„Mäßige deinen Zorn“, warnte ihn Ross. Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des Älteren. Er griff sich einen Stuhl und verfolgte Dougal.

„Was machen die beiden?“, fragte Nairna mit großen Augen.

„Ross hat jeden von uns trainiert“, erwiderte Bram. „Als wir jung waren, schulte er uns im Kampf mit allen möglichen Waffen. Er weiß schon, was er tut. Dougal passiert nichts.“

„Aber er ist doch noch ein Junge“, protestierte sie. „Er wird ihm wehtun.“

Dougal musste ihre Bemerkung gehört haben. „Ich bin kein Junge mehr“, rief er.

„Doch, bist du“, unterbrach Alex und winkte ihn herbei. „Hast du keinen Willkommensgruß für unseren ältesten Bruder?“

Der Junge machte ein feindseliges Gesicht. „Ich kenne ihn noch nicht einmal. Wieso soll ich ihn willkommen heißen?“ Und damit schnappte er sich ebenfalls einen Stuhl und schlug ihn gegen die Wand, dass er zerbrach. Mit einem Stuhlbein in der Hand ging er jetzt auf Ross los. „Komm zurück und kämpfe mit mir, alter Mann!“

Bram beobachtete die beiden mit unbewegtem Gesicht. Dougals Abweisung hätte ihn nicht überraschen dürfen. Sie kannten einander kaum. Es war schon so lange her. Kein Wunder, dass sein Bruder sich nicht mehr an ihn erinnerte.

Als Bram zwölf Jahre alt gewesen war, wich ihm Dougal nie von der Seite. Der Kleine hatte versucht, an Brams Waffen zu kommen. Er hatte eine Bank quer durch den Raum geschleift und war hi­naufgeklettert, um sich die Schwerter zu holen, die er nicht anrühren sollte. Es bekümmerte Bram, dass der Junge, der sich einst an sein Bein klammerte, ihm gegenüber jetzt so gleichgültig war.

„Dougal wird jeden Tag schlimmer“, meinte Alex leise. „Denkt, er könnte gegen die Engländer kämpfen.“ Kopfschüttelnd wandte er sich an Nairna. „Wenn er mit Ross kämpft, wird er wenigstens nicht verletzt. Na ja, abgesehen von ein paar Kratzern und blauen Flecken.“

Bram betrachtete seinen jüngsten Bruder. Sein Arm war gerötet, und das Blut lief ihm aus der Nase. Der Bursche kämpfte aus der puren Aggression heraus. Er ließ sich von seiner Wut lenken, schwang die Fäuste ohne Sinn und Verstand und bewegte ziemlich ungeschickt die langen Arme und Beine.

Bram hatte ein ungutes Gefühl, als er ihn so kämpfen sah. Hatte sein Vater ihn damals genauso gesehen? Hatte er wie Dougal darum gekämpft, sich zu beweisen? Einen Moment lang sah er sich in der Rolle seines Vaters, sah, wie er versuchte, kämpfend den Sohn zu schützen. Sollte er jemals ein Kind haben, so würde er ihm hoffentlich lehren können, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Wut und Aggression machten einen nur schwerfällig. Besser, man schob alle Gefühle beiseite und konzentrierte sich einzig und allein darauf, seinen Feind zu Fall zu bringen. Er hatte sich seine Freiheit nur erkämpft, weil er gegen alles andere taub und gefühllos gewesen war. Und es war der einzige Weg gewesen, sich und Callum zu retten, auch wenn er jetzt mit der Schuld leben musste, seinen jüngeren Bruder zurückgelassen zu haben.

Im nächsten Augenblick hatte Ross den Jungen zum Stolpern gebracht. Er drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn zu Boden. „Jetzt bist du am Ende, Bürschchen. Die Engländer hätten dir schon längst die Kehle durchgeschnitten.“

Nairna gab sich alle Mühe, nicht hinzusehen, aber sie machte ein besorgtes Gesicht. Bram trat hinter sie und wollte ihr die Hände auf die Schultern legen, da besann er sich eines Besseren und ließ sie wieder sinken. Er beugte sich zu ihrem Ohr. „Hast du Hunger? Soll ich etwas zu essen besorgen, bevor wir uns für die Nacht zurückziehen?“

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn mit ihren klaren grünen Augen an. „Nur, wenn du auch etwas isst.“

„Ich werde etwas essen“, versicherte er ihr. Und er konnte nicht widerstehen, ihr mit der Hand über die Wange zu streicheln. Nairna errötete und griff sich mit zitternden Fingern ans Gesicht.

Ross hatte Dougal wieder losgelassen und der Junge stolzierte davon. Seiner Haltung war die unterdrückte Wut anzusehen. Er war vor aller Augen gedemütigt worden. Wahrscheinlich zog er sich jetzt irgendwohin zurück, um seiner schlechten Laune nachzuhängen. Bram wäre ihm gerne nachgegangen, aber er wusste, dass jetzt nicht die richtige Zeit dafür war.

Mit einem breiten Lächeln, bei dem sein Mund fast von einem Ohr zum anderen reichte, trat Ross auf ihn zu. „Bram!“ Er riss ihn in die Arme und drückte ihn so fest, dass Bram fürchtete, er würde ihm die Rippen brechen.

Endlich ließ der alte Mann ihn los und klopfte ihm auf den Rücken. „Bei Gott, es ist ein Wunder, dass ich dich wiedersehen darf.“ Seine Augen schimmerten verdächtig, als er zu Alex sagte: „Wir brauchen ein paar Fässer, um das zu feiern.“ Dann fiel sein Blick auf Nairna. „Und du hast dein Mädchen wieder nach Hause gebracht. Und wir wissen genau, was ihr beiden nach sieben Jahren heute Nacht tun werdet“, stichelte der Alte gutmütig und rief laut lachend: „Nächsten Sommer feiern wir dann hoffentlich die Geburt eines Kindes!“

Als Antwort darauf ertönten die Hochrufe der anderen Männer. Bram entging aber nicht der gequälte Ausdruck auf Nairnas Gesicht, auch wenn sie zu lächeln versuchte.

„Hast du Laren gefunden?“, fragte Alex sie. Nairna schüttelte den Kopf.

„Sie ist schon mit deinen Töchtern zurückgekehrt und bereitet sie jetzt zum Schlafengehen vor“, mischte Ross sich ein. „Ich denke, sie wird bald kommen.“

Alex nickte kurz. Er schien verärgert. „Lass gut sein, wenn sie sich doch um die Kinder kümmern muss“, warf Nairna ein. „Ich freue mich darauf, sie morgen früh kennen zu lernen.“

Alex nickte wieder, aber Bram sah, wie sein Blick nach oben ging. Es lag etwas in diesem Blick, das schwer zu lesen war, fast so etwas wie Kummer. Dann wandte Alex sich wieder ihnen zu.

„Wo bleibt der Met?“, erinnerte Ross den Clan-Führer. „Wir sollten auf Brams Rückkehr trinken!“

Alex lächelte etwas gezwungen und rief einen Bediensteten. „Heute Abend werden wir trinken“, verkündete er. „Und morgen werden wir feiern.“

Bram verstand, dass sein Bruder ihm ein angemessenes Willkommen bereiten wollte. Aber das Letzte, was er sich wünschte, war im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Er hatte die Gefangenschaft überlebt und war nach Hause zurückgekehrt. Das genügte.

„Fürs Erste will ich nur einen Schlafplatz für Nairna und mich“, erwiderte er. Sie brauchten eine Unterkunft, und so wie der Wohnturm aussah, gab es hier nicht viel Platz. Er wollte nicht, dass seine Frau auf dem Boden zwischen den Binsen schlief. Er wollte ungestört sein, einen Ort haben, an den sie sich zurückziehen konnten.

„Ich werde schon etwas für euch finden“, versicherte Alex.

Immer mehr Leute kamen in die Feste, es wurde lauter und lauter, und der Met floss in Strömen. Viele Mitglieder des Clans kamen zu ihm, um ihn zu begrüßen und ihm Fragen zu stellen. Und irgendwann ertappte Bram sich dabei, dass er immer und immer wieder das Gleiche erzählte.

Die vielen Menschen brachten ihn ganz durcheinander. Seit Jahren hatte er nicht mehr so viele Leute gesehen. Er merkte, dass er immer erschöpfter wurde und immer weniger Lust hatte, etwas zu essen.

„Da bist du ja, mein Junge“, sagte eine Stimme hinter ihm. Ross drückte ihm einen Becher Met in die Hand. „Einen großen Becher starken Met, das ist es, was du jetzt brauchst.“

Die anderen Männer prusteten los und einer rief: „Das ist nicht das Einzige, was heute Nacht groß und stark sein wird!“

Nairna blieb der Mund offen stehen. Dann schaute sie rasch zu Boden, als suchte sie einen Fluchtweg.

Bram nahm den Becher entgegen und warf den Männern einen vielsagenden Blick zu. „Macht, dass ihr fortkommt.“

Ross sprach einen Toast aus und leerte lachend den Becher. Immerhin ließen sie ihn und Nairna nun in Ruhe.

Im Moment war seine Stimmung äußerst gefährdet. Er musste weg von all den vielen Menschen, er musste retten, was ihm an Vernunft noch geblieben war. Nairna bot ihm zu essen an, aber er nahm kaum etwas zu sich.

„Du solltest mehr als nur das bisschen essen, MacKinloch“, befahl sie ihm. „Du musst wieder zu Kräften kommen.“

„Und wofür werde ich meine Kraft brauchen, a ghaoil?“, fragte er und griff nach ihren Händen.

Sie wurde rot und hielt ihm schnell ein Stück Fisch hin. Als sie es ihm in den Mund steckte, berührten ihre Finger seine Lippen.

Die zarte Berührung weckte etwas in ihm. Er achtete nicht mehr auf die Clanmitglieder und das laute Gerede klang mit einem Mal nur noch gedämpft an sein Ohr. Ihre Hände fest in seinen haltend, sah er in Nairnas besorgt blickende Augen.

„Bram, geht es dir gut?“

Nein. Er war müde, es irritierte ihn, so viele Menschen um sich zu haben, und er musste immerfort daran denken, dass er die Nacht mit Nairna verbringen würde.

Die derben Gespräche trugen nicht dazu bei, seinen Hunger nach ihr abzuschwächen. Er erinnerte sich an ihre seidige Haut und an ihre süßen Küsse. Sogar an die Art, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte, als er sie küsste. Das alles ließ seine Erregung wachsen. Er wollte mit seiner Frau allein sein. Er wollte ihren Körper erkunden und die Geheimnisse ihrer Weiblichkeit erfahren. Sie brauchte ihn jetzt nur zu berühren, und es war aus mit seiner Beherrschung.

Als sie die Hand hob, um ihm über die Wange zu streichen, war es so weit.

Nairna fragte sich erstaunt, was sie getan hatte, um eine solche Reaktion hervorzurufen. Bram nahm sie beim Arm und führte sie eilig in eine entlegene Ecke. Dort riss er sie in seine Arme.

Hinter sich hörte sie die Hochrufe der Männer, die ihm applaudierten.

Bram ließ ihren Blick nicht los. Er sah sie an, als wäre sie die lebenswichtige Nahrung für ihn und nicht das Essen, das sie zuvor miteinander geteilt hatten. „Achte gar nicht auf sie.“

Er zeichnete mit den Daumen die Linie ihres Kinns nach und lehnte dann seine Stirn an ihre. Ihr Körper reagierte mit einem Schauer, obwohl ihr gar nicht kalt war. Bram ließ die Hände über ihre Schultern hinunter zur Taille gleiten und drängte sie sanft gegen die Wand.

Versunken in den Tiefen seiner dunklen Augen, vergaß Nairna alles um sich herum. Langsam neigte er den Kopf. Sie sehnte sich nach seinem Mund, spürte seine unterdrückte Anspannung. Endlich küsste er sie, bis sie nach Atem rang und den Lärm der feiernden Männer nicht mehr hörte.

Ihr Herz raste, und ihr Körper reagierte auf das Verlangen, das Bram in ihr weckte. Sie waren verheiratet. Alles hatte seine Richtigkeit. Trotzdem war sie nervös wie ein junges Mädchen.

„Bram“, flüsterte sie und wandte das Gesicht zur Seite. „Nicht hier.“ Zu viele konnten sie sehen. Sie fürchtete, dass er völlig vergessen hatte, wo sie waren.

Als er sie losließ, zeigte sein Gesicht eine wilde Entschlossenheit. „Ich gebe dir Zeit, noch etwas zu essen, wenn du willst. Danach gehörst du mir.“

Damit ließ er sie allein und ging zu Alex. Nairna setzte sich und versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu ordnen.

Heute Nacht würde er sie besitzen. Er würde nicht mehr nur dem Namen nach ihr Mann sein.

Sie versuchte, ruhiger zu atmen und hing ihren Gedanken nach. Brams Küssen nach zu schließen, konnte es eine angenehme Nacht werden. Außerdem war sie kein Mädchen mehr, das Angst vor der Hochzeitsnacht hatte. Es gab nichts, wovor sie Angst haben müsste.

Aber etwas an Bram trieb ihren Pulsschlag in die Höhe. Ihr Körper verzehrte sich insgeheim nach ihm. Mit halbem Ohr erhaschte sie einige derbe Späße der Männer. Auch wenn sie wusste, dass sie es nicht böse meinten, machte es sie nervös. Immer wieder fragte sie sich, wie es wohl mit Bram sein würde.

Noch bevor sie sich wieder beruhigt hatte, kehrte er zurück.

„Alex hat einen Platz für uns gefunden. Wir gehen jetzt schlafen.“

Schlafen? Seinem hungrigen Blick nach zu schließen war Schlaf das Letzte, woran er dachte.

Tief durchatmen, dachte sie. Du teilst nur das Bett mit ihm, nichts weiter. Aber ein Kribbeln überlief sie bei dem Gedanken, dass sie nackt unter ihm liegen würde.

Die Männer stießen Hochrufe aus, während Bram sie durch die Menge führte. Doch als einige ihnen folgen wollten, warf Bram ihnen einen drohenden Blick zu.

„Wenn du gute Ratschläge brauchst, Junge …“

„Brauche ich nicht.“ Er wedelte mit der Hand. „Geht zu eurem Bier und lasst mich und meine Braut in Ruhe.“

„Gib ihr einen Kuss von uns!“, verlangte Ross und machte schmatzende Geräusche.

Nairna wollte nur noch ihren Späßen entkommen. Auch wenn sie es nur gut meinten, sie wollte nicht dauernd daran erinnert werden, was die Nacht für sie bereithielt.

„Alex sagt, wir können in einer der Lagerhütten schlafen“, meinte Bram und führte sie nach draußen. „Ein Bett gibt es aber nicht, tut mir leid.“

Immer noch besser als im Turm zwischen den Hunden zu schlafen, dachte Nairna.

„Ich habe doch eine Matratze mitgebracht“, erinnerte sie ihn. „Wir könnten sie zusammen mit den Laken vom Karren holen.“

„Ich hole alles.“ Er deutete auf eine der Lehmhütten. „Heute Nacht bleiben wir hier, und morgen früh suchen wir uns dann etwas Eigenes.“

Bevor er ging, legte er den Arm um ihre Taille. „Nairna, ich verspreche dir, alles wird gut. Ich werde dir nicht wehtun.“ Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ging zum Wagen. Sie schlang die Arme um sich. Ihr war, als hätte sein Kuss ihr eine Marke aufgedrückt.

Immerfort musste sie an die bevorstehende Nacht denken. Um sich abzulenken, ging sie in die Hütte. Drinnen roch es muffig und feucht. In einer Ecke waren Säcke voll Gerste und Hafer gestapelt, Nahrungsvorrat und Saatgut für das nächste Jahr.

Der Raum war rechteckig und vielleicht acht Fuß breit. Sie schien sich eher zum Unterstellen von Pferden zu eignen. Aber auf jeden Fall war es besser, als draußen zu schlafen.

Nairnas Haut fühlte sich langsam kalt an, und ihre Nervosität stieg. Wenn es so weit ist, dann lieg einfach still, ermahnte sie sich. Beuge dich ihm und lass ihn tun, was ihm gefällt.

Sie hatte keine Angst vor dem Liebesakt, sie hatte nur Angst, Bram zu enttäuschen. Wenn ihr Mann das Bett mit ihr geteilt hatte, waren seine Gedanken immer weit weg gewesen und alles andere nichts als kalte Pflichterfüllung. Als die Zeit dahinging und sie nicht schwanger wurde, da schien das Ganze immer weniger Sinn zu machen.

Aber heute Nacht würde es vielleicht anders sein. Sie betete darum, dass Bram ihr das Kind schenkte, das sie sich so verzweifelt wünschte. Langsam strich sie sich mit der Hand über den Bauch. Die Sehnsucht danach füllte sie ganz aus.

Bram kam zurück. Er legte die Matratze auf die Erde und ließ die Laken darauf fallen. Danach hielt er inne und sah Nairna an. Seine ausgeblichene Tunika schimmerte hell im Mondlicht.

Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er sie begehrte. Und doch lag in seinen dunkelbraunen Augen eine Distanz. Ihr schien, als wollte er nicht, dass sie ihn besser kennen lernte oder dass sie vielleicht sogar seine Gedanken erriet.

Nairna beobachtete jede seine Bewegungen. Seine Muskeln traten hervor, als er einige Säcke mit Getreide an der Bretterwand aufeinander wuchtete, damit der Wind nicht durch die Ritzen ihres Unterschlupfs eindrang. Trotz seiner Schlankheit war nicht zu übersehen, dass die harte Arbeit, die er in Gefangenschaft leisten musste, ihn stark gemacht hatte.

Sie betrachtete die geröteten Narben rund um seinen Hals. Sie mussten von einem Eisenband stammen. Auch wenn die Abschürfungen bereits heilten, die Narben würden bleiben.

Bram hatte die Säcke aufgestapelt und zog sich jetzt die Tunika über die Schultern. Er war wirklich schlank, aber er besaß geschmeidige Muskeln. Nairna musste immer wieder hinsehen und hätte gerne seine Haut berührt, aber sie unterdrückte ihr Verlangen.

Sie wandte sich ab und versuchte, die Schnüre ihres Wollkleids zu lösen. Bram trat hinter sie und half ihr beim Ausziehen. Jetzt trug sie nur noch ihr Hemd. Die Luft war kalt. Sie fror und schlang die Arme um sich. Mit einer Hand löste sie den Verband von ihrem Handgelenk und ließ ihn zu Boden fallen.

Bram stand so nahe bei ihr, dass ihr die vielen Narben auf seinem Körper nicht verborgen blieben. Was mochten sie ihm alles angetan haben! Schrecklich, daran zu denken.

„Tut es weh?“, fragte sie und streckte die Hand aus, um über die Narben zu streichen.

„Es ist fast verheilt.“

Das hieß nicht nein. Ob er wohl Schmerzen hatte? Aber selbst wenn es so war, würde er es ihr nicht sagen.

Bram drückte die Lippen auf die Haut neben ihrem Ohr, und sein warmer Atem brachte Nairna ganz durcheinander. Sie konnte fast schon die Hitze seiner nackten Haut spüren. Das alles faszinierte sie und jagte ihr gleichzeitig Angst ein. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, als er mit kleinen Küssen die Linie ihres Kinns nachzeichnete.

„Ich werde heute Nacht bei dir liegen, Nairna. So, wie ich es schon die letzten sieben Jahre hätte tun sollen.“

6. KAPITEL

Hast du Angst?“, fragte er. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte. Er wollte sie diese Nacht in den Armen halten und die Jahre der Folter und der Dunkelheit vergessen.

„Ja“, flüsterte sie. „Aber nicht davor, bei dir zu liegen, sondern …“ Sie brach ab und errötete. „Wir kennen uns kaum. Es ist so seltsam.“ Sie sah verschämt zu Boden. „Ich möchte aber nicht, dass das eine Rolle spielt.“

Ihre Ehrlichkeit wirkte wie ein Guss Eiswasser auf sein brennendes Verlangen. Sie erinnerte ihn daran, dass sie vor ihm mit einem anderen verbunden war. Sie wusste, wie es war, mit einem Mann zusammen zu sein, und sie sprach davon wie von etwas, das man ertragen musste, anstatt sich daran zu erfreuen.

Bei dem Gedanken verdüsterte sich seine Stimmung noch mehr. „Hat er dir wehgetan?“

Die Frage war heraus, bevor er es verhindern konnte. Er musste wissen, was zwischen den beiden geschehen war.

Sie schüttelte langsam den Kopf. Aber es lag eine solche Traurigkeit in ihrem Blick! Er ahnte, dass Nairnas Ehemann ihr im Ehebett nicht viel Vergnügen bereitet hatte.

In ihm erwachte die Eifersucht. „Wie … wie war es denn mit ihm?“

Sie saß auf der Matratze und hielt ihre Knie umschlungen. „Ich möchte nicht über diese Jahre sprechen, Bram. Ich möchte sie lieber vergessen.“

Er atmete tief durch und kam sich ziemlich grausam vor. Warum hatte er nur damit angefangen? Die Erfahrungen, die sie in ihrem ersten Ehebett gemacht hatte, schienen nicht sehr erfreulich gewesen zu sein. Kein Wunder, dass sie keine Eile hatte, noch einmal die gleichen zu machen.

Er wollte aber nicht, dass sie nur dalag und die Beweise seiner Zuneigung über sich ergehen ließ. Er wollte sie atemlos und voller Hingabe erleben. Er wollte ihre Haut schmecken, er wollte sie genau so verführen, wie er es sich in seinen Träumen immer vorgestellt hatte.

Sein Blick glitt über ihren Körper und verweilte auf ihren vollen Brüsten, auf dem sanften Schwung ihrer Hüften. „Du bist noch genauso schön, wie ich dich in Erinnerung habe, a ghaoil.“ Er setzte sich neben sie, und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln.

Vorsichtig strich sie über seine nackte Brust. Sein Körper reagierte auf die warme Berührung ihrer Fingerspitzen mit verzehrendem Verlangen. Zärtlich legte sie die Wange an sein Herz. Bram strich ihr übers Haar und hob ihr Gesicht zu sich empor.

Zart küsste er sie und ließ die Lippen über ihren Hals gleiten. Nairna seufzte leise.

„Fühlst du dich gut?“

„Ich bin nur ein wenig nervös.“

Je länger er sie berührte, desto unbehaglicher schien sie sich zu fühlen. Er drückte sie auf die Matratze und versuchte, sie wieder zu küssen. Als er die Hände auf ihre Beine legte, erschauerte sie plötzlich und wandte das Gesicht ab. Er wusste, er hatte etwas falsch gemacht, aber er wusste nicht, was es war. Zögernd streichelte er ihre Fußknöchel und ließ die Hand langsam höher wandern. Nairna reagierte mit einem heftigen Zittern und wurde rot. Sie krampfte die Hände zusammen, als er über ihre Knie strich.

Doch kaum berührte er die Innenseite ihrer Oberschenkel, zuckte sie heftig zurück. „Ich kann nicht. Es tut mir leid.“ Sie rollte sich zitternd zusammen und schlang die Arme um die Knie. „Es kitzelt.“

Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Ehrlich gesagt wusste er nicht, was er tun sollte. Er hatte die Stimmung zerstört und es war klar, dass sie nicht im Geringsten erregt war. Wie ein unerfahrener Junge hatte er alles falsch gemacht.

Er rollte sich auf die Seite, damit sie nicht sah, wie wütend er auf sich war.

„Bram“, sagte sie, und ihrer Stimme war die Zerknirschtheit anzuhören. „Ich wollte nicht so reagieren. Meine Beine sind eben sehr empfindlich.“

Er spürte, wie die Matratze sich bewegte und Nairna sich neben ihn legte. Sie streckte die Hand nach seiner Schulter aus. „Darf jetzt ich dich streicheln?“, fragte sie.

Er drehte sich um und schaute sie an. Die dunkelbraunen Haare, glänzend wie poliertes Walnussholz, fielen über ihr Leinenhemd. Ihre cremeweiße Haut zeigte keine einzige Sommersprosse, und wie gut erinnerte er sich an den Geschmack dieser weichen Lippen.

Sie ließ die Hände über seine Brust gleiten und brachte ihn dazu, sich auf den Bauch zu legen. Er fühlte warme Lippen auf seinem Nacken, und unwillkürlich überlief ihn ein Zittern. Sie küsste seine Narben, folgte mit den Fingern den Spuren jahrelanger Qualen, als könnte sie diese so einfach wegwischen.

Langsam erwachte das Feuer in ihm. Ihr zu erlauben, seine Haut zu erkunden, war eine andere Form der Folter. Schon jetzt verlangte es ihn heftig nach ihr. Viel mehr würde er nicht mehr ertragen können.

Bram rollte sich herum, so dass Nairna auf seinem Schoß saß. Er küsste sie, wollte ihr all die Sehnsucht zeigen, die er jahrelang unterdrückt hatte. Sie zu schmecken war wie Sonnenlicht auf seine dunklen Schatten. Er zog sie noch enger an sich. Sie war weich, warm und er stellte sich vor, wie er sie hochhob und dann in sie eindrang.

Ihre Zunge erwiderte seine Liebkosung und bei ihrer unerwarteten Antwort zitterten ihm die Hände. Er streichelte ihren Bauch, glitt tiefer, bis seine Hand zwischen ihren Beinen lag und seine Finger spürten, wie erregt sie war.

Er hätte sie jetzt gerne genommen, sie lustvoll verwöhnt, bis sie sich ihm ganz hingab. Aber dazu war es noch zu früh.

Bram merkte, dass er nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren und zog sich von Nairna zurück.

Nairna sah ihn unsicher an, als verstünde sie nicht, warum er das Liebesspiel plötzlich abbrach. Aber die Situation ähnelte zu sehr jener, in der er es zugelassen hatte, dass sein Verstand sich in der Finsternis verlor. Er traute sich selbst nicht. Wie konnte er sich mit ihr vereinigen, wenn die Lust seinen Verstand beherrschte!

Vielleicht würde er sie wieder verletzten! Und das war das Letzte, was er wollte. Einen Augenblick lang ließ er die Hände auf ihrem Rücken ruhen und hoffte, seine Beherrschung wiederzufinden. Aber sie wollten nicht aufhören zu zittern.

„Es tut mir leid wegen vorhin“, flüsterte Nairna. „Ich wollte dich nicht beleidigen.“

Sie hatte ihn missverstanden, aber er sagte es ihr nicht. Sie sollte nicht wissen, wie nahe er wieder am Rand des Wahnsinns stand.

Entschlossen unterdrückte er seine Lust, ignorierte das Verlangen seines Körpers und zog ihr das Hemd herunter.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und streckte die Hand nach ihm aus.

Er las in ihren Augen, wie verletzt und verwirrt sie war. Aber es gab nichts, das er hätte sagen können, um sie zu trösten. Er konnte weder seine zitternden Hände unter Kontrolle bringen, noch die leidenschaftlichen Auswirkungen lindern, die sie auf seinen Körper hatte.

„Es ist spät. Lass uns schlafen“, murmelte er und drehte ihr den Rücken zu. Wenn er doch nur seinen Körper besser beherrschen könnte!

Er starrte durch die schmalen Ritzen zwischen den Balken und spürte Nairnas warme Brüste, die sich an seinen Rücken schmiegten. Sie legte den Arm um seine Taille, und er unterdrückte das instinktive Verlangen, sie in die Arme zu nehmen.

Bevor er seine Beherrschung nicht wiederfand, durfte er sie nicht lieben. Er wollte nicht riskieren, sie zu verletzen.

Er würde es sich nie verzeihen, wenn er wieder dem Wahnsinn verfiele.

Das Seil zog sich um seinen Hals zusammen, die Hanffasern schürften die Haut blutig. Bram verschwamm die Sicht, als sie ihn würgten. Und obwohl er sich mit aller Kraft gegen die Soldaten wehrte, versank er am Ende in der Dunkelheit. Er kämpfte gegen den herannahenden Tod, zwang sich, am Leben zu bleiben. Er musste es, um Callums willen. Seit etlichen Wochen sprach sein Bruder nun schon kein Wort mehr und schien in einer eigenen Welt des Wahnsinns versunken zu sein.

Bram trat mit aller Macht zu. Der Soldat taumelte und fiel. Luft drang wieder in seine Lungen, und er wurde fast ohnmächtig, während er um Atem rang.

Ein Kampfstock traf seine Schulter. Bram knirschte mit den Zähnen, als der Schmerz durch seine Muskeln jagte und das Holz sie zerquetschte. Die ganze Zeit hörte Callum nicht auf, ihn anzustarren. Sein Bruder war erst zwanzig Jahre alt und in Gefangenschaft, seit er dreizehn war. Zu jung, um Zeuge von so viel Schmerz und Horror zu sein.

Als die Soldaten aufhörten, auf ihn einzuprügeln, schmeckte Bram Blut. Mühsam kroch er durch den Dreck und kauerte sich zu Füßen seines Bruders. Er versuchte, den Schmerz zu verdrängen und sich nur aufs Atmen zu konzentrieren. Ein Atemzug nach dem anderen. Die feuchte Erde kühlte sein Gesicht, und er fand tatsächlich die Kraft, den Kopf zu heben.

„Ich hole uns hier raus, Bruder. Das schwöre ich beim Leben unseres Vaters.“

Aber Callum antwortete nicht. Die Leere in seinen Augen sagte mehr als alle Worte.

Die Vision verschwand, und Bram starrte mit brennenden Augen in das graue Licht des Morgens. Er wusste nicht, ob er geträumt hatte oder ob Erinnerungen ihn gefangen hielten. Seine Muskeln waren steif und schmerzten.

Nairna neben ihm schlief tief und fest. Ihr langes Haar fiel über ihre Schulter. Bram betrachtete sie lange. Er war froh, sie bei sich zu haben, auch wenn das Leben im Augenblick nicht leicht war.

Langsam rückte er näher an sie heran, bis sie mit den Schultern an seiner Brust lag. Sie bewegte sich im Schlaf, aber dann kuschelte sie sich wieder an ihn. Die Brust wurde ihm eng, als er ihren weichen Körper fühlte. Die Wärme eines anderen Menschen zu spüren, war ein Genuss, den er lange entbehren musste. Aus Angst, sie zu wecken, drückte er sie nur ganz sanft an sich.

Sie fühlte sich nicht von ihm abgestoßen, wie er es eigentlich erwartet hatte. Und sie scheute auch nicht davor zurück, bei ihm zu liegen – stattdessen hatte sie ihn in die Arme genommen. Als könnte er sich so neue Kraft bei ihr holen, atmete er tief den zarten Duft ihrer Haut ein.

Aber eine Stimme in seinem Innern verspottete ihn dafür, dass er glaubte, er könnte eine Frau wie Nairna sein Eigen nennen. Du verdienst kein normales Leben. Und auch keine Frau, keine Familie. Nicht nach dem, was du Callum angetan hast.

Widerstrebend ließ er Nairna los und stand auf. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, aber er wusste, dass er keinen Schlaf mehr finden würde.

Am nächsten Tag bekam Nairna ihn vom Morgen bis zum Nachmittag kaum zu sehen. Sie hörte, wie er mit Alex darüber sprach, wie sie Callum retten konnten. Sie wusste aber nicht, wann sie aufbrechen wollten.

Glaubten die anderen wirklich, Bram könnte jetzt schon wieder gegen die Engländer kämpfen? Er hatte sich doch kaum von seiner Gefangenschaft erholt. Auch wenn seine schmale Gestalt durchaus Muskeln besaß, war er auf keinen Fall stark genug, seinen Feind zu besiegen.

In der Nacht hatte sie schlecht geschlafen, weil sie an ihn gedacht hatte. Er schien Lust gehabt zu haben, bei ihr zu liegen. Aber dann hatte er ohne jede Erklärung plötzlich das Liebesspiel abgebrochen. Ob sie ihn mit ihrem unbeabsichtigten Lachen gekränkt hatte? Vielleicht hatte sie auch etwas anderes falsch gemacht?

Lange Zeit hatte sie wach gelegen und sich nach ihm gesehnt. Sie erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, als er die Hand zwischen ihre Beine schob. Der Gedanke allein genügte, um ihr rastloses Verlangen nach ihm noch mehr zu steigern.

Mitten in der Nacht war sie dann erwacht. Bram hatte neben ihr gelegen und mit offenen Augen zur Decke gestarrt.

Wie konnte jemand ein Leben mit so wenig Schlaf aushalten? Kein Wunder, dass sein Geist immer noch in Gefangenschaft verharrte.

Sie war eine Frau, für die es normal war, sich um andere zu kümmern. Auf Ballaloch und Callendon hatte sie dafür gesorgt, dass jedermann genug zu essen bekam und erhielt, was er brauchte. Keiner hungerte, wenn sie es verhindern konnte.

Aber Brams Bedürfnisse gingen darüber hinaus. Er war nicht der Mann, den sich mit einem guten Essen und einer weichen Matratze zufriedengab.

Aber er braucht dich, meldete sich ihre innere Stimme. Sie wollte den Mann kennen lernen, der sich hinter Brams schroffen Zügen verbarg. Die Narben verrieten, dass er genug Mut besaß, um zu überleben. Hätte sie das Gleiche ertragen müssen, sie hätte schon im ersten Jahr aufgegeben.

Er nicht. Er hatte mehr auf sich genommen, als ein Mensch aushalten sollte. Und wenn sein Gesicht auch von einer tiefen Trostlosigkeit, von jahrelanger Müdigkeit geprägt war, so las sie auch eine eiserne Entschlossenheit darin.

Er liebte seinen Bruder und würde ihn nie im Stich lassen. Sie verstand diese Treue und respektierte sie.

Aber würde er die gleiche Treue in ihrer Ehe aufbringen, wenn er herausfand, dass sie keine Kinder bekam? Schon jetzt machte es ihm zu schaffen, dass sie keine Jungfrau mehr war. Die heimliche Eifersucht in seinen Augen und seine Angespanntheit waren ihr nicht entgangen.

Und Bram war nicht wie Iver. Er wollte sie verführen, wollte sie mit seinen Küssen, die ihr den Verstand raubten, aus der Reserve locken. Selbst gestern Nacht, als sie neben ihm schlief, hatte sie seine Wärme genossen – wie er sie an sich gezogen und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben hatte.

Iver hatte sich nicht lange mit irgendwelchen Zärtlichkeiten aufgehalten. Er hatte sie einfach genommen und seine Pflicht erfüllt. Bei Bram, das spürte sie, erwartete sie viel mehr.

Sie versuchte, die Vorfreude beiseite zu schieben. Heute musste sie mehr über den MacKinloch-Clan erfahren und herausfinden, wie sie sich hier am besten nützlich machen konnte.

Sie schlenderte durch Glen Arrin und sah sich alles an. Die Burg trug unübersehbare Zeichen der Vernachlässigung. Warum rührte keiner eine Hand, um den Abfall fortzuräumen oder die verrotteten Balken zu ersetzen? Als würde es keinen kümmern, als würde niemand mehr einen letzten Rest von Stolz sein Eigen nennen. Nicht nur die Burg, auch die Menschen hier strahlten etwas Müdes aus.

Während sie wieder zum Wohnturm zurückging, fühlte sie die Augen der anderen auf sich, die sie anstarrten, als wäre sie eine Kuriosität. Gewiss, alle waren höflich zu ihr. Trotzdem hatte sie ein unangenehmes Gefühl.

Etwas stimmte nicht auf Glen Arrin, aber sie wusste nicht, was. Es war etwas jenseits der Armut. Mit zu Schlitzen verengten Augen suchte sie nach dem Grund ihres Missbehagens.

Während ihr Blick über die verschiedenen Clansleute glitt, die bei ihrer Arbeit waren, ihr Stück Land bestellten oder anderen Pflichten nachgingen, erkannte sie plötzlich glasklar, was das Problem war.

Es gab keine Frauen und Kinder auf der Burg. Nirgendwo.

Nairna versuchte, ruhig zu bleiben, aber sie war vom Schock wie betäubt. Wo konnten sie nur sein? Waren sie irgendwo an einem anderen Ort? Vielleicht nicht weit von hier in einer anderen Burg?

Oder war ihnen etwas zugestoßen?

7. KAPITEL

Nachdem er geklärt hatte, wo er und Nairna wohnen würden, setzte Bram sich zu Alex und Ross, die sich bereits überlegten, wie sie Callum aus dem englischen Gefängnis befreien wollten. Die ganze letzte Stunde schon diskutierten sie darüber, wie sie es machen wollten: ob mit List oder mit Gewalt.

Ihm war es egal. Solange sie nur Callum befreiten, spielte alles andere keine Rolle. Ihre Worte wurden nach und nach zur reinen Geräuschkulisse, Strategien verschwammen, bis Bram nicht mehr hörte, was sie sagten.

Stattdessen beobachtete er Nairna. Vom Eingang aus konnte er sie über den Burghof gehen sehen. Ihr Gesicht wirkte betroffen, als könnte sie nicht verstehen, was mit Glen Arrin passiert war.

Mit jedem Schritt, den sie tat, bückte sie sich, um Ordnung zu schaffen. Da hob sie einen umgefallenen Topf auf, dort griff sie nach einem Besen und kehrte den Eingang.

In der nächsten Stunde nahm sie sich den großen Saal vor und fegte den Unrat zusammen. Sie musste sogar – Gott weiß, wo – frische Binsen entdeckt haben, die sie nun auf dem Boden ausstreute, um den schlechten Geruch zu vertreiben.

Ihr Kopf war bedeckt, aber Bram konnte den dunklen Zopf sehen, der ihr über die Schulter hing. Sie bewegte sich mit einer stillen Grazie, aber ihrem Gesicht sah er an, dass sie sich über etwas Sorgen machte.

Nachdem sie den Saal etwas aufgeräumt hatte, ging sie plötzlich, als hätte sie jäh einen Entschluss gefasst, zu Alex und den anderen. Ohne zu zögern, unterbrach sie ihr Gespräch.

„Wo sind die Frauen und Kinder?“, fragte sie ohne Umschweife.

Bram blickte sich um und stellte fest, dass sie recht hatte. Er war so mit seiner Sorge um Callum beschäftigt gewesen, dass er die anderen MacKinlochs kaum beachtet hatte. Wo waren die Frauen? Vermutlich waren sie in ihren Kammern oder zusammen mit Alex’ Frau sonst irgendwo.

Er warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu, da mischte Ross sich ein. „Lady Laren ist mit ihren Töchtern spazieren gegangen. Das macht sie jeden Morgen.“

„Und die anderen?“, fragte Bram. Alex machte eine abweisende Geste. Er schien weniger verärgert als verlegen zu sein.

„Sie sind bei unserer Mutter. Sie hat sie dazu genötigt, bei Kameron MacKinnon, dem Baron of Locharr, Zuflucht zu suchen.“ Aus seinem zornigen Ton schloss Bram, dass ihre Mutter sich wohl kein bisschen geändert hatte.

Entschlossen und stahlhart wie ein gnadenloser Kriegsherr war Grizel MacKinloch in seiner und seines Bruders Kindheit gewesen. Mit vier kleinen Jungs hatte sie das auch sein müssen. Während andere Frauen ihre Söhne mit einem Kuss trösteten, wenn sie sich das Knie aufschlugen, meinte Grizel nur, sie hätten besser aufpassen sollen, wo sie hintraten. Von ihr war kein Mitleid zu erwarten. Schwäche gab es nicht.

Und hatte sie erst einmal einen Entschluss gefasst, war sie nicht mehr davon abzubringen. Bram war überzeugt: indem sie den Exodus der Frauen beschloss, wollte sie die Männer bestrafen.

„Habt ihr sie schon einmal besucht?“, wagte er zu fragen.

Alex’ Gesicht drückte seinen ganzen Unmut aus. „Einmal. Sie sind in Sicherheit. Und es ist erst zwei Wochen her. Sie werden zurückkommen.“

Da war sich Bram nicht so sicher. Ihre Mutter hatte noch nie zu denen gehört, die einen Fehler zugaben.

Nairnas Gesicht verfinsterte sich, während sie Alex aufmerksam musterte. Sie sah dabei aus, als hätte sie tausend Fragen, aber sie stellte eine einzige: „Hast du deine Mutter wissen lassen, dass Bram zurückgekehrt ist?“

„Ja, ich habe ihr heute Morgen eine Nachricht geschickt.“ Alex stand auf und benutzte seine Größe dazu, Nairna daran zu erinnern, dass er hier die Autorität besaß.

Doch sie wich keineswegs vor ihm zurück, sondern reckte nur entschlossen das Kinn. Dann drehte sie sich zu Bram um. „Hast du vor, sie zu besuchen?“

„Nein. Habe ich nicht.“ Seit seiner Hochzeit hatte er Grizel nicht mehr gesehen. Und er wusste, dass sie nicht den Wunsch hegte, ihn wiederzusehen. Durch sein leichtfertiges Verhalten war ihr Mann getötet worden. Er bezweifelte, dass sie ihm je verzeihen würde.

„Warum nicht?“, fragte Nairna. „Sie ist deine Mutter. Du musst zu ihr gehen.“

„Ich an deiner Stelle würde den Frieden genießen, solange er währt“, grinste Ross und gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen. Und an Nairna gewandt fuhr er fort: „Grizel ist keine Frau, die vor Freude weint und die Rückkehr des verlorenen Sohnes feiert.“

„Eher hängt sie ihn auf und verflucht ihn für seine Heimkehr“, fügte Alex hinzu.

Nairna sah die beiden Männer mit offenem Mund an. Bram schnitt alle weiteren Fragen ab und sagte: „Ich muss mich mit meinen Brüdern im Kampf üben. Ich sehe dich später.“

Alex verabschiedete sich ebenfalls mit einem Kopfnicken. „Wenn du Laren draußen nicht findest, versuch es mal in der Kapelle. Manchmal verbringt sie dort ihre Zeit.“

Bram hörte, wie seine Frau vor sich hinmurmelte, dass sie Larens Gebete nur zu gut verstünde, schließlich sei sie die einzige Frau in Glen Arrin.

Bevor sie gehen konnte, griff Bram nach ihrer Hand. „Es bleibt nicht immer so, Nairna. Die anderen Frauen kommen wieder.“

Sie zuckte die Achseln, als wäre es ihr gleichgültig. Aber er wusste, dass es nicht stimmte.

„Wenn du willst, lasse ich jemanden deine Amme holen.“ Vielleicht würde ihr weibliche Gesellschaft Glen Arrin zu einem angenehmeren Ort machen. Wenigstens so lange, bis die anderen zurückkehrten. „Es dürfte allerdings eine Woche dauern, bis sie da ist.“

In Nairnas erstauntem Blick las er Dankbarkeit. Und Überraschung. Als hätte sie so etwas im Leben nicht von ihm erwartet. „Danke.“

Zur Antwort streichelte Bram ihre Hand und malte kleine Kreise auf die Handfläche. Sie verschränkte die Finger mit seinen, und der sachte Druck ihrer Hand füllte die Leere in seinem Innern. Er hielt sie einen Moment lang, dann ließ er sie los und ging zu Alex und Ross.

Nairna stand in einiger Entfernung von ihnen und sah ihren Kampfübungen zu. Als Alex ihm ein Zeichen machte, nahm Bram sein Breitschwert. Die Waffe war schwer, doch das war ihm gerade recht. Er wollte sich vergessen im Kampf, seine Wut loswerden.

Wenn er seine verlorene Kraft wiederfand, könnte er aus sich den Kämpfer machen, der er immer hatte sein wollen. Und er würde Nairna ein eigenes Haus schenken und alle Freiheit, die sie sich wünschte.

Anders als andere Männer fand er oft nicht die richtigen Worte und konnte einer Frau auch nicht so gut den Hof machen. Hoffentlich würde sie mit der Zeit erkennen, wie gut er sie beschützen und für sie sorgen konnte.

Das war alles, was ihm möglich war.

Nairnas Hand fühlte sich immer noch warm an. Auch wenn Bram nicht mehr getan hatte, als ihre Hand zu halten, die Geste weckte ein unstillbares Verlangen in ihr. Er hatte sie angesehen, wie ein Mann eine Frau ansieht, mit der er viel mehr tun möchte, als nur ihre Hand zu halten. In diesem Augenblick hätte sie gerne sein Gesicht gestreichelt, hätte die Hand über seinen Hals gleiten und auf seiner Brust ruhen lassen.

Sie nahm den Besen und kehrte den Eingang zur Halle. Zwar hatte sie das heute schon getan, aber es war eine gute Entschuldigung dafür, die Männer weiterhin zu beobachten.

Bram und Ross bezogen mit ihren Schwertern Stellung. Es war bald klar, dass es sich hier nicht um einen wirklichen Kampf handelte. Brams Kraft sollte getestet werden.

„Bist du sicher, dass du das auch wirklich willst?“, fragte Ross, während er Bram umkreiste.

Der nickte nur und prüfte sein Claymore mit ein paar Übungsschlägen in die Luft.

Ross holte aus und führte einen Schlag aus, den Bram nur mit Mühe parierte. Das Klirren der Waffen erfüllte die Luft, und Nairna umklammerte ihren Besenstiel fester.

Obwohl er Gelegenheit dazu gehabt hätte, gelang es Bram nicht, selber anzugreifen oder einen Vorteil gegenüber Ross zu erzielen. Er blockte die Schläge ab, aber viel mehr tat er nicht. Es war reine Verteidigung, nichts weiter.

Inzwischen sah er ganz grau im Gesicht aus. Seine Augen waren glasig und seine Schritte unsicher.

Er ist noch nicht so weit, dachte Nairna bei sich. Sie kehrte und kehrte, bis sie wahrscheinlich auch noch das letzte Stäubchen fortgefegt hatte, so sauber war die Schwelle inzwischen. Doch sie konnte sich nicht von dem Kampf losreißen.

Schweiß glänzte auf Brams Stirn, und sein Blick irrte unstet umher. Er versuchte zwar immer noch, die Schläge des älteren Mannes zu parieren, aber sie setzten ihm immer mehr zu. Schließlich brach Ross den Kampf ab. Offensichtlich gefiel ihm nicht, was er sah.

„Lass es uns mit einer anderen Waffe versuchen.“ Er zog seinen Dolch. Die kurze Klinge funkelte im Sonnenlicht.

Beim Anblick der Waffe gefror Bram zu Eis. Auf seinem Gesicht lag der gleiche Ausdruck, der Nairna beim Haareschneiden aufgefallen war.

Sein Blick wurde starr, als er den Dolch erblickte. Er sah ihn, aber er reagierte nicht. Ross reckte sich und holte weit mit dem Dolch aus.

Alex ging zu ihnen, zog seinen eigenen Dolch aus der Scheide und hielt ihn Bram hin. „Ich leihe dir meinen zum Üben.“ Er warf die Waffe hoch, und die Klinge wirbelte durch die Luft. Bram tat nichts, um sie zu fangen, und sie landete vor ihm auf dem Boden.

Sein Blick war leer. Er schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.

Um seine Aufmerksamkeit zu wecken, schlitzte Ross Brams Ärmel auf und hinterließ eine dünne Blutspur auf seiner Haut. Brams Reaktion erfolgte blitzschnell.

Mit einem heiseren Brüllen griff er nach dem Dolch und stürzte sich auf Ross. Aus seinen Augen war jede Spur von Beherrschung verschwunden. In ihnen loderte einzig eine unbändige Wildheit.

Den Dolch in der Hand, hieb er mit den geschmeidigen Bewegungen eines wilden Tieres auf Ross ein. Mehr als einmal retteten nur seine flinken Füße den älteren Mann davor, niedergestochen zu werden.

Der Schweiß lief Bram über die Stirn. Mit rasenden Bewegungen durchschnitt er die Luft. Wenn der Kampf so weiterging, würde er Ross entweder töten oder vor seinem Clan das Gesicht verlieren.

Niemand bemerkte, dass er gar nicht wusste, was er tat. Der Wahnsinn hatte ihn in seinen grausamen Fängen gepackt. Nairna konnte nicht einfach daneben stehen und den Dingen ihren Lauf lassen. Am Ende würde jemand verletzt werden.

„Es reicht!“, schrie sie. „Bram, lass ihn in Ruhe!“

Aber Bram achtete nicht auf sie, obwohl Ross den Dolch sinken ließ. Stattdessen suchte er den Moment auszunutzen und stürzte sich auf ihn.

„Alex, halt ihn auf“, flehte Nairna. Der Clan-Führer nahm sein Schwert und warf sich zwischen die beiden, gab Bram einen Stoß, so dass er taumelte, auf den Rücken fiel und dabei mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Ein kleines Blutrinnsal rann ihm über die Schläfe. Nairna eilte zu ihm.

In seinen braunen Augen erkannte sie, dass er wieder klar denken konnte. Und sie sah auch seinen Schmerz. Für den Augenblick war er wieder bei Sinnen.

Nairna warf Alex einen scharfen Blick zu. Sie wollten Brams Kraft beurteilen? Hier hatten sie die Antwort. Er konnte noch nicht kämpfen. Nairna sah keinen Grund, warum er noch mehr gedemütigt werden sollte.

„Wir werden es später noch einmal versuchen“, meinte Ross. Aber er wechselte Blicke mit Alex, und keiner von beiden sah erfreut aus.

Nairna half Bram beim Aufstehen. Seine Hand umklammerte immer noch den Dolch. Er trat zu Ross und gab ihm die Waffe zurück.

Danach nahm er Nairnas Hand und hielt sie fest. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Er schien wütend auf sie zu sein, weil sie den Kampf beendet hatte.

Ohne ihre Hand loszulassen, zog er sie mit sich über den inneren Hof und zu den äußeren Burgtoren. Nairna wusste nicht, wohin er sie brachte. Offensichtlich wollte er niemanden bei ihrem Gespräch dabeihaben.

Gut denn. Es tat ihr jedenfalls nicht leid, den Kampf beendet zu haben.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie.

Bram antwortete nicht und führte sie zu einem kleinen Wäldchen. Unter ihren Füßen knisterten Tannennadeln und trockene Blätter, während sie einen Hügel hinaufgingen und sich dabei immer weiter von der Burg entfernten. Als sie den Kamm des Hügels erreicht hatten, war Nairna außer Atem und ein wenig schwindlig von der Anstrengung.

Die Aussicht war atemberaubend. Sie konnte viele Meilen weit sehen. Üppige grüne Hügel umgaben das Tal, und der See schimmerte silbern in der Nachmittagssonne. Der Nebel breitete sich zwischen den Hügeln aus und ließ die Landschaft gespenstisch wirken.

Sie setzte sich auf einen großen Stein, um wieder zu Atem zu kommen.

„Warum hast du das Training unterbrochen?“ Bram trat zu ihr. Sie konnte seinem Gesicht ansehen, wie wütend er war. Er hob ihr Kinn hoch, und der lodernde Zorn in seinen Augen ließ sie fast vor ihm zurückweichen.

„Um dich davon abzuhalten, Ross zu töten. Du warst nicht mehr bei Verstand.“

„Dazu hattest du kein Recht!“ Er starrte sie an, doch Nairna dachte nicht daran, sich schuldig zu fühlen.

„Erinnerst du dich überhaupt an den Kampf?“, fragte sie. „Denn als du mit dem Dolch auf ihn losgestürmt bist, hast du noch nicht einmal richtig erkannt, wer er war. Wie in der Nacht, als du mein Handgelenk umklammert hast.“

Bram fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah sie unwillig an. „Das stimmt doch gar nicht. Ich erinnere mich – an fast alles.“

„Wirklich?“, meinte sie zweifelnd. An seinem unsicheren Gesicht erkannte sie, dass er sich nicht an alles erinnerte.

„Ich finde, du solltest nicht dabei sein, wenn sie Callum befreien“, sagte sie ganz offen. „Überlass es den anderen.“

„Sie kennen den Weg nach Cairnross nicht so gut wie ich“, widersprach er. „Und ich war es, der ihn zurückließ. Das mache ich kein zweites Mal.“

Sie stand auf, nahm vorsichtig seine Hände und hob sie bis vor sein Gesicht. Brams Finger zitterten. Er hatte keine Kontrolle über sie.

„Ich weiß, dass du ihn beschützen willst. Aber du brauchst mehr Zeit. Du isst nicht. Du schläfst nicht. Wie willst du ihm in deinem Zustand helfen?“

„Ich habe keine Zeit zu verlieren, Nairna. Jeder Moment, den ich hier verbringe, ist ein Moment, den er länger leiden muss.“ Seine Augen waren dunkel vor Wut.

Er riss sich von ihr los und schien nicht die Absicht zu haben, sein Vorhaben aufzugeben. „Versuch nicht, mich aufzuhalten. Das hier ist etwas, das ich tun muss.“

Nairna versuchte es auf eine andere Art. Mit sanfter Stimme fragte sie: „Versuchst du dich zu bestrafen für das, was geschehen ist?“

Der schuldbewusste Ausdruck seiner Augen verriet ihn. Es war ihm egal, ob er bei dem Befreiungsversuch starb.

„Ich gab Callum mein Wort.“ Bram ging an den Rand der Lichtung. Unter ihm lag das Tal. „Und ich halte mein Versprechen.“

Nairna holte tief Luft und fragte sich, warum sie ihn überhaupt überzeugen wollte. „Warum hast du mich hierher gebracht?“, fragte sie und wechselte das Thema.

„Weil wir hier leben werden. Wenn es dir gefällt.“

Ein Heim … und eigenes Land? Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie einen so schönen Ort einmal ihr Eigen nennen würden. Sie blickte sich um. Einige Bäume mussten gefällt werden, aber die Anhöhe war ein guter strategischer Standort über dem Tal. Eindringlinge waren von hier aus schon von Weitem zu sehen. Es war ein schöner, wilder Ort, aber einsam.

„Hat dein Bruder dir das Land versprochen?“

„Ja.“ Bram stemmte die Hand in die Seite. „Ich weigere mich, Oberhaupt des Clans zu sein, auch wenn das der Wunsch meines Vaters war.“

Fast hätte sie gefragt, warum, aber sie schwieg. Bram wollte offensichtlich nicht den Platz seines Bruders einnehmen. Im Gegenzug bewilligte Alex ihm Land, das seiner würdig war.

„Was für ein Haus willst du hier errichten?“, fragte sie. Das Land eignete sich nicht zum Bebauen, aber das fette Gras war eine perfekte Weide für Schafe und Ziegen.

„Das ist mir gleich, solange es nur trocken und warm ist. Du kannst dir aussuchen, was für eine Art von Heim du haben möchtest. Meine Clansleute werden mir beim Bau helfen.“

Bram stützte sich auf ein Knie und ließ den Blick über die Hügel schweifen. Er griff nach einem Grasbüschel, riss einige Halme davon ab und ließ sie durch die Finger gleiten, bis er keinen mehr in der Hand hielt. „Du glaubst wirklich nicht, dass ich Callum befreien kann, nicht wahr?“

Die Antwort fiel ihr schwer. Sie wollte ihn nicht verletzen, aber sie wollte ihn auch nicht anlügen.

„In deinem Zustand – nein.“ Sie ging zu ihm, als er aufstand.

„Du glaubst, ich bin nicht stark genug“, meinte er, nahm ihre Hände und legte sie auf seine Schultern. Sie konnte die festen Muskeln fühlen. Sein magerer Körper besaß durchaus Kraft, das konnte sie nicht leugnen. Und er wollte, dass sie das wusste.

„Wenn du es mit Pfeilen und Schwertern zu tun hast, spielt Kraft keine große Rolle.“ Sie merkte, wie nahe sie beieinander standen, und plötzlich war ihr der Hals wie zugeschnürt. Wenn sie nur ein bisschen näher trat, könnte sie das Gesicht an seine warme Brust schmiegen.

„Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn ich nicht zu dir zurückgekommen wäre, Nairna.“ Er drehte sie so, dass sie über das Weideland blickte, das von hohen, grünen Bergen umrahmt war. „Ich bin kein großartiger Ehemann, was?“

Damit nahm er seinen Mantel ab und legte ihn ihr um die Schultern. Er war noch warm, und sie kuschelte sich in ihn ein, als wäre er eine Umarmung.

„Ich denke, ich bin auch nicht gerade eine großartige Ehefrau“, gestand sie, und der ganze unterdrückte Schmerz stieg wieder in ihr auf.

„Warum sagst du so etwas?“

Sie schlang die Arme um sich und überlegte, wie sie ihm sagen sollte, was gesagt werden musste. Er verdiente es, die Wahrheit zu wissen. Es wäre falsch, sie vor ihm geheim zu halten. Sie sah auf die Hügel, die sich in der Ferne erhoben, und ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen.

„Weil du Kinder haben willst und ich sie dir nicht geben kann.“

Zuerst sagte Bram nichts. Er sah sie noch nicht einmal an, sondern richtete den Blick auf den glänzenden See, der durch die Bäume schimmerte. „Drei Jahre lang haben wir es versucht“, fügte sie niedergeschlagen hinzu. „Und … nichts.“

Sein beredtes Schweigen bekümmerte sie. Sie hatte gehofft, er würde ihre Sorgen beschwichtigen. Und jetzt tat er es nicht. Er starrte weiter auf das Tal unter ihnen, und mit jedem Moment, der verstrich, wurde sie mutloser. Sie konnte seine Gedanken nicht erraten. War er wütend deswegen, oder war es ihm schlichtweg egal?

Nairna wandte sich ab und wollte gehen. Sie brauchte jetzt Zeit, um mit ihren verletzten Gefühlen ins Reine zu kommen. Sie war ein paar Schritte gegangen, als Bram sie aufhielt. Er zog sie in seine Arme und barg das Gesicht in ihren Haaren. So standen sie beieinander, um sie herum nichts als Nebel und bewaldete Hügel. Er hielt sie fest in seinen starken Armen, und dieses ruhige Festhalten sagte ihr mehr als alle Worte.

Ihre Tränen rannen auf seine Tunika, und sie spürte, wie etwas Hartes in ihrer Brust dabei war zu zerbrechen.

8. KAPITEL

Laren.“ Alex hielt sie am Arm fest, als sie gerade in den Turm zurückkehrte. „Warum bist du gestern Abend nicht heruntergekommen?“

Laren zuckte bei dem scharfen Ton ihres Mannes zusammen. Sie beugte sich zu ihren Kindern hinunter und flüsterte: „Geht in die Kammer, Mädchen. Ich komme gleich.“

Ihre vierjährige Tochter Mairin sah sie ängstlich an, aber sie gehorchte und zog die kleine Adaira mit sich.

In den Augen ihres Mannes konnte sie lesen, wie sehr es ihn ärgerte und wie peinlich es ihm war, dass sie die Besucher nicht begrüßt hatte. Aber er kannte die Wahrheit nicht.

Gestern Abend hatte sie oben auf der steinernen Wendeltreppe gesessen und das Fest beobachtet. Sie ertrug es nicht, inmitten so vieler trinkender und lachender Menschen zu sein. Sie hielt sich lieber zurück und blieb im Schatten, wo keiner sie bemerkte.

Sie hatte Alex’ Bruder Bram gesehen und bemerkt, mit welchem Verlangen er seine Frau betrachtete. Es war Jahre her, dass Alex sie so angesehen hatte.

Und jetzt las sie auch nur Enttäuschung in seinem Gesicht.

„Ich war bei den Mädchen“, log sie. „Ich konnte sie nicht allein lassen.“

„Er ist mein Bruder, Laren! Du hättest kommen müssen.“

Sie leugnete ja gar nicht, dass Alex recht hatte. Aber er verstand einfach nicht, wie sehr sie sich hier unter den MacKinlochs fehl am Platz fühlte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie ihnen als Herrin willkommen war, und nicht wenige tuschelten hinter ihrem Rücken über sie. Sie verstanden nicht, wie furchtbar das für sie war.

„Wo sind Bram und seine Frau jetzt?“, fragte sie.

„Ich gab ihnen das Land oben auf dem Hügel, damit sie sich dort ein Haus bauen. Letzte Nacht brachte ich sie im Getreideschuppen unter. Es gab sonst keinen Schlafplatz für sie.“

Ihre eigenen Unterkünfte waren genauso schlecht. Das Dach leckte und nachts war es kalt. Wahrscheinlich war der Getreideschuppen sogar bequemer.

„Ich möchte heute Abend ein Willkommensfest veranstalten“, fuhr Alex fort. „Kannst du dich darum kümmern?“

Bei dem Gedanken geriet sie in leichte Panik. Sie hatte keine anderen Frauen zur Hilfe. Die MacKinloch-Männer, ansonsten mutige und starke Kämpfer, würden nicht im Traum daran denken, einen Fuß in die Küche zu setzen. Und für sie als einzige Frau und ihre Mädchen war es so gut wie unmöglich. Wo alle Frauen fort waren, war die Arbeit so gut wie nicht zu schaffen.

„Ich weiß es nicht“, meinte sie. Zu essen gab es genug, aber die Vorbereitungen würden viel Zeit beanspruchen.

„Brodie hat einige Gänse, die könntest du braten“, schlug Alex vor. „Und ich schicke dir Dougal als Hilfe.“

Laren wusste nicht, wie sie so viele Männer bewirten sollte. Wenn sie versagte, war das ein Grund mehr für ihren Mann, sich über sie zu ärgern.

Seit er vor zwei Jahren Oberhaupt der MacKinlochs geworden war, hatte sich ihre Ehe verändert. Er sprach kaum noch mit ihr und schlief an der äußersten Bettkante. Obwohl sie seit fünf Jahren verheiratet waren, hatten sie sich einander entfremdet.

Aber dann legte Alex die Hand auf ihre Schulter. Sie spürte ihre Wärme und sah in seine dunklen Augen. Plötzlich fühlte sie ein fast schmerzhaftes Verlangen nach ihm.

„Ich tue, was ich kann“, flüsterte sie, auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht gelingen konnte.

Alex ließ die Hand sinken. „Wir werden morgen früh nach Cairnross aufbrechen. Falls du es noch nicht weißt, unser Bruder Callum wird dort gefangen gehalten.“ Sein Blick ging nach draußen, und er fügte hinzu: „Ich würde Bram lieber hier lassen, aber er ist so verdammt stur. Wenn wir nicht aufpassen, wird er noch getötet.“

„Sei vorsichtig“, flehte sie ihn an. Die nackte Angst, die ihr Herz erfüllte, drohte ihre übliche eiserne Selbstbeherrschung zu durchbrechen. Fast hätte sie ihm ihre wahren Gefühle gezeigt. Aber als sie auf ihn zutrat, wandte Alex sich ab und schien mit seinen Gedanken bereits wieder woanders zu sein.

Während ihr Mann den Turm verließ, fragte Laren sich, ob er sie wohl je wieder so liebevoll ansehen würde wie früher.

Bram arbeitete während der nächsten Stunden wie ein Berserker. Seine Tunika war nass von Schweiß. Er schleppte Steine für das Fundament ihres Hauses, und seine Arme schmerzten von deren Gewicht. Aber anders als Nairna war er an eine solche Arbeit gewöhnt.

Seine Frau mühte sich mit den Steinen ab, die zu schwer für sie waren. Die Anstrengung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Lass sie liegen. Ich helfe dir später.“

Sie strich sich eine Strähne ihres braunen Haars aus dem Gesicht. „Ich wünschte, ich wäre stärker“, meinte sie wütend. „Du solltest das alles nicht allein machen müssen.“

„Das macht mir doch nichts aus. Und wir hören jetzt auch auf damit. Die Sonne geht bald unter.“ Er wuchtete einen weiteren Stein hoch, legte ihn in die Rinne, die er gegraben hatte und richtete ihn nach dem vorherigen Stein aus, bis beide die gleiche Höhe hatten.

Als er sich wieder aufrichtete, stand Nairna vor ihm. Mit traurigem Gesicht legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Ich hätte dir früher sagen sollen, dass ich keine Kinder bekommen kann.“

Schuldbewusst sah sie ihn an. Er wusste, dass er ihr jetzt etwas Tröstliches sagen sollte, etwas, wodurch sie sich besser fühlte. Aber ihm fehlten die richtigen Worte. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf. „Mach dir deswegen keine Sorgen.“

„Tue ich aber.“ Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie den Tränen nahe war. „Ich hoffe so sehr, dass alles anders wird … mit uns beiden. Doch ich dachte, du solltest wissen, dass es vielleicht nicht so sein wird.“

Sie schien völlig verzweifelt. Aber was, um Himmels willen, sollte er ihr sagen? Wenn er ihr sagte, dass es ihm egal war, würde sie es ihm nicht glauben. Hatte sie Angst, er würde ihr die Schuld dafür geben? Dabei war er froh, dass sie nicht schwanger geworden war. Hätte sie den Sohn eines anderen Mannes geboren … es hätte ihn innerlich aufgefressen. Selbst jetzt hatte er bei dem Gedanken, dass Iver MacDonnell sie berührt hatte, ein Gefühl, als würde ein Messer in seinen Eingeweiden umgedreht.

Er zuckte die Achseln und versuchte, nicht allzu sehr auf ihre Verzweiflung einzugehen. Im Augenblick wollte er nichts anderes, als ihnen eine Unterkunft bauen, einen Ort, wo sie für sich sein konnten. Er griff nach dem nächsten Stein. Aber sein Schweigen schien Nairnas Zorn geweckt zu haben.

„Ist dir das völlig egal?“, wollte sie wissen. Ihre grünen Augen sprühten Feuer, und ihr Gesicht war gerötet.

Sie ging zu ihm und Bram legte den Stein beiseite. Sie sagte so etwas wie: dass es ihn doch interessieren müsste, ob er eine Familie haben würde oder nicht. Aber er achtete nicht viel auf ihre Worte. Er beobachtete lieber, wie ihre Lippen sich bewegten und sah, dass ihr Gewand durchgeschwitzt war von der körperlichen Anstrengung.

„Bram.“ Nairna runzelte die Stirn. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Nicht wirklich.“ Er führte sie über die Lichtung zu einem kleinen Wasserfall, der über einen Felsen hinab in einen Fluss stürzte. „Du machst dir Sorgen wegen etwas, das noch gar nicht eingetreten ist.“ Er schöpfte mit den Händen das klare Wasser. „Komm, trink etwas. Du siehst durstig aus.“

Sie sah ihn ungläubig an. „Ich verstehe dich nicht. Ich dachte, du würdest wütend sein.“

„Warum soll ich über etwas wütend sein, das sowieso in Gottes Hand liegt?“ Er hielt ihr das Wasser hin, und sie beugte sich vor und trank aus seinen Händen. „Wenn wir ein Kind haben sollen, dann werden wir es bekommen.“ Er strich ihr mit den nassen Fingern über die Wange. „Bis jetzt haben wir es ja noch nicht einmal versucht.“

Nairna wurde rot. Doch zumindest hatte er ihren Zorn besänftigt. Jetzt schöpfte sie Wasser, und er trank es aus ihren Händen. Einen Augenblick lang hielt er ihre Finger fest, bevor sie sie fortzog.

Sie bückte sich und fischte einen glatten, flachen Stein aus dem Grund des Flusses. „Erinnerst du dich noch daran, wie wir früher Steine übers Wasser springen ließen?“

Und ob er sich erinnerte. Stundenlang hatten sie sich damit die Zeit vertrieben und gewettet, wessen Stein am weitesten springen würde. „Du warst überhaupt nicht gut darin“, grinste Bram und suchte sich einen Stein. „Oder hat sich das etwa geändert?“

Sie warf den Stein in die Luft und fing ihn wieder auf. „Keine Ahnung.“ Dann versuchte sie, den Stein aus dem Handgelenk heraus über das Wasser springen zu lassen. Er versank sofort. „Wie es aussieht nicht.“

Bram warf seinen Stein, und er hüpfte drei Mal übers Wasser. Schnell suchte er sich einen anderen Stein und bemühte sich, seine Genugtuung nicht zu zeigen.

„Ich nehme an, du prahlst jetzt gleich.“

„Ganz und gar nicht.“ Er hatte eine bessere Idee. Sich hinter sie stellend drückte er ihr seinen Stein in die rechte Hand. „Ich bringe es dir jetzt bei.“

Er legte den linken Arm um ihre Taille, und mit dem rechten zeigte er ihr, wie sie aus dem Handgelenk heraus werfen musste. „Es ist nur eine Frage der richtigen Bewegung.“ Beim Klang seiner dunklen Stimme so dicht an ihrem Ohr lief Nairna ein wohliger Schauer über den Rücken.

„Du musst ihn locker in der Hand halten.“ Seine linke Hand glitt höher und er fing an, sie zu streicheln. „Nicht so steif.“

Er presste die Hüften an ihre, und sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Also da, wo ich stehe, fühlt es sich eher steif an.“

Er zog sie enger an sich, und presste seine erregte Männlichkeit an ihren Po. „Manchmal ist steif gar nicht so schlecht.“

Dass sie ihn anlächelte, hatte er nicht erwartet. „Zeig es mir.“

Er ließ sie los und griff nach den Schnüren seiner Beinlinge. „Wenn du darauf bestehst.“

„Nein“, lachte sie und packte ihn bei seiner Tunika. „Wie man Steine springen lässt, meine ich.“

„Ach, das.“ Er nahm sie wieder in die Arme, ergriff ihre Hand und zeigte ihr, wie man den Stein über das Wasser werfen musste. Aber als Nairna es nachmachen wollte, warf sie ihn mit viel zu viel Kraft.

„Du darfst das Wasser nicht steinigen, Nairna. Mach es weicher.“

Nach einigen Versuchen wurden ihre Würfe langsam geschmeidiger. Der sechste Versuch endete damit, dass ihr Stein zwei Mal hüpfte, bevor er versank.

Sie strahlte Bram an, und er war verzaubert von der Wärme, die in ihrem Lächeln lag. Gerade wollte er sie küssen und die verlorenen Jahre wiedergutmachen, als der Klang galoppierender Hufe den schönen Moment zerstörte.

„Ich glaube, du wirst es mir später zeigen müssen“, meinte sie bedauernd. Ross und Alex tauchten auf. Bram warf den Stein ins Wasser, während seine Brüder abstiegen und zu ihnen kamen.

„Wir geben heute Abend ein Fest, um deine Rückkehr zu feiern“, sagte Alex.

„Das muss nicht sein.“ Bram hasste Menschenansammlungen. Ein Fest würde nur die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn ziehen.

„Alle wünschen sich einen Grund zum Feiern. Du gibst ihnen eine gute Gelegenheit, zu viel Bier zu trinken und ihre Sorgen zu vergessen.“

Bram gab ihm keine Antwort. Er wünschte, ihm würde eine Entschuldigung einfallen, um sich vor dem Fest zu drücken. Doch Nairna war anzusehen, dass sie nichts gegen ein Fest hatte.

„Kommt, so bald ihr könnt“, schlug Alex vor. Er grüßte noch einmal mit erhobener Hand, dann ritten er und Ross zurück.

Als sie verschwunden waren, griff Nairna nach ihrem Mantel. „Ich sollte gehen und bei den Vorbereitungen helfen.“

„Ich will kein Fest, Nairna.“ Er wäre lieber hier geblieben, weit weg von seinen Clansleuten, die Fragen stellen würden, die er nicht beantworten wollte.

„Sie sind deine Familie“, meinte sie. „Du musst zu dem Fest gehen.“

Er sah sie an und schüttelte den Kopf. „Ich bin ohne Callum nach Hause gekommen. Da gibt es nichts zu feiern.“ Würden die anderen den schrecklichen Preis kennen, den er für seine Freiheit bezahlt hatte, dann wäre ihnen wohl alles andere als nach Feiern zumute.

„Geh ohne mich“, drängte er sie. „Hilf Laren, wenn du willst. Ich baue weiter an unserem Haus.“

„Dein Bruder erwartet aber, dass du kommst“, sagte sie und legte die Hand an seine Wange. „Enttäusche ihn nicht.“

Bram zog sie in die Arme. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte nicht beschlossen, zur Burg zurückzugehen. Aber er ließ sie gewähren. Er wusste, dass eine Frau wie sie aufblühte, wenn sie mit anderen Menschen zusammenkam. Sie wollte dabei sein und bei den Vorbereitungen helfen.

Ob er die mitleidigen Blicke seiner Verwandten ertragen konnte? Er wusste es nicht. Ebenso wie die Antwort auf die Frage, wieso ihm die Flucht gelungen war.

Rund um die Burg brannten Fackeln. Nairna nahm sich die Zeit, das Gesicht und die Hände zu waschen. Zu ihrer Überraschung roch es nach Fisch und … gab es etwa gebratene Gans? Ihr Magen knurrte, und sie fragte sich, ob es für sie überhaupt noch etwas zu tun gab.

Als sie den Saal betrat, stand Alex auf dem Podest an der gegenüberliegenden Seite und sprach mit seinen Verwandten. Eine schöne Frau, deren rote Haare im Licht des Feuers schimmerten, hielt sich still im Hintergrund. Ängstlich schreckte sie vor den Männern zurück, die sich um das Essen und die Getränke stritten, die unten auf den Schragentischen standen.

Das muss die Herrin von Glen Arrin sein, dachte Nairna. Während sie zu dem Podest ging, kämpften einige Männer um die Platten voller Speisen. Es kam sogar zu einer Prügelei. Nairna zuckte zurück, als einer von ihnen durch einen Faustschlag zu Boden ging.

Aber niemand machte dem Streit ein Ende. Sie sah zu dem Podest hinüber, doch das Oberhaupt von Glen Arrin schien die Prügelei nicht zu bekümmern.

Auf der anderen Seite erhob sich Alex, um sie zu begrüßen. Er sah an ihr vorbei, offenbar auf der Suche nach Bram. „Nairna, das ist meine Frau Laren.“

Nairna erwiderte Larens schüchternes Lächeln. Alex’ Frau war wahrscheinlich ihre einzige weibliche Verbündete hier, und sie war froh, sie endlich kennen zu lernen.

„Wo ist Bram?“, wollte Alex wissen. „Ist er nicht mitgekommen?“

„Er wollte noch etwas an unserem Haus zu Ende führen“, erklärte sie und hoffte, dass er schließlich doch noch kommen würde. „Er wird sicher bald hier sein.“

Laren nickte, sagte aber nichts. Sie schien sich neben ihrem Gatten äußerst unwohl zu fühlen. Sie machte den Eindruck, als wäre sie überall lieber als hier auf dem Podest. Auf Alex’ Aufforderung hin setzte Nairna sich neben die Herrin von Glen Arrin.

An ihrer Seite der Tafel bemerkte Nairna, dass Laren Handschuhe trug. Seltsam. Niemand sonst verwunderte sich darüber. Vielleicht war es einfach nur eine Angewohnheit von ihr.

„Ich freue mich, dich kennen zu lernen“, sagte Nairna. „Es tut gut, eine andere Frau hier zu sehen.“

Sie hoffte auf ein Gespräch mit ihr, aber die andere Frau errötete nur und nickte. Es war, als hätte sie Angst in Gegenwart ihres Mannes zu sprechen.

Einer der Männer brachte eine gebratene Forelle auf einem Holzbrett. Nairna kostete ein wenig von dem Fisch und fragte sich, wo Bram wohl blieb. Suchend schweifte ihr Blick über die Menschen im Saal.

Über eine Stunde war schon vergangen, seitdem sie ihn verlassen hatte. Sie machte sich Sorgen um ihn, weil er allein war. Schon als sie hier ankamen, schien er sich inmitten so vieler Leute nicht wohl zu fühlen. Sie musste ihn finden, damit sie wusste, was mit ihm los war.

Nairna entschuldigte sich bei Alex und den anderen Gästen der Tafel. „Ich gehe Bram suchen.“

„Ich komme mit.“

Er wollte aufstehen, aber Nairna schüttelte den Kopf. „Nein, lass mich das allein machen. Ich verspreche dir, ich komme mit ihm zurück.“

Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und erreichte endlich das Tor nach draußen. Fackeln leuchteten in der Dunkelheit, und die Oberfläche des Sees schimmerte silbern im Mondlicht. Nairna legte sich ihr Tuch um die Schultern, während ihr Blick die Umgebung absuchte.

Vor dem Tor schlug sie den Weg zu ihrem Haus ein. Da sah sie die Umrisse einer Gestalt, die sich vom Hügel abhob.

Ihr Herz schlug ruhiger, als sie Bram erkannte. Er lag am Hang, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte unruhig brütend vor sich hin. Sie setzte sich neben ihn.

Er sagte nichts und entschuldigte sich auch nicht für seine Abwesenheit. Sie durfte ihn nicht drängen. Vielleicht hatte er ja seine Gründe, die Burg nicht zu betreten.

Stattdessen streckte sie sich neben ihm aus. Einige Sterne waren am Himmel zu sehen. Nairna griff nach Brams Hand. „Eine schöne Nacht.“

Er antwortete nicht. Fast hätte man glauben können, dass er ihr nicht zugehört hatte, aber er verschränkte seine Finger mit ihren. In der kalten Luft wurde ihr Atem zu kleinen Wolken. Es verstrich einige Zeit, dann fragte er: „Hast du etwas gegessen?“

„Ein wenig. Ich wollte auf dich warten.“

Er richtete sich auf und ließ die Hände auf den Knien ruhen. „Du solltest zu den anderen zurückgehen, Nairna.“

Sie wusste nicht, ob es seine Abneigung gegen größere Menschenmengen war oder ob ein anderer Grund ihn hier festhielt. „Was ist los, Bram? Warum kannst du nicht zu ihnen gehen?“

Er schüttelte den Kopf. „Es gibt keinen Anlass, auf meine Rückkehr anzustoßen. Ich hätte im Gefängnis sterben sollen.“ Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit. „Manchmal wünschte ich, es wäre so.“

Sie strich mit dem Finger über die Narbe an seinem Hals und wusste nicht, was sie sagen sollte.

Er legte die Hände auf ihre und beantwortete ihre unausgesprochene Frage. „Sie nahmen ein Messer und schnitten mir die Kehle durch. Da war ich siebzehn. Nicht tief genug, um mich zu töten, aber tief genug, um mir Angst einzujagen.“

Er wirkte abwesend. „Einige der anderen starben. Damals wusste ich noch nicht, dass sie die Stärksten von uns als Sklaven behielten. Callum ließen sie am Leben, weil ich zwei Mal so hart arbeitete wie die anderen.“

Seine raue Stimme verriet, dass er den Albtraum noch einmal erlebte. „Ich tat alles, was sie von mir verlangten – manchmal die Arbeit mehrerer Männer. Wenn ich es nicht schaffte, bestraften sie Callum. Und danach mich.“

Er nahm ihre Hände von seinem Hals und stand auf. „Kannst du dir vorstellen, was sie ihm angetan haben, nachdem ich entkommen war?“ Seine ganze Haltung drückte Schuld aus, während er langsam in Richtung Burg ging. „Wenn er noch am Leben ist, muss ich ihn da herausholen.“

Er hatte den Eingang zum Turm erreicht. Nairna sah die nackte Qual in seinen Augen. „Für mich gibt es wirklich nichts zu feiern.“

„Es geht aber nicht nur um dich“, flüsterte sie. „Es ist geht auch um die Männer.“ Sie berührte sein Gesicht. Sie wollte, dass er die Wahrheit erkannte. „Sie sind verloren, Bram. Ihre Frauen und Kinder sind fort. Sie brauchen eine Abwechslung, und wenn auch nur für eine einzige Nacht.“

Er zögerte, aber sie konnte sehen, dass sie dabei war, zu ihm durchzudringen. „Um ihretwillen solltest du gehen. Nicht um deinetwillen.“

Die Hoffnungslosigkeit in seinem Gesicht brach ihr fast das Herz. „Deine Familie wiederzusehen kann nicht schlimmer sein als das, was du bereits ertragen musstest.“

Er sah nicht gerade froh aus, aber schließlich gab er seinen Widerstand auf, nahm ihre Hand und begleitete sie in das Innere des Turms.

Erleichtert ging Nairna mit ihm und blieb an seiner Seite, als seine Clansleute ihre Becher hoben und ihm zum Willkommen zuprosteten. Brams Gesichtsausdruck hellte sich nicht auf, doch er nickte ihnen zu und nahm im Vorübergehen einen Becher mit Met entgegen.

„Was hat dich denn so lange aufgehalten, Bram?“, neckte ihn Brodie, sein Stammesbruder.

Nairnas spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, aber sie wusste, dass die Frotzeleien nur noch schlimmer würden, wenn Bram nichts darauf erwiderte. Schon sah sie, wie sein Blick sich verfinsterte und ahnte, dass er jetzt überall lieber wäre als hier.

„Er hat wirklich hart gearbeitet“, erwiderte sie und hob ihren Becher zum stummen Toast.

Die anderen brachen in gutmütiges Gelächter aus, und einige der Männer erwiderten ihren Toast, indem sie ebenfalls ihre Becher hoben. Mehr als einer warf Bram einen neidischen Blick zu, als er den Arm um Nairnas Taille legte. So, als vermissten sie ihre eigenen Frauen.

Als sie ihrem Mann einen verstohlenen Blick zuwarf, beugte Bram sich so nah zu ihr, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. „Ich habe hart gearbeitet, was?“

„Es schien mir so.“ Seine Nähe verwirrte sie.

Um sich abzulenken, trank sie auch einen Schluck Met. Bram nahm den Becher und trank an der Stelle, wo ihre Lippen den Rand berührt hatten. Der Blick, mit dem er sie ansah, hatte sich gewandelt. Er war lebendiger. Es war ihr gelungen, ihn von seinen Sorgen abzulenken. Und sein Blick verriet ihr, dass er fest entschlossen war, sie zu verführen.

Sie nahmen ihre Plätze neben Alex und Laren ein, und Nairna fiel auf, dass die Herrin von Glen Arrin ihr Essen kaum berührt hatte. Vielleicht fühlte sie sich sogar noch weniger wohl als Bram. Wenn das überhaupt möglich war.

Alex unterhielt sich mit den anderen Männern, genoss das Essen und den Met, nur mit seiner Frau sprach er kaum ein Wort. Später merkte Nairna, dass Alex seiner Frau ab und zu einen heimlichen Blick zuwarf. Eine Mischung aus Verlangen und Enttäuschung lag darin, so als wüsste er nicht, wie er die Dinge zwischen ihnen wieder in Ordnung bringen sollte.

„Danke für das wundervolle Essen“, sagte Nairna zu Laren. Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte sie hinzu: „Das nächste Mal helfe ich dir. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil du das alles allein machen musstest.“

Autor

Michelle Willingham
Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde. Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...
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