Der Schatz von Blackhope Hall

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Lady Olivia und Stephen, Earl of St. Leger, haben kein Faible für Übersinnliches. Der Lord hält nur deshalb Seancen in Blackhope Hall ab, weil er und Olivia das Medium Madame Valenskaya als Betrügerin entlarven wollen. Tatsächlich stellt sich schnell heraus, dass es der angeblichen Geisterbeschwörerin nicht um Kontakt zu den Verstorbenen der St. Legers geht, sondern um den Schatz der Adelsfamilie! Als Oberhaupt der Familie weiß allein Stephen, wo das Gold verwahrt wird – bis er Olivia die Kostbarkeiten zeigt und etwas Beunruhigendes geschieht: Eine fremde Macht scheint Olivia von diesem Ort fernhalten zu wollen. In wirren Träumen hat sie Visionen von verratener Liebe und ungesühntem Mord. Und je tiefer sie und Stephen in die Geheimnisse um den Schatz eindringen, desto stärker fühlen sie das süße Begehren, das sie plötzlich zueinander treibt ...


  • Erscheinungstag 20.09.2022
  • Bandnummer 64
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511490
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

1876

Die Öllampe in der Mitte des langen Tisches war heruntergedreht. Gespenstisch beleuchtete sie die Gesichter der Menschen, die ringsum saßen, warf dunkle Schatten auf Augen und Haare, und ihr Licht tanzte über die scharfkantigen Linien der Brauen und Wangenknochen. Dadurch wirkten die Personen hager und geheimnisvoll. Alle Blicke richteten sich auf den großen Holzkasten, der in der Nähe des Tisches stand. Daraus drang kein einziger Laut.

Plötzlich erlosch die Lampe, und eine der Frauen rang nach Atem. Dunkelheit umhüllte die Gestalten, kalte Hände bebten, die Pulsschläge beschleunigten sich. Angespannt warteten sie. In der düsteren Stille fiel es ihnen leicht, sich vorzustellen, ein eisiger, geisterhafter Finger würde über eine Schulter streichen, oder sich halb entsetzt, halb erwartungsvoll auszumalen, aus dem schwarzen Abgrund des Todes könnte eine Stimme hallen.

Obwohl sich Olivia Moreland aus ganz anderen Gründen hier aufhielt, erschauerte sie unwillkürlich. Doch das lenkte sie nicht von ihrem Vorhaben ab. Langsam und sorgfältig nutzte sie gewisse Tricks, von den Leuten erlernt, denen sie das Handwerk legen wollte. Im Schutz der Finsternis lehnte sie sich zurück und entfernte sich von der Tischrunde.

Einige Sekunden lang zauderte sie, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann beugte sie sich vor. Allzu viel sah sie noch immer nicht, denn das einzige Licht im Raum war der schwache Schimmer, der unter der Tür vom Flur hereindrang. Dass sie aufstand und sich bewegte, durfte niemand merken. Wenn sie den Schrank des Mediums erreichte, musste sie alle Anwesenden überraschen. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Kasten. In ihrem Körper schien jeder Nerv zu vibrieren. Fast hatte sie ihr Ziel erreicht …

Eine Hand schnellte vor und umschloss ihren Arm. Schmerzhaft gruben sich die Finger in ihr Fleisch, schreiend zuckte sie zusammen.

„So, jetzt habe ich Sie ertappt!“ rief eine tiefe Männerstimme.

Rings um den Tisch schrien die Frauen ebenso wie Olivia. Polternd kippten Stühle um, ein hektisches Durcheinander entstand.

Die instinktive Furcht, die Olivia bei dem unerwarteten Angriff empfunden hatte, war beim Klang der sehr realen menschlichen Stimme verflogen.

„Lassen Sie mich los!“ fauchte sie und versuchte ihren Arm zu befreien.

„Erst wenn Sie Ihr Verhalten erklärt haben.“

Entschlossen verstärkte sie ihre Gegenwehr und zischte empört: „Hören Sie auf mit dem Unsinn! Sie verderben alles!“

„Ohne jeden Zweifel“, erwiderte der Mann. Nun klang sein Tonfall belustigt. „Wenn jemand ein doppeltes Spiel treibt und erwischt wird, ist das natürlich unangenehm.“

„Ein doppeltes Spiel? Wie kommen Sie darauf?“

Während dieses Wortwechsels erklang ein dumpfes Geräusch, von einem gemurmelten Fluch gefolgt. Ein Streichholz flammte auf. Wenig später entzündete jemand die Öllampe, die den Raum erhellte, und Olivia starrte in die kühlen grauen Augen ihres Widersachers.

Ein seltsamer Schrecken durchfuhr sie, beinahe ein Gefühl des Wiedererkennens – obwohl sie den Mann nie zuvor gesehen hatte. Sonst würde sie sich sicher an ihn erinnern.

Er saß am Tisch, den Stuhl etwas nach hinten geschoben. Um ihren Arm zu packen, hatte er sich zurückgelehnt und halb umgedreht.

Sie betrachtete seine breiten Schultern. Seine Muskelkräfte spürte sie deutlich genug.

Er besaß ein schmales Gesicht mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen – harte Züge, von der kalten Intensität seiner Augen noch betont. Nur die vollen Lippen würden die frostige Miene mildern. Aber in diesem Moment bildeten sie einen dünnen Strich. Das dichte, dunkle, fast schwarze Haar war unregelmäßig geschnitten, als hätte jemand ein Messer verwendet. Zu dieser unzivilisierten Frisur passte die Kleidung – aus edlen Stoffen, aber eindeutig nicht von einem Londoner Schneider genäht und auch nicht nach der neuesten Mode.

Auf den ersten Blick hätte Olivia den Mann für einen Ausländer gehalten. Doch die Stimme gehörte fraglos einem Mitglied der englischen Oberschicht.

In drückendem Schweigen beobachteten die anderen Anwesenden die seltsame Szene.

„Gar nichts muss ich Ihnen erklären!“ protestierte Olivia und suchte verzweifelt nach einem Grund zur Flucht. Beklommen zupfte sie an ihren Röcken, die irgendwie verrutscht waren. An einer Seite lugten unschicklich die Rüschen ihres Unterrocks hervor. Aus dem adretten Haarknoten hatte sich eine Locke gelöst und hing an ihrer Wange herab. Durch ihre äußere Erscheinung fühlte sie sich benachteiligt, und der unverwandte Blick der silbergrauen Augen verstärkte ihr Unbehagen. Aber sie würde sich von diesem Mann nicht einschüchtern lassen. Sie wusste, dass sie klein war und unscheinbar wirkte – ein kleiner brauner Zaunkönig, so schätzte sie sich ein, vor allem, wenn sie ihre Person mit attraktiven Verwandten verglich. Doch sie hatte gelernt, ihre Mängel durch ein selbstsicheres Auftreten wettzumachen.

Verächtlich musterte sie die Hand des Fremden auf ihrem Oberarm. „Ich fordere Sie auf, Ihr unverschämtes Verhalten sofort zu beenden.“

„Nun, ich finde, Sie sollten der Allgemeinheit erläutern, was Sie im Schilde führen“, entgegnete er. Immerhin lockerte er seinen Griff und tat ihr nicht mehr weh. „Warum sind Sie im Zimmer umhergeschlichen? Wollten Sie sich als Besucherin aus dem Jenseits präsentieren?“ fügte er ironisch hinzu.

„Natürlich nicht!“ Brennend stieg ihr das Blut in die Wangen, und sie spürte, dass sie von der ganzen Versammlung angestarrt wurde. „Wie können Sie es wagen?“

„Sir, das sind wohl kaum die Manieren eines Gentleman“, meldete sich ein korpulenter Mann mit üppigem Schnurrbart und langen, lockigen Koteletten zu Wort. Damit will er wohl von seiner Glatze ablenken, vermutete Olivia.

Ihr Peiniger gönnte ihm keinen Blick und ließ sie nicht aus den Augen. „Also? Was hatten Sie vor?“

Jetzt mischte sich ein anderer Gast ein. „Tut mir Leid, Miss, es ist seltsam – aber ich fürchte, ich erinnere mich nicht an Ihren Namen.“

Das tat sie unglücklicherweise auch nicht. Zumindest entsann sie sich nicht, unter welchem Namen sie sich den Leuten bei ihrer Ankunft vorgestellt hatte. Gewiss hatte sie nicht ihren richtigen angeben. Was das betraf, war ihr Äußeres, das sie für unscheinbar hielt, ein Segen. Denn es gestattete ihr, an den Sitzungen unerkannt teilzunehmen, solange sie einen falschen Namen benutzte. Welch ein Pech, dass sie über den Aufregungen der letzten Minuten vergessen hatte, wie sie an diesem Abend hieß …

„Comstock!“ platzte sie heraus. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Aber die Mienen rings um den Tisch drückten unverhohlene Skepsis aus, weil sie etwas zu lange gezögert hatte. Offensichtlich glaubte man ihr nicht.

„Sehr überzeugend …“, bemerkte der Mann sarkastisch, der ihren Arm immer noch umklammerte. „Warum weihen Sie uns nicht in Ihre Pläne ein, Miss Comstock? Wollten Sie sich ein Laken über den Kopf hängen? Oder einfach nur qualvoll stöhnen?“

„Was zum Teufel wollen Sie damit andeuten?“ Erbost sprang einer der Männer auf. „Glauben Sie etwa, ich würde in meinem Haus irgendwelche verdammten Winkelzüge dulden?“ Dann wandte er sich zerknirscht an die Frau an seiner Seite. „Nimm mir meine Ausdrucksweise nicht übel, Liebes. Auch die anderen Damen muss ich um Entschuldigung bitten. Vor lauter Zorn ließ ich mich hinreißen …“

„Was soll das alles, St. Leger?“ fragte der Mann ärgerlich, der neben Olivias Herausforderer saß. Dann ersuchte er den entrüsteten Gastgeber: „Verzeihen Sie, Colonel, es lag sicher nicht in Lord St. Legers Absicht, respektlos zu erscheinen.“

„Selbstverständlich nicht, Colonel“, bestätigte Lord St. Leger. „Wie ich annehme, wurden auch Sie hintergangen.“

„Hintergangen?“ Die Augen der Gastgeberin drohten aus den Höhlen zu quellen.

Aus dem Kasten drang ein Stöhnen, das dramatisch anschwoll, als niemand darauf achtete.

Bestürzt erhob sich die Frau des Colonels. „O Gott, Mrs. Terhune! Wie konnten wir Sie nur vergessen?“

Einer der Männer eilte zum Schrank des Mediums und öffnete die Tür. Dahinter saß die grauhaarige Mrs. Terhune auf einem Stuhl, an Händen und Füßen gefesselt, so wie sie vor mehreren Minuten eingeschlossen worden war. Der Gast und die Gemahlin des Colonels befreiten sie von den Stricken.

Zynisch beobachtete Olivia, wie mühelos sich die Fesseln entfernen ließen. Wahrscheinlich hatte das Medium sie selbst abgestreift und dann hastig wieder um Handgelenke und Fußknöchel geschlungen, als die lauten Stimmen erklungen waren.

„Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“ warf Olivia Seiner Lordschaft vor.

Gelassen zog St. Leger die Brauen hoch. „Was habe ich denn verbrochen?“

„Durch Ihre Schuld wurde die Sitzung gestört.“

Ein Lächeln veränderte seine Züge auf erstaunliche Weise, und Olivias Atem stockte. „Ja, zweifellos“, gab er zu. „Pardon, Miss Comstock, ich hätte Ihnen erlauben müssen, Ihr Possenspiel zu beenden, bevor ich Sie entlarvte.“

„Niemanden haben Sie entlarvt, Sie Dummkopf!“ fuhr sie ihn an, zu enttäuscht und wütend, um an ihre Umgangsformen zu denken. „Ich wollte beweisen …“

„Wer sind diese Leute?“ fragte das Medium mit ersterbender Stimme, die ihm sofort ungeteilte Aufmerksamkeit sicherte. „Ich fühle mich so – eigenartig. Vorhin war ich in tiefer Trance versunken, dann holte mich das wilde Geschrei in die Wirklichkeit zurück. Nun bin ich völlig erschöpft. Habe ich gesprochen? Sind die Geister erschienen?“

„Nein!“ stieß der Colonel hervor und warf Olivia und Lord St. Leger einen vernichtenden Blick zu. „Kein Besuch, kein Wort aus dem Jenseits. Nur diese beiden, die unsere Séance stören.“

„Stören?“ Ungläubig starrte St. Leger den Gastgeber an. „Ich habe diese Frau daran gehindert, Sie und uns alle hinters Licht zu führen. Und Sie beschuldigen mich, ich hätte diese kleine Farce gestört?“

Jetzt nahm das Gesicht des Colonels eine beängstigende feuerrote Farbe an. „Farce?“

„Heiliger Himmel!“ klagte der Mann an St. Legers Seite. „Bitte, Colonel, verzeihen Sie ihm. Lord St. Leger hat jahrelang in Amerika gelebt und bedauerlicherweise seine Manieren vergessen.“ Beschwörend schaute der Mann Seine Lordschaft an. „Sicher wollte er Sie nicht beleidigen.“

„Allerdings nicht“, stimmte St. Leger zu. „Colonel, ganz offensichtlich wurden Sie von diesem so genannten Medium und seiner Partnerin, ‚Miss Comstock‘, betrogen.“

„Nein, ich bin nicht die Partnerin dieser Frau!“ rief Olivia.

„Sir, und ich versichere Ihnen, diese Dame habe ich nie zuvor in meinem Leben gesehen“, verkündete Mrs. Terhune und schaute Olivia vorwurfsvoll an.

„Und warum ist sie dann während der Séance umhergeschlichen?“ fragte St. Leger.

„Keine Ahnung!“ entgegnete Mrs. Terhune in strengem Ton. „Miss, ich habe alle Anwesenden ausdrücklich gebeten, den Tisch nicht zu verlassen. Was solche Dinge betrifft, sind unserer Freunde im Jenseits sehr penibel.“

„Ja, zweifellos“, erwiderte Olivia trocken.

Plötzlich ergriff eine der Damen das Wort. „Moment mal, ich kenne Sie!“ rief sie. „Wenn mich nicht alles trügt, heißen Sie gar nicht Miss Comstock, und Sie sind jene Frau, die Medien verabscheut. Mein Bruder erzählte mir von einem Symposium, das er besucht hatte …“

„Großer Gott!“ explodierte der Colonel. „Kamen Sie beide absichtlich hierher, um unsere Séance zu sabotieren? Wie konnten Sie es wagen, mein Haus unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu betreten? Sir, ich hätte nicht übel Lust, Sie zu verprügeln!“

St. Leger ließ Olivias Arm los und stand auf. Angesichts seiner Körpergröße und der breiten Schultern mussten die Gäste die Worte des Colonels für eine leere Drohung halten. „Bemühen Sie sich nicht, Sir“, erwiderte er kühl. „Ich werde mich sofort verabschieden. Offensichtlich ziehen es alle Anwesenden vor, sich noch weiterhin hinters Licht führen zu lassen.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Als sich der Colonel zu Olivia wandte, hielt sie es für ratsam, St. Leger zu folgen. Sonst wäre sie womöglich hinausgeworfen worden.

Der Gastgeber eilte hinter den beiden her. Gebieterisch rief er nach seinen Dienstboten. Ohne eine Miene zu verziehen, übergab ihnen ein Lakai die Mäntel und Hüte. Dann öffnete er die Haustür, die ins Schloss fiel, sobald sie in die Nacht hinausgetreten waren.

Abrupt blieb St. Leger stehen, und Olivia stieß gegen seinen Rücken.

„Oh!“ hauchte sie.

Er drehte sich um, und sie starrte ihn ärgerlich an. Doch sie wusste, dass ihr Blick jede Wirkung verfehlte, denn sie musste ihren Hut festhalten und sich gleichzeitig ihren Umhang umlegen.

Während St. Leger ihren Kampf mit dem Cape beobachtete, das sich auf unerklärliche Weise von innen nach außen gekehrt hatte, lächelte er sekundenlang. Natürlich hatte er seinen Zylinder bereits aufgesetzt. Nun schlüpfte er mühelos in seinen leichten Mantel.

„Gestatten Sie …“ Er nahm ihr das Cape aus der Hand, schüttelte es aus und legte es um ihre Schultern. Sogar durch den Stoff hindurch jagte die Berührung seiner Fingerspitzen einen Schauer über Olivias Rücken.

Als er nach den Bändern des Umhangs griff, um sie zu verknoten, schob sie seine Hände weg. „Das kann ich selbst. Sie haben wirklich schon genug für mich getan.“

„Stimmt es, was die Frau behauptet hat? Sind Sie eine Gegnerin aller Medien?“

„Ich will nur Scharlatanen das Handwerk legen. Wenn mir jemand unwiderlegbar beweisen könnte, dass er Verbindung mit einer anderen Welt aufgenommen hat, würde ich ihm glauben. Aber bisher habe ich in ganz London niemanden gefunden, der dazu fähig wäre. Deshalb muss ich all die fragwürdigen Medien des Betrugs anklagen.“

„Also wollten Sie Mrs. Terhune heute Abend nicht helfen?“

„Natürlich nicht!“

„Und warum sind Sie im Dunkeln umhergeschlichen?“

„Ich bin nicht ‚geschlichen‘“, verbesserte sie ihn, das Kinn hoch erhoben, „sondern langsam und vorsichtig“ zu diesem Schrank gegangen. Wäre es mir gelungen, ihn zu öffnen, hätten wir Mrs. Terhune ohne Fesseln gesehen, diese alberne Daguerreotypie in der Hand, die sie bei solchen Séancen emporhebt, um einen Geist vorzutäuschen. „Ich wollte ein Schwefelhölzchen anzünden …“

Seufzend erinnerte sie sich an die verpasste Chance, und seine Lordschaft entschuldigte sich verlegen: „Tut mir Leid, ich dachte, ich würde zwei Verschwörerinnen auf frischer Tat ertappen.“

„Nun ja …“ Sie hob einen Arm, und ein Wagen fuhr vor das Haus.

Als sie die Stufen hinabstieg, folgte ihr St. Leger. „Verraten Sie mir doch – machen Sie so etwas öfter?“

„Meinen Sie, es würde zu meinem Alltag gehören, Séancen zu besuchen und falsche Medien an den Pranger zu stellen? Leider nicht. Sobald sie mich kennen, verhindern sie, dass man mich einlädt – mit der Begründung, meine Skepsis würde die Geister vertreiben. Nur wenige Leute engagieren mich“, gab sie freimütig zu. „Wahrscheinlich gibt man sich lieber Illusionen hin und lässt sich deshalb hinters Licht führen, wie Sie vorhin betont haben, Sir.“

„Werden Sie tatsächlich manchmal engagiert?“ fragte er verblüfft. „Wie muss ich mir das vorstellen?“

„Ich besitze eine Firma“, erklärte sie und nahm eine der Visitenkarten aus ihrem Retikül, auf die sie sehr stolz war. Niemals versäumte sie, diese Karten zu verteilen, obwohl sie normalerweise eher Missbilligung als Bewunderung hervorriefen.

St. Leger griff danach. „Miss O. Qu. Moreland, Erforscherin psychischer Phänomene“, las er in verschnörkelter schwarzer Schrift.

Erstaunt wandte er sich wieder an Olivia. In seinem Gehirn schwirrten tausend Fragen herum. Die erste, die er aussprach, lautete: „Qu.?“

„Äh – ein Vorname …“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem Strich, und sie wollte ihm die Karte wieder entreißen. Aber er steckte sie hastig ein.

„Hat Ihre Familie nichts gegen diese Tätigkeit einzuwenden?“

„Nein, sie ist sind sehr aufgeschlossen“, entgegnete sie, ging zum Wagen und bedeutete dem Fahrer, auf dem Kutschbock sitzen zu bleiben. St. Leger wollte ihr die Tür öffnen. Aber sie hatte den Griff bereits umfasst. „Meine Verwandten sind nicht so altmodisch wie gewisse Leute, die es einer Frau verübeln, wenn sie ihren Verstand benutzt und eine Karriere anstrebt.“

„Also haben sie nichts an Ihrer Geisterjagd auszusetzen?“ fragte er sanft.

Olivias kniff die Augen leicht zusammen, und sie wollte antworten. Doch da fiel ihr auf, wie er die Wagentür mit dem kunstvoll gestalteten Duke-Wappen ihres Vaters inspizierte. Dann zog er die Visitenkarte wieder hervor.

„O mein Gott!“ rief er, „gehören Sie etwa zu diesen ‚verrückten Morelands‘?“

Blitzschnell riss sie die Tür auf, stieß seine hilfreich ausgestreckte Hand beiseite und sprang in die Kutsche. Nachdem sie in die Polsterung gesunken war, beugte sie sich vor. „Ja, zu diesen verrückten Morelands gehöre ich ganz eindeutig. Vermutlich bin ich sogar die Verrückteste. An Ihrer Stelle würde ich die Karte verbrennen, Sir, sonst könnte mein Wahnsinn auf Sie abfärben.“

„Nein, warten Sie, es …“

Olivia schlug ihm die Tür vor der Nase zu, klopfte gegen das Wagendach, und der Fahrer spornte das Gespann an. Klappernde Hufschläge übertönten die nächsten Worte Seiner Lordschaft.

„… tut mir Leid.“ Resignierend beendete Stephen St. Leger den Satz. Dann schaute er hinab, um seine polierten Lederstiefel und die elegante, von den Wagenrädern mit Schlamm bespritzte Seidenhose zu betrachten.

Zweifellos war das rücksichtslose Verhalten des Kutschers beabsichtigt gewesen. Doch das durfte er dem Mann nicht verübeln. Warum hatte er seine Worte so unbedacht gewählt? Sein Vetter Capshaw hatte Recht, er war zu lange in den Vereinigten Staaten geblieben – genau genommen, viel zu lange in der einsamen Wildnis der Rocky Mountains. Jetzt fiel es ihm schwer, sich wieder in der Londoner Oberschicht einzuleben. Eigentlich war er an gar keine Gesellschaft gewöhnt.

Jene abfälligen Äußerungen über die Familie der jungen Dame hatte er nicht böse gemeint. Er war nur erschrocken, weil das Mädchen, das er für die Komplizin eines betrügerischen Mediums gehalten hatte, von einem steinreichen Duke abstammte. Und so hatte er einfach wiederholt, was ihm in London ständig zu Ohren gekommen war. Man sprach dort stets von den „verrückten Morelands“. Und sie mussten tatsächlich nicht ganz richtig im Kopf sein, wenn sie der Lady erlaubten, allein durch das nächtliche London zu fahren, Séancen zu besuchen und Scharlatane herauszufordern. Welch ein riskantes Unterfangen …

Dass sie einen Beruf ausübte, überraschte ihn nicht so sehr. In den Vereinigten Staaten hatte er genug Ehefrauen und Töchter kennen gelernt, die in den Geschäften ihrer Familien mitarbeiteten – oder Witwen, die ihre eigenen Geschäfte betrieben. Aber eine unverheiratete junge Lady in England anzutreffen, die eine Firma besaß und dazu noch einer der vornehmsten Familien des Königreichs angehörte, das verwirrte ihn. Man sollte glauben, der Duke würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seine Tochter an solchen Aktivitäten zu hindern.

Doch das tat er nicht, und deshalb waren Stephen jene beleidigenden Worte herausgerutscht. Natürlich durfte man die Morelands nicht wirklich verrückt nennen. Aber man hielt sie für etwas exzentrisch. Zum Beispiel war der alte Duke, Miss Morelands Großvater, berühmt für seine verschiedenen bizarren, intensiven „Heilkuren“ gewesen. Sie hatten von Schlammbädern bis zu übel riechenden stärkenden Getränken gereicht. Oder er hatte sich stundenlang in feuchte Tücher gehüllt. Deshalb sei er, so wurde behauptet, in verhältnismäßig jungen Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Er hatte zahlreiche Reisen durch ganz England und auf den Kontinent unternommen, um sich mit Quacksalbern zu beraten und die neuesten medizinischen Errungenschaften zu erforschen.

Angeblich hatte seine Gemahlin täglich mit ihren Ahnen gesprochen. Und man munkelte, sein jüngerer Bruder, der Onkel des gegenwärtigen Duke, würde begeistert mit seinen Zinnsoldaten spielen.

Der gegenwärtige Duke, Miss Morelands Vater, schwärmte für Altertümer, sammelte antike Statuen und Tonscherben. Und er war mit einer Frau verheiratet, die ungewöhnliche Ansichten über soziale Reformen, Ehe und Kindererziehung vertrat. Noch schlimmer fand die Londoner Hautevolee die Herkunft der Duchess, die dem einfachen Landadel entstammte.

Die beiden hatten mehrere Kinder, die meisten jünger als Stephen. Allzu viel wusste er nicht über sie, da er England vor deren gesellschaftlichen Debüts verlassen hatte. Aber nach allem, was er von seiner Mutter und Freunden erfahren hatte, mussten sie ebenfalls ein ziemlich merkwürdiges Verhalten an den Tag legen.

An diesem Eindruck änderte seine Begegnung mit Miss Moreland nichts. Sie benahm sich tatsächlich sonderbar. Durch dunkle Räume zu schleichen, um betrügerische Medien bloßzustellen, sogar auf beruflicher Basis …

Nachdenklich strich Stephen mit seinem Daumen über die eingravierten Buchstaben auf der Visitenkarte. Erforscherin psychischer Phänomene … Unwillkürlich lächelte er bei der Erinnerung an ihre kecke Pose. Die Hände in die Hüften gestemmt, hatte sie ihn mit großen braunen Augen angestarrt, die eigentlich sanft wirken und jeden Mann dahinschmelzen lassen müssten. Stattdessen hatten sie wilde Funken versprüht. Obwohl sie klein und zierlich war, erweckte sie den Anschein, sie würde es mit jedem Gegner aufnehmen.

Er erinnerte sich, welch seltsame Emotionen in ihm aufgestiegen waren, als er sie im Licht der Öllampe zum ersten Mal gesehen hatte. Fest überzeugt, sie würde dem Medium helfen, ein argloses Publikum zu täuschen, hatte er sich plötzlich zu ihr hingezogen gefühlt. Das irritierte und überraschte ihn. War es Verlangen gewesen? Nein, noch viel mehr – etwas, das er nie zuvor empfunden hatte.

Er runzelte die Stirn und ging davon. In diesem Moment eilte der Mann, der bei der Séance neben ihm gesessen hatte, die Eingangsstufen herab. „St. Leger!“

Erstaunt drehte sich Stephen um. „Capshaw – ich dachte, du würdest hier bleiben.“

„Nach der Szene, die du heraufbeschworen hast, wäre ich wohl kaum willkommen gewesen.“ Capshaw schnitt eine Grimasse. „Immerhin tat ich mein Bestes, um Colonel Franklin zu beruhigen. Ich versicherte ihm, du seiest mein Vetter und ein Gentleman und du würdest keine skurrilen Lügen über ihn verbreiten.“

„Um diesen dünkelhaften Kerl kümmere ich mich nicht“, erwiderte Stephen verächtlich.

„Was hattest du eigentlich vor?“ fragte Capshaw neugierig. „Bist du hierher gekommen, um das Medium bloßzustellen? Ich dachte, solche Amüsements würden dir missfallen.“

„Allerdings. Ich hatte gar nichts geplant. Aber dann hörte ich leise Geräusche in der Finsternis und konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Scharlatan auf frischer Tat zu ertappen.“ Stephen zuckte die Achseln. „Warum ich die Séance besuchte, weiß ich nicht genau. Vielleicht wollte ich einfach nur sehen, was da passiert, und herausfinden, warum sich ansonsten vernünftige Leute für so etwas interessieren.“

„Viele Menschen glauben, es sei möglich, Verbindung mit dem Jenseits aufzunehmen. Neulich habe ich ein Medium beobachtet, das verblüffende Fähigkeiten besaß.“ Während sie dahinschlenderten, warf Capshaw seinem Freund und Vetter einen kurzen Blick zu. „Hältst du’s für denkbar, dass Verstorbene mit uns sprechen?“

„Höchst unwahrscheinlich. Sonst würden sie uns wichtigere Dinge erzählen als den Unsinn, den die Medien erfinden. Und warum klopfen sie auf diese oder jene Gegenstände? Man sollte meinen, sie wüssten etwas Besseres mit ihrer Zeit anzufangen.“

„Typisch für dich, solche Kommentare abzugeben“, erwiderte Capshaw belustigt.

„Indem sie die Trauer der Hinterbliebenen skrupellos ausnutzen, bereichern sie sich.“

Dieser Behauptung folgte eine kurze Pause. Wie Capshaw zu Ohren gekommen war, hatte Lady St. Leger, Stephens Mutter, die Séancen eines populären russischen Mediums besucht, und der spürbare Zorn seines Freundes bestätigte diesen Verdacht. Vor einem knappen Jahr war ihr älterer Sohn gestorben. Unter diesem Verlust litt sie immer noch.

„Manchmal“, begann Capshaw vorsichtig, „kann der Glaube an Kontakte mit dem Jenseits den Schmerz lindern, den der Tod eines geliebten Menschen bewirkt.“

„Vor allem hilft dieser Hokuspokus den Medien, Geld zu scheffeln. Zudem erinnern die Séancen die Trauernden ständig an ihren Kummer und hindern sie daran, zu einem normalen Leben zurückzufinden.“ Stephen blieb stehen und wandte sich zu seinem Vetter. „Bei meiner Rückkehr nahm ich an, Mutter wäre nicht mehr so verzweifelt wie damals, als ich zum ersten Mal nach dem Tod meines Bruders nach Hause kam. Sie beschloss sogar, mit Belinda nach London zu reisen und sie in die Gesellschaft einzuführen. Dann geriet sie in die Fänge dieser Valenskaya, und jetzt scheint sie stärker zu trauern denn je. Ich redete mir ein, die Séancen würden ihr helfen, ganz egal, ob sie seriös sind oder nicht. Doch das bezweifle ich, seit Belinda mir schrieb, Mutter habe dem Medium ihren Smaragdring geschenkt, um sich für den ‚wertvollen‘ Beistand zu bedanken … Diesen Ring hatte ihr Vater verehrt! Bisher sah ich ihn stets an ihrer Hand. Diese Frau übt offensichtlich eine große Macht über sie aus. Deshalb reiste ich nach London. Mutters Verhalten hat mich nicht von meiner Sorge befreit. Ständig erzählt sie, ebenso wie Belinda, was die Russin sagt. Alles blanker Mumpitz! Aber die beiden hängen ergeben an den Lippen der Valenskaya und scheinen keinerlei Zweifel an deren Seriosität zu hegen.“

Mitfühlend schaute Capshaw ihn an, doch er fand keine tröstlichen Worte.

„Könnte ich bloß beweisen, dass die Russin eine Betrügerin ist!“ fuhr Stephen fort.

Ihm fiel Miss Morelands Visitenkarte ein, doch er verwarf den Gedanken. Ein Mann durfte eine Frau nicht bitten, seine Probleme zu lösen. Außerdem wollte er seine Mutter nicht in eine peinliche Situation bringen, und die junge Dame war sicher genauso eigenartig wie ihre Familie.

Eine Zeit lang gingen sie schweigend weiter, dann fragte Stephen in beiläufigem Ton: „Was weißt du über die Morelands?“

„Meinst du Broughtons Brut? Die ‚verrückten Morelands‘?“

„Dieselben.“

Capshaw zuckte mit den Schultern. „Persönlich kenne ich keinen Einzigen, obwohl der Älteste zur gleichen Zeit wie ich die Schule in Eton besuchte. Die haben alle komische Namen. Griechische oder römische. Broughton war schon immer ganz versessen aufs Altertum.“

„Ja, daran erinnere ich mich.“

„Der Junge, der mit mir in Eton war, heckte dauernd haarsträubende Streiche aus. Ich hatte keine Lust, mich mit so einem anzufreunden. Mir genügte es schon, von dem Unfug zu hören, den er trieb. Theo – so nannten sie ihn. Sein richtiger Name ist etwas länger, Theodosius oder so ähnlich. Jetzt unternimmt er Forschungsreisen, paddelt den Amazonas hinauf oder wandert durch Arabien.“

„Was sicher noch merkwürdiger ist als ein ausgedehnter Aufenthalt in den Vereinigten Staaten.“

Capshaw grinste gequält. „Nun ja, ich kann mir gut vorstellen, dass du dich mit diesem Burschen gut verstehen würdest. Wären wir beide keine Vettern, hätten wir wohl kaum Freundschaft geschlossen. Theo war ein paar Jahre nach dir in Eton. Auf diese Schule gingen noch andere, jüngere Broughtons. Die Mädchen sind lauter Blaustrümpfe. In der Gesellschaft lassen sie sich niemals blicken, von der Göttin abgesehen.“

„Von wem?“

„So nannte sie ein poetisch veranlagter Bewunderer bei ihrem Debüt vor einigen Jahren. Und der Name blieb an ihr hängen. Zweifellos passt er zu Lady Kyria Moreland. Hoch gewachsen, stattlich – eine hinreißende Schönheit … An jedem Finger hatte sie zehn Verehrer, und sie bekommt nach wie vor zahlreiche Heiratsanträge, obwohl ihr Debüt schon acht Jahre zurückliegt.“

„Also ist sie immer noch ledig?“ fragte St. Leger überrascht.

„Ja. Die Frauen meinen, sie wäre die Verrückteste in dieser Familie. Eine Duchess hätte sie werden können, eine Countess. Sogar ein Fürst hielt um ihre Hand an, natürlich ein Ausländer. Deshalb ist’s verständlich, dass sie ihn abwies. Doch sie lehnte auch alle anderen Anträge ab. Sie sagt, das Leben, das sie jetzt führt, würde ihr gefallen und sie wolle niemals heiraten.“

„Dann ist sie wirklich eine außergewöhnliche Lady.“

„Ach ja, und eine andere Tochter brannte vor einigen Jahren ein Nebengebäude auf Broughton Park nieder und erregte gewaltiges Aufsehen.“

„Hat sie’s aus einem bestimmten Grund getan?“

„Keine Ahnung. Damals hörte ich’s im Club. Broughton war außer sich vor Zorn, weil das Feuer direkt neben einem Schuppen ausbrach, in dem er seine alten Tonscherben verwahrte. Und es ist nicht das erste Mal gewesen, dass dieses Mädchen etwas angezündet hat.“

„Faszinierend …“ Stephen fragte sich, ob es sich bei der Pyrotechnikerin um seine Medienjägerin handelte.

„Warum interessierst du dich so für die Morelands …? Moment mal! Ist dein vermeintlicher Geist vielleicht eine Broughton-Tochter?“

„Sieht so aus.“

„Heiliger Himmel!“ rief Capshaw. „Nun, genau genommen wundert’s mich nicht.“

„Trotzdem ist sie nicht übel – sogar irgendwie reizvoll.“

„Reizvoll?“

„Ja, auf gewisse Art.“

„Hm.“

„Schau mich nicht so an! Ich habe nicht das geringste Interesse an Miss Moreland. Glaub mir, eine Frau ist das Letzte, was ich suche. Von einer so extravaganten will ich erst recht nichts wissen. Das Landgut und meine Mutter, in den Klauen eines weiblichen Scharlatans, bereiten mir schon genug Sorgen.“

Bald danach trennten sie sich. Capshaw winkte eine Droschke heran, um heimzufahren, und St. Leger ging zum nahe gelegenen Wohnsitz seiner Familie. Vor etwa hundert Jahren war das schöne, schmale, hohe Haus im georgianischen Stil von einem Ahnherrn erbaut worden. Eine Weile blieb St. Leger am Fuß der Treppe stehen, die zu dem imposanten Portal hinaufführte. Mit diesem Gebäude verbanden sich seine wunderbarsten und bittersten Erinnerungen, denn hier hatte er als junger Mann gelebt und sich verliebt – und seine große Liebe später verloren.

Entschlossen verdrängte er die trüben Gedanken, stieg die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Ein Lakai eilte herbei, um ihm den Mantel und den Hut abzunehmen. „Mylord, hoffentlich hatten Sie einen angenehmen Abend.“

„So erfolgreich, wie ich’s wünschen würde, war er leider nicht.“

„Sie finden Lady St. Leger im Salon.“

„Sind die Damen nicht ausgegangen?“

„Doch, aber vor ein paar Minuten kehrten Ihre Ladyschaft, Miss Belinda und Lady Pamela zurück. Ihre Ladyschaft trug mir auf, sie würde Sie gern sehen, falls Sie früher nach Hause kommen sollten, Mylord.“

„Ja, natürlich.“ St. Leger durchquerte die Halle und betrat den eleganten blau-weißen Salon. Nachdem Roderick den Adelstitel geerbt hatte, war der Raum von seiner Frau Pamela neu gestaltet worden, ebenso wie das restliche Haus. Stephen bevorzugte die wärmeren, dunkleren Farben, die dem Zimmer in alten Zeiten eine so gemütliche Atmosphäre verliehen hatten.

Seine Mutter spielte Klavier, eine Suite in gemäßigtem Rhythmus. An ihrer Seite saß seine jüngere Schwester Belinda und blätterte die Noten um. Zu seinem Leidwesen entdeckte er auch Pamela, die sich sichtlich gelangweilt auf einem hellblauen Sofa rekelte. Bei seiner Ankunft änderte sich ihre Miene, und sie schenkte ihm jenes sanfte, mysteriöse Lächeln, für das sie berühmt war – ein Lächeln, das einen Reichtum an geheimen Freuden versprach.

„Was für eine angenehme Überraschung, Stephen“, gurrte sie. „Mit einer einladenden Geste bedeutete sie ihm, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen.“

„Guten Abend, Pamela.“ Er nickte ihr kurz zu, dann ging er zu seiner Mutter und küsste ihre Wange. „So früh bist du schon daheim?“

Strahlend lächelte sie ihn an. Wie üblich trug sie ein schwarzes Trauerkleid. Aber diesmal funkelten Diamanten an ihren Ohren. In weichen Wellen umrahmte das weiße Haar ihr fein gezeichnetes, trotz ihrer Jahre und allen Kummers immer noch schönes Gesicht. „Heute fanden keine bedeutsamen Partys statt. Die Saison ist so gut wie vorbei. Und deine Schwester war müde. Also haben wir nur Freunde besucht.“

Kein bisschen müde sprang Belinda auf, um ihren Bruder zu begrüßen. So wie er besaß sie dunkles Haar. Kunstvoll am Oberkopf festgesteckt, bildeten die Locken einen üppigen Kranz. Auch sie hatte graue Augen, aber sie wirkten sanfter als der Silberglanz in seinem Blick. Sie war ein hübsches, intelligentes, wissbegieriges Mädchen, das gern lachte. „O Stephen!“ rief sie und umarmte ihn. „Reitest du morgen mit mir in den Park? Das hast du mir heute beim Frühstück versprochen. Ohne Eskorte lässt mich Mutter nicht aus dem Haus.“ Seufzend schnitt sie eine Grimasse, die Ärger und zugleich innige Liebe ausdrückte.

„Morgen früh?“

„Natürlich. Um diese Zeit reitet jeder aus, der auf sich hält.“

„Was vor allem für den Honorable Damian Hargrove gilt, nicht wahr?“ fragte Pamela gedehnt und amüsiert.

Belinda rümpfte die Nase. „Keineswegs! Mr. Hargrove ist nur ein Freund.“ Flehend schaute sie zu ihrem Bruder auf. „Bitte, sag Ja!“

„Also gut, wenn du rechtzeitig aus den Federn kommst.“

„Selbstverständlich!“ Allein schon der Gedanke, sie könnte zu spät aufstehen, schien sie zu beleidigen.

Lady Eleanor St. Leger erhob sich vom Klavier, ergriff die Hand ihres Sohnes und führte ihn zu dem Sofa gegenüber von Pamelas kleinem Diwan. Nachdem sie sich gesetzt hatten, hielt sie seine Finger immer noch fest, und er erwiderte ihr Lächeln.

„Wen hast du heute besucht?“ erkundigte er sich in möglichst neutralem Ton, um seinen Verdacht zu verhehlen.

„Madame Valenskaya – und ihre Tochter und Mr. Babington.“ Im Haus dieses Gentleman wohnten die Russin und ihre Tochter während ihres Aufenthalts in London, und dort fanden auch die Séancen statt. „So ein großartiger Abend!“

Angesichts ihrer Begeisterung überlegte er, ob er Capshaw Recht geben musste. Vielleicht half es seiner Mutter, an Kontakte mit dem Jenseits zu glauben. Nun, wenn dieser Unsinn ihr Herz erleichterte … Seit dem Verlust ihres älteren Sohnes war sie in tiefer Trauer versunken. Stephen hatte einige Zeit gebraucht, um in Amerika seine Angelegenheiten zu regeln. Deshalb war er erst vier Monate nach Rodericks Tod in die Heimat zurückgekehrt, wo ihn sein Erbe erwartete. Da war seine Mutter immer noch völlig verzweifelt gewesen. Im Lauf der Monate hatte er oft gewünscht, er könnte ihren Seelenschmerz lindern. Nun, wenn das dem russischen Medium gelang, wollte er nichts dagegen unternehmen. In ein paar Tagen würde die Familie St. Leger ohnehin ihren Landsitz aufsuchen – und Madame Valenskaya in London zurückbleiben. Hoffentlich würde seine Mutter diesen Unfug in der nächsten Saison überwunden haben.

„Heute ist etwas Wundervolles geschehen“, fuhr Lady St. Leger aufgeregt fort. „Madame hat mit Roddy gesprochen.“

„Was?“ Stephen wandte sich zu Pamela, Rodericks Witwe, die zustimmend nickte.

„Der Geist nannte sich Roddy.“

„Ja, er stellte sich unter seinem Spitznamen vor!“ jubelte Lady St. Leger. „Er sagte nicht, er würde St. Leger oder Roderick heißen. Das hätte jeder wissen können. Aber diesen Kosenamen gab ich ihm, als er ein Baby war. Also muss er’s wirklich gewesen sein.“

„Sicher hast du diesen Namen manchmal erwähnt, wenn du bei der Russin warst.“ Diesen Einwand konnte sich Stephen nicht verkneifen.

„Warum bist du so misstrauisch?“ beschwerte sich seine Mutter. „Welche Rolle spielt es denn, ob Madame den Kosenamen kannte oder nicht? Es war der Geist, der ihn aussprach.“

„Gewiss.“ Jeder Versuch, vernünftig mit ihr zu reden, war sinnlos, weil sie das Medium geradezu abgöttisch verehrte.

„Zum ersten Mal unterhielt er sich mit uns. Natürlich hatte uns Häuptling Laufender Hirsch schon vorher versichert, es würde Roderick gut gehen …“ In Lady St. Legers Augen schimmerten Freudentränen. „Kannst du dir vorstellen, wie glücklich ich war, Stephen?“

„O ja.“

„Aber ich war auch traurig, weil wir London bald verlassen werden. Gerade jetzt, nachdem Roddy endlich erschienen ist!“

„Wie bedauerlich“, bemerkte Stephen trocken.

„Das habe ich Madame erklärt, und sie stimmte mir zu. So wie nach jeder Erscheinung fühlte sie sich völlig erschöpft. Aber sie ist so freundlich. Nach Roddys Besuch blieb sie noch lange bei uns, und wir führten ein sehr interessantes Gespräch. Sie ist überzeugt, dass Roderick wieder mit uns reden will, und sie sagt, sie würde seinen Eifer spüren. Wenn die Geister erst seit kurzer Zeit auf der anderen Seite weilen, fällt es ihnen schwer, Verbindung mit uns aufzunehmen. Trotzdem weiß sie, dass Roddy bald wieder zu uns kommen wird.“

Zweifellos verliert Madame Valenskaya nur ungern eine so großzügige Klientin, dachte Stephen. Das musste der Grund sein, warum Roddys „Geist“ plötzlich aufgetaucht war. Doch das erwähnte er nicht. Seine Mutter würde ihm nicht glauben. Mit seiner Skepsis würde er sie nur ärgern und kränken.

„Sie schlug uns vor, in London zu bleiben“, fügte Lady St. Leger hinzu. „Natürlich erwiderte ich, das sei unmöglich, weil du eigens hierher gekommen bist, um uns nach Blackhope zu bringen. Ich betonte auch, du dürftest dich nicht allzu lange von unserem Landsitz fern halten. Wie könnte ich dich bitten, in London Däumchen zu drehen, während es auf Blackhope so viel zu tun gibt? Außerdem ist die Saison beendet. Wie auch immer, die Séance heute Abend war ein fabelhaftes Erlebnis! Und unsere Abreise bedeutet keineswegs, dass ich mich von Madame Valenskaya trennen muss.“ Freudestrahlend fuhr sie fort: „Sie wird uns nach Blackhope Hall folgen.“

Entsetzt starrte Stephen seine Mutter an. „Was? Du hast sie eingeladen?“

„Allerdings, ihre Tochter und Mr. Babington natürlich auch. Die beiden konnte ich wohl kaum ausschließen, nachdem Mr. Babington so freundlich war und uns sein Haus für die Séancen zur Verfügung gestellt hat. Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht, die gütigen Menschen aufs Land mitzunehmen?“

Ein Muskel zuckte in Stephens Kinn. Vergeblich suchte er nach Worten und fragte sich, wer auf diese Idee gekommen war – seine Mutter oder Madame Valenskaya.

„In Blackhope kann Madame genauso gut mit den Geistern reden wie hier in London.“ Lady Eleanor lächelte verträumt. „Als ich ihr das Gebäude beschrieb, war sie restlos begeistert. Sie meint, ein so altes Haus, in dem die Vergangenheit weiterlebt, würden die Geister besonders gern besuchen. Das hatte ich nie erwogen. Aber es leuchtet mir ein.“ Nach einer kurzen Pause schaute sie Stephen an. „Gewiss, bevor ich die Einladung aussprach, hätte ich dich um Erlaubnis bitten müssen. Immerhin ist es jetzt dein Domizil. Aber ich hoffte, du würdest mir die Freude nicht versagen.“

„Es ist auch dein Haus. Niemals würde ich dir verbieten, Gäste aufzunehmen.“

Darin lag das Problem. Obwohl er der neue Herr von Blackhope war, wollte er seiner Mutter gestatten, in diesem Haus – ihrem rechtmäßigen Heim seit ihrer Hochzeit – nach Belieben zu schalten und zu walten.

Er wandte sich an Pamela, die ihn lächelnd beobachtete. Manchmal überlegte er, ob Pamela ihre Schwiegermutter zu diesen albernen Aktivitäten ermutigte, nur um seinen Zorn zu erregen. Ebenso wie seine Mutter schwärmte sie von der Russin und den „Geistern“. Trotzdem bezweifelte er, dass sie wirklich an solche Dinge glaubte. Sie ließ sich von ihrem Verstand leiten, nicht von ihrem Herzen. Das hatte sie mit ihrem Entschluss bewiesen, Roderick zu heiraten. Vielleicht hatte sie ihn auf ihre Art gemocht, aber wohl kaum leidenschaftlich geliebt – jedenfalls nicht genug, um die gleiche schmerzliche Trauer zu empfinden wie die ältere Lady. Viel schmerzlicher als der Tod ihres Gemahls musste sie die Erkenntnis treffen, dass sie nur einen Witwenanteil erbte. Und da Stephen ihr kaltes, berechnendes Wesen kannte, vermutete er, sie würde keinen allzu großen Wert auf Gespräche mit Roddys „Geist“ legen.

Gerührt tätschelte Lady St. Leger die Hand ihres Sohnes. „Das weiß ich. Du bist so ein lieber Junge, genau wie Roddy. Deshalb war ich mir sicher, der Besuch würde dich nicht stören. Meistens sitzt du ohnehin in deinem Arbeitszimmer, oder du reitest über die Ländereien. Also wirst du die Anwesenheit meiner Gäste kaum bemerken.“

Hoffentlich, dachte er und fragte in möglichst gleichmütigem Ton: „Wie lange werden sie bleiben?“

„Oh, wir haben keinen bestimmten Zeitraum vereinbart. Natürlich weiß ich nicht, wie lange es dauern wird, bis Roddy in Blackhope erscheint. Und drei Gäste sollten die Haushaltskasse nicht allzu schwer belasten.“

„Selbstverständlich nicht.“ Was konnte er sonst noch sagen, das seine Mutter nicht beleidigen würde? Wie einfach war das Leben gewesen, als er keine anderen Gedanken gekannt hatte, als Silbererz aufzuspüren und zu fördern … Er räusperte sich. „Nun, dann … werden wir bald abreisen.“

„Je früher, desto besser, weil ich in Blackhope alles für die Ankunft meiner Freunde vorbereiten muss.“

Während die überglückliche Lady Pläne schmiedete, stand Stephen auf, um in sein Zimmer zu gehen. Am Fuß der Treppe hörte er leichtfüßige Schritte hinter sich.

Dann erklang Pamelas Stimme. „Stephen!“

Widerstrebend drehte er sich um. „Was willst du?“ fragte er höflich, aber kühl.

Die Jahre hatten sie kaum verändert. Mit ihrem goldblonden Haar, den blauen Augen und den perfekten Zügen war sie immer noch schön. Wie üblich schlenderte sie langsam auf ihn zu, in der gewohnten Überzeugung, jeder Mann würde bereitwillig auf sie warten. So ging sie durchs Leben, gelassen und selbstbewusst, ohne auch nur sekundenlang daran zu zweifeln, dass sie ihren Willen durchsetzen würde. Zu einer solchen Skepsis bestand auch gar kein Grund. Nur ganz selten war sie auf Hindernisse gestoßen.

„Musst du so schnell davonlaufen?“ flötete sie. „Ich möchte mit dir reden.“

„Worüber? Über den Unsinn, zu dem du meine Mutter ermunterst?“

„Unsinn?“ wiederholte sie und zog die Brauen hoch. „Könnte Lady Eleanor dich jetzt hören, wäre sie schockiert.“

„Was du nicht bist, wie ich sehe. Warum zum Teufel besuchst du die Séancen?“

„Was du davon hältst, weiß ich ebenso gut wie deine Mutter – wenn sie’s auch nicht zugibt. Und deine Ansichten ärgern mich kein bisschen, wenn ich dir auch nicht zustimme.“

Wortlos wandte er sich ab, um die Stufen hinaufzusteigen.

„Warum fliehst du vor mir?“ murmelte sie. Notgedrungen drehte er sich wieder um. In ihren Augen erschien ein viel sagendes Lächeln. „Früher warst du glücklich in meiner Nähe.“

„Vor sehr langer Zeit.“

Pamela beugte sich vor und berührte seine Brust. Mit ernstem Blick schaute sie zu ihm auf. „Ich hasse diese Spannung zwischen uns.“

„Die musst du dir selbst zuschreiben.“ Entschlossen schob er ihre Hand beiseite. „Du hast damals deine Wahl getroffen. Nun bist du die Frau meines Bruders.“

„Die Witwe deines Bruders“, verbesserte sie ihn leise.

„Für mich ist das ein und dasselbe.“ Ohne einen Blick zurückzuwerfen, eilte er die Treppe hinauf.

In dieser Nacht dauerte es lange, bis er einschlief.

Obwohl er einen doppelten Brandy getrunken hatte, während er in seinem Zimmer umhergewandert war. Zu viele Gedanken an betrügerische Medien und skrupellose Machenschaften schwirrten ihm durch den Kopf – vermischt mit Erinnerungen an eine zierliche kleine Frau, eine wohlgeformte Figur und leuchtende braune Augen, deren Blick ins Herz eines Mannes dringen konnte.

Rastlos warf er sich im Bett hin und her, öffnete die Augen und schloss sie wieder, bevor er endlich ins schwarze Nichts versank …

Die Luft roch nach Rauch und Blut. Von den Schlossmauern hallte klirrender Stahl wider, vermischt mit dem Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden.

Blinzelnd spähte er in den beißenden Qualm, Schweiß rann in seine Augen und tränkte das Hemd an seinem Rücken. In letzter Sekunde hatte er das Kettenhemd über seinen Körper gestreift und das Schwert ergriffen.

Langsam trat er den Rückzug an und näherte sich auf der geschwungenen Steintreppe dem Turmzimmer, seiner einzigen Hoffnung, die Schlossherrin – seine große Liebe – in Sicherheit zu bringen.

Dicht hinter ihm, von seiner breitschultrigen Gestalt abgeschirmt, stieg sie nach oben. Feige war sie nicht. Statt ins Turmzimmer mit der schweren, widerstandsfähigen Tür zu laufen, blieb sie bei ihm, ihren Dolch gezückt.

Sein Herz schmerzte vor lauter Liebe zu ihr – und vor Angst.

„Geh!“ befahl er. „Schließ dich im Turmzimmer ein!“

„Nein, ich verlasse dich nicht.“ In ihrer sanften Stimme schwang eiserne Willenskraft mit.

Kraftvoll schwang er sein Schwert und wehrte die Männer ab, die sich die Stufen heraufdrängten. Auf der schmalen Treppe konnten sie nur paarweise vorrücken. An einer Seite gab es kein Geländer, nur die große leere Halle. Einige Feinde versuchten sich an ihm vorbeizuschieben oder ihn an seinen Beinen hinabzuzerren. Vorhin hatte ein Schwert seine Wade getroffen – glücklicherweise mit flacher Klinge. Durch das dicke Leder seines Stiefels spürte er den Schmerz. Doch er war nicht verletzt. Mehrere Gegner hatte er verwundet, mit einem gezielten Schwerthieb ein Kinn gespalten, eine Hand abgehackt.

Hinter ihm hatte Lady Alys einen Mann mit ihrem Feuerhaken niedergeschlagen. Wie ein gefällter Stier war er in die Halle hinabgestürzt. Bedauerlicherweise hatte sie bei diesem Angriff den Feuerhaken verloren.

Immer schwerer fühlte sich sein Arm an. Trotzdem würde er unermüdlich kämpfen, bis er blutete und auf den Knien lag – obwohl er ahnte, dass sie verloren waren. Eine andere Hoffnung gab es nicht.

Abrupt öffnete Stephen die Augen, richtete sich auf und rang nach Atem. Sein Haar klebte schweißnass am Kopf. In seinem Arm spürte er immer noch stechende Schmerzen, seine Augen brannten vom ätzenden Qualm.

„Verdammt“, flüsterte er, „was zum Teufel war denn das?“

2. KAPITEL

Erbost lehnte sich Olivia Moreland in die bequeme Polsterung ihrer Kutsche zurück. Was für ein unverschämter Mann …

„Die verrückten Morelands!“ flüsterte sie. „Also wirklich!“

Diese Worte hatte sie ihr Leben lang gehört, und sie ärgerte sich maßlos darüber. Natürlich war ihre Familie kein bisschen verrückt – aber die restliche englische Oberschicht engstirnig, rückständig und versnobt.

Nun, vielleicht haben sich meine Großeltern etwas seltsam benommen, gab Olivia zu, um fair zu bleiben. Ihr Großvater war ganz versessen auf groteske Heilkuren gewesen. Und Grandmama hatte behauptet, sie besitze das „zweite Gesicht“. Aber ihr Vater interessierte sich einfach nur für die Antike. Und ihr scheuer, liebenswerter Großonkel Bellard liebte die Geschichte und hielt sich von Fremden fern. War das etwa sonderbar? Ebenso wenig durfte man Tante Penelope verrückt nennen, nur weil sie nach Frankreich gezogen war, um auf der Opernbühne zu stehen. Damit hatte sie die Londoner Gesellschaft genauso schockiert, als wäre sie in eine Strafkolonie geschickt worden.

Wie Olivia längst erkannt hatte, lag das Problem darin, dass sich die Morelands in ihrer Denk- und Handelsweise von der übrigen Aristokratie unterschieden. Nach deren Ansicht war es die schlimmste Sünde ihrer Mutter, dem Land- statt dem Hochadel zu entstammen. Sicher wurde sie einfach nur beneidet, weil sie, die als kleiner Niemand in der Gesellschaft galt, einen heiß begehrten Junggesellen, den Duke of Broughton, erobert hatte, was keiner der vornehmen Debütantinnen gelungen war. Olivia fand die Liebesgeschichte ihrer Eltern sehr romantisch, insbesondere die erste Begegnung.

Zu den zahlreichen Unternehmen ihres Vaters gehörte eine Fabrik. Ihre Mutter, eine engagierte Sozialreformerin, war in eine Besprechung zwischen dem Duke und dem Fabrikleiter hineingeplatzt. Irgendwie hatte sie es geschafft, an den Angestellten im Vorraum vorbeizulaufen. Temperamentvoll wies sie Moreland auf die schreiende Ungerechtigkeit hin, mit der seine Arbeiter behandelt wurden. Der Fabrikleiter wollte sie hinauswerfen, aber der Duke hinderte ihn daran und hörte ihr zu. Am Ende des Nachmittags erfüllte das Leid der Arbeiter auch ihn mit glühendem Zorn. Noch leidenschaftlicher verliebte er sich in die schöne rothaarige Reformerin. Diese Gefühle erwiderte sie trotz ihrer heftigen Abneigung gegen die Aristokratie, Macht und Geld. Zwei Monate später hatten die beiden geheiratet, zum Entsetzen der Dowager Duchess und fast des gesamten britischen Hochadels.

Olivias Mutter vertrat einen entschiedenen Standpunkt, der nicht nur die Rolle der Frauen in der Gesellschaft betraf, sondern auch die Kindererziehung. Unter ihrer Aufsicht waren alle ihre sieben Kinder von Hauslehrern ausgebildet worden, die Mädchen ebenso wie die Jungen. Jedes Kind durfte seine speziellen Interessen verfolgen. Allerdings hatte der Vater auch auf grundlegende Kenntnisse in Griechisch, Latein und der Geschichte des Altertums bestanden.

Und so verfügten alle über ein umfangreiches Wissen und einen unabhängigen Geist. Aus diesem Grund wurden sie von der vornehmen Gesellschaft für seltsam gehalten. Ohne deren Missbilligung zu beachten, ging jeder seinen eigenen Weg. Theo, der Erbe des Duke, befriedigte seinen Forschungsdrang, während sich seine Zwillingsschwester Thisbe den Naturwissenschaften widmete, Experimente durchführte und Abhandlungen darüber schrieb. Wie Olivia zugeben musste, waren einige dieser Experimente schief gelaufen. Einmal hatte ihre Schwester beim Studium irgendwelcher Sprengstoffe einen kleinen Schuppen auf dem Landsitz in die Luft gejagt. Und gelegentlich war ein kleines Feuer ausgebrochen – stets im Dienst der Wissenschaft und ohne ernsthaften Schaden anzurichten. Deshalb durfte man Thisbe noch lange nicht der Pyromanie bezichtigen, was gewisse Banausen genüsslich taten.

Manchmal waren die jüngeren Zwillinge, Alexander und Constantine, in Schwierigkeiten geraten. Aber was sollte man von zwei lebhaften, intelligenten, neugierigen Jungen erwarten? Natürlich ärgerte man sich, wenn eine Uhr nicht mehr funktionierte, weil die beiden sie auseinander genommen hatten, um das Räderwerk zu studieren. Sogar die Duchess zeigte sich ein wenig ungehalten, nachdem der Versuch, eine Dampfmaschine zu bauen, den Carrara-Marmorboden im Wintergarten ruiniert hatte. Dergleichen solle man besser in einem Nebengebäude hinter dem Haus ausprobieren, betonte sie.

Doch am Zwischenfall mit dem Heißluftballon trug dessen Besitzer die Schuld, zumindest nach Olivias Meinung. Kein vernünftiger Mensch würde zwei Zehnjährige mit einem Ballon allein lassen, an dem ein leerer Korb hing. Und außerdem – hatten sie das Ding nicht fast unbeschädigt auf die Wiese zurückgesteuert?

Kyrias „Wahnsinn“ bestand nach der Ansicht der Gesellschaft in ihrer Weigerung zu heiraten. Und Reed? Wie man ihn eigenartig finden konnte, verstand Olivia nun wirklich nicht. Von allen Moreland-Sprösslingen war er der normalste, nüchtern und praktisch veranlagt. Wann immer man Probleme hatte, konnte man sich an ihn wenden, und er half einem aus der Klemme. Sorgsam kümmerte er sich um die Finanzen der Sippe, zügelte die Extravaganzen und hielt das zweifellos schwankende Familienschiff auf halbwegs geradem Kurs.

Wie Olivia wusste, würden die meisten Leute ihre beruflichen Aktivitäten merkwürdig finden. Vielen würde es absurd erscheinen, dass eine Frau überhaupt einem Beruf nachging. Aber die Möglichkeit eines Kontakts mit der Geisterwelt hatte sie schon in der Kindheit fasziniert. Teils schaudernd, teils begeistert hatte sie den Geschichten ihrer Großmutter gelauscht. Die Dowager Duchess erzählte ihr, sie habe das zweite Gesicht, und verkündete, die Enkelin besitze ein ähnliches Talent. Obwohl Olivia daran zweifelte, begann sie dieses Fachgebiet zu studieren. Warum sollte man die Werkzeuge der Wissenschaft – Forschung, Logik und Experimente – nicht auf den nebulöseren Bereich der Geister anwenden? Mehrere Wissenschaftler versuchten, die Behauptungen der Medien und potenzielle Gespräche mit Verstorbenen zu ergründen. Allerdings stellte Olivia immer wieder fest, dass diese Gelehrten offenkundige Betrügereien ignorierten und sich auf vermeintliche Beweise für die Existenz von Geistern stürzten.

Jedenfalls gibt es nichts an den Morelands zu kritisieren, dachte sie unerschütterlich, während sie die Kutsche verließ und die Eingangsstufen des majestätischen Brougthon House hinaufstieg. Es ist der Rest der Gesellschaft, der sich im Irrtum befindet …

In der Halle wurde sie von ihren Zwillingsbrüdern begrüßt. Abwechselnd sprangen sie die Treppe zum schwarzweißen Schachbrettboden herab.

„Hallo!“ rief Alexander fröhlich und bückte sich, um die Stelle, auf der Constantine gelandet war, mit einem Stock zu markieren. Dann kehrte er zu der Stufe zurück, von der sein Bruder herabgehüpft war.

Grinsend winkte Constantine seiner Schwester zu und holte einen silbernen Kerzenleuchter. Damit kennzeichnete er die Sprungweite des anderen Zwillings.

„Seid bloß vorsichtig!“ warnte Olivia in sanftem Ton. „Auf diesem Marmor könntet ihr euch die Schädel einschlagen.“

„Wir fallen doch nicht auf den Kopf“, protestierte Con verächtlich.

Da die Jungen seit ihrer frühesten Kindheit auf dem harten Boden umherhopsten, musste sie ihnen zubilligen, dass sie wahrscheinlich Experten waren. „Was markiert ihr denn?“

„Wie weit wir schlittern. Unsere Sprünge von der Treppe lassen sich nicht genau messen, weil wir immer noch ein Stück rutschen.“

„Manchmal gleiten wir ziemlich weit weg“, ergänzte Alex, „und das nächste Mal fast gar nicht. Jetzt bin ich dran, Con!“ Er sprang herunter und rutschte dicht vor die Markierung seines Bruders. „Verdammter Mist!“

„Hüte deine Zunge, Alex“, mahnte Olivia automatisch.

„Nun wollen wir herausfinden, wer am weitesten rutscht“, erklärte Con.

„Ah, ich verstehe.“ An die Wettkämpfe der beiden war sie gewöhnt. Genauso hatten sich Theo und Reed aufgeführt, wenn auch zu Reeds Leidwesen. Sein zwei Jahre älterer Bruder hatte beinahe immer gewonnen.

„Warum seid ihr so spät noch auf?“ erkundigte sie sich nun bei Alex und Constantine. Wenn die Duchess ihrem Nachwuchs auch einige Freiheiten zugestand – sie achtete stets auf eine gesunde Lebensführung, und die jüngeren Kinder mussten früh zu Bett gehen. „Wo ist Mr. Thorndike?“

„Ach, der schläft tief und fest.“ Alex machte eine abfällige Handbewegung. Offenbar hielt er nicht viel vom Hauslehrer. In den Augen der Zwillinge, die über unerschöpfliche Energien zu verfügen schienen, war der Nachtschlaf ein langweiliger und sinnloser Zeitvertreib.

„Sicher ist er erschöpft, nachdem er sich den ganzen Tag mit euch herumgeschlagen hat. Aber das erklärt nicht, warum ihr immer noch auf den Beinen seid. Ihr solltet längst im Bett liegen. Schon seit einer Stunde.“

„Wir haben die Erlaubnis, länger aufzubleiben“, entgegnete Con grinsend, „weil Thisbe uns zu einer astronomischen Lektion mitnimmt. Jetzt warten wir nur noch auf Desmond.“ Thisbes Ehemann war ebenfalls Naturwissenschaftler. „Heute Abend hat er ein Experiment laufen, und das dauert bis zehn Uhr.“

„Oh, da seid ihr ja.“ Thisbe eilte in die Halle. „Eigentlich dachte ich, ihr würdet in eurem Zimmer lateinische Vokabeln lernen.“

Gequält verdrehte Con die Augen. „Dabei wäre ich eingeschlafen. Ich hasse Latein.“

„Was dir nichts nützen wird. Du weißt ja, Papa besteht auf euren Lateinunterricht. Außerdem musst du diese Sprache beherrschen, wenn du Biologe werden willst.“ Zum anderen Zwilling gewandt, fügte Thisbe hinzu: „Und du ebenso, wenn du Medizin studieren möchtest.“

„Um ein etwas näher liegendes Thema anzuschneiden …“, erklang eine kichernde Stimme auf der Treppe. Sofort erregte Kyria ungeteilte Aufmerksamkeit. In einem eleganten smaragdgrünen Kleid, das feuerrote Haar zu kunstvollen Locken frisiert, stieg sie die Stufen herab. „Falls ihr zwei hofft, älter als zehneinhalb zu werden, solltet ihr eure Boa Constrictor einfangen. Gerade als ich mein Zimmer verließ, sah ich sie zur Hintertreppe kriechen. Was die Köchin machen wird, wenn das Biest in ihre Küche eindringt, könnt ihr euch ja denken …“

Da die beiden Jungen der Köchin und dem Hackebeil, mit dem sie die „teuflische Schlange“ schon mehrmals bedroht hatte, großen Respekt zollten, wechselten sie einen angstvollen Blick und stürmten zur Küche.

„Hallo, Thisbe – Liv“, grüßte Kyria. Neugierig musterte sie Olivias Hut. „Bist du heute Abend ausgegangen?“

„Ja. Wieso weißt du …?“ Erst jetzt merkte Olivia, dass sie immer noch ihr Cape und ihren Hut trug. Sie drehte sich zu dem Lakaien um, der hinter ihr stand. „Tut mir Leid, Chambers, das habe ich völlig vergessen.“

„Schon gut – Miss.“ Der Lakai musste sich zwingen, das letzte Wort auszusprechen. Allzu lange arbeitete er noch nicht im Broughton House, und es fiel ihm schwer, Olivia mit der bürgerlichen Bezeichnung „Miss“ anzusprechen. Das zog sie der Anrede „Mylady“ vor, die ihr auf Grund ihrer Herkunft zustehen würde.

Autor

Candace Camp
<p>Bereits seit über 20 Jahren schreibt die US-amerikanische Autorin Candace Camp Romane. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Romances unter Pseudonymen. Insgesamt sind bisher 43 Liebesromane unter vier Namen von Candace Camp erschienen. Ihren ersten Roman schrieb sie unter dem Pseudonym Lisa Gregory, er wurde im Jahr 1978 veröffentlicht. Weitere Pseudonyme sind...
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