Die Lady und der Meisterdieb

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Atemlos schmiegt sich Lady Deborah in die Arme des Fremden, den sie gerade bei seiner Diebestour überrascht hat. Nie zuvor ist die eigenwillige junge Witwe derart leidenschaftlich geküsst worden. Als sie erfährt, dass ihr charmanter Langfinger Londons meistgesuchter Einbrecher ist, keimt in ihr ein verwegener Plan …


  • Erscheinungstag 13.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505321
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Die Wandfresken waren erstaunlich gut. Wer immer sie in Auftrag gegeben hatte, hegte offensichtlich breit gefächerte Neigungen: auf einer Wand praktizierte Dionysos seine Künste, daneben vergnügte sich Sappho, während auf der gegenüberliegenden Wand Männer wie Frauen sehr anschaulich in diversen und, wie Charles Mumford, dritter Marquis of Rosevale, fand, physisch ziemlich unmöglichen Stellungen abgebildet waren. Die vierte Wand zeigte eine recht interessante Dreiergruppe, die seine Lordschaft gern genauer betrachtet hätte. Nur bereitete ihm das in seiner momentanen Haltung einige Schwierigkeiten.

„Um Himmels willen, Bella, hab Erbarmen, ich flehe dich an.“ Es lag definitiv nicht in der Natur des Marquis, zu bitten oder zu flehen. Normalerweise erwartete er – ja, glaubte sogar, es sei sein unabänderliches Recht – dass jeder seiner Anweisungen unmittelbar gehorcht werden müsse. Nur konnte man die Haltung, in der er sich gerade befand, auch mit der ausschweifendsten Fantasie nicht als normal bezeichnen.

Zum einen war er verschnürt wie ein Rollbraten und mit Händen und Füßen an die Bettpfosten des prächtig geschnitzten Himmelbetts gebunden, das die Mitte des Raums einnahm. Da sein Hemd über der Brust aufklaffte und die Beinkleider bis zu den Knien heruntergelassen waren, war er außerdem vom Kopf bis zu den Knien schockierend entblößt.

Dazu wurde er von dem exotischsten, faszinierendsten weiblichen Wesen, das er je zu Gesicht bekommen hatte, abschätzend gemustert. Gewandet in schwarzen Samt, mit einem so gewagten Dekolletéé, dass es nur durch die beträchtliche Kraft ihres Willens an Ort und Stelle gehalten zu werden schien, war die Frau der Traum eines jeden heißblütigen Mannes. Schwarze, seidig glänzende Locken fielen ihr über den Rücken. Ihre Haut war cremig weiß, ihre Lippen rot gefärbt und ihr Gesichtsausdruck war gleichzeitig lasziv und boshaft. In einer Hand hielt sie eine dicke, neunschwänzige Peitsche, deren Schnüre sie nachdenklich durch die Finger der anderen gleiten ließ. Charles Mumford stöhnte tief in der Kehle. Ob vor Beklommenheit oder freudiger Erwartung, wusste nur er selbst.

Träge ließ Bella Donna ihre Blicke über den Körper ihres Gefangenen wandern. Abgesehen von der unbestreitbaren Tatsache, dass er ein unerträglich selbstgefälliger Mann war, der die Strafe, die sie für ihn vorgesehen hatte, mehr als verdiente, besaß der Marquis einen prachtvollen Körper, dessen kraftvolle Muskulatur davon zeugte, dass er der noblen Kunst des Fechtens zugetan war. Wie Taue standen seine Armmuskeln hervor, wie er sich da gegen die Fesseln stemmte, die Bella so kunstvoll verknotet hatte. Eine leichte Krause dunklen Haares bedeckte seine Brust und verjüngte sich in Richtung seines flachen Bauches und tiefer. Bella folgte der Spur mit ihrem Blick. Der Ruf, der ihm vorauseilte, war in der Tat verdient. Langsam fuhr sie sich mit der Zunge über ihre Lippen. Strafe auszuteilen hieß nicht, sich ein Vergnügen zu versagen. Besonders nicht ihr eigenes.

Genüsslich langsam zog Bella die Peitsche über des Marquis Körper, nahm mit Genugtuung wahr, wie seine Haut unter den schwarzen Lederschnüren erbebte.

Seine Lordschaft ächzte. „Zur Hölle mit dir, mach mich los!“

Bella lachte.“ In deiner Welt mag dein Wort Gesetz sein, aber du bist jetzt in meiner Welt. In der dunklen, erotischen Welt der Nacht, wo ich die Königin bin und du mein Untertan. Ich werde dich erst losmachen, wenn ich mit dir fertig bin, nicht eine Minute eher.“

„Sei verflucht! Bella Donna – tödliches Nachtschattengewächs. Ja, das ist der richtige Name für dich! Womit habe ich das hier verdient?“

„Du bist ein Mann, das ist Verbrechen genug“, zischte Bella, und sah mit Genugtuung, dass trotz seines Flehens die Erregung des Marquis zunahm. Erneut setzte sie die Peitsche ein, nun durchaus entschiedener. Leise zischend fuhren die Schnüre über die Haut, sodass ihr Opfer zusammenzuckte. Bella erschauerte erwartungsvoll. Sie war bereit.

„Genug geredet!“ Sie hob ihre Röcke und ging zum Bett. „Aber sei gewarnt!“, zischte sie ihm ins Ohr, „Ich werde ohne zu zögern die Peitsche einsetzen, wenn du das Tempo nicht halten kannst.“

Mit zitternden Fingern legte die Autorin die Feder zur Seite. Es war, wie sie fand, die beste und gleichzeitig skandalöseste Szene, die sie bisher geschrieben hatte.

„Gute Nacht, Bella“, sagte sie laut, während sie das Blatt Papier in ihrer Schreibtischlade versenkte und den Schlüssel im Schloss drehte, „Ich freu mich schon darauf, mich morgen wieder mit dir zu befassen.“

Befriedigt – wenn auch auf andere Art als Bella – löschte sie die Kerze und zog sich in ihr Schlafgemach zurück.

1. KAPITEL

Sussex, Februar 1817

Die Zeiger der großen Uhr auf dem Kaminsims setzten sich in Gang, und das harsche Geräusch hallte so laut durch den ansonsten stillen Raum, dass Elliot Marchmont erschreckt sein Werkzeug fallen ließ. Er glitt ins Dunkel des eleganten Salons und verbarg sich hastig hinter den schweren Damastvorhängen. Sie waren staubig. Sofort kribbelte es in seiner Nase. Lady Kinsail schien keine übermäßig eifrige Hausfrau zu sein.

Die Uhr begann die Stunde zu schlagen. Eins. Zwei. Drei. Es war ein altes Stück – Ludwig XIV., schätzte er – mit einem verschnörkelten Zifferblatt, das neben der Zeit auch die Mondphasen anzeigte, das Gehäuse mit Gold eingelegt und mit Diamanten verziert. Wertvoll. Eine solche hatte er bereits einmal in einem herrschaftlichen Haus gesehen, in dem er während seines Aufenthalts in Lissabon zu Gast gewesen war. Spöttisch lächelnd verzog Elliot den Mund. Irgendwie bezweifelte er, dass sich jenes Stück noch immer dort befand.

Die hellen Schläge verklangen in der Nacht, und es kehrte wieder Stille ein. Elliot wartete. Eine Minute. Zwei … Erst nach fünf Minuten wagte er, sich erneut zu rühren, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, Vorsicht walten zu lassen, falls doch noch irgendjemand im Haushalt von dem Geräusch aus dem Schlaf aufgestört worden war. Aber alles war gut. Die Luft war rein.

Elliot schlich – seine Laterne mit einem Taschentuch abgedeckt – leise und verstohlen wie eine Katze zu der Wand des großen Salons, an der ein Porträt hing. Im fahlen Licht blickte der gegenwärtige Lord Kinsail grimmig auf ihn nieder, ein Mann mit Pausbacken, schweren Lidern und schmalem, verkniffenem Mund.

„Heimtückischer Grabschänder!“, zischte Elliot giftig. „Gefühlloser, selbstgefälliger Heuchler!“

Reglos verharrte er vor dem Abbild des Staatsministers, der vor ein paar Jahren noch während des Kriegs für die Versorgung der britischen Armee verantwortlich gewesen war – oder eher für die Vernachlässigung eben dieser Versorgung, wenn man Elliot fragte.

Auf einem zierlichen, vergoldeten Stuhl balancierend tastete Elliot sorgfältig den Rahmen des Bildes ab, bis er zu seiner Befriedigung ein leises Klicken vernahm. Lautlos schwang das schwere Porträt in seinen Angeln nach vorn. Elliot duckte sich und konnte so grade noch vermeiden, dass die scharfe, bronzene Ecke des Rahmens ihn am Kinn erwischte.

Nun machte er sich mit Hilfe diverser Dietriche zügig ans Werk. Zwar war der Geldschrank alt, doch der Earl hatte das ursprünglich sehr einfache Schloss durch eine modernere Vorrichtung ersetzt. Vor die komplizierte Aufgabe gestellt, vier anstatt der üblichen zwei Schließen öffnen zu müssen, kostete es Elliot beinahe zwanzig Minuten, damit fertig zu werden. Erleichtert seufzte er auf, als der letzte Riegel sich hob, der Haltebolzen endlich zurückglitt und das Stahlfach zum Vorschein kam.

Mit Bändern verschnürte, versiegelte Dokumente verstopften das kleine Fach. Darunter waren eine Anzahl lederner Schatullen gestapelt, die Elliot ohne Zögern öffnete, um den Inhalt zu prüfen. Der Familienschmuck der Kinsails war, wie er feststellte, von exzellenter Qualität – jedoch war erstaunlich wenig davon vorhanden.

Offensichtlich war das Vermögen der Familie irgendwann in der Vergangenheit beträchtlich dezimiert worden. Er zuckte die Achseln. Was die Leute mit ihrem eigenen Besitz anstellten, interessierte ihn nicht.

Das, wonach er suchte, befand sich in keiner dieser Schachteln. Einen Moment hielt er inne und rieb sich grübelnd das Kinn, auf dem sich schon wieder kurze Stoppeln gebildet hatten. Es knisterte hörbar in der Stille. Schließlich tastete er mit seinen Fingern über die Rückwand des Tresors, bis er ein bewegliches Feld fand, das ein kleines Fach verhüllte. Triumphierend lächelnd fischte Elliot ein Samtbeutelchen daraus hervor und schüttete den Inhalt in seine Handfläche. Der große blaue Diamant, der herauspurzelte, war rechteckig und von außergewöhnlichem Schliff. Mindestens hundert Karat, schätzte Elliot.

Er schob ihn zusammen mit den Dietrichen in seine Tasche, zog eine Visitenkarte hervor und legte sie bedachtsam in den Safe. Dann zog er sich zurück. Gerade wollte er die Salontür öffnen, da ließ ihn ein Knarren draußen im Flur innehalten. Vielleicht waren es ja nur die alten Balken des Hauses, dennoch beschloss er, Kinsail Manor auf dem schnellsten Weg zu verlassen.

Deshalb hastete er zum Fenster, öffnete einen der bleiverglasten Flügel, und dann sprang der ehemalige Major Elliot Marchmont mit einer Wendigkeit, die die Männer, die unter ihm gedient hatten, beeindruckt, wenn auch nicht überrascht hätte, auf die Brüstung. Er griff nach dem bleiernen Regenrohr am Rande der Mauer, betete stumm zu dem Gott der Einbrecher – welcher auch immer das sein mochte – dass das Material seinem kräftigen Körper standhalten möge, und begann den unsicheren Abstieg.

Die Stallglocke schlug die halbe Stunde, als Lady Deborah Napier, Witwe des Earl of Kinsail, vom Park kommend durch eine Seitenpforte den italienischen Garten betrat. Während sie ihre übliche nächtliche Runde um den Park des Hauses machte, zog sie fröstelnd ihren Mantel enger um sich. Geräumig, aus dunkelrotbrauner Wolle mit einem Cape wie bei den Fahrmänteln der Herren, hielt er sie nicht nur warm, sondern verbarg auch die Tatsache, dass sie darunter nichts als ihr Nachtgewand trug. Gewiss sah sie merkwürdig aus mit ihren auf Papilloten gewickelten Haaren, während ihre Füße in dicken, handgestrickten Socken und robusten Stiefeln steckten. Der, ach, so hochwohlgeborene Jacob, Lord Kinsail, wäre empört, wenn er herausfände, dass die Witwe seines verstorbenen Cousins in diesem Aufzug das Anwesen durchstreifte – und zwar in beinahe jeder ihrer schlaflosen Nächte während ihres pflichtgemäßen jährlichen Besuchs hier.

Verstohlen lächelte Deborah in sich hinein, als sie über den Stallhof eilte. Letztendlich war es eine recht magere Form des Widerstandes, amüsierte sie aber trotzdem. Sie hatten weiß Gott nichts für einander übrig, sie und der Earl, der allein ihr alles anlastete: den vorzeitigen Tod ihres Gemahls, die Schulden, die der hinterließ, den elenden Zustand seiner Ländereien und ihr beklagenswertes Versagen, einen männlichen Erben zu produzieren. Die letzte Tatsache nahm er ihr besonders übel.

Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass er überhaupt noch von mir Notiz nimmt, überlegte sie, denn eine Erbin, deren Börse sich als ebenso leer erwies wie ihr Leib, ist wohl eine armselige Kreatur – selbst wenn die leere Kinderstube immerhin Jacob unverhofft zu einem Titel verholfen hatte. Aber leider kann ich mich nicht dazu durchringen, für die Einladung in dieses Haus dankbar zu sein. Jedes Jahr aufs Neue staune ich, dass der elende Mensch sich einbildet, er gewährte mir eine Gunst damit, mich auf zwei qualvolle Wochen in dieses Haus zu bitten, in dem ich sieben schreckliche Jahre verbringen musste.

Zum Mond aufblickend fragte sie: „Ist es denn ein Wunder, dass ich hier keine Ruhe finde?“

Der Mond verweigerte ihr die Antwort, und sie merkte, dass sie wieder einmal mit sich selbst gesprochen hatte. Eine alte Angewohnheit, die sie sich während er einsamen Jahre nach dem Tod ihrer Eltern angewöhnt hatte, als sie sich im Haushalt ihres betagten Onkels ganz auf sich selbst gestellt sah. Damals hatte sie in ihrem Schulzimmer mit erdachten Freunden gesprochen, für die sie Seite um Seite ihrer Hefte mit Geschichten füllte, anstatt ihre Rechenaufgaben zu erledigen.

Diese Abenteuer hatte sie dann ihren unsichtbaren Kameraden vorgelesen, nicht ohne hier und da zu unterbrechen, um den Verlauf zu diskutieren. Wie lange ihre ältliche Gouvernante sie an jenem Tag dabei von der Tür her belauscht hatte, wusste Deborah nicht, doch für die würdige Dame war es lange genug gewesen. Sie hatte verkündet, dass sie sich außerstande sehe, ein so frühreifes Kind zu betreuen und ihren Posten zu Deborahs Freude aufgegeben, woraufhin ihr Onkel beschlossen hatte, sie auf ein Internat zu schicken.

„Vermutlich ahnten die beiden nicht“, murmelte Deborah vor sich hin, „dass sie mir damit die glücklichsten fünf Jahre meines Lebens bescherten.“

In dem vornehmen Institut für junge Damen machten ihre Geschichten Deborah beliebt, nahmen ihr bald ihre anfängliche Scheu hinweg und verhalfen ihr zu echten Freunden.

Während sie langsam zur jungen Frau heranwuchs, wandelten sich ihre Erzählungen. Von plündernden Piraten über Geistergeschichten kam sie zu edlen, kühnen Rittern, die schönen Burgfräulein nachstellten. Immer schon war die Liebe in ihren mannigfaltigen Formen ihr Thema gewesen, selbst in ihrem kindlichen Gekritzel fanden verwaiste Kleinkinder neue Familien oder vermisste Brüder wurden mit ihren treuen Schwestern zusammengeführt. Aber während der letzten beiden Jahre im Internat war die romantische Liebe das vorherrschende Thema ihrer Geschichten – wo Helden auf gefährliche Fahrt gingen, um unmögliche Aufgaben zu lösen, und wo Heldinnen ihren grausamen Vormündern trotzten und Leib und Leben aufs Spiel setzten, um mit dem Mann ihrer Träume vereint zu sein.

Die Mädchen pflegten im Aufenthaltsraum beim Kaminfeuer zu kauern, und Deborah spann ihre komplizierten Handlungsfäden. So versunken waren ihre gespannt lauschenden Zuhörerinnen, dass sie jedes Mal erschreckt auffuhren, wenn Miss Kilpatrick an die Tür klopfte und verkündete, dass es Zeit sei, zu Bett zu gehen.

„Eines Tages“, hatte sie damals zu ihrer Freundin Beatrice gesagt, „sind wir die Heldinnen. Wenn wir hier fortgehen …“

Aber Bea, hübsch, praktisch veranlagt, ein Jahr älter und zehn Jahre weiser als Deborah, lachte nur. „Ehrlich, Deb, langsam solltest du dir klar machen, dass deine Romanzen nur Geschichten sind. Man verliebt sich nicht auf den ersten Blick; und wenn, dann sei dir gewiss, vergeht das ebenso schnell wieder. Mein Ehemann soll für mich da sein, wenn ich ihn brauche, soll mein Geld nicht sinnlos verschleudern, und ansonsten keine Hirngespinste verfolgen.“

Ein Jahr später, als Deborah schon wieder, einem Eremiten gleich, im Haus ihres Vormunds lebte, heiratete Bea den ältesten Sohn eines benachbarten Spinnereibesitzers, der, wie sie Deborah in einem ihrer Briefe mitteilte, sich sehr gut machte.

Dieser Briefwechsel mit ihrer Freundin – mit allen ihren Freundinnen – der ihr so viel bedeutete, war eines der vielen Dinge, die Jeremy ihr später nahm. Nicht, dass er ihr verboten hätte zu schreiben, nur war es ihr bald völlig unerträglich, ihre fatale Ehe in glühenden Farben zu schildern. Und nun war es zu spät, obwohl Jeremy seit zwei Jahren tot war.

Wie eine schwarze Wolke spürte Deborah die Melancholie über sich hängen, die sich, wenn sie ihren jährlichen Besuch auf Kinsail Manor absolvierte, stets noch verstärkte. Jeremys Tod hatte sich keineswegs als die segensreiche Erlösung entpuppt, die sie sich davon erwartet hatte. In letzter Zeit kam es ihr vor, als hätte sie nur ein Gefängnis für ein anderes eingetauscht. Wie ein Abgrund gähnte die Einsamkeit vor ihr, doch sie hatte Angst davor, diesen Abgrund zu überbrücken, denn sie würde nicht ertragen können, dass die Wahrheit über sie bekannt wurde – selbst wenn das hieß, dass der Abgrund sie vielleicht eines Tages verschluckte.

Sie war nicht glücklich, aber sie wusste auch nicht, wie das zu ändern wäre – oder ob sie überhaupt je etwas anderes empfinden könnte. Isoliert wie sie war, fühlte sie sich doch wenigstens sicher – immerhin ein kleiner Trost. Niemand konnte sie verletzen. Und sie würde sich nie weder verletzen lassen.

Ein kalter Windstoß erfasste ihren weiten Mantel und riss ihn auf. Sie fröstelte. Viel zu lange hatte sie sich bereits in der Vergangenheit verloren. Schlafen würde sie nicht können, dessen war sie sicher. Doch wenn sie jetzt nicht zurück ins Haus ging, würde sie sich erkälten – und dann hätte Lady Margaret, die unterdrückte Gattin des Earls, die in ihrer Verzweiflung ständig Verbündete suchte, einen Vorwand, Deborah einen längeren Aufenthalt aufzudrängen.

Den Kopf gesenkt, ihren Mantel fest vor der Brust zusammenziehend, eilte Deborah zu der Seitenpforte im Ostflügel des Hauses und war gerade unterhalb des Großen Salons, als ein seltsames Geräusch sie innehalten ließ. Kaum hatte sie aufgeschaut und eine dunkle, drohende Gestalt erblickt, die an der bloßen Wand zu kleben schien, fiel diese auch schon auf sie herab.

Die Befestigung des Regenrohrs gab knirschend nach, als Elliot noch etwa drei Meter vom Boden entfernt war. Da er lieber nicht riskieren wollte, dass die gesamte Konstruktion sich von der Wand löste, ließ er los, im Vertrauen darauf, auf dem dichten Rasen sanft zu laden. Natürlich erwartete er nicht, dass sein Fall von etwas viel Weicherem aufgehalten würde.

„Aua!“

Unter ihm stöhnte eine Frau erstickt auf. Geisterhaft bleich im Gesicht sah sie ihn mit entsetzt aufgerissenen Augen an.

Elliot spürte den scharfen Hauch ihres Atems über seine Wange streichen und drückte ihr rasch seine Hand auf den Mund. „Bitte keine Angst! Ich werde Ihnen nichts tun, ehrlich.“

Ungläubig hob sie ihre fein geschwungenen Augenbrauen und zappelte wild mit den Armen. Ihr Körper war zart und nachgiebig. Und er, Elliot, lag mitten auf ihr – was vermutlich ziemlich ungehörig war. Und durchaus köstlich, wie er gleichzeitig merkte. Auch schien sie nichts als ein Nachthemd unter ihrem weiten Mantel zu tragen. Ihre Brüste wogten bei jedem ihrer Atemzüge gegen seine Brust. Warm drückte ihr Mund gegen seine Handfläche. Ein, zwei Sekunden lag er einfach da, gefangen in dem unerwarteten Gefühl körperlicher Nähe, ehe ihm mehrere Dinge zugleich aufgingen.

Höchstwahrscheinlich war sie die Countess of Kinsail.

Ganz bestimmt würde sie schreien, sobald sie die Möglichkeit dazu bekam.

Wenn man ihn ertappte, landete er am Galgen.

Er musste weg. Sofort!

Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung war er auf den Füßen und zog die verwirrte Frau mit sich, wobei er ihr immer noch mit einer Hand den Mund zuhielt. Den anderen Arm hatte er um ihre Taille geschlungen. Eine bemerkenswert schlanke Taille. Und die Dame war für eine Frau ungewöhnlich groß. Verdammt, der Earl war ein glücklicher Mann. „Verspechen Sie, nicht zu schreien, wenn ich jetzt meine Hand wegnehme?“, flüsterte er.

Sie hob ihre ausdrucksvollen Augenbrauen und schaute ihn indigniert an. Das konnte Ja bedeuten … oder auch Nein.

Elliot ließ es darauf ankommen. „Habe ich Ihnen wehgetan? Ich hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden zu finden – wie Sie sich sicher vorstellen können“, fuhr er fort.

„So wenig wie ich.“

Ihre Stimme war ein wenig belegt – was davon kommen mochte, dass er ihr gerade fast den Brustkorb zerquetscht hatte. Sie hatte ein ungewöhnliches Gesicht. Ein interessantes Gesicht. Viel mehr als nur schön. Ihr Mund war voll, mit einem leicht zynischen Zug. Weder Tränen noch Anzeichen von Hysterie, im Gegenteil: In ihrem Ausdruck erkannte er sogar einen Hauch von Amüsement.

Als Reaktion darauf zuckten Elliots Lippen unwillkürlich. „So köstlich es war – für mich wenigstens – lag es dennoch nicht in meiner Absicht, Sie als Landeplatz zu benutzen.“

„Ich freue mich, von Nutzen gewesen zu sein.“ Immer noch leicht benommen schaute Deborah ihn an. „Was um alles in der Welt haben Sie denn da getan?“, fragte sie, wobei ihr im selben Moment klar wurde, wie dumm die Frage war.

Doch er sah nicht wie ein gewöhnlicher Einbrecher aus – nicht, dass sie gewusst hätte, wie ein Einbrecher aussah! Gewiss sollte sie doch um Hilfe schreien? Und gewiss sollte sie sich fürchten, denn immerhin lag sein Schicksal in ihrer Hand, was er wissen musste; trotzdem neigte sie weder zum einen noch zum anderen. Entsetzlicherweise war sie schlicht und einfach fasziniert von den Nachwirkungen ihres Zusammenpralls. Seinen schweren Körper auf sich zu spüren … diesen starken, muskulösen, außerordentlich drahtigen Körper … seine Hand auf ihrem Mund …

„Was haben Sie da oben an der Wand gemacht?“, wiederholte sie bemüht ruhig.

Elliot grinste. „Leider genau das, was Sie vermuten, Lady Kinsail.“

Nun wäre definitiv der Augenblick, um nach Hilfe zu schreien, dennoch unterließ Deborah es. „Sie kennen mich?“

„Ich habe von Ihnen gehört.“

„Oh.“ Sich jäh ihrer Aufmachung bewusst, raffte sie hastig ihren Mantel über der Brust zusammen. „Ich bin nicht für Besucher ge… ich meine, ich ging nicht davon aus, jemandem zu begegnen“, sagte sie und merkte, wie sie errötete, was hoffentlich die Dunkelheit verbergen würde.

„Ich auch nicht.“

Der Einbrecher schmunzelte amüsiert. Ein heiseres, sehr männliches Geräusch, das Deborah erschauern ließ. Er hatte ein bemerkenswertes Gesicht, mit ausgeprägten Linien, schweren Brauen und tiefen Kerben um die Mundwinkel. Seine Augen wirkten, als hätten sie zu viel gesehen. Eine unterschwellige Gefahr ging von ihm aus.

In der Tat ein einprägsames Gesicht … und außerordentlich attraktiv.

Ihre Blicke trafen sich, und für ein paar Sekunden schien die Zeit zwischen ihnen stillzustehen. Eine unerklärbare Spannung entstand zwischen ihnen.

„Es tut mir leid, Sie erschreckt zu haben“, sagte er endlich, „Doch im Grunde müssen Sie meine Anwesenheit hier Ihrem Gemahl anlasten.“

Langsam fragte Deborah sich, ob sie träumte. „Aber Jeremy – mein Gemahl – er ist …“

„Ein höchst glücklicher Mann.“ Elliot lächelte schief. „Ich muss Ihnen danken, dass Sie nicht um Hilfe gerufen haben. Ich stehe in Ihrer Schuld.“ Unvermittelt zog er sie an sich, und sie wehrte sich nicht. Ihre Lippen auf den seinen waren warm, süß, köstlich – und es war viel zu schnell vorbei. Nur zögernd ließ er sie los und sagte rau: „Ich muss fort. Und Sie, Madam, müssen tun, was Sie für richtig halten.“

„Einen Moment, Sir! Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.“

Der Einbrecher lachte leise. „Ich könnte es Ihnen sagen, aber dann müsste ich Sie töten.“

Und schon rannte er quer über den Rasen davon. Völlig verwirrt schaute Deborah ihm nach, bis seine schattenhafte Gestalt mit der Dunkelheit verschmolz. Die Turmuhr schlug die volle Stunde. Von oben aus dem Haus hörte sie das leise, durchdringende Schlagen einer zweiten Uhr. Die französische Uhr? Sie schaute hinauf und sah, dass das Fenster des Großen Salons weit offen stand. Behutsam legte sie einen Finger auf ihre Lippen, da, wo der Einbrecher sie geküsst hatte.

Geküsst … von einem gewöhnlicher Dieb!

Nein. Ein Einbrecher mochte er sein, doch ganz gewiss nicht gewöhnlich. Sein Tonfall war der eines gebildeten Mannes. Er trat auf wie jemand, der es gewohnt war zu befehlen. Sein Mantel war aus feinster Wolle, und wenn sie recht überlegte – seine Stiefel waren von hervorragender Machart und blitzblank poliert. Er roch nach frischer Wäsche und nur kaum merklich nach Leder und Pferd. Vermutlich hatte er sein Reittier irgendwo in der Nähe angebunden. Sie horchte eindringlich, hörte jedoch nichts als den Wind, der wispernd durch die kahlen Bäumen fuhr.

Sie sollte den Earl wecken. Mindestens jedoch die Dienerschaft. Deborah runzelte die Stirn. Was immer der Mann gestohlen hatte, musste er an seinem Körper verborgen haben, denn er hatte keinen Sack oder ähnliches für seine Beute bei sich getragen. Dokumente vielleicht? Trotz der mühsamen Aufgabe, Jeremys Angelegenheiten in Ordnung zu bringen – eine Aufgabe, über die zu klagen sein Cousin nie müde wurde – hatte Lord Kinsail seine aktive Rolle im Staatsdienst nicht aufgegeben. Also war der Einbrecher ein Spion? Das klang schon einleuchtender, wenn auch der Krieg so lange schon vorbei war, dass es solcher Aktivitäten kaum noch bedurfte. Und der Mann hatte weder ausgesehen wie ein Verräter, noch sich so angehört.

Deborahs Lachen, das sie so eben noch im Keim erstickte, klang ein klein wenig hysterisch. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie wohl ein Spion oder ein Einbrecher aussah!

Das alles war doch nicht plausibel. Ein wenig zu spät kam ihr in den Sinn, dass das, was Lord Kinsail für viel weniger plausibel halten würde, ihre Anwesenheit hier draußen war. Und er würde wissen wollen, warum sie nicht sofort Alarm geschlagen hatte. Was sollte sie sagen, da sie doch die Antwort darauf selbst nicht wusste? Es war ja nicht so, als wenn der Dieb sie bedroht hätte! Sie hatte nicht einmal richtig Angst gehabt, eher … ja, was?

Der Gedanke, Jacobs bohrende Fragen über sich ergehen lassen zu müssen, festigte ihren Entschluss. Sie würde ihm keinen weiteren Grund geben, sie mit Geringschätzung zu behandeln. In der Tat, beschloss Deborah, war jetzt der richtige Moment, sich von Lord Kinsail und seinem verfluchten Haus zu befreien. Die Tatsache, dass sie verfehlt hatte, Jeremy einen Erben zu schenken, barg einen winzigen, aber tröstlichen Vorteil: Sie oblag nicht der Verpflichtung, mit seiner Familie eine Verbindung aufrechtzuerhalten. Lord Kinsail mochte ihr jeden Penny ihrer mageren Witwenrente missgönnen, die er ihr sowieso nur unregelmäßig, und oft nur nach mehrmaligem Mahnen, zuteilte, sehr wahrscheinlich aber konnte er sie ihr nicht völlig verweigern. Dennoch war sie nun fest entschlossen, einen Weg zu finden, ohne diese Zuwendung durchzukommen. Zum Teufel mit den Folgen; dieser Besuch auf Kinsail Manor würde ihr letzter sein!

Nun fühlte sie sich schon viel besser. Behutsam schloss Deborah die Tür hinter sich und eilte hinauf ins dritte Stockwerk, zu ihrem kleinen Zimmer. Am Morgen würde man entdecken, was immer der kühne Einbrecher mitgenommen hatte. Da er längst fort war, nützte es nun auch nichts mehr, den Haushalt zu alarmieren.

Heftig gähnend legte sie den schweren Mantel und ihre schmutzigen Stiefel ab und verstaute die letzteren tief in ihrem Kleiderschrank, wo sie den Blicken des neugierigen Hausmädchens entzogen waren. Als sie ihr Abbild im Spiegel entdeckte, zog sie eine Grimasse. Der Ausdruck im Gesicht des Einbrechers, als er sie küsste, war unmissverständlich gewesen. Er hatte sie begehrt, trotz ihrer ganz und gar unziemlichen Garderobe. Zwar bildete sie sich nicht ein, Expertin auf diesem Gebiet zu sein, gleichwohl war sie sich dessen sicher.

Unwillkürlich wurde ihr ganz heiß. Wie wäre es wohl, sich einem solchen Mann hinzugeben? Deborah wickelte sich in die Bettdecke, obwohl ihr angesichts dieser betörenden Vorstellung die Kälte im Raum nicht einmal bewusst wurde. Sie fuhr mit den Händen über ihren Körper und dachte an die samtige Berührung seiner Lippen. Unter ihren Fingern erblühten die Knospen ihrer Brüste. Dunkelrot glühte das Verlangen hinter ihren Lidern. Sinnliche Begierde durchströmte sie, noch heißer als je zuvor, weil es so verboten war.

Eine skandalöse Sehnsucht, wie bei Bella Donna. Bella Donna … die Heldin der Romane, die zurzeit im ton Anstoß erregten.

Deborah sank in die warme Umhüllung ihres Bettes und ließ ihre Hände über ihr Nachtgewand gleiten, tiefer und tiefer. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, ihr geheimnisvoller Liebhaber wäre bei ihr.

Am nächsten Morgen erwachte sie viel später als gewohnt. Ein Lärm drang an ihr Ohr, als sei die Hölle losgebrochen. Rasch schlüpfte sie in einen warmen Morgenmantel, denn Kinsail Manor war teils aufgrund seines Alters, teils wegen der Sparsamkeit seines momentanen Besitzers ein kaltes Gemäuer.

Aufgrund ihrer geringen finanziellen Mittel konnte sie sich keine Zofe leisten. Obwohl Lady Kinsail ihr angetragen hatte, sich „ihrer eigenen lieben Miss Dorcas“ zu bedienen, hatte sie abgelehnt. Denn diese Angestellte war ein außerordentlich strenges, mürrisches Geschöpf, das die Ansicht vertrat, eine Witwe müsse ihr Haar, von spitzesten Nadeln gehalten, unter einem unvorteilhaften Häubchen verbergen.

Da Deborah den größten Teil ihres Lebens selbst für ihre Toilette zuständig gewesen war, ging sie auch jetzt ohne Umstände daran, ihr langes hellblondes Haar zu frisieren und das schlichte Tageskleid überzustreifen, das sie eigenhändig genäht hatte.

Bei Jeremys Tod hatte ihr Schwarz zu tragen sehr widerstrebt, da es sie praktisch als seine Witwe kennzeichnete. Dennoch hatte sie es noch weitere sechs Monate nach Ablauf des Trauerjahres beibehalten. Nach und nach hatte sie nämlich die Anonymität, die die düstere Farbe gewährte, zu schätzen gelernt. Da erst war ihr bewusst geworden, dass es ihr überhaupt an eigener Persönlichkeit mangelte. So wie die anonyme graue, blaue und braune, weder modische noch völlig unelegante Kleidung, die sie nun trug, fühlte sie sich auch – einfach unbedeutend, irgendwie schemenhaft, verschwommen. Wie ein unfertiges Gemälde …

Heftiges Klopfen an der Tür unterbrach diese ernüchternden Gedanken.

„Bitte, Mylady! Seine Lordschaft bittet Sie schnellstens in den Großen Salon.“ Das Hausmädchen platzte fast von den wichtigen Neuigkeiten, die sie übermitteln durfte. „Wir sind alle dort versammelt“, fuhr sie fort, während sie neben Deborah den engen Gang entlangeilte, der den ältesten – und zugigsten – Flügel des Besitzes mit dem größeren, moderneren Haupthaus verband. „Der Herr will wissen, ob jemand ihn sah oder hörte.“

„Wen hörte?“, fragte Deborah, obwohl sie selbstverständlich wusste, dass nur der Einbrecher gemeint sein konnte.

Natürlich hätte sie Jacob wecken müssen, doch sie konnte diese Verfehlung einfach nicht bedauern. Wenn sie ehrlich war, so gab es da etwas in ihr – ein winziges, boshaftes Etwas, auf das sie nicht stolz zu sein brauchte – das sogar richtig froh war. Oder, wenn nicht froh, so doch gleichgültig. Jacob hatte ihr auch noch das Wenige genommen, das Jeremy ihr gelassen hatte. Welche Schätze ihm nun gestohlen worden waren, interessierte sie nicht die Spur. Und mehr noch, entschied sie spontan, sie würde auch weiterhin schweigen. Sie würde nicht zugeben, dass sie nachts auf dem Besitz umherwanderte, was nur eine seiner Gardinenpredigten zur Folge haben würde.

Sie hatten den Salon erreicht, dessen Türen weit offen standen und einen Blick auf den gesamten versammelten Haushalt gewährten. Am Kopf des Raums stand unter seinem eigenen Porträt der Hausherr persönlich.

„Gehen Sie besser rein, Mylady“, flüsterte das Mädchen. „Wir sind die letzten.“ Hastig gesellte es sich zu den anderen Dienstboten, die sich wie eine Herde Schäfchen um die Haushälterin scharten. Mrs Chambers, ein Relikt aus Deborahs Zeiten als Schlossherrin, schaute missbilligend.

An solche Blicke gewohnt, schritt Deborah ungerührt zum Earl. Der Rahmen des Porträts war nach vorn geklappt und gestattete den Blick auf einen Safe. Bitter verzog sie den Mund. Den hatte Jeremy ihr kurz nach ihrer Heirat gezeigt, nur war das Fach damals von einem Porträt seines Vaters verdeckt worden.

„Keine Schätze“, hatte er ihr damals gesagt. „Wenn auch Dank dir, meine liebe Gemahlin, nicht mehr lange.“

Zwar hatte sich seine Haltung ihr gegenüber schon unmittelbar nach er Eheschließung verändert, doch nach der Enthüllung, dass die an ihre Erbschaft geknüpften Bedingungen ihn zwangen, noch einige Jahre, nämlich bis zu ihrer Volljährigkeit, auf den größten Teil ihres Vermögens warten zu müssen, gab er sich nicht einmal mehr Mühe, seine Abneigung zu verbergen.

Sie hätte ihn nie heiraten dürfen. Aber wieder einmal in diesem Sumpf zu rühren, dazu war jetzt nicht die Zeit. Lady Kinsail, noch bleicher und schlaffer als sonst, saß auf einem Stuhl, der beinahe so zerbrechlich wirkte wie sie selbst. Deborah nahm den Platz an ihrer Seite ein und drückte ihr die kalte Hand.

„Cousine Margaret …“ Zwar verweigerte sie Lord Kinsail die verwandtschaftliche Anrede, nicht aber seiner Gattin. „Bitte sag’ doch, was geschehen ist!“

„Oh, Cousine Deborah, es ist entsetzlich!“ Wie ihre Erscheinung war auch Lady Kinsails Stimme geisterhaft schwach. „Ein ganz gewöhnlicher Einbrecher …“

„Kein gewöhnlicher Einbrecher!“, unterbrach sie ihr Ehemann. Schon unter normalen Umständen neigte Lord Kinsail sowohl von Angesicht als auch Temperament zum Jähzorn. Heute Morgen ähnelte er mit seinem wutroten Antlitz einer überreifen Tomate. „Was, Cousine, glauben Sie wohl, wie spät es ist!“, schnaubte er.

„Viertel nach neun, wenn die Uhr richtig geht“, entgegnete Deborah und beschäftigte sich nachdrücklich damit, ihren Stuhl zurechtzurücken und ihre Röcke zu glätten.

„Natürlich geht sie richtig, es ist eine präzise französische Uhr. Was immer man den Franzosen nachsagen mag, damit kennen sie sich aus“, rief Lord Kinsail gereizt. „Diese hier soll ursprünglich für den Herzog von Orleans persönlich gemacht worden sein.“

„Dann ist es ein Jammer“, erklärte Deborah, „dass dieses Erbstück seiner Familie abhandenkam.“

Lord Kinsail war cholerisch, knauserig und so eingebildet, dass Deborah glaubte, er müsse jeden Moment vor Aufgeblasenheit platzen … doch er war kein Dummkopf.

Er kniff die Augen zusammen. „Wenn Sie meinem Cousin eine bessere Gattin gewesen wären, hätte nun nicht ich für diesen Besitz, der infolge dieser unseligen Heirat mit Ihnen völlig heruntergewirtschaftet wurde, die Verantwortung, sondern Ihr Sohn. Wenn Sie Ihren Zweck erfüllt hätten, hätte Jeremy zweifellos nicht die Notwendigkeit verspürt, Trost in Spielhöllen zu suchen, und dort sein ganzes Vermögen zu verschleudern.“

Deborah zuckte innerlich zusammen, verärgert, sich eine Blöße gegeben zu haben, denn so grausam die Worte waren, war sie selbst doch tief in ihrem Inneren von deren Wahrheit überzeugt. Sie hätte Jeremy keine schlechtere Gattin sein können. Was jedoch nicht hieß, dass sie Jacobs Missbilligung akzeptieren musste – sie verurteilte sich schon selbst heftig genug. Und sie wollte verdammt sein, ehe sie sich wegen der Bemerkung bezüglich der Uhr entschuldigte!

„Lass dich von mir nicht weiter aufhalten, Jacob“, sagte sie, spröde lächelnd.

Lord Kinsail warf ihr einen finsteren Blick zu, drehte sich um und räusperte sich laut, bevor er das Wort an die Dienerschaft richtete. „Wie ihr inzwischen wisst, wurde in Kinsail Manor eingebrochen. Ein höchst wertvoller Gegenstand wurde aus diesem Safe entwendet. Ein Safe, wie ich hinzufügen möchte, mit einem neuen, außerordentlich komplizierten Schloss. Dies war kein gewöhnlicher Raub. Der unverschämte Schuft, der eine Bedrohung für die vornehme Gesellschaft ist und eine Pest für die, die vermögender sind als er, war kein gewöhnlicher Dieb.“ Und mit schwungvoller Geste produzierte er ein kleines Objekt und schwenkte es vor seinem Publikum. Einige Lakaien seufzten erleichtert, denn nun stand fest, dass auf sie kein Verdacht fallen konnte.

Zuerst verstand Deborah nicht, was an dem Ding so bemerkenswert war. Eine Feder! Doch es war eine besondere Feder – lang, mit blau-grünem Auge. Eine Pfauenfeder. Der Mann, der letzte Nacht wie vom Himmel auf sie hinabgefallen war, musste der berüchtigte Pfau gewesen sein!

Guter Gott! Sie war dem Pfau begegnet – oder besser er ihr! Nur mühsam wollte ihr Kopf diese Tatsache aufnehmen, während sie nur mit halben Ohr Jacobs Auslassungen über die Verbrechen des Mannes lauschte. Es überraschte sie nicht zu hören, wie jeder der Dienstboten vehement versicherte, weder etwas Außergewöhnliches gesehen noch gehört zu haben, so wenig, wie die Dienstboten an den anderen Wirkungsstätten des Pfaus etwas bemerkt hatten. Niemand hatte ihn je bei seinen Taten gestört, niemand je auch nur einen Schatten von ihm gesehen. Private Ermittler, Bow Street Runner … alle wurden von ihm hinters Licht geführt. Seit zwei Jahren nun entzog sich der Pfau allen Versuchen, ihn zu fassen. Kein Schloss war dem Mann zu kompliziert, kein Haus zu gut gesichert.

Nachdem er die Bediensteten schließlich hinausgeschickt hatte, wandte Lord Kinsail sich wieder Deborah zu. „Und Sie?“, verlangte er zu wissen. „Haben Sie von dem Schurken etwas gesehen?“

Sie merkte, wie sie errötete. Sie hätte weiß Gott reichlich Gelegenheit für Ausflüchte gehabt, hatte sie jedoch nie gern benutzt. „Warum sollte ich etwas gesehen haben?“

„Ich weiß, dass Sie nachts draußen herumstromern!“

Erschrocken fuhr sie hoch.

„Ja, da schauen Sie! Ich bin nicht so dumm, wie Sie glauben, Cousine Deborah.“ Er gestattete sich ein höhnisches Lächeln, ehe er fortfuhr: „Unser Stallmeister hat Sie draußen im Park herumgeistern sehen.“

„Ich halte Sie nicht für dumm, Jacob, nur für gefühllos. Ich suche nachts die frische Luft, weil ich in diesem Haus nicht schlafen kann.“

„Zweifellos hält Ihr Gewissen Sie wach.“

„Nein, Erinnerungen.“

„Eher die Gespenster“, murmelte er finster. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

Deborah biss sich auf die Unterlippe. Sie sollte es ihm sagen, doch sie konnte es einfach nicht über sich bringen. All ihr unterdrückter Unmut wegen seiner ungerechtfertigt schlechten Meinung über sie, zusammen mit dem Zorn auf sich selbst, weil sie nicht Kraft genug hatte, ihn in seiner Beschränktheit aufzuklären, machte sie rebellisch. „Ich habe überhaupt nichts gesehen.“

„Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher. Übrigens erwähnten Sie nicht, was gestohlen wurde.“

„Ein Gegenstand von beträchtlichem Wert.“

Seine Einsilbigkeit ließ sie aufhorchen. Sie hob fragend die Augenbrauen. „Warum so verschlossen? Waren es Staatsdokumente? Guter Gott, Jacob“, sagte sie mit gespieltem Entsetzen, „erzähl mir nicht, dir sind wichtige Geheimnisse abhandengekommen.“

„Es war etwas von persönlicher Bedeutung. Ein Stück, das ich erst kürzlich erworben hatte. Ich werde mich nicht näher dazu äußern.“ Er plusterte sich auf.

„Den Bow Street Runners wirst du es sagen müssen.“

Autor

Marguerite Kaye
<p>Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...
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