Die schönsten Liebesromane der Welt - Best of Julia Extra 2019

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Mit diesem eBundle präsentieren wir Ihnen die schönsten und erfolgreichsten Julia-Extra Ausgaben aus 2019 - romantisch, aufregend und extravagant. Die etwas längere Auszeit vom Alltag für die selbstbewusste Frau … Happy End garantiert!

JULIA EXTRA BAND 461

VERBOTENE KÜSSE NACH DIENSTSCHLUSS von SHAW, CHANTELLE
Als Millionär Torre Romano die Frau wiedersieht, mit der er einst eine leidenschaftliche Nacht verbrachte, fühlt er sich erneut zu ihr hingezogen …

MEIN HERZ LÄSST SICH NICHT KAUFEN! von GORDON, LUCY
Eine Million Pfund! So viel bietet Vittorio Martelli ihr an, um eine alte Schuld zu tilgen. Damit könnte Jackie ein neues Leben beginnen. Doch ihr Stolz verbietet der jungen Engländerin, das unmoralische Angebot des galanten Conte anzunehmen …

VERLIEBT IN DEN SEXY BOSS von MEIER, SUSAN
Tycoon Mitch Ochoa braucht dringend eine Verlobte. In der Not bittet er seine Mitarbeiterin Lila, die Rolle zu spielen. Doch als die sonst so unscheinbare Lila plötzlich in High Heels vor ihm steht, fragt Mitch sich, ob seine Assistentin nicht auch eine andere Rolle übernehmen könnte …

DAS KINDERMÄDCHEN UND DER MILLIONÄR von HARDY, KATE
Der reiche Witwer Jamie Wallis ist erleichtert, in der jungen Sophie endlich eine geeignete Nanny für seine Tochter gefunden zu haben. Doch obwohl er geschworen hat, sich nie wieder zu verlieben, bleiben ihm Sophies Reize nicht lange verborgen …

JULIA EXTRA BAND 466

NUR EINE NACHT MIT DEM PLAYBOY-BOSS? von MARINELLI, CAROL
Der griechische Immobilienmagnat Luka Kargas ist ein notorischer Playboy - trotzdem fühlt Cecelia sich gegen jede Vernunft immer stärker zu ihm hingezogen …

EIN MILLIARDÄR MIT GEHEIMNIS von DONALD, ROBYN
Die betörende Elana weckt auf den ersten Blick Niko Radcliffes Verlangen. Aber der Milliardär ist an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt, um ein Familiengeheimnis zu lüften, nicht um eine heiße Affäre zu beginnen!

ENTFÜHRT IN DEN PALAST DES KRONPRINZEN von PAMMI, TARA
Nie hat Ariana verwunden, dass ihr faszinierender Ex-Mann Kronprinz Andreas sie begehrte, aber nicht liebte. Als sie jetzt einen anderen heiraten will, taucht plötzlich Andreas auf …

WAS VERBIRGST DU VOR MIR, GELIEBTE? von BEHARRIE, THERESE
König Zacchaeus heiratet Prinzessin Nalini bloß aus einem Grund: um den Frieden für sein Land zu sichern! Doch seine schöne Braut weckt nicht nur verzehrendes Verlangen in ihm, sondern auch nie gekannte romantische Sehnsucht …

JULIA EXTRA BAND 467

HEIßE KÜSSE FÜR DIE FALSCHE BRAUT von HEWITT, KATE
Als Olivia von einem maskierten Fremden in einen Palast in der Wüste entführt wird, verschlägt es ihr den Atem. Zwar verspürt sie Angst, aber zugleich weckt der faszinierende Mann mit den sanften Augen nie gekanntes Verlangen …

TANZ MIT MIR, GELIEBTE LÜGNERIN! von RICE, HEIDI
Sinnliche Funken sprühen, als Hoteltycoon Lukas Blackstone bei einem exklusiven Ball mit der schönen Bronte tanzt. Allerdings hat ihre Schwester vor Jahren das Leben seines Bruders ruiniert …

NUR EINE NACHT IN SEVILLA? von WILLIAMS, CATHY
Eine ganz normale Geschäftsreise nach Sevilla? Von wegen! Plötzlich muss Abby so tun, als wäre sie mit ihrem sexy spanischen Boss Gabriel Romero verlobt …

SKANDAL IM INSELPARADIES von SHEPHERD, KANDY
Auf einer kleinen Insel in Indonesien sucht der berühmte Tennisstar Max Conway nur eins: Ruhe vor den Paparazzi! Doch unvermutet trifft er dort auf die attraktive Nikki …


  • Erscheinungstag 23.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729660
  • Seitenanzahl 1350
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lucy Gordon, Kate Hardy, Chantelle Shaw, Susan Meier, Robyn Donald, Carol Marinelli, Tara Pammi, Therese Beharrie, Cathy Williams, Kate Hewitt, Heidi Rice, Kandy Shepherd

Die schönsten Liebesromane der Welt - Best of Julia Extra 2019

Chantelle Shaw, Lucy Gordon, Susan Meier, Kate Hardy

JULIA EXTRA BAND 461

IMPRESSUM

JULIA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 461 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2018 by Chantelle Shaw
Originaltitel: „Hired for Romano’s Pleasure“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Monika Schott

© 2017 by Lucy Gordon
Originaltitel: „A Proposal from the Italian Count“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Anja Görgens

© 2017 by Linda Susan Meier
Originaltitel: „The Boss’s Fake Fiancée“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Cordula Schaetzing

© 2017 by Pamela Brooks
Originaltitel: „Christmas Bride for the Boss“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Tina Beckmann

Abbildungen: Harlequin Books S. A., RobertoChicano / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733712815

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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CHANTELLE SHAW

Verbotene Küsse nach Dienstschluss

Soll Orla sich wirklich auf eine Affäre mit ihrem Boss Torre Romano einlassen? Zu dunkel sind die Erinnerungen an die Vergangenheit. Doch sie kann sich der Anziehung des aufregenden Millionärs einfach nicht entziehen …

LUCY GORDON

Mein Herz lässt sich nicht kaufen!

Für seinen verstorbenen Vater soll Conte Vittorio Martelli eine alte Schuld tilgen. Doch die junge Engländerin Jackie weigert sich, das Geld anzunehmen. Ahnt sie, dass er ihr etwas verheimlicht?

SUSAN MEIER

Verliebt in den sexy Boss

Lila kann es nicht fassen: Ihr Boss Mitch Ochoa bittet sie, seine Verlobte zu spielen. Die Rolle sollte ihr leichtfallen: Schließlich ist sie seit Langem heimlich in den smarten Geschäftsmann verliebt …

KATE HARDY

Das Kindermädchen und der Millionär

Um Tycoon Jamie Wallis als Geschäftspartner zu gewinnen, willigt die junge Sophie ein, sich um dessen Tochter zu kümmern. Doch Sophie wird zu spät bewusst, wie gefährlich ihr attraktiver Auftraggeber ihr werden kann …

1. KAPITEL

„Ich verstehe nicht, warum du die Tochter deiner Ex-Frau zu deiner Geburtstagsfeier einladen musst“, sagte Torre Romano und sah seinen Vater fragend an. Gerade hatte er noch den Ausblick von der Villa Romano auf die Amalfiküste genossen, die man von seinem eigenen Haus in Ravello, das höher an der Felsküste lag, noch besser sah. Doch dann hatte sein Vater mit seiner Ankündigung jenes Gefühlschaos in Torre wachgerufen, das Orla Brogan noch immer in ihm auslöste.

„Ich habe meinen Stiefsohn eingeladen“, antwortete Giuseppe. „Warum sollte ich nicht auch meine Stieftochter einladen?“

„Das ist etwas anders. Jules ist als kleiner Junge mit seiner Mutter hergezogen, und du warst wie ein Vater für ihn.“ Torre wich Giuseppes prüfendem Blick aus. „Aber an Orla kann ich mich kaum erinnern“, fuhr er fort und ärgerte sich darüber, dass das nicht stimmte. „Ich habe sie nur einmal gesehen – als du ihre Mutter geheiratet hast, mit der du dann nur ein paar Jahre zusammengeblieben bist. Die paar Male, die Orla sie hier besucht hat, war ich immer weg.“

Torre sah Orla vor sich, wie sie unter ihm lag, ihre Haut weiß wie Milch, das bernsteinfarbene Haar über die Kissen ergossen. Unwillkürlich regte es sich bei ihm. Dio! Wie konnte es sein, dass sie ihm nach so vielen Jahren noch immer so naheging, obwohl sie nur eine einzige Nacht miteinander verbracht hatten?

Tatsächlich war sie die Einzige, die ihn je die Kontrolle über sich hatte verlieren lassen. Kaum, dass er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war es um seinen guten Vorsatz geschehen gewesen, sich nie von seinen Trieben lenken zu lassen. Nie so zu sein wie sein Vater.

Dessen Stimme holte Torre nun zurück ins Hier und Jetzt. „Orla war nicht mehr hier, seit Kimberly mich verlassen hat“, sagte der alte Mann. „Aber ich habe sie gern und freue mich, dass meine beiden Stiefkinder zu meinem Siebzigsten kommen. Ich bin gespannt, ob Jules gute Neuigkeiten für uns hat.“

„Was für Neuigkeiten?“

„Ich vermute, dass er vorhat, Orla zu heiraten. Guck nicht so erstaunt. Ich habe dir doch bestimmt gesagt, dass sie sich wiederbegegnet sind, als er vor ein paar Monaten in der Londoner Niederlassung von ARC angefangen hat. Vor Kurzem hat er angedeutet, dass er mehr für sie empfindet“, antwortete Giuseppe. „Es würde mich freuen, wenn die Stiefkinder aus meinen beiden letzten Ehen heiraten würden. Aber noch mehr würde ich mich freuen, wenn du endlich eine Familie gründen und für einen Erben sorgen würdest.“

Torre hatte keine Lust, mit seinem Vater darüber zu diskutieren, dass er mit bald vierunddreißig noch unverheiratet war. Er wollte so lange wie möglich Junggeselle bleiben, auch wenn er nachvollziehen konnte, dass Giuseppe sich einen Erben wünschte, der sein Familienunternehmen Alfonso Romano Construzione, kurz ARC, einmal leiten würde. Torre würde eines Tages seiner Verpflichtung nachkommen und eine Frau heiraten, die seine Interessen und Wertvorstellungen teilte. Aber er würde sich dabei im Gegensatz zu seinem Vater weder von seinen Hormonen noch von seinem Herzen leiten lassen.

Torre liebte seinen Vater und bewunderte dessen Geschäftssinn, mit dem er ARC zum wichtigsten Bauunternehmen Italiens gemacht hatte. Doch das Privatleben von Giovanni war weniger rühmlich. Er war seiner zweiten Frau Sandrine, Jules Mutter, immer wieder untreu gewesen. Sein Unvermögen, den zahllosen jungen Frauen zu widerstehen, die von seinem Reichtum angezogen wurden wie Motten vom Licht, hatte ihn zum Gespött der Klatschpresse gemacht.

Auch als Giuseppe sich vor acht Jahren von Sandrine hatte scheiden lassen, um das frühere Model Kimberly Connaught zu heiraten, hatte die Regenbogenpresse breit darüber berichtet. Torre war sofort klar gewesen, dass Kimberly nur hinter dem Geld seines Vaters her war, und er verstand nicht, wieso Giuseppe so dumm hatte sein können, auf sie hereinzufallen. Doch dann war er Orla begegnet, und noch auf der Hochzeitsfeier hatte er feststellen müssen, dass er kein Stück besser war als sein Vater.

„Es überrascht mich, dass du dich über eine Verbindung von Jules und Orla freuen würdest“, antwortete Torre. „Als ich vor einem Monat in England war, haben die Zeitungen über die Riesensumme berichtet, die sie als Abfindung bekommen haben soll, als sie sich von diesem berühmten Sportler hat scheiden lassen. Ihre Ehe mit ihm hat nicht mal ein Jahr gehalten. Offenbar hat Orla die Vorliebe, reiche Männer zu heiraten und sich wieder von ihnen scheiden zu lassen, von ihrer Mutter geerbt. Wenn sie jetzt hinter Jules her ist, dann gnade ihm Gott.“

„Ich gebe nicht viel auf das, was in den Zeitungen steht, und ich glaube nicht, dass Orla sich für Jules’ Geld interessiert“, erwiderte Giuseppe und musterte seinen Sohn aufmerksam. „Du äußerst dich nicht zum ersten Mal abfällig über sie, und das, obwohl du sagst, dass du dich kaum an sie erinnerst. Ist damals irgendetwas zwischen euch vorgefallen? Ich weiß noch, dass sie am Tag nach der Feier überstürzt abgereist ist.“

„Was soll da schon vorgefallen sein?“ Torre wich dem prüfenden Blick seines Vaters aus und verbannte das Bild von Orlas schlankem Körper aus seinem Kopf. Es belastete ihn, dass er nicht in der Lage war, die Erinnerung an sie komplett auszulöschen. Die anderen Frauen in seinem Leben kamen und gingen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen, und er wusste nicht, warum es ihn so sehr aus der Ruhe brachte, zu wissen, dass Orla nach Amalfi kommen würde. „Ich mache mir nur Sorgen um Jules. Du weißt, was für ein Träumer er ist“, sagte er und verließ das Zimmer mit dem unguten Gefühl, dass Giuseppe etwas ahnte.

Wäre er dieser verwunschenen Rothaarigen bloß nie begegnet! Zum Glück war er schon am nächsten Morgen zur Besinnung gekommen. Und gerade hatte er genug damit zu tun, sowohl den Vorstands- als auch den Geschäftsführerposten von seinem Vater, der in den Ruhestand ging, zu übernehmen. Als studierter Bauingenieur besuchte er die Bauprojekte von ARC rund um den Globus, um fachlichen Rat zu geben und Probleme zu beheben. Er liebte diese Tätigkeit und die Freiheit, die sie ihm bot, und war nicht begeistert, diese aufzugeben, um die Firma zu leiten. Außerdem war er nicht sicher, ob er die großen Fußstapfen seines Vaters würde ausfüllen können. Da war ein Wiedersehen mit Orla, das ihn an seinen Fehler vor acht Jahren erinnerte, das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Torre sagte sich, dass sein Stiefbruder schon merken würde, auf was er sich eingelassen hatte, wenn er auf sie hereingefallen war. Doch das änderte nichts an seiner schlechten Laune, und er verließ fluchend das Haus.

Auf der Amalfitana war wenig los, was für den Hochsommer untypisch war. Die Küstenstraße zwischen Sorrent und Salerno war berüchtigt für ihre Haarnadelkurven. Orla war froh, dass Jules fuhr, denn so konnte sie die herrliche Aussicht auf das Tyrrhenische Meer genießen.

Plötzlich wurde die Stille von Motorengeheul zerrissen. Orla wandte sich um und sah einen roten Sportwagen, der sich ihrem Mietwagen rasch näherte und sie in einer engen Kurve überholte.

„Das war mein Stiefbruder mit seinem neuen Spielzeug“, sagte Jules. „Angeblich der schnellste und teuerste Wagen der Welt. Frauen und Autos, Torres große Leidenschaften …“

Torre. Es fuhr ihr wie ein Schreck in die Glieder. Sie hatte den Fahrer des Cabriolets gesehen, ihn aber nicht erkannt. Einen Moment lang überlegte sie, Jules zu bitten, sie zum Flughafen zurückzubringen. Sie irgendwo hinzubringen, nur weit weg von dem Mann, den sie seit acht Jahren nicht vergessen konnte.

Doch das musste jetzt ein Ende haben. Ihr Riesenfehler, die eine Nacht mit Torre zu verbringen, verfolgte sie schon viel zu lange. Sie war nicht mehr die naive Achtzehnjährige von damals, die die Flucht ergriffen hatte, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, es genau wie ihre Mutter nur aufs Geld abgesehen zu haben.

In der Zwischenzeit hatte sie die Ehe mit einem gewalttätigen Mann überlebt und würde es überstehen, Torre wiederzusehen. Außerdem würde sie sicher feststellen, dass nie mehr hinter ihren Gefühlen für Torre gesteckt hatte als eine Teenagerschwärmerei, und gestärkt aus der Begegnung herausgehen.

Als sie zehn Minuten später bei der Villa Romano ankamen, stand der rote Sportwagen in der Auffahrt, doch Torre war zu Orlas Erleichterung nicht zu sehen. Jules parkte den Leihwagen, und als sie die Beifahrertür öffnete, schlug ihr intensive Hitze entgegen. Weil sie wusste, dass sie sich hier im Nu einen Sonnenbrand holen würde, setzte sie ihren breitkrempigen Strohhut auf.

Von den Zitronenplantagen wehte ein belebender Geruch herüber und mischte sich mit dem Blütenduft des Geißblatts, mit dem die Mauern der Villa bewachsen waren. Schon bei ihrem ersten Besuch hatte Orla sich in die Amalfiküste mit dem leuchtenden Rosa der Bougainvilleen, dem dunklen Grün der Zypressen und dem strahlenden Blau des Meeres verliebt, das die Felszunge umgab, auf der die Villa Romano stand. Doch sie war nicht mehr hier gewesen, nachdem ihre Mutter nach der kurzen Ehe mit dem Milliardär Giuseppe Romano nach London zurückgekehrt war, um dort ihre Abfindung zu verjubeln.

Orla hatte die Einladung zu Giuseppes siebzigstem Geburtstag fast abgesagt, weil sie wusste, dass Torre da sein würde. Doch sie mochte ihren Stiefvater, in dessen Haus sie immer willkommen gewesen war und zu dem sie auch nach der Scheidung ihrer Mutter den Kontakt gehalten hatte. Als Jules vorschlug, zusammen nach Amalfi zu reisen, hatte Orla beschlossen, sich dem gefürchteten Wiedersehen zu stellen. Bei ihren bisherigen Besuchen in der Villa Romano hatte sie stets darauf geachtet, dass Torre nicht dort war, aber sie durfte einer Begegnung mit ihm nicht weiter aus dem Weg gehen, wenn sie die Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich lassen wollte.

Sie blieb beim Wagen stehen, während Jules dem Hausangestellten entgegenging, der herausgekommen war, um sie zu begrüßen.

„Es scheint ein Durcheinander mit den Zimmern zu geben“, sagte Jules, als er zu ihr zurückkam. „Offenbar sind ferne Verwandte unerwartet angereist, und nun ist unklar, wo wir übernachten. Ich gehe mal mit der Haushälterin sprechen.“

„Ich komme gleich nach. Ich muss mir nach der langen Reise ein bisschen die Beine vertreten.“

„Mach das, aber bleib im Schatten, Chérie.“

Lächelnd sah Orla ihm hinterher. Ihr charmanter französischer Stiefbruder war immer nett zu ihr gewesen, wenn sie ihre Mutter in der Villa Romano besucht hatte, obwohl Kimberly der Grund dafür gewesen war, dass Giuseppe sich von Jules’ Mutter hatte scheiden lassen. Jules, der sich nach wie vor gut mit seinem Stiefvater verstand, hatte vor einem halben Jahr als Hauptbuchhalter in der Londoner Niederlassung von ARC angefangen. Orla wohnte nicht weit entfernt von seinem Büro, seitdem sie das Luxusappartement ihrer Mutter hatte verkaufen müssen, um deren Schulden abzuzahlen. Orla traf sich ein- oder zweimal in der Woche zum Essen mit Jules, und er hatte sich in der Zeit, als ihr die gesundheitlichen Probleme ihrer Mutter zu schaffen gemacht hatten, als guter Freund erwiesen.

Zeitgleich hatten die Medien Orla verteufelt, weil sie angeblich eine Riesenabfindung von ihrem reichen Ex-Mann eingeheimst haben sollte, obwohl sie in Wahrheit nicht einen Penny bekommen hatte.

Aber sie würde jetzt nicht an die Vergangenheit denken. Sie hatte sich von David befreit, und ihre zehnmonatige Horrorehe hatte sie in vielerlei Hinsicht stärker gemacht. Nie wieder würde sie es zulassen, dass ein Mann über sie bestimmte, wie ihr Ex-Mann es getan hatte.

Sie schlenderte zu dem Sportwagen. Zum ersten Mal verstand sie, wieso man von einem Auto sagen konnte, dass es sexy sei. Die schnittige rote Karosserie buhlte um Aufmerksamkeit, und das schwarze Lederinterieur war ausgesprochen männlich. Der Wagen strahlte Aufregung und Gefahr aus – genau wie sein Besitzer. Doch sie wollte keine Aufregung.

Von der Ehe mit David hatte sie sich die Sicherheit erhofft, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Doch gekommen war es ganz anders. Von Anfang an war da dieses Gefühl der Unsicherheit gewesen. Und dann diese Angst, wenn er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Er war sehr launenhaft gewesen, und lange hatte sie geglaubt, etwas falsch zu machen und für seine Wutanfälle verantwortlich zu sein.

Instinktiv fuhr sie mit den Fingern über die acht Zentimeter lange Narbe an ihrer Schläfe, die sie hinter ihrem seitlich gescheitelten Haar verbarg und mit Schminke kaschierte. Doch die Narbe würde sie für immer daran erinnern, warum sie nie wieder einem Mann vertrauen würde.

Sie hatte niemandem von den seelischen und körperlichen Misshandlungen erzählt, die sie während ihrer kurzen, unglücklichen Ehe mit dem Cricketspieler erlitten hatte. David Keegan war bei Fans und Medien für seine nette Art auf dem Spielfeld und bei Interviews bekannt, und Orla war sicher, dass ihr niemand glauben würde, dass er ein Alkoholproblem hatte und sich in ein aggressives Monster verwandelte, wenn er getrunken hatte.

Die Presse hatte ihr vorgeworfen, ihm das Herz gebrochen und seine Karriere zerstört zu haben, indem sie ihn wenige Tage vor einem Spiel gegen Australien, bei dem er als Spielführer fungierte, verließ. Davids Team hatte verloren, und er musste seinen Posten als Mannschaftskapitän abgeben. In einem Interview hatte er den Kummer über die Trennung als Grund für seine schlechte Leistung auf dem Feld angegeben.

Anfangs gab sie sich selbst die Schuld für ihre Probleme mit David, der ihr Selbstwertgefühl geschwächt hatte, indem er ihr immerzu sagte, wie nutzlos sie sei. Erst seine körperliche Attacke brachte sie schließlich zur Besinnung. Sie hörte auf, sich vorzumachen, dass mit der Ehe alles in Ordnung war, und gestand sich ein, dass David ihre Gefühle für ihn zunichtegemacht hatte. Wäre sie bei ihm geblieben, hätte sie in der ständigen Angst gelebt, dass er sie das nächste Mal, wenn er sie schlug, umbringen könnte.

Es war nicht leicht gewesen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen, aber Orla hatte einen starken Willen. Und in die Villa Romano zu kommen, obwohl sie wusste, dass Torre da sein würde, war ein weiterer Schritt von dem naiven verträumten Mädchen, das sie gewesen war, zu der unabhängigen Frau, die sie jetzt war.

„Eine echte Schönheit, oder?“

Orla zuckte zusammen. Die tiefe Stimme hinter ihr hatte sie unzählige Male im Traum gehört, doch dieses Mal war sie echt.

Als sie Torre zum letzten Mal gesehen hatte, war er um die fünfundzwanzig gewesen, aber jetzt war er Anfang dreißig. Wahrscheinlich verlor er schon seine Haare und setzte Fett an. Von dieser Vorstellung ermutigt, wandte sie sich zu ihm um – und das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als ihre Blicke sich trafen.

Vor acht Jahren hatte Torre unglaublich gut ausgesehen. Mit seinen ebenmäßigen Zügen und seinem gepflegten Äußeren hätte er ein Männermodel in einem Hochglanzmagazin sein können. Doch nun war er noch atemberaubender, als sie ihn in Erinnerung hatte, und seine starke männliche Ausstrahlung und seine unterschwelligen Sinnlichkeit brachten ihr Blut in Wallung. Orla wünschte, sie hätte auf ihre innere Stimme gehört und Jules gebeten, sie zum Flughafen zurückzubringen. Doch sie war nicht mehr das unerfahrene junge Ding, das Torre für einen Märchenprinzen hielt. Inzwischen wusste sie, dass sie Verantwortung für sich selbst übernehmen musste.

„Hallo, Torre“, sagte sie mit fester Stimme. „Jules meinte, du warst derjenige, der uns auf der Amalfitana wie ein Irrer überholt hat.“

Als er lächelte, strahlten seine weißen Zähne. Mit Entsetzen stellte Orla fest, dass sich Erregung in ihr breitmachte. Es war lange her, dass sie sich zum letzten Mal zu jemandem hingezogen gefühlt hatte. Sie hatte geglaubt, David hätte ihre Fähigkeit dazu ebenso ausgelöscht wie ihren Stolz und ihre Selbstachtung. Es war eine Katastrophe, dass ausgerechnet Torre ihr Blut so in Wallung brachte.

Nie würde sie vergessen, wie sie sich das erste Mal geküsst hatten. Vor acht Jahren hatte er alles genommen, was sie ihm mit einer Naivität gegeben hatte, über die sie im Rückblick heulen könnte. Er hatte ihr die Unschuld genommen und anschließend auf ihr herumgetrampelt wie auf einem lästigen Insekt.

„Ich kenne die Küstenstraße wie meine Westentasche“, antwortete er und ging auf sie zu. „Außerdem verleiht so ein bisschen Gefahr dem Leben mehr Würze.“ Seine grauen Augen glänzten wie polierter Stahl.

Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie fürchtete, er könnte bemerken, dass das Herz ihr bis zum Hals pochte. Instinktiv hob sie eine Hand zum Hals und spielte an ihrer Goldkette herum.

„Das sehe ich anders. Ich finde es dumm, unnötige Risiken einzugehen.“ Sie straffte sich, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, und stellte fest, dass er größer war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Trotz ihrer Acht-Zentimeter-Absätze überragte er sie. Sie fragte sich, warum sie ihn noch herausforderte, wenn es klüger wäre, sich von ihm fernzuhalten. Doch ihre Füße gehorchten ihrem Hirn nicht mehr, und so blieb sie wie gebannt stehen, als er ihr die Sonnenbrille abnahm.

„Deine Augen sind genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Hellbraun mit olivgrünen Sprenkeln“, sagte er.

Orla war sicher, dass er hörte, wie heftig ihr Herz schlug. Seit ihrer Zusage für Giuseppes Geburtstagsfeier vor einem Monat hatte sie sich innerlich auf das unvermeidbare Wiedersehen mit Torre vorbereitet. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie kühl und herablassend wäre, während Torre reumütig und zerknirscht darüber sein würde, dass er sie damals zurückgewiesen hatte.

Doch ihr Körper hielt sich nicht an ihre Vorsätze. Ihr war schwindelig. Allerdings konnte das auch an der Hitze liegen. Aber dass ihre Brüste sich auf einmal schwer anfühlten, war nicht so leicht zu erklären, und auch nicht, dass ihre Brustwarzen sich unter ihrem Kleid aufgerichtet hatten. Sie betete, dass er es nicht bemerkte.

„Und? Hast du was dagegen?“, fragte sie, nahm ihm ihre Sonnenbrille ab und setzte sie wieder auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt fühlte sie sich wohler. „Es überrascht mich, dass du dich an meine Augenfarbe erinnerst. Ich erinnere mich an kaum etwas von damals.“

Zu ihrem Verdruss schien er nicht beeindruckt von ihrer Erwiderung, und sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das Orla den Atem raubte. „Dann freut es mich, dass wir uns noch einmal miteinander bekannt machen können.“

„Warum? Daran, dass du mich gar nicht schnell genug loswerden konntest, nachdem wir die Nacht miteinander verbracht hatten, erinnere ich mich sehr wohl.“

Torre schien sie gar nicht zu hören, und sein intensiver Blick steigerte ihre Erregung so sehr, dass Orla am liebsten dem aberwitzigen Drang nachgegeben hätte, sich an ihn zu schmiegen.

Als sie ihre trockenen Lippen befeuchtete, sah er ihre Zungenspitze wie gebannt an. Er musterte sie mit ernstem, fast schon wildem Blick. „Mit achtzehn warst du sehr hübsch“, sagte er. „Aber jetzt … Dio, jetzt bist du eine echte Schönheit!“

Orla stand wie angewurzelt da, konnte den Blick nicht von ihm losreißen, von seinem Mund, der ihrem auf einmal zu nah war. Sie war wie geblendet von Torre. Er strahlte eine starke Sinnlichkeit aus, die eine Saite tief in ihr anschlug.

Seit ihrer letzten Begegnung waren seine damals so glatten Züge schroffer und herber geworden, was durch den dunklen Bartschatten noch betont wurde. Seine sinnlichen geschwungenen Lippen und das volle, dunkelbraune Haar ließen sein kantiges Gesicht etwas weicher wirken.

„Menschen können sich ändern“, sagte er.

„Was willst du damit sagen?“ Sie fragte sich, ob sie sich verhört hatte. Irgendwie konnte sie gerade nicht klar denken.

Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, roch den eigenartig vertrauten Duft seines Aftershaves und hatte das Gefühl, sich außerhalb der Realität zu befinden.

„Orla“, raunte er mit einer Stimme, die ihr durch und durch ging. Völlig unvorbereitet wurde sie von einem heftigen Verlangen nach ihm gepackt, und ihr Herz klopfte wie verrückt, als Torre sich vorbeugte und sein warmer Atem ihre Lippen streifte.

2. KAPITEL

„Ich dachte, du würdest reinkommen, Orla!“

Jules’ Stimme brachte Orla zur Besinnung. Unwillkürlich wich sie zurück. So viel zu ihrem Vorsatz, Torre gegenüber cool zu bleiben! Kaum, dass sie einander wieder begegnet waren, hatte sie sich förmlich an ihn rangeschmissen. Ein Glück, dass Jules verhindert hatte, dass sie sich lächerlich machte!

„Ich habe die Haushälterin nicht gefunden, also habe ich unser Gepäck erst einmal im Flur stehen gelassen“, erklärte Jules. „Hallo, Torre.“ Er schüttelte seinem Stiefbruder die Hand. „Schön, dich zu sehen.“

Zu Orlas Verwunderung legte Jules einen Arm um ihre Schultern. Sie wusste, dass es nichts weiter war als eine freundschaftliche Geste, aber die Art, wie er sie an sich zog, hatte etwas eigenartig Besitzergreifendes. Torre kniff die Augen und den Mund zusammen. Fast sah es aus, als wäre er sauer, aber vielleicht irrte sie sich.

„Freut mich auch, dich zu sehen“, antwortete Torre. „Unser Cousin Claudio und seine Familie sind überraschend gekommen, und da alle anderen Gästezimmer der Villa Romano bereits vergeben sind, habe ich Giuseppe gesagt, dass ihr in meinem Haus in Ravello unterkommt.“

„Nein!“ Orla errötete, als sie merkte, dass sie das Wort laut und deutlich ausgesprochen hatte. „Ich meine, danke für das Angebot, aber in deinem kleinen Haus ist nicht genug Platz für uns beide. Ich nehme mir ein Hotelzimmer.“

Die Vorstellung, das Haus zu betreten, in dem Torre ihr die Unschuld genommen hatte, war ihr unerträglich. Sie wollte nicht daran erinnert werden, wie er sie ausgezogen und dann auf sein Bett gelegt hatte. Die Nacht mit ihm war traumhaft gewesen, aber der darauffolgende Morgen hatte alles in einen Albtraum verwandelt.

Sie konnte noch deutlich den eisigen, verurteilenden Ton hören, mit dem er sie gefragt hatte, warum sie ihm nicht gesagt habe, dass sie die Tochter der neuen Frau seines Vaters sei. „Hattest du gehofft, mich dazu zu bringen, dich zu heiraten, so wie Kimberly es mit meinem Vater gemacht hat?“, hatte er wissen wollen. „Wolltet ihr gemeinsam das Vermögen der Romanos an euch bringen?“

Seine kalte Verächtlichkeit hatte Orla sehr verletzt.

Er hatte sie mit einem spöttischen Blick bedacht, als sie beteuerte, ihm ihre Identität nicht absichtlich verheimlicht zu haben. Und als sie ihm erklärte, dass sie den Nachnamen ihres Vaters trug, während Kimberly den Nachnamen eines anderen Ex-Mannes angenommen hatte, war er nur noch wütender geworden. Er hatte ihr die Bettdecke weggerissen und mit wildem Blick ihren nackten Körper angestarrt.

„Du hast mir deine Unschuld vergeblich geopfert, Cara“, hatte er gesagt. „Mein Vater hat sich damit zum Gespött gemacht, dass er eine Frau geheiratet hat, die nur hinter seinem Geld her war, aber ich habe nicht vor, den gleichen Fehler zu begehen.“

Torres Stimme riss Orla aus den schmerzhaften Erinnerungen. „Ich habe das Haus vor ein paar Jahren abgerissen und ein größeres gebaut. In Casa Elisabetta ist ausreichend Platz. Und ich bezweifele, dass du in der Hochsaison irgendwo an der Amalfiküste ein freies Hotelzimmer findest.“

„Das stimmt“, sagte Jules und lächelte Orla an. „Du wirst Ravello mögen. Es ist eine nette kleine Stadt mit einem fantastischen Blick aufs Meer.“

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Unterbringung bei Torre abzufinden, auch wenn sie sich zu gern geweigert hätte. Selbst wenn sie ein Hotelzimmer finden würde, könnte sie es sich nicht leisten. Sie hatte ihr Konto bereits bis zum Limit überzogen, um die Flüge zu ihrer Mutter nach Chicago und zurück zu bezahlen.

„Dann wäre das ja geklärt“, sagte Torre. „Wir sollten uns jetzt mal auf den Weg zu Giuseppe machen. Es gibt Mittagessen auf der Terrasse.“

Er folgte ihr und Jules auf dem Kiesweg, der um das Haus herumführte. Orla spürte seinen Blick und wurde sich auf einmal der Tatsache bewusst, dass ihr Kleid vielleicht ein bisschen zu figurbetont war.

„Ich bin diese Hitze nicht gewohnt“, sagte sie und entwand sich Jules, der den Arm locker um ihre Schultern geschlungen hatte.

Sie erreichten die mit einer weinbewachsenen Pergola überdachte Terrasse. Zwölf Personen saßen bereits an einem langen Tisch.

Giuseppe erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. „Benvenuta, Orla. Dein letzter Besuch ist lange her“, sagte er und küsste sie auf beide Wangen. Dann wandte er sich Jules zu. „Warum hast du so lange damit gewartet, Orla nach Amalfi zu bringen?“

Orla begrüßte die anderen Gäste, denen sie vorgestellt wurde, und fragte sich, was Giuseppe gemeint haben mochte, als er Jules gefragt hatte, warum er sie nicht früher nach Amalfi mitgebracht habe. Giuseppe wusste, dass sie mit Jules befreundet war, aber die beiden hatten sich einen verstohlenen Blick zugeworfen, was ihr nicht geheuer war. Sie hatte das Gefühl, dass sich da etwas abspielte, wovon sie nichts wusste – obwohl es sie betraf.

Nachdem sie ihre Sonnenbrille in der Handtasche verstaut hatte, setzte sie ihren Strohhut ab; ihr Haar fiel ihr über den Rücken. Als sie ein unterdrücktes Stöhnen hörte, wandte sie sich um und sah Torre hinter sich stehen. Wieder wurde ihr schwummerig. Aber dieses Mal konnte sie nicht die Hitze dafür verantwortlich machen, dass das Blut ihr wie geschmolzene Lava durch die Adern jagte.

Sie riss den Blick von ihm los, doch es entging ihr nicht, dass er spöttisch das Gesicht verzog, als Jules ihr seinen Arm um die Taille legte, um sie zum Tisch zu führen.

Vergiss Torre, sagte sie sich. Doch das war leider nicht möglich, denn er setzte sich ihr direkt gegenüber. Ein Kellner bot ihr Wein zum Essen an, doch sie entschied sich für Wasser, weil sie sich vor ihrer Reise etwas eingefangen hatte und ihr Magen noch etwas empfindlich war. Auch wenn sie sonst kaum Alkohol trank, hatte sie gerade nicht wenig Lust, sich so sehr zu betrinken, dass sie Torre nicht mehr bemerkte und vor allem aufhörte, sich vorzustellen, wie er sie berührte.

Wieder musste sie an damals denken. Die Gäste der Hochzeitsfeier hatten hinter vorgehaltenen Händen darüber geredet, dass Kimberly die Ehe mit Giuseppe nur seines Geldes wegen eingegangen war. Orla hatte sich für ihre Mutter geschämt und war froh darüber gewesen, dass offenbar niemand wusste, dass sie die Tochter der Frischvermählten war, weil Kimberly sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie irgendjemandem vorzustellen. Als Orla gerade auf ihr Zimmer zurückgehen wollte, spürte sie einen Blick im Rücken. Sie drehte sich um – und sah den Mann, der ihr schon bei ihrer Ankunft mit ein paar Freundinnen ihrer Mutter bei der Villa Romano aufgefallen war. Beim Aussteigen aus dem Taxi hatte sie einen unglaublich gut aussehenden Mann aus dem von der Auffahrt einsehbaren Pool steigen sehen. Auch den Freundinnen ihrer Mutter war sein durchtrainierter Körper aufgefallen, und sie hatten anzügliche Bemerkungen gemacht und Mutmaßungen über seine Fähigkeiten als Liebhaber angestellt.

„Er ist Giuseppes Sohn“, hatte Kimberly erklärt, die herausgekommen war, um ihre Freundinnen zu begrüßen. „Er ist sehr sexy, aber furchtbar arrogant und behandelt mich wie Abschaum. Ich nehme an, es ärgert ihn, dass ich jetzt alles erbe, wenn Giuseppe stirbt.“

Während der Feier dachte Orla immer wieder daran, dass Torre Romano ihr Stiefbruder war, doch als sich ihre Blicke am Ende trafen, war sie wie elektrisiert. Und als er schließlich entschlossen auf sie zukam, wusste sie instinktiv, dass sie die Flucht ergreifen sollte.

Zu dumm, dass sie damals nicht auf ihr Bauchgefühl gehört hatte …

Orla stocherte lustlos in den Ricottaravioli herum, die als erster Gang aufgetragen worden waren. Die Gespräche am Tisch wurden vorwiegend auf Italienisch geführt, und Orla war froh, dass sie einen Großteil dessen, was gesagt wurde, verstand. Sie hatte in der Schule Italienisch gelernt und ihre Fähigkeiten bei den Besuchen in der Villa Romano vertieft. Nun hoffte sie, dass ihre Sprachkenntnisse ihr dabei helfen würden, Giuseppe davon zu überzeugen, ihr Arbeit zu geben.

„Du bist so still, Orla.“

Torres tiefe Stimme riss sie aus den Gedanken.

Jetzt, wo sie einigermaßen über den ersten Effekt des Wiedersehens mit ihm hinweg war, konnte sie ihn mit etwas nüchternerem Blick betrachten, was seine Wirkung auf sie leider nicht abschwächte. Der oberste Knopf seines Hemdes war offen, und der Anblick seiner sonnengebräunten Haut mit den dunklen Haaren darauf erregte sie.

Hilfesuchend sah sie Jules an, doch der war in ein Gespräch mit Giuseppe vertieft. „Ich bin müde von der Reise“, antwortete sie kleinlaut.

„Der Flug von London nach Neapel dauert zweieinhalb Stunden. Das ist nicht besonders anstrengend“, erwiderte Torre.

„Ich wusste nicht, dass von mir erwartet wird, dich zu unterhalten“, entgegnete Orla. „Worüber soll ich mit dir reden?“

Das Funkeln seiner Augen verriet ihr, dass sie ihm in die Falle gegangen war. Zu gern hätte sie ihm den Inhalt der Wasserkaraffe ins Gesicht geschüttet, doch sie zwang sich zur Ruhe. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal wütend geworden war. Nur indem sie ruhig geblieben war, hatte sie David beschwichtigen können. Das einzige Mal, dass sie versucht hatte, ihren Standpunkt zu verteidigen, war er gewalttätig geworden.

Unwillkürlich hob sie die Hand an die Narbe über ihrer Augenbraue, wo der Ring, den David getragen hatte, sich tief in die Haut gegraben hatte. Die Wunde hatte so stark geblutet, dass Orla in die Notfallambulanz des Krankenhauses musste, um sich nähen zu lassen.

Als sie jetzt sah, dass Torre ihre Handbewegung bemerkt hatte, ließ sie ihren Arm rasch sinken.

„Warum erzählst du nicht ein bisschen von dir? Als wir uns vor acht Jahren kennengelernt haben, sind wir ja kaum zum Reden gekommen“, sagte er.

Orla spürte, wie sie errötete, als ihr Bilder von damals durch den Kopf gingen. Von Torre, der sich auf dem Bett ausstreckte, braungebrannt und durchtrainiert, und sie auf sich zog. Davon, wie sehr es sie fasziniert hatte, seinen sehnigen Körper an ihrem weiblichen Körper zu spüren. Weil sie nie zuvor einen Mann nackt gesehen hatte, war sie zunächst etwas eingeschüchtert von dem Anblick seines erregten Körpers gewesen, doch als er sie geküsst hatte, war sie von heftiger Leidenschaft gepackt worden, und ihre Zweifel waren wie weggeblasen gewesen.

„Was willst du wissen?“, fragte sie, fest entschlossen, nicht auf seine Sticheleien zu reagieren.

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch sein Blick war lauernd. „Zum Beispiel, wovon du lebst.“

Sie fragte sich, ob Torre die Geschichten kannte, die die Regenbogenpresse nach ihrer Scheidung über sie verbreitet hatte. Nachdem vor einem Monat das endgültige Scheidungsurteil gesprochen worden war, hatte Orla zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, was in den Klatschspalten über sie behauptet wurde. Dass sie es nur auf Davids Geld abgesehen und eine riesige Abfindungssumme eingeheimst hatte. Die Sympathie der Öffentlichkeit gehörte David, da man sie mit ihrer Mutter in Zusammenhang brachte, die dafür berüchtigt war, vom Geld ihrer reichen Ex-Männer zu leben.

Zu gerne hätte sie Torre erzählt, dass sie beruflich erfolgreich war. Immerhin war es Giuseppe gewesen, der das Interesse am Bau bei ihr geweckt hatte, woraufhin sie ihr Mathestudium aufgab und begann, Bauingenieurwesen zu studieren.

Sie bereute es zutiefst, das Studium nicht abgeschlossen zu haben. Sie hatte David im Abschlussjahr kennengelernt, in dem Exkursionen zu verschiedenen Bauprojekten anstanden. David gefiel es nicht, dass sie in einem männlich dominierten Berufsfeld tätig war. Im Nachhinein musste sie sich eingestehen, dass sich seine besitzergreifende, eifersüchtige Art schon vor ihrer Hochzeit gezeigt hatte. Kaum dass sie verheiratet gewesen waren, überredete er sie dazu, ihr Studium aufzugeben, damit sie ihn zu seinen Auslandsspielen begleiten konnte, und die Dinge nahmen ihren Lauf …

Orla lächelte den Kellner an, der ihre nicht gegessene Vorspeise gegen ein Risotto mit Meeresfrüchten austauschte. Leider hatte sie nach wie vor keinen Appetit und war mit den Gedanken in der Vergangenheit.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich wieder an der Uni einzuschreiben und ihr Studium abzuschließen, doch das Ende ihrer Beziehung hatte ihr Selbstvertrauen zu sehr beschädigt. Außerdem konnte sie durch die steigenden Arztkosten ihrer Mutter das Studium nicht mehr finanzieren. Also bildete sie sich zur Sekretärin weiter und nahm eine Stelle bei der Baufirma Mayalls an. Ihre Kenntnisse im Bauingenieurwesen erwiesen sich als wertvoll, sodass sie schnell zur Chefsekretärin befördert wurde. Doch als sie für längere Zeit zu ihrer Mutter nach Amerika reisen musste, erhielt sie wegen ihrer langen Fehlzeiten die Kündigung. Seitdem bekam sie nur Absagen auf ihre Bewerbungen, weshalb ihre finanzielle Situation katastrophal war. Und ihr Selbstwertgefühl war auf dem Nullpunkt angekommen – wie damals, als Torre sie davongejagt hatte.

Nun wartete er noch immer auf ihre Antwort. „Ich gehe davon aus, dass du arbeitest – oder bekommst du dein Leben von jemand anderem finanziert?“, fragte er.

„Ich habe momentan keine Arbeit“, antwortete sie mit tonloser Stimme.

„Laut Giuseppe wohnst du in Chelsea. Wie kannst du es dir leisten, in einem so exklusiven Teil Londons zu leben, wenn du nicht arbeitest?“

„Das geht dich nichts an“, antwortete sie. Giuseppe wusste nicht, dass sie das Luxusappartement, das er ihrer Mutter nach der Scheidung überlassen hatte, verkauft hatte, um damit Kimberlys Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Beim Verkauf zu erfahren, dass ihre Mutter eine Hypothek auf die Wohnung in Chelsea genommen hatte, war ein weiterer Schock für Orla gewesen. Doch es nützte nichts, das Torre zu erklären, der ihre Mutter verachtete.

Erschrocken über ihre patzige Antwort wartete Orla darauf, dass Torre wütend wurde – wie David es geworden war, wenn sie es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Doch Torre sagte nichts. Es kam ihr sogar fast so vor, als habe sie so etwas wie Respekt in seinem Blick gesehen.

Jules beendete seine Unterhaltung mit Giuseppe und wandte sich ihr zu. „Du hast kaum etwas gegessen. Ist dir nicht wohl? Das war aber auch was ganz Fieses, was du dir da eingefangen hattest!“

Orla lächelte ihn dankbar an. Er war ein echter Freund. „Nein, es geht schon wieder.“ Widerwillig sah sie zu Torre hinüber. Sein spöttischer Blick machte sie wütend.

Jules schien die gespannte Atmosphäre zwischen ihnen nicht zu bemerken und strahlte Torre an. „Ihr zwei habt euch sicher viel zu erzählen, nachdem ihr euch acht Jahre lang nicht gesehen habt.“

„Ich hätte gern gewusst, was Orla beruflich macht, aber sie hat mir gesagt, dass sie nicht arbeitet“, erwiderte Torre trocken.

„Ich hoffe, sie hat dir auch gesagt, dass es nicht ihre Schuld war, dass ihr letzter Arbeitgeber ihr gekündigt hat“, sprang Jules ihr bei und wandte sich an Giuseppe. „Orla ist eine sehr gute Sekretärin und wäre die ideale Besetzung für die Stelle als Assistenz des Prüfungsleiters der Londoner Niederlassung, aber sie ist vom Geschäftsführer Richard Fraser abgelehnt worden.“

„Zwar würde ich dir gerne helfen, weil es mich freut, dass du für das Unternehmen arbeiten möchtest “, meldete Giuseppe sich zu Wort, „aber ich bin nicht mehr für ARC zuständig. Zum hundertsten Firmenjubiläum werde ich der Presse mitteilen, dass ich meine Posten als Vorstand und Geschäftsführer meinem Sohn übertrage. Ich habe die Übergabe schon in die Wege geleitet, nachdem mir meine Lungenentzündung klargemacht hat, dass ich älter werde und es an der Zeit ist, einem Jüngeren mit mehr Energie und frischen Ideen das Ruder zu überlassen.“ Giuseppe erhob sich und nahm sein Weinglas auf. „Ich möchte auf Torre anstoßen. Ich bin sicher, dass ARC unter seiner Führung florieren und wachsen wird.“

Alle standen auf und hoben ihre Gläser. Orla gratulierte kleinlaut. Sie hatte gehofft, ihr Stiefvater würde ihr eine Stelle bei ARC geben. Doch nun hatte Giuseppe die Firma Torre übergeben, der ihr spinnefeind war.

Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, beugte Jules sich zu Torre hinüber. „Ich wäre dir dankbar, wenn du dich für Orla einsetzen und Richards Fraser bitten könntest, sie einzustellen.“

„Ich kann nichts versprechen. Dafür ist eigentlich die Personalabteilung zuständig“, antwortete Torre. „Aber ich werde mal einen Blick auf ihren Lebenslauf werfen.“

Gern hätte sie Torre gesagt, dass er sich das sparen könne. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr ohnehin keine Stelle gab. Eigentlich wollte sie ja nicht einmal Sekretärin werden, weil sie Büroarbeit nicht mochte. Aber es war das Einzige, wofür sie qualifiziert war, und sie brauchte Arbeit, um die Krankenhauskosten ihrer Mutter zu tragen.

„Ich nehme an, du hast deinen Lebenslauf dabei?“, fragte Torre.

„Ja“, antwortete sie und holte das Dokument aus ihrer Handtasche. Als Torre es über den Tisch hinweg entgegennahm, streiften sich ihre Hände. Es war nur eine flüchtige Berührung, doch sie raubte Orla den Atem.

Torres Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Auf einmal wurde sie wütend. Was gab ihm das Recht, so auf sie hinabzusehen?

Ihre einzige Verfehlung war, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Dass sie so dumm gewesen war, Lust und Liebe miteinander zu verwechseln. Torre hatte damals nichts anderes gewollt als ihren Körper, während sie als naive Achtzehnjährige eine magische Nacht lang an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt hatte.

Als sie wieder zu ihm hinsah, fand sie seinen Blick auf sich gerichtet. Es verwirrte sie, so von ihm gemustert zu werden, und sie spürte, wie Erregung sich in ihr breitmachte. Errötend presste sie ihre Beine zusammen. Er wusste, dass sie dagegen ankämpfte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sein schwelender Blick gab ihr das Gefühl, dass er daran dachte, wie er sie eben in der Auffahrt fast geküsst hatte.

„Komm in zwanzig Minuten in die Bibliothek, dann sprechen wir darüber“, sagte er und erhob sich. „Wenn du mich davon überzeugen kannst, dass deine Fähigkeiten der Firma nützlich sein können, leite ich deine Unterlagen vielleicht an die Personalabteilung weiter.“

Das klang nicht besonders ermutigend, aber immerhin hatte er sie nicht gleich abgelehnt. „Danke“, sagte sie und verspannte sich, als Jules nach ihrer auf dem Tisch ruhenden Hand griff.

„Ich habe dir doch gesagt, das wird schon, Chérie.“

Orla meinte zu sehen, wie Torre die Augen zusammenkniff, und errötete schuldbewusst, obwohl sie nichts getan hatte, dessen sie sich schämen müsste. Zu gern hätte sie Jules ihre Hand entzogen, zumal sie sich seinen besitzergreifenden Tonfall sicher nicht eingebildet hatte. Als Torre sich entfernte, sah sie ihm ängstlich hinterher. Sie hatte das sonderbare Gefühl, sich auf einem gefährlichen Weg zu befinden, von dem es kein Zurück gab.

3. KAPITEL

Torre spürte, dass Orla die Bibliothek betrat, obwohl er mit dem Rücken zur Tür stand und sie ganz leise war. Ihm wurde eng in seiner Haut, als er ihren zarten Duft wahrnahm, ein leichtes, blumiges Parfüm mit Jasminnoten und etwas nicht Greifbarem, das ihn an eine aufregende Sommernacht vor vielen Jahren erinnerte.

Einmal, sein Vater war damals noch mit Kimberly verheiratet gewesen, war Torre von einer Geschäftsreise in die Villa Romano gekommen und musste erfahren, dass er Orla, die zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen war, um eine Stunde verpasst hatte. Er hatte sich eingeredet, dass er ohnehin kein Bedürfnis verspürte, sie wiederzusehen. Doch als er die Bibliothek betrat, wo Orla laut seinem Vater die meiste Zeit verbrachte, anstatt wie ihre Mutter am Pool zu liegen und Klatschblätter zu lesen, hing noch ein Hauch von ihrem Duft in der Luft, und alles in ihm hatte sich sehnsüchtig zusammengezogen.

Jetzt stand er viele Jahre später in derselben Bibliothek und atmete ihren Duft ein. Gut, dass er sie vorhin nicht geküsst hatte. Er verstand selbst nicht, was in ihn gefahren war, dass er plötzlich das heftige Bedürfnis verspürt hatte, sie in sein Auto zu setzen und mit ihr nach Ravello zu sich nach Hause zu fahren.

Natürlich war er gespannt darauf gewesen, sie nach all den Jahren wiederzusehen, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn ein derart heftiges Verlangen nach ihr befallen könnte. Ihm war ganz anders geworden, als er sie an seinem Wagen hatte stehen sehen – in ihrem mattgrünen Kleid, das ihren kleinen, festen Brüsten und ihrem wohlgeformten Po schmeichelte. Ihr Blick war unter dem Schatten der Krempe ihres Sonnenhuts und ihrer Sonnenbrille verborgen geblieben. Insgesamt hatte sie unaufdringlich elegant gewirkt und trotz der Sommerhitze kühl wie ein Gin Tonic mit Eis und duftig wie eine englische Rose.

Sie hatte sein Blut in Wallung gebracht, und ihm war egal gewesen, wer sie war. Natürlich wusste er ganz genau, was sie bezweckt hatte, als sie vor all den Jahren mit ihm geschlafen hatte, und er war ganz sicher, dass sie ihm ihre Unschuld in der Erwartung geopfert hatte, dass er genauso leichtgläubig war wie sein Vater, der ihre blutsaugerische Mutter geheiratet hatte.

Zum Glück war Jules wieder hinausgekommen und hatte ihn davor bewahrt, den gleichen Fehler noch einmal zu machen und sich von der Leidenschaft den Verstand vernebeln zu lassen. Torre mochte seinen Stiefbruder, obwohl er ganz anders war als er. Jules war viel umgänglicher als er, was wohl daran lag, dass er die arglose Art seiner Mutter hatte.

Sein Vater hatte Sandrine geheiratet, als Torre zehn gewesen war. Sie hatte die Leere weitestgehend ausgefüllt, die sich in Torre breitgemacht hatte, als seine Mutter vier Jahre zuvor gestorben war. Es war ihm unverständlich gewesen, dass sein Vater die freundliche und gutherzige Sandrine schließlich gegen das habgierige Flittchen Kimberly Connaught eingetauscht hatte. Als Orla ihm nach der gemeinsam verbrachten Nacht enthüllte, dass sie Kimberlys Tochter war, warf er ihr vor, ihn hereingelegt zu haben. Er war wütend auf sich selbst gewesen, weil er sich wie sein Vater von einer Frau in die Falle hatte locken lassen. Aber das Schlimmste war sein schlechtes Gewissen, weil er es als Verrat an seiner Stiefmutter ansah, dass er sich jemanden aus dem gegnerischen Lager ins Haus geholt hatte.

„Torre“, riss Orla ihn aus den Gedanken. Ihre Stimme war klar und weich wie ein Gebirgsbach. Kurz hatte Torre das Gefühl, als legte sich eine samten behandschuhte Hand um ihn. Eben am Tisch hatte er Orla ständig ansehen müssen. An Essen war kaum zu denken gewesen, weil er mehr Lust auf etwas anderes hatte.

Doch er war kein unreifer Junge mehr, kein Sklave seiner Hormone. Er ließ sich von niemandem aus dem Konzept bringen, schon gar nicht von einer Frau, die, wenn man der Presse glauben durfte, genauso geldgierig war wie ihre Mutter. Torre atmete tief durch, bevor er sich mit finsterer Miene zu Orla umwandte. Es wurmte ihn, dass sie so gelassen war, und er wollte sie so durcheinanderbringen, wie sie ihn durcheinanderbrachte.

Wie schaffte sie es nur, so verdammt unschuldig zu wirken, obwohl sie es – das wusste er definitiv – nicht wahr? Als er den Raum durchquerte, sagte er sich, dass es unklug war, ihr zu nahe zu kommen, wenn er sich gerade so gar nicht im Griff hatte. Doch nun war es bereits zu spät. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass er einen Anflug von Verunsicherung und auch ein gewisses Interesse in ihrem Blick sah, bevor sie die Augen niederschlug.

Er erinnerte sich daran, wie die grünen Sprenkel in ihren Augen bei Erregung dunkler geworden waren. Ihr langes, glattes Haar wallte wie ein seidener Vorhang über ihren Rücken. Es hatte die gleiche rotgoldene Farbe wie die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen, die sich deutlich von ihrer Porzellanhaut abhoben. Nie hatte er etwas so Schönes gesehen.

Verdrossen gestand er sich ein, dass er keine andere Frau so sehr begehrt hatte wie Orla. Er hasste sich für seine Schwäche, die dafür verantwortlich war, dass er jetzt so erregt war, dass es schmerzte.

„Warum bist du hergekommen?“, fragte er barsch.

Sie sah ihn verwundert an. „Du hast mich gebeten, herzukommen, um über eine etwaige Anstellung zu sprechen.“

„Ich meine, warum bist du in die Villa Romano gekommen?“

„Weil Giuseppe mich zu seinem Geburtstag eingeladen hat.“

„Das hat er auch in den vergangenen Jahren getan. Warum bist du dieses Mal gekommen?“

„Der Siebzigste ist ein runder Geburtstag. Und Jules’ Idee, dass wir zusammen nach Amalfi reisen könnten, kam mir ganz gut vor.“

„Das glaube ich gern.“

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Was willst du damit sagen?“

Mit Genugtuung hörte er ihren gereizten Tonfall. Er hatte sie aus der Reserve locken wollen. Vor acht Jahren war sie so erfrischend unverstellt gewesen. So jung und unerfahren. Wie unerfahren sie tatsächlich gewesen war, hatte er erst gemerkt, als sie unter ihm kurz erstarrt war, doch da war es bereits zu spät gewesen, um sie daran zu hindern, dass sie ihm ihre Jungfernschaft opferte.

Jetzt musste sie sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig sein, und er war überrascht, dass sie nicht dieselben berechnenden Züge entwickelt hatte wie ihre Mutter. Trotzdem hatte sie ihre Begeisterungsfähigkeit verloren, die damals ihre Augen zum Leuchten gebracht hatte. Die erwachsene Orla war reserviert und kühl, mit einer unnahbaren Ausstrahlung, die einen Mann leicht in den Wahnsinn treiben konnte.

Torre bedeutete ihr, sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu setzen. Anstatt selbst dahinter Platz zu nehmen, lehnte er sich vor ihr an den Tisch. „Ich habe deinen Lebenslauf gelesen“, sagte er und nahm das Dokument vom Tisch. „Du scheinst ja die erforderlichen Kompetenzen als Sekretärin mitzubringen, aber es sieht nicht so aus, als würdest du über Erfahrungen in der Buchhaltung verfügen.“

„Ich habe nie in der Buchhaltung gearbeitet.“

„Warum bewirbst du dich dann als Sekretärin des Prüfungsleiters?“

„Die Aufgaben der Sekretärin unterscheiden sich kaum in den verschiedenen Abteilungen“, antwortete sie. „Jules hat mir von der Stelle in der Buchhaltung erzählt und vorgeschlagen, dass ich mich bewerbe.“

Es überraschte Torre nicht, dass sein Stiefbruder versucht hatte, Orla in seiner Abteilung unterzubringen, um sie jeden Tag sehen zu können. „Und du hast angenommen, Jules würde ein gutes Wort beim Geschäftsführer unserer Londoner Niederlassung für dich einlegen“, antwortete er und sah befriedigt zu, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Ich habe gar nichts angenommen“, erwiderte sie aufgebracht, fasste sich aber sofort wieder. Zu gern hätte Torre sie geschüttelt oder geküsst – wenn er nur imstande gewesen wäre, ihren ungerührten Ausdruck zunichtezumachen, der ihn noch in den Wahnsinn trieb.

„Zwei Sachen machen mich stutzig. Erstens frage ich mich, warum du einen Job suchst, obwohl du bei deiner Scheidung diese Riesenabfindung bekommen hast, über die in der Presse berichtet wurde.“

Wieder errötetet sie, doch diesmal sprang sie nicht auf seine Provokation an und sagte mit tonloser Stimme: „Über meine Scheidung ist alles Mögliche berichtet worden, was jeglicher Grundlage entbehrt. Wenn du an alles glaubst, was über mich geschrieben wurde, ist das dein Problem.“

„Wenn die Meldungen nicht korrekt waren, warum hast du dann keinen Widerruf verlangt oder bist rechtlich gegen die entsprechenden Medien vorgegangen?“

Ihr bitteres Lachen versetzte Torre einen Stich. „Ich habe kein Geld von David bekommen. Ich wollte nichts von ihm haben. Und darum konnte ich es mir nicht leisten, gegen die Zeitungen vorzugehen.“

Zu gern hätte Torre ihr geglaubt. Himmel, war er noch ganz bei Trost? „Also hast du dich bei ARC beworben“, sagte er, „aber der Geschäftsführer hat dich abgelehnt. Weiß Jules, dass man dir deine Stelle bei Mayalls wegen zu vieler Krankentage gekündigt hat?“ Als sie ihn verwundert ansah, fuhr er fort: „Ich habe Richard Fraser angerufen, um ihn zu fragen, warum er dich abgelehnt hat. Er hat mir gesagt, dass er mit dem Abteilungsleiter von Mayalls telefoniert und erfahren hat, dass du wegen deiner exorbitanten Fehlzeiten gefeuert worden bist.“

Orla hielt den Blick gesenkt, und Torre verspürte das starke Bedürfnis, ihr Kinn zu nehmen und sie zu zwingen, ihn anzusehen. „Es war eine schwere Zeit, und ich konnte nicht arbeiten, weil …“ Ihre Stimme versagte, und Torre fand, dass sie eine gute Schauspielerin war. „Aus persönlichen Gründen, die ich ungern ausführen möchte.“

„Jules hatte bestimmt Mitleid mit dir, als du ihm diese rührselige Geschichte erzählt hast. Es ist sicher praktisch, jemanden zu haben, der einem so nach der Pfeife tanzt.“

Endlich sah sie zu ihm auf. Ihr Zorn ließ die grünen Sprenkel in ihren Augen leuchten. Es erfüllte Torre mit Genugtuung, dass er Orla endlich aus der Reserve gelockt hatte. Seine innere Stimme ermahnte ihn, dass sein Verhalten dem eines Kindes glich, das Aufmerksamkeit wollte.

„Da tust du ihm unrecht“, sagte sie. „Jules und ich sind gute Freunde.“

„Er ist in dich verliebt. Das sieht doch ein Blinder.“

„Du irrst dich. Jules ist nicht in mich verliebt.“ Sie sprang auf. Jetzt, wo sie stand, war sie zwischen ihm und dem Stuhl gefangen. Torre sah den Puls an ihrem Hals schlagen und wollte die Stelle küssen, wollte darüberlecken und ihre seidige Haut schmecken.

„Auch wenn Jules sehr nett und aufmerksam zu mir ist, sind wir nur Freunde. Aber ich nehme an, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass ein rein freundschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau möglich ist. Du bist so ein … Macho.“ Das klang wie eine Beleidigung, so, als sei sie zu fein, um raue Männlichkeit zu ertragen. „Es geht nicht immer nur um Sex, weißt du?“

„Mein Stiefbruder ist eben auch nur ein Mann“, erwiderte er. „Er will mit dir ins Bett, und das ist sehr verständlich.“ Er ließ seinen Blick über sie schweifen. Ihre kleinen Brüste mit den aufgerichteten Knospen zeichneten sich unter ihrem Seidenkleid ab. Torre hörte seinen eigenen und ihren sich beschleunigenden Atem und sah, dass die Verärgerung in ihrem Blick einer Erregung wich, welche die grünen Sprenkel in ihren Augen dunkler werden ließ. „Beim Essen habe ich Jules beobachtet. Er ist hinter dir her wie ein Rüde hinter einer läufigen Hündin. Und du machst ihm gerade genug Hoffnungen, um ihn bei der Stange zu halten.“

Orla wurde ganz blass. „Du bist widerlich“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Wie kommst du dazu, so mit mir zu sprechen?“

„Ich schätze und respektiere meinen Stiefbruder und werde nicht zusehen, wie er sich lächerlich macht, indem er sich auf dein Spielchen einlässt.“

„Und was wäre das für ein Spielchen?“

„Das gleiche Spiel, das du damals mit mir gespielt hast. Aber obwohl du damals deinen Trumpf ausgespielt und dich von mir hast entjungfern lassen, habe ich mich nicht von dir blenden lassen und erkannt, dass du genauso geldgierig bist wie deine Mutter. Du hast versucht, Schmuck zu stehlen, der meiner Mutter gehört hat!“

Sie seufzte. „Ich habe dir doch gesagt, dass Giuseppe die Ohrringe meiner Mutter geschenkt hat. Und sie hat sie mir geliehen. Ich hatte sie auf der Feier getragen und sie aus Angst, dass ich sie verlieren könnte, abgemacht und in meine Handtasche gesteckt.“

Von wegen! Er würde nicht auf Orlas unschuldiges Getue hereinfallen. Seine Mutter hatte die Smaragdohrringe geliebt und sie bis zu ihrem Lebensende getragen. Als Orla die Handtasche ausgeschüttet hatte und die Ohrringe herausgekullert waren, war er geschockt gewesen und hatte nicht glauben wollen, dass sein Vater seiner neuen Frau tatsächlich Schmuck von Elisabetta geschenkt hatte. Später hatte er allerdings entdeckt, dass Giuseppe verschiedenen Geliebten Schmuck seiner ersten Frau geschenkt hatte. Vielleicht hatte er die Ohrringe also tatsächlich Kimberly geschenkt. Torre beschlich das unangenehme Gefühl, dass er Orla vielleicht zu Unrecht beschuldigte. Aber selbst dann war sie keine Heilige.

„Bei deinem reichen Sportler hattest du da ja mehr Erfolg“, entgegnete er. „Ich weiß nicht, ob du weniger Abfindung bekommen hast, als die Medien behauptet haben, oder ob du schon alles ausgegeben hast, aber nun hat sich ja zum Glück dein ach so guter Freund Jules in dich verliebt. Er würde alles für dich tun und sogar versuchen, meinen Vater zu überreden, dir eine Stelle zu geben. Aber nun hat Giuseppe mir die Firma überschrieben, und ich bin nicht so von dir eingenommen wie Jules. Ich nehme mal an, du hast vor, ihn zu heiraten? Er ist reich und betet dich an. Aber dein Plan hat einen Haken.“

„Ach ja?“ Orlas Augen blitzten wütend, doch ihre Stimme war spöttisch und kühl, und in Torre machte sich ein heftiges Verlangen breit – ein Verlangen, das mit all den bedeutungslosen Abenteuern im Laufe der Jahre nie befriedigt worden war. Und das wegen einer Frau, die nicht einmal sein Typ war! Er mochte sportliche Blondinen, deren Einstellung zu Sex so unkompliziert war wie seine eigene. Es war ihm rätselhaft, warum diese rothaarige Person mit ihren großen Augen und dem blassen, hübschen Gesichtchen ihn so durcheinanderbrachte.

Er richtete sich auf, wobei er sie fast berührte. „Dein Problem ist, dass du eine schlechte Schauspielerin bist. Du erstarrst jedes Mal, wenn Jules dir näher kommt oder dir seine Zuneigung zeigt, und früher oder später wird der arme Kerl merken, dass du nicht mit ihm ins Bett willst.“

„Natürlich will ich nicht ins Bett mit ihm!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften, wodurch sich ihre Brüste seinem Oberkörper entgegenbewegten, und als er ihr in die Augen sah, beobachtete er, wie ihre Pupillen sich weiteten. „Und ich will ihn auch nicht heiraten.“

„Von wegen!“ Torre konnte sich nicht länger beherrschen; er musste sie berühren. Während er eine Strähne ihres Haars um die Finger der einen Hand wickelte, schob er die andere um ihre Taille. „Mit Jules willst du nicht ins Bett, aber mit mir schon, oder?“

„Du bist so eingebildet!“ Orla funkelte ihn an, widersprach ihm aber nicht und versuchte auch nicht, sich ihm zu entziehen. Ihr aufgebrachter Blick war unwiderstehlich. Stöhnend zog er sie an sich und küsste sie.

Sie legte ihre Hände auf seinen Oberkörper, doch anstatt ihn von sich zu schieben, wie er es fast erwartete, spreizte sie ihre Finger und ließ ihre Hände auf seine Schultern wandern, während sie sich seinem Kuss hingab. Und er wurde von einem heftigen Triumphgefühl gepackt, als sie seinen Kuss schließlich mit einem Verlangen erwiderte, das seinem glich, fast so, als hätte sie sich seit acht Jahren nach ihm verzehrt und genau wie er diese Sehnsucht empfunden, die jedes Mal hochgekommen war, wenn er an sie gedacht hatte.

Er drückte sie ganz fest an seinen erregten Körper und verlor sich in dem leidenschaftlichen Kuss. Seine Beherrschung war dahin. An ihre Stelle trat ein verzweifeltes Verlangen, das ihn wütend machte, weil er nicht verstand, warum er Orla so heftig begehrte, wie er nie zuvor eine Frau begehrt hatte.

Dieser Gedanke brachte ihn wieder zur Besinnung. Er brauchte Orla nicht. Aber wie damals hatte sie ihn die Beherrschung verlieren lassen. Er war so schwach wie sein Vater, ein Sklave seines Verlangens nach einer schönen Frau, die sicher mindestens so geldgierig war wie ihre Mutter.

Voller Selbstverachtung riss er sich widerwillig von ihr los. „Die Stelle, für die du dich beworben hast, ist bereits besetzt worden“, sagte er. „Aber selbst wenn sie noch frei wäre, hätte ich sie dir nicht gegeben. Genauso wenig wie jede andere Stelle im Unternehmen.“

Orla blinzelte, und die Erregung in ihrem Blick wich einem verunsicherten Ausdruck. Sie trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

Torre bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte. Doch davon ließ er sich nicht beirren. „Ich rate dir, dich von Jules fernzuhalten. Zieh aus London weg und such dir ein anderes Opfer. So hübsch, wie du bist, findest du sicher schnell einen neuen Anbeter.“

Orla schluckte. „Du irrst dich mit Jules“, flüsterte sie.

„Er ist ein Romantiker und hält dich für eine Prinzessin, die er mit einem Kuss aufwecken kann“, fuhr Torre unbeirrt fort. „Er hat keine Ahnung, dass du ein geldgieriges Flittchen bist und er zahlen muss, wenn er dich haben will. Wirst du dich ihm nach und nach verkaufen? Wie viel nimmst du für einen Kuss? Und wie viel dafür, dass er deine Brüste berühren darf? Und wirst du ihn warten lassen, bis du dir seiner ganz sicher bist, weil dein Name auf dem Trauschein steht, bevor du mit ihm ins Bett gehst?“

Wie gebannt sah Torre in ihre vor Wut funkelnden Augen, weshalb er nicht auf die saftige Ohrfeige vorbereitet war, die sie ihm verpasste.

Das brachte ihn zur Besinnung. Seit ihrem Wiedersehen war er nicht ganz bei sich gewesen. Torre berührte die Stelle, wo sie ihn erwischt hatte. „Du kannst ja ganz schön kräftig zuschlagen“, brummte er und gestand sich beschämt ein, dass er zu weit gegangen war.

Als er sie ansah, bemerke er, dass sie so blass war, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Fluchend streckte er die Arme aus, um sie aufzufangen. Sie wich zurück, und ein angsterfüllter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

„Es tut mir so leid, ich kann es nicht glauben, dass ich dich geschlagen habe!“ Sie hob eine Hand vor den Mund und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. „Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich bin kein Stück besser als er.“

„Als wer?“ Torre runzelte die Stirn und sah, wie sie die Lippen zusammenkniff, als bereute sie ihre Worte.

„Es tut mir leid“, wiederholte sie. Kurz dachte er, dass sie mit ihrer sonderbaren Reaktion einfach nur Mitleid erwecken wollte, aber sie zitterte, und ihr erschrockener Gesichtsausdruck war zu echt.

„Ich habe es verdient“, erwiderte er. Vor acht Jahren hatte sie ihn schwach gemacht. Aber er konnte ihr nicht die Schuld dafür zuschieben, dass er seinen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht wurde. Vielleicht war sie ein Flittchen, das es darauf abgesehen hatte, einen reichen Mann seines Geldes wegen zu heiraten, wie ihre Mutter es so oft getan hatte. Eine gescheiterte Ehe hatte Orla schon hinter sich.

Ihre tränenglänzenden Augen lösten eine unbekannte Regung in Torre aus, die er nicht weiter erkundete. Als sie sich verspannte, als erwartete sie, jeden Moment selbst geschlagen zu werden, runzelte er die Stirn. „Orla – wovor hast du Angst?“

Anstatt ihm zu antworten, wirbelte sie herum und stieß dabei so heftig mit dem Knie gehen die Stuhlkante, dass es laut krachte. „Langsam“, ermahnte er sie, als sie durch den Raum spurtete. Er holte sie ein, als sie nach der Türklinke griff. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, woraufhin sie einen kläglichen Laut von sich gab und sich an die Tür drückte.

„Nicht, David, bitte nicht …“

4. KAPITEL

Orla hörte Torre fluchen.

Torre. Nicht David. Während das Bild langsam zu verblassen begann, wie David vor ihr stand, die Hand zum Schlag erhoben, holte sie tief Luft und biss sich auf die Lippe. Hoffentlich hatte sie nicht Davids Namen gerufen. Einen Moment lang hatte sie dieselbe lähmende Angst empfunden wie an dem Abend, als David sie im Badezimmer in die Ecke gedrängt hatte. Sie sah es vor sich, als wäre es erst gestern passiert. Wie er die Tür verschloss, bevor er auf sie zukam, wie er ihre Angst genoss … Zehn Monate vorher hatte er versprochen, sie zu lieben und zu beschützen, doch am Ende war er der Meinung gewesen, dass sie eine schlechte Ehefrau und damit verantwortlich für seine Wutanfälle wäre.

Aber niemand verdiente es, körperlich oder verbal angegriffen zu werden. Das hatte die Krankenschwester in der Notaufnahme gesagt, als Orla ihr erzählt hatte, dass sie sich die Wunde über dem Auge bei einem Sturz zugezogen habe.

Orla sah Torre an, der mit finsterer Miene vor ihr stand, und seufzte tief, als sie sah, dass seine Wange von ihrer Ohrfeige gerötet war. Sie war kein Stück besser als David. Dass sie wütend auf Torre gewesen war, rechtfertigte ihr Verhalten keineswegs. Sie konnte es Torre nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nun an ihr rächte. Sie schloss die Augen und wappnete sich für seinen Schlag. Doch es passierte nichts, und als sie die Augen wieder öffnete, sah er sie nur mit unergründlichem Blick an.

„Hast du etwa Angst vor mir?“, fragte er schließlich ungläubig. Er sah verärgert aus, doch Orla hatte das Gefühl, dass sein Ärger sich nicht gegen sie richtete. „Was denkst du denn, was ich dir antun will, Piccola?“, fragte er ganz ruhig, als wolle er verhindern, dass sie noch mehr Angst bekam. Sie wusste, dass Piccola ‚Kleine‘ hieß – und brach in Tränen aus. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ihr nicht wehtun würde. Doch sie hatte schmerzlich erfahren müssen, dass sie sich nicht immer auf ihr Gefühl verlassen konnte.

Orla wusste nicht, was sie Torre antworten sollte. Sie hasste sich dafür, dass sie sich vor ihm so gehen ließ, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie wollte seinen sicherlich verächtlichen Blick nicht sehen.

Er brummte etwas auf Italienisch, das sie in ihrem Elend nicht verstand, schlang einen Arm um ihre Taille und einen hinter ihre Knie, und eh sie reagieren konnte, hob er sie hoch und trug sie zu einem Sofa am Fenster.

„Lass mich los“, rief sie und versuchte, sich frei zu strampeln, doch er setzte sich, zog sie auf seinen Schoß und streichelte ihr übers Haar. Seine unerwartete Fürsorglichkeit ließ sie nur noch mehr weinen. Orla konnte sich nicht erklären, warum sie sich in seinen Armen so geborgen fühlte. Sein regelmäßiger Atem beruhigte sie. Sie lehnte den Kopf an seinen Oberkörper und wischte sich die Tränen ab, bevor sie Torre ins Gesicht sah, das ihrem viel zu nah war.

„Geht es dir besser?“, fragte er. Nichts in seiner Stimme verriet, was er dachte.

„Ja, danke.“

„Möchtest du darüber reden?“

„Nein.“ Orla wollte weder über die Brutalität ihres Ex-Mannes mit ihm sprechen noch über ihre Scham darüber, was sie eben getan hatte. Sie versuchte, von seinen Knien zu rutschen, doch er umschlang sie fester, und sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Also blieb sie sitzen und wunderte sich ein wenig darüber, dass Torre sie hielt, als sei sie zart und zerbrechlich, nachdem er sie eben noch bezichtigt hatte, Jules ausnehmen zu wollen.

Torre irrte sich. Jules hatte nie angedeutet, dass er mehr von ihr wollte als die lockere Freundschaft, die sie verband. Allerdings hatte er sich ihr gegenüber eigenartig besitzergreifend verhalten, seitdem sie in Amalfi angekommen waren, und Orla war nicht wohl dabei.

„Nach den Feierlichkeiten wird Giuseppe auf Kreuzfahrt gehen“, sagte Torre. „Das wird ihm nach der Lungenentzündung sicher guttun.“

Offenbar wollte er die Stimmung wieder normalisieren. Orla war froh, dass er sie nicht zu einer Erklärung gedrängt hatte. Also blieb sie dankbar bei dem Thema. „Wo geht es denn hin?“

„In die Karibik.“

„Wie schön!“

„Während Giuseppe unterwegs ist, bietet es sich an, dringend fällige Renovierungsarbeiten am Haus durchzuführen.“

„Was für Renovierungsarbeiten?“

„Es gibt Probleme mit dem Fundament. Das Haus sinkt quasi in den Boden ein, einfach ausgedrückt.“

Orla nickte. „Absenkung ist gerade bei älteren Gebäuden problematisch. Bei einem so großen Haus wie der Villa Romano ist es nicht einfach, das Fundament zu unterfangen.“

Torre sah sie verwundert an. „Ich bin erstaunt, dass du dich mit Absenkung und Unterfangung auskennst.“

Einen Moment lang war sie versucht, ihm zu sagen, dass sie drei Jahre lang Bauingenieurswesen studiert hatte. Doch sie fürchtete, dass er sie fragen könnte, warum sie ihren Abschluss nicht gemacht hatte. Und weil sie sich schämte, zuzugeben, dass sie ihre Karriere für einen Mann aufgegeben hatte, wegen dem sie durch die Hölle gegangen war, antwortete sie: „Ich habe ein paar Fachbegriffe bei Mayalls aufgeschnappt.“

Zu ihrer Erleichterung fragte Torre nicht weiter. Allerdings musterte er sie nachdenklich, und auf einmal fand sie es nicht mehr beruhigend, sein Herz im Einklang mit ihrem Puls schlagen zu hören. Ihre Reaktion auf Torre machte ihr Sorgen. Alles kam ihr auf einmal vor wie ein Traum. Sie starrte auf die Stelle, wo sein Hemd, dessen oberste Knöpfe offen waren, den Blick auf ein Dreieck gebräunter Haut freigab. Orla konnte kaum glauben, was sie da tat, als sie ihre Hand auf seine Haut legte, um seine Wärme und den Kontrast zwischen samtener Haut und den drahtigen Haaren auf seinem Oberkörper zu spüren. Er hielt den Atem an, als sie ihre Hand seinen Hals emporwandern ließ und über die dunklen Bartstoppeln auf seinem Unterkiefer streichelte.

Betört von seiner Männlichkeit führte sie ihre Entdeckungsreise fort und fuhr seine sinnlichen Lippen mit den Fingerspitzen nach. Es kam ihr so unwirklich vor, hier auf seinem Schoß zu sitzen und sich an seinen muskulösen Oberkörper zu schmiegen! Und wenn es nicht wirklich war, wenn sie wieder einmal von Torre träumte, wie so oft in den vergangenen acht Jahren, dann konnte es nicht schaden, wenn sie ihm jetzt einladend den Mund entgegenhielt.

Torre gab einen kehligen Laut von sich, der ihr durch und durch ging und ihr Verlangen vollends entfachte. Gleichzeitig wallte Erleichterung in ihr auf, unbändige Freude darüber, dass David es nicht geschafft hatte, ihr weibliches Verlangen zu zerstören. Sie musste sich sogar eingestehen, dass sie Torre mehr begehrte, als sie David je begehrt hatte.

„Du machst mich wahnsinnig“, sagte Torre. Sein warmer Atem streifte ihre Lippen, bevor er sie küsste, innig und so erotisch, dass es Orlas Verlangen noch verstärkte. Er ließ seine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten, und sie erwiderte seinen Kuss voller Inbrunst. Sie spürte, wie hart er war. Es gab nur noch sie und ihn und ihre Lust aufeinander. Als sie sich ihm entgegendrängte, stöhnte er auf.

„Ich wusste von Anfang an, dass du eine Hexe bist.“

Seine Stimme war heiser vor Erregung, aber seine Worte zwangen Orla, sich ihre Situation klarzumachen. Torre hatte ganz deutlich gemacht, dass er sie verachtete. Trotzdem hatte sie sich ihm an den Hals geworfen – wie das Flittchen, für das er sie hielt.

Obwohl es ihr unendlich schwerfiel, löste sie den Kuss. Ihr Körper sehnte sich nach ihm. Aber sie war nicht mehr die naive Achtzehnjährige, die sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Torre hatte ihr das Herz gebrochen, und sie hatte lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Sie hatte David geheiratet, nachdem sie von Torres Verlobung mit einer Comtesse gehört hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es einen Zusammenhang gab. Orla ließ sich von seinen Knien gleiten und erhob sich.

Sie war schmerzlich enttäuscht darüber, dass er nicht versuchte, sie aufzuhalten. Wie blöd war sie eigentlich? Er hatte ihr schon einmal wehgetan und konnte es wieder tun.

Orla schämte sich, dass sie seinem Zauber so schnell erlegen war. Und sie war verwirrt von ihrer Reaktion auf ihn. Sie begehrte ihn genauso sehr wie damals mit achtzehn.

Ihr Stolz war ihre einzige Abwehr. „Du hättest mich nicht küssen dürfen“, sagte sie verärgert.

„Das war eher andersrum. Du hast mich geküsst“, erwiderte er mit einem spöttischen Lächeln. Doch da war noch etwas in seinem Blick, das sie nicht deuten konnte. Als sie in seinen Armen geweint hatte, war es ihr fast vorkommen, als habe sie Mitleid darin gesehen.

Sie wollte sein Mitleid nicht. Beschämt wandte sie sich um und ging hoch erhobenen Hauptes zur Tür.

Torre sah Orla den Raum verlassen und wäre gern hinterhergegangen. Er wusste nicht, warum er auf einmal den Drang verspürte, sie zu beschützen, sie in den Armen zu halten und zu trösten, wie er es eben getan hatte.

Frauen wie sie brauchten nicht beschützt zu werden. Er hatte viele von ihrer Sorte kennengelernt – Frauen, die ihre Schönheit benutzten, um reiche Männer auszunehmen. Orla hatte bereits eine Scheidung hinter sich. Es war verständlich, dass Jules ihrem überirdischen Zauber erlegen war, aber ihr freundliches Wesen und ihre Zerbrechlichkeit waren nur aufgesetzt, da war Torre sich sicher.

Er ging zum Fenster. Die Sehnsucht, die Orla in ihm geweckt hatte, wühlte ihn auf und ließ alles klarer erscheinen. Vor acht Jahren hatte es mächtig geknistert zwischen ihnen, doch seine Gefühle für sie waren komplexer geworden, als er mit ihr ins Bett ging. Es hatte ihn erschrocken, wie nahe sie ihm gegangen war. Als er am nächsten Morgen erfahren musste, wer sie war, hatte er ihr unterstellt, geldgierig wie ihre Mutter zu sein. In Wahrheit war er froh gewesen, einen Vorwand zu haben, sie wegzuschicken.

Sie hatte ihn dazu bringen wollen, sie zu heiraten – warum sonst hätte sie ihm ihre Unschuld schenken sollen? Als sie aus seinem Schlafzimmer gestürzt war, hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass sie irgendetwas anderes sein könnte als ein durchtriebenes Stück, das sich einen reichen Mann angeln wollte.

Und dass Orla eben zusammengebrochen war und so verletzlich gewirkt hatte, hieß nicht zwangsläufig, dass er sich damals geirrt hatte. Stirnrunzelnd dachte er daran, wie verängstigt sie geguckt hatte, als er ihr nach ihrer Ohrfeige gefolgt war. Offenbar hatte sie erwartet, dass er sich rächen würde, was vermuten ließ, dass sie in ihrer Vergangenheit Gewalt erfahren hatte.

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, ging zurück zum Schreibtisch und griff nach Orlas Lebenslauf. Wenn er ihr einen Job gab, konnte er vielleicht herausfinden, ob sie wirklich nur mit seinem Stiefbruder befreundet sein wollte oder ob sie es auf eine Ehe mit Jules abgesehen hatte. Und auf alle Fälle wäre es interessant, herauszufinden, wer Orla Brogan wirklich war.

5. KAPITEL

Orla stieg aus dem Pool und ging zu Jules, der auf einem Sonnenstuhl lag. Normalerweise half ihr das Schwimmen dabei, einen klaren Kopf zu bekommen, aber heute hatte es nicht funktioniert. All die Bahnen, die sie zurückgelegt hatte, waren vergeblich – Torre beherrschte noch immer ihre Gedanken.

Die Sonne knallte vom wolkenlosen Himmel, und Orla schob einen Liegestuhl in den Schatten eines Sonnenschirms. „Vor ein paar Jahren hat Giuseppe erzählt, Torre hätte sich verlobt“, sagte sie so beiläufig wie möglich zu Jules. „Warum hat er nicht geheiratet?“

„Das war Marisa Valetti … Sie wollte ihn dann doch nicht heiraten. Warum, weiß ich nicht. Giuseppe wünscht sich, dass er endlich heiratet und für Nachkommen sorgt, aber Torre hat eine Freundin nach der anderen und offenbar nicht vor, eine Familie zu gründen. Ich glaube, er ist nie über Marisa hinweggekommen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er zaghaft hinzu: „Ist früher mal was zwischen dir und Torre vorgefallen?“

„Was sollte denn vorgefallen sein?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mir ist aufgefallen, dass er dich beim Essen so komisch angeguckt hat.“

Orla zögerte. Sie hatte sich schon gefragt, ob Torre seinem Stiefbruder von ihrer gemeinsamen Nacht erzählt hatte, aber offenbar wusste Jules nichts davon. Sie und Jules hatten den Nachmittag gemeinsam am Pool verbracht, und nichts deutete darauf hin, dass er in sie verliebt sein könnte. Torre hatte ihr diesen Floh sicher nur ins Ohr gesetzt, um ihre Freundschaft mit Jules zu zerstören, weil er meinte, dass sie seinen Stiefbruder ausnehmen wollte. „Er hasst meine Mutter dafür, dass sie seinen Vater des Geldes wegen geheiratet hat, und kann auch mich nicht besonders leiden.“

„Warum? Du kannst doch nichts für deine Mutter.“

„Ich nehme an, es reicht, dass ich ihre Tochter bin“, antwortete Orla. Sie hatte sich oft gefragt, warum Torre so wütend geworden war, als er das erfahren hatte. Er hatte ihr vorgeworfen, ihn absichtlich getäuscht zu haben. Aber das stimmte nicht. Sie hatte einfach nicht mehr klar denken können, als er an jenem Abend direkt auf sie zugesteuert und vor ihr stehengeblieben war.

„Wir hatten noch nicht das Vergnügen“, hatte er mit seiner sonoren, tiefen Stimme gesagt und ihr die Hand entgegengestreckt. „Ich bin Torre Romano.“

Sie wusste noch, wie blass ihre Finger in seiner braungebrannten Hand ausgesehen hatten, und dass sie gedacht hatte, dass er sicher viel Zeit im Freien verbrachte. Seine breiten Schultern und sein durchtrainierter Oberkörper deuteten ebenfalls auf körperliche Arbeit hin. Von ihrer Mutter wusste sie, dass er Bauingenieur war.

Torre hielt ihre Hand länger als nötig, und seine Berührung ließ ein elektrisches Kribbeln durch ihren Arm jagen. „Und du bist?“, fragte er.

„Orla … Orla Brogan.“

„Orla“, wiederholte er lächelnd. „Den Namen habe ich noch nie gehört.“

„Mein Vater war Ire und hat mich nach seiner Mutter benannt.“ Orla errötete. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie Torre etwas so Privates erzählte.

„Du redest in der Vergangenheitsform über deinen Vater. Heißt das …?“

„Er ist gestorben, als ich noch ein Kind war.“

„Ich weiß, wie schlimm es ist, einen Elternteil zu verlieren“, antwortete er. „Meine Mutter ist gestorben, als ich sechs war.“

Sie hatte das Gefühl, dass er sich wunderte, über den Verlust gesprochen zu haben, und fragte sich, ob er seine Mutter so sehr vermisste wie sie ihren Vater. Doch er lächelte und fuhr fort: „Dein Vater hat dir einen sehr schönen Namen gegeben, Orla. Fast so schön wie du.“

Flirtete er etwa mit ihr? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Auf einen so gut aussehenden, aufregenden und selbstbewussten Mann wie Torre war sie nicht vorbereitet. Er war Welten entfernt von den Jungs, mit denen sie bisher zusammen gewesen war. Im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen war sie als fast neuzehnjährige Jungfrau eine Spätzünderin, aber Orla wollte ihr Leben nicht wie ihre Mutter an Männern orientieren und sich von ihnen aushalten lassen. Sie hatte kein Interesse an Jungs und auch keine Zeit dafür, weil sie studieren wollte und darum viel für die Schule tat.

Aber Torre überwältigte sie. Er löste eine Sehnsucht in ihr aus, die beunruhigend heftig war. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er verfestigte seinen Griff und strich mit dem Daumen über ihren wie verrückt rasenden Puls. „Dein Glas ist leer“, sagte er. „Möchtest du noch einen Drink?“

„Eigentlich wollte ich gerade zurück auf mein Zimmer“, antwortete sie.

Er sah sie überrascht an. „Ach, du bist hier im Haus untergebracht? Wie kommt es dann, dass wir uns noch nicht begegnet sind?“

„Ich bin erst heute angekommen und war den ganzen Tag mit Erledigungen für Kimberly beschäftigt.“ Orla hatte ihre Mutter von klein auf immer nur beim Vornamen genannt.

Torres Miene verdüsterte sich, als er Kimberlys Namen hörte. „Ach, du gehörst zu ihren Untertanen. Ich hatte schon das Vergnügen, meine neue Stiefmutter kennenzulernen“, sagte er zynisch. „Keine Ahnung, warum mein Vater ein geldgieriges Flittchen wie Kimberly Connaught geheiratet hat. Es ist nicht zu übersehen, dass sie nur hinter seinem Reichtum her ist.“

„Ich …“ Orla zögerte. Sie fürchtete, ihn schlecht dastehen zu lassen, wenn sie ihm sagte, dass Kimberly ihre Mutter war, nachdem er so herablassend über sie gesprochen hatte. Hinzu kam, dass sie sich für ihre Mutter schämte.

Doch dann lächelte er wieder, und sie dachte nicht weiter an ihre Mutter, sondern nur daran, wie unglaublich gut er aussah.

„Bleib noch und tanz mit mir“, sagte er.

Torre ging mit ihr auf die Terrasse. Die Musik drang durch die offene Tür zu ihnen heraus. Als er sie an seinen durchtrainierten Körper zog, erbebte Orla vor Aufregung. Seine grauen Augen waren sanft wie Holzrauch, und er sagte etwas auf Italienisch zu ihr. Sie starrte ihn nur an und ließ ihn gewähren, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen.

Nie zuvor hatte sie etwas wie seinen Kuss erlebt. Und dort unter dem samtenen Nachthimmel im Mondlicht explodierte Torre in ihrem Herzen. Anders ließ sich das starke Gefühl der Verbundenheit, das sie empfand, nicht beschreiben.

Er löste sich von ihr und lächelte darüber, wie sie seufzend protestierte. „Du musst eine als Engel getarnte Zauberin sein, Orla“, sagte er mit heiserer Stimme. „Kommst du mit zu mir?“

Orla fragte nicht einmal, wo er mit ihr hinwollte. Sie fuhren die gewundene Straße immer weiter bergauf, bis er schließlich vor einem altertümlichen Bauernhaus nah am Rand des Kliffs hielt. Weit unter ihnen spiegelte sich der Mond im Meer.

„Irgendwann will ich mir hier ein modernes Haus bauen“, sagte Torre, nahm sie an der Hand und ging mit ihr hinein. Doch sie achtete kaum auf das Haus, sondern hatte nur Augen für ihn. Er machte sie ganz verrückt. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie Verlangen nach jemandem, und sie sah ihre Sehnsucht im Blick seiner grauen Augen gespiegelt. Also schmiegte sie sich ihm entgegen, als er sie an sich zog, und sträubte sich nicht, als er sie auf seine Arme schwang, um sie die Treppe hinauf und in sein Schlafzimmer zu tragen …

„Orla? Bist du eingeschlafen? Ich möchte mit dir über etwas reden.“

Jules’ Stimme holte Orla in die Gegenwart zurück. Als sie die Augen öffnete, fand sie seinen Blick auf sich gerichtet. Er wirkte sonderbar angespannt. „Worüber denn?“

Als er nicht antwortete, folgte sie seinem Blick und sah Giuseppe, der gerade am anderen Ende des Pools an einem Tisch Platz nahm. Torre war bei seinen Vater, und Orlas Herz machte einen Satz, als er zu ihr herübersah. Zwar konnte sie seine Augen nicht sehen, da er eine Sonnenbrille trug, aber sie war sicher, dass er ihr ihren grünen Badeanzug im Geiste auszog. Wieder musste sie an damals denken.

Sie hatte für das Fest ein Kleid von ihrer Mutter geborgt, die meinte, sie könne nicht in Jeans auf der Feier erscheinen. Die meisten Kleider von Kimberly waren für Orlas Geschmack zu offenherzig gewesen, aber dann fand sie ein dunkelgrünes Seidenkleid, knielang und mit schmalen Trägern. Dazu trug sie Ballerinas. Ihr Haar steckte sie zu einem lockeren Knoten hoch. Kimberly lieh ihr noch ein Paar Smaragdohrringe, die sie von Giuseppe bekommen hatte, doch aus Furcht, sie zu verlieren, nahm Orla sie ab und verstaute sie in ihrer Handtasche.

Normalerweise interessierte sie sich nicht weiter für ihr Aussehen, doch als Torre sie in seinem Schlafzimmer ungläubig betrachtete, kam sie sich unendlich weiblich und schön vor. Genüsslich streifte er die Träger ihres Kleides herunter. Sein heftiger Atem erregte sie.

„Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe“, sagte er.

Orla hatte weiche Knie vor Aufregung, und als Torre ihre Brüste streichelte, erbebte sie vor Lust. „Bellissima“, flüsterte er, bevor er sich vorbeugte, um eine ihrer Brustknospen mit den Lippen zu umschließen …

„Orla?“

Wieder riss Jules Stimme Orla aus den Erinnerungen.

„Mist. Das wird wohl warten müssen.“

Orla runzelte die Stirn. „Was wird warten müssen?“

„Unsere Unterhaltung.“ Er sah sie prüfend an. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist ganz rot im Gesicht.“

Sie war total aufgewühlt, weil ausgerechnet jetzt, wo sie gerade an damals gedacht hatte, Torre nur wenige Meter entfernt von ihr saß. Sie wagte es nicht, zu ihm hinzusehen, ahnte aber, dass er ihre Anwesenheit ebenso stark empfand wie sie seine.

„Mir ist heiß“, sagte sie und erhob sich. „Ich gehe noch mal ins Wasser.“

Sie rannte zum Pool und sprang hinein. Das Wasser kühlte sie ab, und sie schwamm Bahn um Bahn, um dieses Verlangen nach Torre loszuwerden. Als sie nicht mehr konnte, ließ sie sich in der Hoffnung, dass Torre gehen würde, noch eine Weile auf dem Rücken treiben. Doch als sie aus dem Wasser stieg, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass Jules sich zu Torre und Giuseppe gesetzt hatte.

Es wäre unhöflich gewesen, sich nicht zu ihnen zu gesellen, also schlang sie sich ein Handtuch um und ging zu den Männern hinüber. Dummerweise war nur neben Torre Platz, und Jules und Giuseppe, die auf der anderen Seite des Tisches saßen, waren in ein Gespräch vertieft.

„Du schwimmst wie ein Fisch“, sagte Torre lächelnd und strich ganz leicht mit den Fingern über ihren Oberschenkel, nachdem sie sich gesetzt hatte. Obwohl es nur eine winzige Berührung war, ging sie Orla durch und durch.

Ein verstohlener Seitenblick verriet ihr, dass Jules und Giuseppe nicht mitbekommen hatten, was eben passiert war. Eigentlich war ja auch gar nichts passiert. Torre wollte sie nur aus der Reserve locken.

„Dafür, dass du so schmal gebaut bist, bist du eine starke Schwimmerin.“

„Als ich jünger war, bin ich im Verein geschwommen und habe an Wettkämpfen teilgenommen. Ich hätte gern weitergemacht, um vielleicht irgendwann sogar an einer Olympiade teilzunehmen.“

„Warum hast du es nicht gemacht?“

„Der Mann meiner Mutter besaß ein Hallenbad, in dem ich trainieren konnte. Nachdem sie ihn für einen spanischen Liebhaber verließ, sind wir so oft umgezogen, dass es sich nie gelohnt hat, in einen Verein einzutreten.“

„Was macht deine Mutter jetzt?“, fragte Giuseppe, der sein Gespräch mit Jules beendet hatte. „Man liest gar nichts mehr über sie.“

„Momentan ist sie in den USA“, antwortete Orla ausweichend. Sie wollte Giuseppe und Torre weder davon erzählen, wie abgezehrt und hinfällig ihre Mutter nach dem Schlaganfall war, noch davon, dass sie die großzügige Abfindung von Giuseppe in kürzester Zeit verbraucht hatte, wodurch sich nun die Krankenhausrechnungen stapelten.

„Und du, Orla?“, fragte Giuseppe und sah erst sie und dann Torre an. „Torre, wenn ich das richtig sehe, ist die Stelle, für die Orla sich beworben hat, bereits besetzt. Gibt es nicht einen anderen Posten in der Firma, der zu ihr passen würde?“

„Da gibt es etwas, ja.“

Verwundert wandte sie sich Torre zu. Doch sie durfte sich keine Hoffnungen machen – das war sicher wieder nur eins von seinen Spielchen.

„Es wäre eine befristete Tätigkeit, aber ich sehe es als eine Art Probezeit, und wenn du dich gut machst, kann ich vielleicht eine feste Stelle bei ARC für dich finden“, erklärte Torre. „Du wirst als Assistentin für mich arbeiten, und deine erste Aufgabe wird sein, mich auf eine Geschäftsreise zu begleiten.“

„Aber du hast doch sicher eine Sekretärin?“ Orla versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte ja geahnt, dass er ihr nicht wirklich eine Stelle geben würde.

„Oh ja, ich habe eine ausgezeichnete Sekretärin. Aber Elaine ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes und begleitet mich ihrer familiären Verpflichtungen wegen nicht auf Auslandsreisen. Ich habe außerdem noch einen Assistenten namens Renzo, der mich normalerweise auf Reisen zu meinen Bauprojekten begleitet. Renzo ist leidenschaftlicher Radfahrer und kürzlich bei einem Rennen schwer gestürzt. Er hat sich einige Brüche zugezogen und kann zwei Monate lang nicht arbeiten. In Dubai werde ich die offizielle Eröffnung eines Wolkenkratzers besuchen, den ARC gebaut hat. Es wird ein prestigeträchtiges Ereignis, über das breit berichtet werden wird, und damit eine gute Gelegenheit, die Firma bekannter zu machen und neue Aufträge an Land zu ziehen. Da wird deine Erfahrung als Chefsekretärin bei einem Bauunternehmen nützlich sein, und du hast ja schon bewiesen, dass du Ahnung von der Bauindustrie hast.“

Offenbar meinte er es tatsächlich ernst. Orla fragte sich, ob er merkte, dass sie auf einmal Angst bekam.

„Wir fliegen morgen. Du bräuchtest ein Abendkleid für den Empfang, aber das kannst du in Dubai besorgen. Auf dem Flug werde ich dich mit Informationen zu dem Bauprojekt versorgen. Noch Fragen?“

„Ähm …“ Orla wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Torre Hintergedanken hatte.

„Ich nehme an, du möchtest wissen, wie viel ich zahle“, sagte er. „Du bekommst dasselbe Gehalt wie Renzo.“ Er nannte eine Summe, die Orla innerlich jubilieren ließ. So viel hatte sie noch nie verdient, und auch wenn es nur für zwei Monate war, konnte sie damit einen guten Teil von Kimberlys Arztrechnungen bezahlen.

Doch ihr war klar, dass sie als Torres Assistentin zweifelsohne viel Zeit mit ihm verbringen müsste. Wie würde sie damit klarkommen, ihn täglich zu sehen? Sie würde vor ihm verbergen müssen, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

„Wo wird Orla denn nach der Dubaireise arbeiten?“, fragte Jules stirnrunzelnd.

„Vorwiegend im Büro in Neapel“, antwortete Torre, ohne seinen Blick von Orla zu wenden. „Aber es stehen noch mehrere Reisen an, bei denen ich dich brauche, bevor ich die Firma übernehme. Oder hast du ein Problem damit?“

Ihr Problem war er – oder vielmehr ihre Reaktion auf ihn. Ihr Herz klopfte wie verrückt, bloß weil er neben ihr saß. Aber sie war fest entschlossen, sich davon nicht beirren zu lassen. Es wäre dumm, sein Jobangebot abzulehnen, zumal die Chance bestand, dass sie weiterbeschäftigt wurde, wenn sie Torre bewies, dass sie qualifiziert und arbeitswillig war.

Sie sah ihm in die Augen. „Ich habe kein Problem damit“, sagte sie ruhig. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen und versichere dir, dass ich dich nicht enttäuschen werde.“

„Ja, das wäre nicht besonders clever“, antwortete er und sie fragte sich, ob sie sich den drohenden Unterton nur eingebildet hatte. Es war, als habe sie die Höhle des Löwen betreten, und einen Moment lang war sie versucht, ihre Zusage zurückzunehmen.

Sie sah zu, wie Torre seinem Vater aufhalf und mit ihm zurück ins Haus ging.

„Du musst nicht für Torre arbeiten“, sagte Jules, als sie wieder alleine waren. Er klang eigenartig angespannt – oder bildete sie sich das nur ein?

Sie zuckte mit den Schultern. „Du weißt, dass ich Geld verdienen muss, um die Pflege meiner Mutter zu finanzieren, und ich habe keine der Stellen bekommen, auf die ich mich nach meiner Kündigung beworben habe. Was bleibt mir denn anderes übrig, als den Job anzunehmen, den er mir angeboten hat?“

Sie war wie vom Donner gerührt, als Jules ihre Hand nahm und sagte: „Das geht jetzt vielleicht ein bisschen schnell, aber du könntest mich heiraten und müsstest dir nie wieder Sorgen um Geld machen.“

6. KAPITEL

Torre fand Orla draußen auf der Terrasse, wo man die Musik und die Stimmen der Gäste nur gedämpft hörte. Sie stand allein an der Balustrade und trug ein silbergraues Kleid aus durchscheinendem Gewebe, das ihre überirdische Schönheit betonte. Ihr rotes Haar wallte wie Seide über ihren Rücken, und ihre Arme und Schultern sahen im Licht des Mondes aus wie Porzellan.

Den ganzen Abend lang machte sie ihn schon verrückt. Er hatte pflichtbewusst mit seinen Verwandten und den anderen Geburtstagsgästen seines Vaters geplaudert, sich dabei aber auf nichts anderes konzentrieren können als auf sie. Es hatte ihn wütend gemacht, sie mit anderen Männern tanzen zu sehen, und er hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um sie nicht aus den Armen seines gut aussehenden Cousins Fabio wegzuzerren.

Zum Glück neigte sich die Party ihrem Ende zu. Giuseppe hatte sich bereits zurückgezogen. Torre war nun frei von Verpflichtungen, weshalb er Orla hatte folgen können, als sie hinausgegangen war.

Während in ihm ein wildes Gefühlschaos herrschte, als er auf sie zuging, wirkte sie cool und gefasst. Es versetzte ihm einen Schlag, zu bemerken, dass auf ihren Wangen Tränen glitzerten.

„Du weinst, Orla? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“, frage er, verärgert darüber, dass er sie zu gern in die Arme genommen hätte, um sie zu trösten. Es wäre leichter gewesen, sein Verlangen nach ihr im Zaum zu halten, wenn er sie für ebenso geldgierig wie ihre Mutter hätte halten können. Doch die neuesten Entwicklungen deuteten darauf hin, dass er sie vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen und fragte knapp: „Du willst Jules nicht heiraten. Warum also die Tränen?“

Sie straffte sich, als er vor ihr stehen blieb, und funkelte ihn wütend an. Ihr finsterer Blick gefiel Torre besser als die Leidensmiene vorher, auch wenn diese wohl nicht aufgesetzt gewesen war.

„Woher weißt du, dass Jules mich gefragt hat, ob ich ihn heiraten will?“, wollte sie wissen. „Hat er es dir erzählt?“

„Nein. Aber es muss ja irgendetwas vorgefallen sein, sonst hätte er nicht Giuseppes Geburtstagsfeier sausen lassen, um aus einem angeblich wichtigen Grund nach London zurückzufliegen. Giuseppe hat schon vor eurer Ankunft angedeutet, dass Jules in dich verliebt ist, und ich habe damit gerechnet, dass Jules dir einen Antrag macht, wenn ich dir einen Job anbiete, der dich von London und von ihm entfernt.“

„Mir geht es schlecht damit“, antwortete Orla mit belegter Stimme.

Torre war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich die Verstellungskünstlerin war, für die er sie seit acht Jahren hielt, oder ob ihr die Geschichte mit Jules wirklich so naheging. Dass ihm diese Vorstellung nicht gefiel, machte ihn wütend, weil Eifersucht normalerweise ein Fremdwort für ihn war.

„Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass er in mich verliebt ist“, sagte sie. „Ich dachte, wir wären einfach nur gute Freunde. Und bevor du wieder einen deiner fiesen Kommentare abgibst: Ich habe ihm keinen Grund gegeben, sich falsche Hoffnungen zu machen.“

Torre zuckte mit den Schultern. „Ich gebe zu, dass ich davon ausgegangen bin, dass du seinen Antrag annehmen würdest. Und dann hätte ich ihm gesagt, dass wir vor acht Jahren miteinander geschlafen und uns heute Morgen geküsst haben und dass es noch immer ziemlich knistert zwischen uns.“

Er sah, wie sie errötete. „Außer gegenseitiger Verachtung ist nichts zwischen uns“, erwiderte sie. „Was hast du gegen mich, Torre? Mein einziges Vergehen war, dass ich mit dir geschlafen habe, und das bereue ich zutiefst. Aber ich war jung und naiv, und du …“ Sie verstummte und biss sich auf die Lippe, was dafür sorgte, dass die Glut in Torre entfacht wurde und er vollends entbrannte, weil er sich vorstellen musste, wie er sie küsste. „Du warst unwiderstehlich“, flüsterte sie.

Er schob den Gedanken beiseite, dass auch sie unwiderstehlich gewesen war, als sie heute Vormittag neben seinem Wagen gestanden hatte. „Ich kann nicht leugnen, dass du rein körperlich unschuldig warst“, entgegnete er. „Aber als du mich als deinen ersten Liebhaber auserkoren hast, wusstest du genau, was du tust. Ich bedauere, dass ich nicht so vorsichtig war, wie ich es gewesen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass du noch unerfahren warst. Aber du hast mich absichtlich in dem Glauben gelassen, dass du schon Erfahrung hattest. Du warst genauso berechnend wie deine Mutter und hast deine Jungfräulichkeit eingesetzt, um mich unter Druck zu setzen.“ Vor acht Jahren war Torre sicher gewesen, dass es genau so war, und er wollte sich nicht eingestehen, dass er sich geirrt haben könnte. Denn das würde sein Verhalten ihr gegenüber unverzeihlich machen.

„Ich war achtzehn, um Gottes willen. Ich bin mit dir ins Bett gegangen, weil ich dumm war, aber ich habe dich ja nicht gezwungen, mit mir zu schlafen. Weder warst du Opfer, noch war ich die Trickserin, zu der du mich machen willst.“ Sie atmete heftig. „Wäre ich so geldgierig, wie du es mir vorwirfst, hätte ich Jules’ Antrag angenommen. Dass ich Nein gesagt habe, ist doch wohl der Beweis dafür, dass du falsch liegst.“

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hast du Nein gesagt, weil du hoffst, noch einen besseren Fang zu machen.“ Als sie ihn verdattert ansah, fügte er hinzu: „Mich.“

„Oh nein“, erwiderte sie mit einer eisigen Stimme, von der Torre aus unerfindlichen Gründen ganz elend zumute wurde. „Dich würde ich nicht einmal heiraten, wenn mein Leben davon abhinge.“

Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken, doch er kam noch näher und drängte sie an die steinerne Balustrade. Er fragte sich, warum er sich so eigenartig verhielt. Normalerweise hatte er sich und seine Gefühle im Griff, was wahrscheinlich damit zusammenhing, dass er seine Mutter verloren hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Er wirkte charmant und locker, doch viele seiner geschäftlichen Konkurrenten hatten die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass sich hinter seiner entspannten Art knallharte Entschlossenheit verbarg.

Torre hatte sich immer unter Kontrolle – außer, wenn er mit Orla zusammen war. Wenn sie in seiner Nähe war, konnte er nicht klar denken. Und, schlimmer noch, ihn interessierte nichts anderes mehr, als sein Verlangen nach ihr zu stillen.

„Ich nehme an, dein Ex-Mann bereut den teuren Fehler, dich geheiratet zu haben“, sagte er jetzt.

Sie erstarrte, und einen Moment lang zeigte sich der beklommene Ausdruck in ihrem Blick, der Torre aufgefallen war, als er in der Bibliothek ihren Ex-Mann erwähnt hatte. Aber warum sollte sie Angst vor David Keegan haben? Keegan war in England ein gefeierter Sportstar und beliebter Fernsehgast, der sich für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen einsetzte.

Torre rührte sich nicht von der Stelle, als Orla versuchte, ihn wegzuschieben, und sah ihr prüfend ins Gesicht. „Was war das heute in der Bibliothek? Natürlich fand ich es nicht toll, von dir geohrfeigt zu werden, aber du hast dich benommen, als hättest du Angst, ich könne jeden Moment zum Gegenschlag ausholen.“ Er dachte daran, wie sie sich weggeduckt hatte wie ein geprügelter Hund, und runzelte die Stirn. „Hat dein Ex-Mann dir etwas angetan?“

„Ich habe nicht vor, mit dir über meine Ehe zu sprechen“, murmelte sie und fügte mit lauterer Stimme, die aber verräterisch zitterte, hinzu: „Ich muss hier nicht stehen und mich von dir verhören lassen.“

Als sie einen weiteren Versuch machte, sich an ihm vorbeizudrücken, er sie aber nicht wegließ, gab sie einen frustrierten Laut von sich. „Ich wusste, dass dein Angebot, mich als Sekretärin einzustellen, nicht ernst gemeint war“, sagte sie. „Eben gerade hast du zugegeben, dass du damit einfach nur Jules dazu bringen wolltest, mir zu gestehen, dass er sich mehr als eine Freundschaft mit mir erhofft. Der arme Jules“, flüsterte sie. „Nachdem ich Nein gesagt habe, ist er sofort abgehauen. Ich muss ihn so schnell wie möglich sehen und ihm sagen, dass er mir als Freund sehr viel bedeutet, auch wenn ich nicht in ihn verliebt bin.“

„Er will nicht dein Freund sein. Selbst wenn du ihn jetzt heiraten würdest, um dein Gewissen zu beruhigen, würdest du ihn damit auf lange Sicht nur noch unglücklicher machen. Du könntest ihm nicht verheimlichen, dass du dich mit ihm langweilst. Und wenn wir eines Tages etwas miteinander anfangen, wird es ihm noch dreckiger gehen als jetzt.“

Ihre Augen sprühten vor Wut. „Du bist so selbstherrlich“, zischte sie. „Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht vorhabe, Jules zu heiraten. Und glaub mir, eher friert die Hölle zu, als dass ich noch einmal mit dir ins Bett gehe.“

Zu gern hätte Torre ihr bewiesen, dass sie sich irrte. Die Pupillen ihrer großen Augen waren geweitet, sie atmete heftig, so, als wäre sie gerannt – oder als würde sie sich rittlings auf ihm bewegen. Die Vorstellung, wie sie sich über ihn beugte und ihr glänzendes rotes Haar auf seinen Oberkörper fiel, hatte die zu erwartende Wirkung. Er wurde sehr hart und ärgerte sich über seine Schwäche für sie.

„Ich weiß nicht, wie ich dir beweisen kann, dass ich nicht bin wie meine Mutter“, sagte Orla. „Meine Unabhängigkeit ist mir sehr wichtig, und darum muss ich nach London zurück, um mich dort weiter nach einer Stelle umzusehen.“

„Mein Angebot, dich vorübergehend als Sekretärin einzustellen, war ernst gemeint“, antwortete er. „Ich habe bereits in der Personalabteilung einen Vertrag ausfertigen lassen. Du kannst ihn noch unterschreiben, bevor ich dich nach Ravello fahre. Dein Gepäck ist bereits zu mir gebracht worden, nachdem du dich für die Feier umgezogen hast“, sagte er und bedeutete ihr, ihm ins Haus und in die Bibliothek zu folgen.

Er zog den Vertrag aus einer Schublade und sah zu, wie sie ihn überflog, bevor sie ihn unterschrieb. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Amalfi hatte er das Gefühl, wieder Herr der Lage zu sein, und konnte sich eine gewisse Genugtuung darüber, dass Orla ihm nun zwei Monate lang zu gehorchen hatte, nicht verhehlen.

Torre hatte das Verdeck seines Wagens geöffnet, und die laue Luft ließ Orlas Haar flattern, als sie die kurvenreiche Straße von der Küste nach Ravello hinauffuhren. Obwohl das pittoreske Städtchen mehr als dreihundert Meter hoch gelegen war, mischte sich unter den Duft von Zitronen- und Olivenhainen salzige Meeresluft. In jeder Kurve konnte Orla sehen, wie sich der Mond im Wasser spiegelte.

Jules’ Antrag war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Orla hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Beziehung zu ihm so falsch eingeschätzt hatte. Es machte sie fertig, dass sie ihm wehgetan hatte, und ihr wäre nie in den Sinn gekommen, Ja zu sagen, um finanziell abgesichert zu sein.

Als sie daran dachte, wie Torre gesagt hatte, dass sie irgendwann etwas miteinander anfangen würden, stieg die Wut wieder in ihr auf. Sie sah ihn von der Seite an, und ihr Herzschlag beschleunigte sich beim Anblick seines viel zu ansehnlichen Profils. Sicher bekam er jede Frau, die er wollte. Aber sie nicht. Sie würde den Fehler von damals nicht noch einmal machen. Auch wenn sie Torre insgeheim begehrte.

Er wandte sich ihr zu. Orla errötete, weil er sie beim Gaffen erwischt hatte. Sein Mund verzog sich zu diesem Lächeln, das so unglaublich sexy war, und als sie den Kopf wegdrehte, lachte er, als wüsste er, wie durcheinander sie war und dass sie vor Verlangen nach ihm fast verging.

Wie konnte ihr das ein zweites Mal passieren? Vor acht Jahren waren sie exakt dieselbe Strecke gefahren. Es war das Ende ihrer Unschuld gewesen – nicht nur, weil sie ihm ihre Jungfräulichkeit geopfert hatte, sondern auch, weil sie aufgehört hatte, daran zu glauben, dass Märchen wahr werden konnten. Nachdem Torre ihr am Morgen danach unterstellt hatte, wie ihre Mutter nur hinter dem Geld her zu sein, hatte sie sich in ihrem zerknitterten Kleid und mit zerzaustem Haar aus dem Haus geschlichen und den erstbesten Bus nach Amalfi genommen.

Sie spürte, dass Torre sie noch mehrere Male ansah, hielt den Blick aber starr geradeaus gerichtet.

„Willkommen im Casa Elisabetta“, sagte er, als sie schließlich durch ein Tor fuhren.

Erstaunt betrachtete Orla die futuristisch aussehende Villa, die den Platz des kleinen Hauses einnahm, das Orla in Erinnerung hatte. Der Neubau, der wirkte, als wäre er direkt aus der dahinterliegenden Felswand erwachsen, war ein architektonisches Meisterstück.

„Das hatte ich nicht erwartet“, murmelte sie. Torres Haus war ultramodern mit der ungewöhnlich angeschrägten, weißen Fassade und den riesigen Fenstern, von denen man sicher eine ausgezeichnete Sicht auf die Bucht hatte. Ein gewagtes, innovatives Bauwerk, das die Persönlichkeit des Besitzers widerspiegelte.

Das Innere des Hauses war von der gleichen klaren und zeitgenössischen Linienführung geprägt. An den offen gestalteten Wohnbereich schloss sich eine breite Terrasse mit Infinitypool an, der im Mondlicht aussah wie ein riesiger Spiegel. „Das Haus fügt sich perfekt in die Landschaft ein“, sagte sie, als sie auf der Terrasse standen und an dem vierstöckigen Gebäude hinaufsahen. „Hast du es selbst entworfen?“

„Ich wusste ziemlich genau, was ich wollte, aber da ich mich vor allem mit Tragwerksplanung auskenne, habe ich einen Architekten hinzugezogen.“

„Es war sicher nicht ohne, die Zu- und Ableitungen für die Wasserversorgung durch den rohen Fels zu verlegen.“

Er sah sie einen Moment lang verdattert an, bevor er laut loslachte. „Du bist die erste Frau, die sich für die Versorgungstechnik meines Hauses interessiert“, sagte er. „Die meisten interessieren sich eher für die Farben der Kissen auf den Sofas.“

Orla lächelte. Ihr Kommentar musste befremdlich geklungen haben. „Die Versorgungstechnik ist ein wichtiger Bestandteil eines Gebäudes und meiner Meinung nach wesentlich interessanter als Kissen.“

„Das sehe ich genauso“, sagte er und sah sie nachdenklich an. „Du faszinierst mich.“

Sie fragte sich, ob sie ihm nun doch sagen sollte, dass ihr Interesse von ihrem Studium kam. Doch sicher wollte er dann den Grund für ihren fehlenden Abschluss wissen, und sie mochte noch immer nicht zugeben, dass David sie nach der Hochzeit dazu gebracht hatte, das Studium abzubrechen. Sie kam sich blöd vor, weil sie sich so viel von ihrem Ex-Mann hatte sagen lassen.

Ein Gefühl tiefer Traurigkeit überkam Orla, als sie sich vorstellte, wie es gewesen wäre, wenn Torre sie damals nicht zurückgewiesen, sondern sich in sie verliebt hätte, so wie sie sich in ihn. Vielleicht hätte sie ihren Abschluss gemacht, und sie hätten die Villa Elisabetta gemeinsam entworfen. Vielleicht wären jetzt ein oder zwei Kinder oben im Haus. Sie würde Mutter sein und mit Torre zusammenarbeiten, der stolz auf sie wäre. Und sie selbst wäre ebenfalls stolz auf sich.

Doch in Wirklichkeit hatte sie nach der Ehe mit David kein bisschen Selbstwertgefühl mehr. Warum sollte ein gut aussehender, cleverer, talentierter Mann wie Torre sich ausgerechnet in sie verlieben?

Sie wich seinem Blick aus. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern auf mein Zimmer gehen. Es war ein anstrengender Tag.“

„Natürlich“, antwortete Torre in einem nüchternen Ton, der die Vertrautheit, die einen kurzen Moment lang zwischen ihnen geherrscht hatte, wieder zunichtemachte. „Ich bringe dich hin. Nachts habe ich kein Personal da“, erklärte er und ging mit ihr in den zweiten Stock hinauf. „Tomas und Silvia kümmern sich um alles. Sie sind ein Ehepaar und leben nebenan.“

Gab es einen besonderen Grund dafür, dass Torre ihr sagte, dass sie allein im Haus waren? Er öffnete die Tür zu einem Raum, bei dem es sich offensichtlich um ein Gästezimmer handelte. Von innen steckte ein Schlüssel, und Orla war entschlossen, ihn zu benutzen.

„Wie schön“, sagte sie und sah sich angetan in dem Raum um, dessen Einrichtung in Taubengrau, Hellblau und Weiß gehalten war. Wie der Rest des Hauses war das Zimmer modern und minimalistisch, wirkte aber trotzdem freundlich und einladend – im Gegensatz zu ihrem Gastgeber, der ihr knapp eine gute Nacht wünschte und verschwand, indem er die Tür nachdrücklich hinter sich schloss. Obwohl er gewirkt hatte, als könne er sie gar nicht schnell genug loswerden, drehte Orla sicherheitshalber den Schlüssel um. Wie anders er gewesen war, als er sie damals in seinem alten Haus die Treppe hinaufgetragen hatte! Er hatte ihr das Kleid zerrissen, so eilig hatte er es gehabt, ihre Brüste zu entblößen.

Sie schob die Erinnerungen beiseite und öffnete ihren Koffer. Weil es in Amalfi zu warm für ihren Schlafanzug war, hatte sie sich ein neues Nachthemd für die Reise gekauft. Der weiße Satin fühlte sich kühl und glatt auf der Haut an. Orla fragte sich, ob Torre sie begehren würde, wenn er sie in diesem Nachthemd sähe.

Verärgert über ihre unangemessenen Gedanken ging sie in das angeschlossene Bad, um sich die Zähne zu putzen, und sah, dass ihre Wangen gerötet waren und ihre aufgerichteten Brustwarzen sich unter dem Nachthemd abzeichneten. Wenn sie die zwei Monate enger Zusammenarbeit mit Torre überstehen wollte, würde sie sich zusammenreißen müssen.

Plötzlich bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, dass ihre Goldkette weg war. Panisch griff sie sich an den Kopf, um zu prüfen, ob die Kette sich beim Ausziehen in ihrem Haar verfangen hatte, und rannte zurück ins Zimmer, um dort nach der Kette zu suchen. Doch die war nirgends zu finden.

Orla dachte nach. Sie erinnerte sich, dass sie im Wagen nach der Kette gegriffen hatte. In der Villa Romano konnte sie sie also nicht verloren haben. Die Kette musste im Wagen sein – aber Orla wollte Torre auf keinen Fall deswegen stören. Sie lief nach unten und nahm seinen Autoschlüssel von dem Tisch im Flur, auf den er ihn beim Hereinkommen geworfen hatte.

Sie ging hinaus und fluchte, als der Kies sich in der Auffahrt in ihre Fußsohlen grub. Hätte sie sich doch nur vor dem Hinausgehen Slipper und einen Bademantel angezogen! Sie drückte auf den Knopf auf dem Schlüssel, um das Auto aufzuschließen, und die Alarmanlage ging an. Sie machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Orla drückte panisch auf den anderen Knopf, doch der Lärm hielt an.

„Darf ich fragen, was du da machst?“

Die Alarmanlage war so laut, dass Torres Stimme kaum zu hören war. Orlas Herz setzte einen Schlag aus, als sie herumwirbelte und ihn auf sich zukommen sah. Schließlich nahm er ihr die Schlüssel ab und stoppte den Alarm.

„Wolltest du meinen Wagen klauen oder nur eine kleine Spritztour machen?“, brummte er.

Sie riss den Blick von seinem bloßen Oberkörper los. „Weder noch“, erwiderte sie verkniffen. „Falls du es nicht bemerkt haben solltest – ich bin im Nachthemd.“

Kaum, dass sie es gesagt hatte, wusste sie, dass sie besser den Mund gehalten hätte. Sie schämte sich unendlich, als Torre seinen Blick über den Fetzen Satin schweifen ließ, der sicher fürs Bett gedacht war, aber ganz bestimmt nicht dafür, darin zu schlafen. Sie erwartete eine weitere spöttische Bemerkung, doch er sagte nur:

„Ich habe es bemerkt. Also, was machst du mitten in der Nacht hier draußen?“ Dabei klang seine Stimme eigenartig heiser, was Orla nur noch nervöser machte.

„Ich muss meine Kette verloren haben. Auf der Herfahrt hatte ich sie noch um, aber im Zimmer konnte ich sie nicht finden. Da dachte ich, dass sie sich vielleicht im Anschnallgurt verfangen hat, und wollte im Wagen nachsehen …“

„Hätte das nicht bis morgen früh Zeit gehabt?“

„Nein. Ich kann nicht schlafen, wenn ich nicht weiß, wo die Kette ist.“

„Dann muss dir diese Kette ja ziemlich viel bedeuten.“

„Das tut sie. Könntest du bitte das Auto aufschließen, damit ich nachschauen kann?“

„Ich suche die Kette“, erwiderte er. „Und du gehst rein und ziehst dir etwas über. So bringst du einen ja um den Verstand.“

Voller Erstaunen bemerkte sie das Verlangen in seinem Blick. Als etwas Wildes über seine ernste Miene huschte, wusste sie, dass es Zeit war, zu verschwinden, aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen.

„Geh, Orla“, wiederholte er so hitzig, dass sie zur Besinnung kam und ins Haus rannte. Doch sie ging nicht auf ihr Zimmer, sondern suchte das Erdgeschoss und die Terrasse nach ihrer Kette ab.

Irgendwann gab sie es auf und ging nach oben. Torre stand an den Frisiertisch gelehnt in ihrem Zimmer, und als sie die Kette in seiner Hand sah, atmete sie erleichtert auf. „Gott sei Dank. Wo war sie?“

„Sie war hinter die Rücklehne gerutscht.“ Er betrachtete die Kette. „Das ist ein billiges vergoldetes Kettchen, und der Anhänger ist mit grünen Strasssteinen besetzt, nicht mit Smaragden. Warum bedeutet dir die Kette so viel?“

„Der Anhänger ist ein vierblättriges Kleeblatt, das in Irland als Glücksbringer gilt. Die Kette bedeutet mir so viel, weil mein Vater sie mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hat. Da habe ich ihn zum allerletzten Mal gesehen“, erklärte sie. „Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich noch ein Baby war. Ich bin bei meiner Mutter in England aufgewachsen, habe aber die Sommer immer bei meinem Vater in Irland verbracht.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Er war Fischer. Eines Abends ist er von einem Sturm überrascht worden und über Bord gegangen. Zwei Tage später hat man seine Leiche gefunden.“

Wieder sah Torre die Kette an. „Der Verschluss ist ausgeleiert. Ich kann die Kette zum Juwelier bringen und reparieren lassen.“

„Das ist nett, aber ich möchte sie jetzt umlegen.“ Orla ging zu ihm und streckte die Hand nach der Kette aus. „Ich trage sie immer, auch nachts.“

Statt ihr die Kette zu geben, stellte Torre sich hinter sie. „Heb dein Haar hoch“, sagte er.

Er war ihr so nah, dass sie die Wärme seines Körpers spürte. Der würzige Duft seines Eau de Colognes nahm sie gefangen, und sie konnte den verräterischen Schauer nicht unterdrücken, der sie durchlief, als sie sich und ihn im Spiegel des Frisiertischs sah. Torre überragte sie, und seine Haut sah neben ihrer sehr dunkel aus. Sein Gesicht war angespannt vor unterdrücktem Verlangen, und sein sinnlicher Mund sah so verlockend aus, dass auch Orla von der Sehnsucht gepackt wurde.

Sie hatte nicht die Kraft, sich gegen seine gebieterische Ausstrahlung zu wehren, und hob ihr Haar an, sodass er ihr die Kette umlegen konnte. Ein Schauer durchlief sie, als seine Finger ihren Hals streiften.

Im Spiegel sah sie, dass ihre Brustwarzen sich deutlich unter ihrem Nachthemd abzeichneten. Torre räusperte sich, und sie atmete zitternd aus, als er sich vorbeugte und seine Lippen auf ihren Hals drückte. Heiße Erregung durchströmte sie.

Die Zeit schien stillzustehen. Für Orla gab es nichts anderes mehr als seinen Mund, der eine Spur entlang ihres Schlüsselbeins küsste. Im Spiegel sah sie, wie Torre seine Hände von der Seite auf ihre Brüste gleiten ließ, um die aufgerichteten Spitzen durch den Satinstoff hindurch zu streicheln. Es fühlte sich unendlich gut an, und Orla konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken.

Er schlang die Arme um sie, drehte sie zu sich herum und drückte sie an sich, um sie im nächsten Moment voller Leidenschaft zu küssen.

7. KAPITEL

Er schob die Träger ihres Nachthemdes herunter und entblößte ihre Brüste. „Orla.“

Seine Stimme klang fast schon verzweifelt, und sein begehrlicher Blick ließ sie vor verzweifeltem Verlangen erbeben. Ihre Brüste sehnten sich nach seiner Berührung, und sie stöhnte auf, als er ihre aufgerichteten Brustknospen mit den Fingern liebkoste, bis sie meinte, vor Lust vergehen zu müssen. Es war zu viel. Er war zu viel. Eine innere Stimme ermahnte sie, sich daran zu erinnern, wie er sie damals gedemütigt hatte, doch seine männliche Schönheit und sein betörend muskulöser Körper machten sie unempfänglich für die Warnung.

Er griff in ihr Haar und breitete es über ihren Hals. „Es ist wie bernsteinfarbene Seide“, sagte er. „Du bist perfekt. So schön. Ich kann dir nicht widerstehen.“

Er umfasste ihre Taille und hob Orla so hoch, dass ihre Brüste auf Höhe seines Gesichts waren. „Leg deine Hände auf meine Schultern“, befahl er, und als sie es tat, nahm er eine ihrer Brustwarzen in den Mund, um daran zu saugen. Hitze schoss Orla zwischen die Schenkel. Sie schlang die Beine um seine Hüfte und rieb ihr Becken an seinem. Sein Stöhnen ging ihr durch und durch. Etwas regte sich in ihr, ein instinktives Begehren, das so fordernd war wie ein Flächenbrand.

Sie hatte dieses unkontrollierbare Verlangen stets nur nach Torre gehabt. Was sagte das über ihre gescheiterte Ehe? Hatte ihr Ex-Mann geahnt, was ihr bis jetzt nicht klar gewesen war? Dass ihr Herz und ihr Körper einem anderen Mann gehörten?

Als Torre sich ihrer anderen Brust widmete und die aufgerichtete Knospe mit der Zunge liebkoste, stöhnte Orla auf. Er umfasste ihren Po und bewegte ihr seine Hüfte entgegen, sodass sie spürte, wie erregt er war, als er sie zum Bett trug, wo er sie absetzte und sanft nach hinten drückte. Rücklings auf der Matratze liegend sah Orla zu, wie er seine Jogginghose auszog, und der Anblick seines starken Körpers ließ Hitzewellen durch ihren Körper rasen.

Es hatte etwas Unwirkliches, hier vor Torre, der nackt und unübersehbar erregt vor ihr stand, auf dem Bett zu liegen. Wenn sie sich einredete, dass sie – wie sie es so oft getan hatte – nur träumte, mit ihm zusammen zu sein, würde sie sich danach vielleicht verzeihen können. Das entschlossene Funkeln seiner halb geschlossenen Augen hinter den schwarzen Wimpern erfüllte sie mit banger Erwartung. Es war klar, wie dieses irrsinnige Zusammentreffen ausgehen würde. Sie hatte es gewusst, seitdem er sie geküsst hatte. Und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie es sogar schon gewusst hatte, als sie sich vor der Villa Romano an seinem Wagen begegnet waren.

Sie hielt ihn nicht auf, als er ihr das Nachthemd hastig auszog. Er sah ihr in die Augen, während er anschließend nach dem Bündchen des Satinhöschens griff, um es ebenfalls auszuziehen.

Orlas innere Stimme ermahnte sie, aufzuhören, bevor sie etwas tat, was sie später bereuen würde. Doch ihr Körper war eigensinnig und wollte all das, was das verwegene Funkeln seiner Augen versprochen hatte.

Er kniete sich aufs Bett und beugte sich so weit vor, dass sein Oberkörper ihre Brustwarzen streifte. Stöhnend schlang sie die Arme um seinen Hals, zog ihn noch enger an sich und bot ihm ihren Mund, sodass er sie innig küssen konnte. Sie begehrte ihn mit einer solchen Heftigkeit, dass sie ihm hilflos ergeben war.

Er schob ihre Beine auseinander und fuhr mit einer Hand zwischen ihre Schenkel, dorthin, wo sie schon feucht vor Erregung war. Seufzend bog sie sich ihm entgegen. Sein entschlossener Blick ließ sie vor Verlangen erbeben.

„Magst du das?“, fragte er, während er erst einen und dann einen zweiten Finger in sie gleiten ließ und sie liebkoste, bis sie fast den Verstand verlor. „Ich sehe, dass dir das gefällt“, raunte er, doch ihr war es mittlerweile egal, dass ihre Reaktion ihm verriet, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Also bewegte sie sich seiner Hand entgegen und stöhnte auf, als sie merkte, dass sich tief in ihr der Höhepunkt ankündigte.

Begierig schob sie eine Hand zwischen ihre Körper, umfasste ihn und dirigierte ihn zu sich, sodass er sich an ihr empfindliches Fleisch drängte. Orla hätte nie gedacht, dass sie sich so verzweifelt nach sexueller Erfüllung sehnen könnte – mit ihm, und nur mit ihm, gestand sie sich ein, während sie voll Inbrunst seinen Hals küsste. „Ich will …“

„Ich weiß, was du willst.“ Seine raue Stimme jagte ihr einen erregten Schauer durch den Körper, und sie wusste, dass es nun zu spät war, diesen Irrsinn zu beenden. Torre stützte sich auf seine Ellbogen und drang unvermittelt tief in sie ein. Obwohl sie bereit für ihn war, kam diese forsche Inbesitznahme so unerwartet, dass Orla aufschrie.

Auf der Stelle hielt Torre inne und zog sich ein wenig zurück. „Habe ich dir wehgetan?“

„Nein.“ Es hatte nicht wehgetan, sie war bloß von dem Gefühl überwältigt gewesen, zu sein, wo sie hingehörte. In Torres Armen, in seinem Bett, ihre Körper vereint. Sie spürte, wie er sich zurückzog, und schlang die Beine um seinen Rücken. Torre fluchte leise, als sie ihn tief in sich aufnahm.

Piccola, bist du sicher, dass ich weitermachen soll?“

Doch sie antwortete nicht, sondern umfasste sein Gesicht, um ihn zu küssen. Schnell übernahm er das Kommando über den Kuss. Er ließ seine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten und drang gleichzeitig tief in sie ein. Er bewegte sich schnell und brachte sie mit jedem Stoß dem Höhepunkt näher. Sie krallte sich am Laken fest und genoss es, so von ihm in Besitz genommen zu werden.

Doch schon wurden ihre Empfindungen immer intensiver, und sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern. Torre hielt inne und sah ihr in die Augen.

„Ich will sehen, wie du kommst“, sagte er. Gleichzeitig drang er wieder tief in sie ein und brachte sie damit zum Höhepunkt. Ihre Lust war so intensiv, dass sie es kaum aushielt. Sie hörte, wie er laut aufstöhnte, als auch er sich der Erlösung hingab, und ließ sich anschließend von der angenehmen Mattigkeit einlullen, welche die Realität, die, wie sie fürchtete, viel Kummer bereithielt, noch ein wenig auf Distanz hielt.

Viel zu bald ließ Torre sich von ihr gleiten und drehte sich auf den Rücken. Sein Schweigen ließ nichts Gutes ahnen, und Orla, die es sehr bedauerte, seinen warmen Körper nicht mehr auf sich zu spüren, wagte nicht, ihn anzusehen.

„So viel zum Thema Selbstbeherrschung.“

Seine grimmige Stimme riss sie aus dem wohligen Nachglühen. Scham machte sich in ihr breit.

„Ich habe kein Kondom verwendet.“ Er setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Dabei kehrte er ihr den Rücken zu, als könne er es nicht ertragen, sie anzusehen. „Dio.“ Fluchend fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. „Ich habe noch nie vergessen zu verhüten.“

„Keine Sorge, ich nehme die Pille“, antwortete Orla verletzt. „Seit der Trennung von meinem Mann vor mehr als zwei Jahren war ich mit niemandem zusammen“, erklärte sie und ließ sich nicht anmerken, wie es in ihr rumorte.

Er erhob sich und zog seine Jogginghose an. Schließlich wandte er sich ihr mit versteinerter Miene zu. „Und warum bist du mit mir ins Bett gegangen?“ Ein unergründlicher Unterton schwang in seiner Stimme mit – kein Ärger, wie Orla es erwartet hatte, sondern eher etwas wie Reue.

Sie setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust, obwohl ihr klar war, wie albern es wirken musste, dass sie sich jetzt, nur ein paar Minuten, nachdem sie ihn regelrecht angefleht hatte, mit ihr zu schlafen, ihrer Nacktheit schämte. „Ich wollte dich.“ Ihre ehrliche Antwort schien ihn zu überraschen. Sie seufzte. „Mit achtzehn war ich dumm, und jetzt bin ich noch dümmer. Aber es ist nicht meine Schuld, dass es passiert ist. Was hast du für einen Grund? Warum hast du mit mir geschlafen, wenn du mich so sehr verachtest, wie du vorgibst?“

„Ich verachte dich nicht“, erwiderte er. „Ich begehre dich mehr als je eine andere Frau zuvor.“

Verwundert über seinen Ton sah sie ihn an. Das war nicht der Torre, den sie kannte. Er wirkte angespannt, und sie hatte das Gefühl, dass er nicht so gefasst war, wie er zu sein vorgab.

„Jedenfalls kann ich jetzt nicht mehr für dich arbeiten“, sagte sie. „Du musst dir für Dubai eine andere Sekretärin suchen. Ich fliege so bald wie möglich nach Hause und suche mir eine andere Stelle.“

Sie erwartete, dass auch für ihn eine Zusammenarbeit nicht mehr infrage kam. Doch er antwortete: „Den Teufel wirst du tun. So schnell finde ich keinen Ersatz. In dem Vertrag, den du unterschrieben hast, ist eine Summe festgelegt, die du zu entrichten hast, wenn du vor Ablauf des zweimonatigen Arbeitsverhältnisses kündigst oder unangemessene Fehlzeiten aufweist“, erinnerte er sie und ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal zu ihr um. „Wir reisen im Firmenflieger nach Dubai. Du solltest um acht aufbruchbereit sein.“ Er sah auf die Uhr. „Das ist in sechs Stunden. Ich schlage vor, du schläfst jetzt ein bisschen.“

Nachdem er das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, rannte Orla ins Bad, um sich den Geruch von Sex vom Leib zu waschen, diesen Beweis dafür, wie unendlich dumm sie war.

Qasr Jameel war nicht nur das neueste und aufsehenerregendste Gebäude in Dubai, sondern obendrein das höchste Bauwerk der Welt. Der Wolkenkratzer beherbergte ein Luxushotel, Geschäfte, Restaurants und Freizeiteinrichtungen. Es war an nichts gespart worden. Heute Abend würden mehrere Mitglieder der Herrscherfamilie zugegen sein, um die offizielle Eröffnung des Gebäudes zu feiern.

Torre sah vom Balkon der Präsidentensuite im dreiundsiebzigsten Stock auf die Wagen auf den Straßen der Stadt hinunter, deren Scheinwerfer wie Juwelen funkelten. Qasr Jameel war von einem bekannten schwedischen Architekten entworfen worden, und die Bauträger – ein Konsortium von Scheichs – hatten ARC mit dem Bau beauftragt. Torre war stolz, dass das kompliziert durchzuführende Projekt unter seiner Schirmherrschaft rechtzeitig und zu den vorgesehenen Kosten fertiggestellt worden war. Doch leider spiegelte sich sein beruflicher Erfolg nicht in seinem Privatleben wider, und er konnte an nichts anderes denken als an die Frau, die ihn zum zweiten Mal hatte schwach werden lassen.

Sein unbezwingbares Verlangen nach ihr hatte ihm schon vor acht Jahren das Gefühl gegeben, ein Versager zu sein, und er hatte sich geschworen, sich nie wieder so gehen zu lassen. Und tatsächlich hatte es seitdem keine seiner Geliebten geschafft, ihm die Selbstbeherrschung zu rauben. In seinen Beziehungen lief immer alles nach seinem Willen.

Doch sofort, als er Orla an seinem Wagen hatte stehen sehen, war ihm klar gewesen, dass er ihr nicht widerstehen konnte. Er sah sie vor sich, wie sie unter ihm lag, ihre schlanken Glieder um seinen Körper geschlungen, ihr rotgoldenes Haar über das Kissen ergossen. Er dachte an ihre vor Erregung geröteten Wangen und an ihre weißen Brüste, deren Knospen sich unter seiner Zunge aufgerichtet hatten.

Warum hatte er sie bloß nach Dubai mitgenommen? Denn natürlich hätte er Ersatz finden und Orla aus dem Vertrag entlassen können. Aber er hatte geglaubt, dass es die beste Methode wäre, sie sich ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen. Dass sie ihm langweilig werden würde, wenn er zwei Monate lang mit ihr zusammenarbeitete und die Nächte mit ihr verbrachte. Darum hatte er auch darauf bestanden, dass sie das zweite Schlafzimmer in seiner Suite hier nahm, unter dem Vorwand, dass sie in der Nähe sein müsse, falls spät abends noch Arbeit anfiele.

Er sah auf die Uhr. Die Feier sollte um acht anfangen, und sie mussten bereits vorher im Festsaal sein. Er hatte Orla nicht mehr gesehen, seit er sie mit seiner Kreditkarte losgeschickt hatte, ein Abendkleid zu kaufen. Allerdings hatte er zu seiner Verwunderung festgestellt, dass die Karte nicht verwendet worden war, als er seine Konten online gecheckt hatte. Er fragte sich gerade, ob er bei ihr klopfen und sie an die Zeit erinnern sollte, da hörte er eine Stimme hinter sich.

„Die internationale Presse wird groß über die Einweihung des Gebäudes berichten“, sagte Franco Belucci, der Betriebsleiter von ARC. „Das ist eine hervorragende Werbung für uns und unser Rekordgebäude.“

„Den Rekord werden wir nicht lange halten“, erwiderte Torre. „Es gibt bereits Pläne für ein noch höheres Gebäude in Bahrain. Der Chef des Bauträgers hinter dem Projekt wird heute Abend hier sein, und es ist eine gute Gelegenheit, schon mal den Kontakt zu knüpfen, bevor wir ein Angebot abgeben, um den Auftrag zu bekommen.“

Torre spürte, dass Orla hereingekommen war, und wandte sich um. Zu einem langen nachtblauen Kleid, das ihre schmale Taille betonte und dessen Oberteil und Ärmel mit zarter Spitze besetzt waren, trug sie schlichte goldene Ohrstecker und die Kette mit dem Kleeblattanhänger von ihrem Vater. Das Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, ein paar lose Strähnen umrahmten ihr Gesicht. Sie war atemberaubend schön, und es entging Torre nicht, dass Franco sich straffte, als Orla auf sie zukam.

„Orla arbeitet für mich, solange Renzo die Folgen seines Unfalls auskuriert“, erklärte Torre dem Betriebsleiter.

„Ich muss sagen, dass Sie wesentlich hübscher sind als Renzo“, sagte Franco, als er Orlas Hand schüttelte. „Und Orla ist ein sehr schöner Name.“

„Danke. Er kommt aus Irland“, antwortete sie lächelnd, und Torre verspürte plötzlich das abwegige Bedürfnis, seinem Angestellten die Visage zu polieren. Sein Telefon klingelte, und er ging in einen der kleineren Räume der Suite, um den Anruf anzunehmen.

Als er fünf Minuten später wieder in den großen Raum kam, saßen Orla und Franco auf dem Sofa und unterhielten sich. Orla wirkte angeregt, und ihr leises Lachen ärgerte Torre umso mehr, als ihm auffiel, dass sie mit ihm nie gelacht hatte, was wiederum die Frage aufwarf, warum ihn das störte.

„Es ist zehn vor acht, du solltest schon mal in den Festsaal gehen“, sagte er zu Franco. „Wir kommen gleich nach.“

Der Betriebsleiter verschwand im Aufzug der Suite, und Torre ging zur Bar, um sich einen Whisky einzugießen. Er trank einen großen Schluck und sah zu, wie Orla ihre Stola und ihre Handtasche nahm. „Er ist verheiratet“, erklärte er, bevor er einen weiteren Schluck trank. „Ich nehme an, dass dir das egal ist, aber du solltest wissen, dass er auch Kinder hat.“

„Ja, er hat mir Bilder von den Zwillingen auf seinem Handy gezeigt. Was für süße Mädchen!“ Sie runzelte die Stirn. „Warum erzählst du mir eigentlich von seiner Familie?“

„Na, für den Fall, dass du Hintergedanken hast.“

„Was für Hintergedanken?“

„Nun tu nicht so unschuldig. Du hast absichtlich ein Kleid ausgesucht, das die Aufmerksamkeit aller Männer auf dich lenken wird. Franco sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Ich rate dir nur, dich von ihm fernzuhalten und irgendeinen anderen armen Kerl zu bezirzen, der nicht merkt, dass sich hinter deinem schönen Lächeln nichts als Geldgier versteckt.“

Noch während er die Worte aussprach, wurde Torre klar, dass seine Anschuldigung völlig haltlos war. Er bekam Gewissensbisse und ging auf Orla zu. Das unwiderstehliche Bedürfnis, ihr nahe zu sein, machte ihn wütend.

Er verstand nicht, warum er so verrückt nach ihr war. Er verachtete sich dafür, dass er dem Verlangen nach ihr genauso machtlos erlegen war wie sein Vater damals dem nach ihrer Mutter.

„Mein Kleid ist anständig“, erwiderte sie. „Ich habe auf die hiesige Kultur Rücksicht genommen und ein nicht zu offenherziges Modell ausgesucht. Und es übrigens selbst bezahlt.“ Die grünen Sprenkel in ihren braunen Augen funkelten. „Ich kann es dir mit gar nichts recht machen, nicht wahr? Selbst wenn ich einen Kartoffelsack angezogen hätte, würdest du mir noch vorhalten, dass ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehen will.“

Er hörte ihr an, dass sie verletzt war, und sein Herz zog sich seltsam zusammen. „Orla …“

„Ich nehme an, dass ich zu viel Make-up trage und aussehe wie ein Flittchen“, presste sie hervor und hob eine Hand an die Stirn. „Dass ich mit deinem Kollegen geflirtet habe, hast du mir ja schon unterstellt.“

Torre kniff die Augen zusammen. „Warum berührst du immer diese Narbe an deiner Stirn, wenn wir uns streiten? Wie ist das passiert, war das ein Unfall?“

Sie erstarrte, als er die Narbe erwähnte. „Ich habe schon gesagt, dass ich nicht vorhabe, mit dir über meine Ehe zu sprechen.“

„Ich habe dich nicht zu deiner Ehe gefragt“, antwortete er ruhig und versuchte, sich seine Neugier nicht anmerken zu lassen, während ihn eine erschreckende Ahnung beschlich. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ihr für seine charmante Art bekannter Ex-Mann für die fast acht Zentimeter lange Narbe zwischen Augenbraue und Haaransatz verantwortlich war, doch ihr verängstigter Blick war nicht gestellt gewesen.

„Wir sollten losgehen, sonst kommen wir zu spät“, sagte sie mit nun ausdrucksloser Stimme.

Torre wollte mehr über ihre Ehe mit David Keegan wissen. Mit Entsetzen stellte er fest, dass ihn die anstehende Feier überhaupt nicht mehr interessierte. Viel lieber hätte er sich vom Zimmerservice Essen auf die Suite bringen lassen und sich mit Orla unterhalten. Und es war mehr als beunruhigend für ihn, dass er von einer Frau mehr wollte als Sex. Das kannte er nicht von sich.

Torre schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Er folgte Orla in den Aufzug, in dem sie ihn in einen Ecke gedrückt verunsichert ansah und an ihrem Klee-Anhänger herumspielte.

„Ich habe mir die Liste der potenziellen Auftraggeber angesehen, die heute hier sein werden“, sagte sie, „und ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Wenn ich mit jemandem spreche, der zufällig männlich ist, wirst du mir vorwerfen, dass ich versuche, ihn zu verführen. Vielleicht möchtest du ja, dass ich mit gesenktem Blick zwei Schritte hinter dir gehe, damit ich nicht auffalle.“

„Ich möchte, dass du vergisst, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe“, murmelte er. „Du siehst wunderschön aus, und dein Kleid ist perfekt für den Anlass.“

Sie sah ihn fragend an. „Das verstehe ich nicht.“

Torre wünschte, er könnte etwas gegen ihre betrübte Miene ausrichten, und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er dafür verantwortlich war. „Ich versuche, mich zu entschuldigen“, brummte er. Und Orla sah ihn so bestürzt an, dass er fast lauf losgelacht hätte. Aber nur fast.

8. KAPITEL

Die Feierlichkeiten fanden in dem prächtigen Ballsaal im Quasr Jameel statt. Der Saal war im Stil eines arabischen Palasts gehalten – ein fein gearbeiteter Mosaikboden, rosafarbener Marmor und glänzendes Blattgold, so weit das Auge reichte. Frauen in extravaganter Abendgarderobe und Männer im Smoking standen Seite an Seite mit Scheichs in traditionellen Gewändern und mit Kufiya. Weißbejackte Kellner schlängelten sich durch die Menge, um Champagnercocktails, alkoholfreie Getränke und raffinierte Häppchen anzubieten.

Während ihrer kurzen Ehe mit David, der aus einer adeligen Familie stammte, hatte Orla ihn ein paarmal zu gehobenen gesellschaftlichen Anlässen begleitet, unter anderem zu den eleganten Abendgesellschaften seiner Mutter auf dem Familiensitz. Orla hatte sich bei solchen Zusammenkünften stets fehl am Platze gefühlt, und David hatte es damit, dass er ständig an ihr herumkritisiert hatte, noch schlimmer gemacht. Er hatte immer etwas an ihrer Kleidung auszusetzen gehabt und gesagt, sie sähe aus wie ein Flittchen, wenn sie es einmal gewagt hatte, sich zu schminken.

Das Kleid, das sie in einer Boutique im Einkaufskomplex des Qasr Jameel gekauft hatte, war elegant und dezent. Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, wie Torre ihr vorgeworfen hatte, war das Letzte, was sie wollte. Sie schaute ihn an. Er stand nicht weit entfernt und sah umwerfend aus in seinem schwarzen Smoking und seinem weißen Hemd. Da er mit einem anderen Gast sprach und nicht in ihre Richtung blickte, konnte sie ihn unbemerkt betrachten.

Als sie daran dachte, wie er sie geküsst hatte, wallte die Erregung wieder in ihr auf. Noch immer war sie schockiert von ihrem draufgängerischen Verhalten in der vergangenen Nacht. Und sie verstand nicht, warum Torre erst so gemeine Dinge zu ihr gesagt und sich dann dafür entschuldigt hatte. Sie wurde nicht schlau aus ihm, und das nervte sie. Sie wollte ihn hassen, und der Umstand, dass ihr das nicht gelang, zeigte, was für ein Dummkopf sie war.

Als er sich zu ihr umwandte, sah sie schnell weg, doch ihr entging das amüsierte Funkeln in seinem Blick nicht.

„Orla, ich möchte dir Scheich Bin al Rashid vorstellen“, sagte er. „Orla ist meine Sekretärin“, erklärte er dem Mann, der neben ihm stand.

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, murmelte Orla und schüttelte dem Scheich die Hand. „Ich habe gehört, Sie haben vor, ein ähnliches Gebäude in Bahrain zu bauen?“

„Allerdings. Ich glaube, ein Gebäude wie dieses würde Unternehmen und Touristen in mein Land locken. Allerdings ist das Grundstück, auf dem ich das Gebäude errichten lassen will, relativ klein und befindet sich im dicht bebauten Zentrum einer belebten Stadt. Die Bauarbeiten müssten in kurzer Zeit abgeschlossen werden, damit es nicht zu längeren Beeinträchtigungen kommt.“

Orla nickte. „Hier in Dubai war es so ähnlich. Quasr Jameel ist von anderen Gebäuden umgeben und musste so schnell und sicher wie möglich gebaut werden. ARC hat sich darum für die Deckelbauweise entschieden. So konnten die ersten fünfzig Stockwerke bereits gebaut werden, bevor die Baugrube ausgehoben wurde. Auch die Kosten wurden dadurch erheblich gesenkt.“ Sie ging richtig in ihrem Thema auf. „Der Gebäudekern wurde in der Gleitbauweise errichtet, bei der die Schalung beim Gießen des Betons kontinuierlich nach oben bewegt wird.“

Als Torre einen erstickten Laut von sich gab, wurde ihr klar, dass ihre Erläuterung unangebracht war. Unter dem Material über ARC, das er ihr auf dem Flug zum Lesen gegeben hatte, war auch ein Dokument über den Bau von Quasr Jameel gewesen. „Das hier brauchst du nicht zu lesen“, hatte Torre gesagt. „Die bautechnischen Hintergründe sind sicher nicht besonders interessant für dich.“

Doch Orla war fasziniert davon gewesen und hatte fast den gesamten Flug mit der Lektüre der technischen Berichte verbracht. Es hatte sie angenehm überrascht, dass sie kaum etwas aus dem Studium vergessen hatte. Aber sie hatte keinen Abschluss gemacht, und Torre war einer der besten Bauingenieure weltweit. „Ich bin sicher, du kannst die Bautechnik besser erklären als ich“, sagte sie verlegen zu ihm.

„Du hast es ausgezeichnet erklärt“, erwiderte er mit undeutbarer Miene. „Ich bin sicher, dass Scheich Bin al Raschid mehr hören möchte – genau wie ich.“

„Ach.“ Sie starrte ihn an und fragte sich, ob er sich über sie lustig machte.

„Mich würde interessieren, wie man bei sehr hohen Gebäuden das Schwanken bei starkem Wind gering halten kann“, sagte der Scheich.

„Einem zu starken Schwanken kann man durch Schwingungsdämpfer und der Aussteifung des Erschließungskerns entgegenwirken.“ Orla vergaß vor lauter Enthusiasmus ihre Zurückhaltung und erläuterte die Methoden ausführlich.

Als sie schließlich verstummte, wandte sich der Scheich Torre zu. „Ich bin überrascht und beeindruckt davon, wie gut sich ihre Sekretärin auskennt!“

„Ja, Orla überrascht einen immer wieder“, antwortete Torre trocken und sah sie aufmerksam an. Zum Glück erschien in diesem Moment ein Mitglied der Herrscherfamilie auf dem Podium am Ende des Ballsaals und hielt eine Ansprache, bevor Quasr Jameel als offiziell eröffnet erklärt wurde. Orla wollte die Ablenkung nutzen, um Torre zu entkommen, doch der legte ihr eine Hand auf den Arm und sagte ihr, dass er sie vielleicht noch bräuchte. Inwiefern er sie noch brauchen könnte, ließ er offen, und sie hielt es für klüger, nicht nachzufragen.

Weitere Reden und eine Pressekonferenz folgten. Fotografen wollten Aufnahmen von Torre und dem Team, das an Quasr Jameel gearbeitet hatte, machen.

„Ich arbeite nur vorrübergehend als deine Sekretärin, ich muss nicht mit auf die Bilder“, protestierte Orla, als Torre ihr bedeutete, dazubleiben, doch als das Blitzlichtgewitter losging, stand sie noch immer dicht neben ihm.

Und es kam noch schlimmer – er führte sie auf die Tanzfläche und zog sie eng an sich. Durch ihr Kleid konnte sie das Spiel seiner Muskeln fühlen, und als sie spürte, wie er sich hart vor Erregung gegen ihren Bauch drängte, errötete sie tief.

Als nach kurzer Stille das nächste Stück ertönte, gähnte sie, und ihre Müdigkeit war nicht gespielt. „Du musst wohl den Rest des Abends ohne mich auskommen. Ich habe offenbar einen Jetlag“, sagte sie. „Aber du bist sicher nicht lange allein“, fügte sie hinzu. „Die Blondine in dem halbdurchsichtigen Kleid, mit der du vorhin geflirtet hast, hat mich ziemlich böse angeguckt, während wir getanzt haben.“

Als sie sich entfernen wollte, schlang Torre lächelnd einen Arm um ihre Taille. „Ich sehe an den grünen Sprenkeln in deinen Augen, dass du eifersüchtig bist, gattina mia.“

„Ich bin nicht eifersüchtig. Und erst recht bin ich nicht dein Kätzchen.“

„Nein? Ich habe Kratzer auf dem Rücken …“

Orla errötete und spürte, wie Erregung sich in ihr breitmachte und sich dort konzentrierte, wo er sie gestern mit seinen geschickten Fingern verwöhnt hatte. Als er sich dann auf sie gelegt hatte, um sie ganz und gar in Besitz zu nehmen, hatte sie schließlich besinnungslos vor Lust ihre Nägel in seinen Rücken gegraben.

Sie wagte nicht, ihn anzusehen, als er sie durch den Festsaal zum Aufzug führte, der sie in die Präsidentensuite brachte. Dort zog Orla ihre Schuhe aus und wollte auf ihr Zimmer gehen, doch bevor sie bei der Tür ankam, ließ Torres Stimme sie innehalten.

„Ich glaube kaum, dass du dir dein fundiertes Wissen über den Hochhausbau während deiner Arbeit als Sekretärin bei einer kleinen Baufirma angeeignet hast“, sagte er und ging zur Bar. „Möchtest du einen Drink?“ Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Der Hauptgeschäftszweig deines ehemaligen Arbeitgebers sind Küstenschutzprojekte, nicht Wolkenkratzer.“ Er goss sich einen Whisky ein und trank einen großen Schluck, bevor er auf sie zukam. „Du faszinierst mich, Orla“, murmelte er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Immer, wenn ich glaube, dich zu kennen, überraschst du mich.“

Orla erstarrte, als seine Finger ihre Narbe streiften. „Du kennst mich eben nicht.“ Sie verstand nicht, warum sie das so schade fand. Manchmal fragte sie sich, ob irgendwer sie jemals gekannt hatte. Ihre Mutter sicher nicht, und auch der Mann nicht, mit dem sie zehn entsetzliche Monate verbracht hatte. „Und das, was du über mich zu wissen meinst, stimmt nicht.“

„Wie wäre es dann, wenn du mich aufklären würdest, worin ich mich genau irre?“

„Als ich vor acht Jahren mit dir geschlafen habe, hatte ich keine Hintergedanken“, antwortete sie und schluckte. „Ich weiß, dass meine Mutter deinen Vater seines Geldes wegen geheiratet hat und kann nachvollziehen, warum du sie verachtest. Aber als ich dir meine Unschuld geopfert habe, dachte ich …“ Sie schüttelte den Kopf. Der Kloß in ihrem Hals machte ihr das Atmen schwer. „Ich war jung und naiv. Damals habe ich noch an Märchenprinzen geglaubt.“ Als sie zu ihm aufsah, bemerkte sie einen sonderbaren Ausdruck in seinem Blick, der ihr Herz schneller schlagen ließ.

„Wo bist du damals hingegangen?“, fragte er. „Ich bin dir ein paar Minuten später gefolgt, aber du warst verschwunden.“

„Dachtest du etwa, ich würde bleiben, nachdem du mir unterstellt hast, hinter deinem Geld her zu sein? Ich bin mit dem Bus zur Villa Romano gefahren. Die Freundinnen meiner Mutter hatten ein Taxi zum Flughafen gebucht und haben mich mitgenommen.“

Torre seufzte. „Mein Vater hat irgendwann mal gesagt, dass du in London in einer Bar gearbeitet hast. Stimmt das?“

„Am Anfang meines Studiums habe ich damit mein Geld verdient.“ Orla verspürte eine gewisse Genugtuung, als er sie überrascht ansah.

„Ich wusste nicht, dass du studiert hast. Es steht nicht in deinem Lebenslauf. Was hast du studiert?“

„Ich habe dreieinhalb Jahre Bauingenieurwesen studiert.“

Er sah sie verdutzt an und lachte dann auf. „Das erklärt, warum du Bin al Rashid so gut das Bauverfahren erklären konntest. Deinetwegen ist er so beeindruckt von der Qualität des Teams, dass er ARC für den Bau des Wolkenkratzers in Bahrain in Betracht zieht. Aber ich verstehe nicht, warum du dann nur als Sekretärin gearbeitet hast. Und dich nicht als Bauingenieurin bei ARC beworben hast.“

„Ich habe keinen Abschluss gemacht.“

„Warum nicht?“ Als sie nicht antwortete, hakte er nach: „Prüfungsangst?“

„Nein. Ich habe das Studium nach meiner Hochzeit abgebrochen.“ Sie biss sich auf die Lippe, als sie daran dachte, wie viel Kontrolle David über ihr Leben gehabt hatte.

Torres Miene verhärtete sich. „Du dachtest, du bräuchtest keinen Abschluss, weil dein reicher Mann schon für dich sorgen würde?“

„Oh, nein. Ich bereue es zutiefst, dass ich keinen Abschluss gemacht habe. David … Er hat mich überredet, das Studium zu unterbrechen, weil er mich bei Auslandsmatches dabeihaben wollte. Ich hatte vor, das Studium wiederaufzunehmen, aber nachdem wir uns getrennt hatten, musste ich Geld verdienen. Meine Mutter war krank …“ Orla verstummte. Wenn sie auf Torres Verständnis hoffte, war es sicher nicht klug, Kimberly zu erwähnen. „Diese angebliche Abfindung von David, über die in der Boulevardpresse geschrieben wurde, hat es nie gegeben. Er hat erst zwei Jahre nach der Trennung in eine Scheidung eingewilligt. Ich wollte nichts von ihm. Nur meine Freiheit.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich habe gelernt, dass es nichts Wertvolleres gibt als ein selbstbestimmtes Leben.“

Torre wusste nicht, wie er mit den Gefühlen umgehen sollte, die in ihm aufwallten. Seitdem ein Kindermädchen ihm gesagt hatte, dass er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weinen dürfe, weil er damit seinen Vater verärgern würde, hatte er seine Gefühle für sich behalten. Das Leben war ohne emotionales Auf und Ab wesentlich einfacher. Deswegen war er auch so glücklich mit seinem technischen Beruf, der analytisches Denken erforderte.

Seit seiner Kindheit war es nur ein einziges Mal vorgekommen, dass er statt auf seinen Kopf auf sein Herz gehört hatte. Auf der Hochzeitsfeier von Giuseppe und seiner geldgierigen frischegebackenen Ehefrau Kimberly hatte er sich furchtbar gelangweilt. Gerade als er weggehen wollte, sah er Orla und wusste sofort, dass er sie haben musste. Seine normalerweise so beherrschte Art wich einem heftigen Begehren, wie er es noch nie zuvor für eine Frau empfunden hatte. Umso mehr hatte es ihn entsetzt, am nächsten Morgen zu erfahren, dass sie Kimberlys Tochter war, und er war sicher gewesen, dass sie ihm ihre Unschuld nur geopfert hatte, um ihn dazu zu bringen, sie zu heiraten.

Und nun wurde ihm klar, dass er damals nur so wütend auf sie gewesen war, weil er seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden war. Und weil die Vorstellung, sie zu brauchen, ihm Angst gemacht hatte. Jemanden zu brauchen bedeutete Kontrollverlust, und den konnte er sich nicht gestatten.

Torre dachte an die Beerdigung seiner Mutter zurück. Es war ihm schwergefallen, nicht zu weinen, aber er hatte sich zusammengerissen. Giuseppe hatte ihn hinterher für seine Tapferkeit gelobt.

Er schob die Erinnerungen an seine Kindheit beiseite und dachte an den Morgen nach seiner ersten Nacht mit Orla zurück, als sie gemeinsam in seinem Bett in seinem alten Haus in Ravello aufgewacht waren. Er hatte ein ungeheures Verlangen nach ihr empfunden, aber es war noch mehr als das gewesen. Eine Erfüllung wie mit ihr hatte er nie zuvor mit einer anderen Frau erlebt, und ihm war klar gewesen, dass ihm eine Nacht mit ihr nicht reichen würde. Er wollte mehr von ihr, er wollte sie …

Für immer. Dieser Gedanke war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Das schrille Klingeln ihres Telefons war ihm gar nicht gelegen gekommen, doch er hatte sich seinen Frust nicht anmerken lassen, als sie sich aufgesetzt und nach ihrer Handtasche gegriffen hatte.

„Das ist sicher Kimberly“, hatte sie gesagt. „Da muss ich rangehen.“

Da sie das Telefon in der Eile nicht finden konnte, schüttete sie den Inhalt der Tasche kurzerhand aufs Bett. Verständnislos starrte Torre die Ohrringe seiner Mutter an, die auf die Bettdecke fielen.

„Wie sind die in deine Tasche gekommen?“

Sie sah die Ohrringe an und zuckte mit den Schultern. „Ich hatte Angst, sie auf der Feier zu verlieren, also habe ich sie abgemacht und in die Tasche gesteckt.“

„Und woher hast du sie?“

„Von meiner Mutter. Giuseppe hat ihr ein paar Schmuckstücke zur Hochzeit geschenkt, und Kimberly hat sie mir geliehen.“

„Kimberly Connaught ist deine Mutter?“, fragte er. Nach dem ersten Schreck musste er sich eingestehen, dass er genauso dumm war wie sein Vater. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ Er lachte bitter. „Dumme Frage.“

„Ich dachte, es würde dich nicht interessieren … Wir haben ja kaum miteinander geredet.“

Nein, er hatte nichts anderes im Kopf gehabt, als sie ins Bett zu bekommen. Und anschließend hatte er seinem Ärger über sich selbst Luft gemacht und ihr vorgeworfen, ihn bewusst getäuscht zu haben.

Damals habe ich noch an Märchenprinzen geglaubt. Er schämte sich zutiefst, als er an ihre Bemerkung von vorhin dachte. Anstatt sich wie ein Kavalier zu verhalten, hatte er sie so sehr gedemütigt, dass sie die Flucht ergriffen hatte. Acht Jahre lang war sie ihm aus dem Weg gegangen, ja, sie hatte sogar nur dann ihre Mutter in der Villa Romano besucht, wenn sie sicher gewesen war, dass er nicht dort sein würde.

Ob er sich in ihr getäuscht hatte? „Wieso hast du einen erfolgreichen Sportler aus einer reichen Familie geheiratet, wenn nicht seines Geldes wegen?“

„Ich dachte, ich würde ihn lieben. Er war sehr charmant, und ich … war einsam.“ Ihre Stimme bebte. „Er wirkte nett.“

Stirnrunzelnd betrachtete Torre ihre zitternden Lippen. „Und? War er nett?“

„Nein“, flüstere sie so leise, als würde sie sich schämen. Aber warum sollte sie sich für die Fehler ihres Ex-Mannes schämen? Torre wurde wütend – nicht auf Orla oder auf sich selbst, sondern auf ihren Ex-Mann. Sie hatte so verängstigt ausgesehen, als sie von David Keegan gesprochen hatte.

„Orla …“ Als sie an ihm vorbeigehen wollte, hielt er sie an den Armen fest. Sie versteifte sich, machte aber keine Anstalten, sich seinem Griff zu entziehen. „Du weißt, dass ich dir nie wehtun würde“, sagte er. Ihm war wichtig, dass sie das wusste. Sie sollte wissen, dass sie ihm vertrauen konnte.

Sie nickte. „Ja, das weiß ich. Aber ich bin müde und würde gern ins Bett gehen – allein“, antwortete sie und errötete, als er lächelte.

„Wenn du das wirklich willst, nur zu“, sagte er und ließ ihren Arm los. „Bei unserer ersten Begegnung hat es schon heftig geknistert zwischen uns“, sagte er, „und jetzt, acht Jahre später, ist es mindestens genauso. Meinst du, wir könnten das einfach ignorieren?“

„Ich bin vorübergehend deine Sekretärin, und mehr möchte ich nicht sein“, flüsterte sie, blieb aber stehen.

„Deine Augen werden grün, wenn du lügst“, sagte er und fuhr mit den Fingern zwischen ihren Brüsten über ihr Kleid. Es war nur eine ganz sachte Berührung, doch Orla errötete und hielt den Atem an. Und auch er spürte dieses unbezwingbare Verlangen, gegen das Logik und Vernunft machtlos waren. „Du willst unter mir sein, oder, Cara? Du sehnst dich ebenso sehr nach mir wie ich mich danach sehne, mit dir zu schlafen.“

„Ja, du bist wie eine Droge, und ich kann nicht klar denken, wenn du in meiner Nähe bist“, gab sie zu.

Stöhnend schloss Torre sie in die Arme und war erstaunt darüber, wie perfekt ihre schlanken Kurven und sein muskulöser Körper zwei Puzzleteilen gleich ineinanderpassten.

Er küsste sie, und sein Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich seufzend an ihn schmiegte und seinen Kuss erwiderte, als wäre ihr klar, dass es zwecklos war, sich gegen das heftige Verlangen zu wehren, das sie beide gepackt hatte.

Ohne von ihrem Mund abzulassen, hob er sie hoch und trug sie in sein Schlafzimmer, in dem ein riesiger Spiegel über dem mit schwarzer Seide bezogenen Bett hing. Dort ließ er sie hinunter und zog ihr behutsam das Kleid aus, sodass sie nichts mehr anhatte als ihre hübsche Unterwäsche – einen durchscheinenden BH und ein sehr knappes schwarzes Spitzenhöschen.

Torre bewunderte ihre zarte Schönheit und konnte es kaum erwarten, dass sie ganz nackt war und sich vor Lust unter ihm wand. Oder er würde auf dem Rücken liegen und sie auf sich heben, sodass er sie und sich im Spiegel über dem Bett betrachten könnte. Diese Vorstellung erregte ihn umso mehr.

Er musste sich eingestehen, dass er alle seine Geliebten der vergangen acht Jahre mit Orla verglichen hatte. Keine hatte ein solches Verlangen in ihm ausgelöst wie sie. Seine Vernunft sagte ihm, dass Orla gefährlich war und dass er Gefahr lief, ihrem Zauber wieder zu verfallen. Aber er war sicher, dass seine Besessenheit von ihr schwächer werden würde, wenn er sein Verlangen gestillt hätte.

Rasch zog er erst sein Hemd und seine Schuhe aus, dann seine Hose. Normalerweise hätte es ihm gefallen, sich von ihr ausziehen zu lassen, aber gerade konnte er es nicht abwarten, in ihr zu sein. Dieses unwiderstehliche Verlangen passte nicht zu ihm, aber er konnte sich nicht länger vormachen, dass er seine Reaktion auf diese Frau in irgendeiner Weise unter Kontrolle hatte.

Als er seine Boxershorts auszog und Orla sah, wie hart und groß er war, weiteten sich ihre Pupillen. Ihre Brustwarzen schimmerten durch ihren BH, und Torre sehnte sich danach, daran zu lecken. Ungeduldig öffnete er ihren BH und ließ ihn auf den Boden fallen, bevor er ihre Brüste umfasste, deren Knospen sich ihm entgegenreckten, als bettelten sie darum, von ihm in den Mund genommen zu werden.

Doch er widerstand der Verlockung und zog Orla das Höschen aus, bevor er sie hochhob und aufs Bett legte. Nie hatte er etwas Schöneres gesehen als ihren schlanken, blassen Körper, ausgestreckt auf dem schwarzen Satin, das rotgoldene Haar über die Kissen ergossen und den Blick ihrer grüngesprenkelten Augen voller Begehren auf ihn gerichtet. Er musste sich sehr beherrschen, um sich nicht auf der Stelle über sie herzumachen, einfach ihre Beine zu spreizen und in sie einzudringen. Ihr erregter Duft verstärkte sein Verlangen, doch als er sich auf sie legte und ihren verunsicherten Blick bemerkte, verfluchte er seine Ungeduld. Sie hatte ihm angedeutet, dass ihre Ehe nicht glücklich und ihr Ehemann alles andere als nett gewesen war. Torre wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und warum sie ihm nicht sagte, woher sie die Narbe an der Stirn hatte. Sein Verdacht, dass David Keegan dafür verantwortlich war, erfüllte ihn mit kalter Wut.

Er begehrte Orla mehr, als er je eine Frau begehrt hatte, aber gerade wirkte sie so ungeheuer verwundbar, und er wollte sie als willige Partnerin, nicht als Opferlamm. Also atmete er tief durch, kniete sich zwischen ihre Schenkel und beugte sich vor, um sie zu küssen, erst ganz sanft, dann immer fordernder.

Langsam entspannte sie sich und schlang seufzend ihre Arme um seinen Hals. Er mochte es, wie sie mit den Fingern durch sein Haar fuhr, und die Zärtlichkeit, mit der sie sein Gesicht streichelte, rührte ihn. Sein Verlangen nach ihr war nach wie vor stark, aber das hier war etwas anderes. Am liebsten wollte er sie ewig weiterküssen. Doch der Kuss wurde immer erotischer, und als Torre irgendwann den Kopf hob, um Luft zu holen, zitterte er vor unterdrücktem Begehren.

Aber er hielt sich zurück. Denn die beiden anderen Male, die er mit ihr geschlafen hatte, war alles nach seinem Willen geschehen, weil sein Verlangen ihn ungeduldig gemacht hatte. Doch dieses Mal wollte er sich Zeit lassen. Also ließ er seine Lippen gemächlich über ihren Hals und über ihre Brüste wandern und genoss den Geschmack und die Weichheit ihrer Pfirsichhaut. Als er eine ihrer aufgerichteten Brustknospen in den Mund nahm und daran saugte, gab Orla einen erstickten Seufzer von sich, der Torre fast um den Verstand brachte.

Sie gehörte ihm. Dieser Besitzgedanke hätte ihn eigentlich erschrecken müssen, aber es fühlte sich richtig an.

Er strich über ihren flachen Bauch bis hinunter zu ihrem Schritt. Ein Beben durchlief sie, als er ihre Beine auseinanderschob und mit einem Finger dazwischenfuhr. Sie hielt den Atem an, als er erst einen Finger in sie gleiten ließ und dann einen weiteren, während er gleichzeitig mit dem Daumen ihre empfindlichste Stelle rieb.

Stöhnend bog sie sich seiner Hand entgegen, die Finger in die Bettdecke gekrallt. Ihr Gesicht und ihr Oberkörper waren leicht gerötet vor Erregung, und er spürte, wie sie sich auf dem Gipfel der Lust um seine Finger zusammenzog. Doch Torre war noch nicht fertig mit ihr, noch lange nicht. Sie protestierte leise, als er ihr seine Finger entzog, und verspannte sich, als er ihre Beine mit seinen Schultern weiter spreizte und seinen Mund zwischen ihre Schenkel senkte.

„Nicht …“, flüsterte sie und klang dabei ebenso erschrocken wie erregt, während sie ihre Fingernägel in seinen Rücken grub.

„Halt dich fest, gattina mia“, befahl er mit belegter Stimme, bevor er seinen Kopf vorbeugte und sie mit der Zunge so verwöhnte, dass sie vor Lust verging. Er schwelgte in den Seufzern, die sie von sich gab, während er sie mit dem Mund befriedigte. Sie krallte sich an seinem Rücken fest und löste mit ihrer Reaktion auf seine Liebkosungen ein unbeherrschbares Verlangen in ihm aus.

„Jetzt, Torre … bitte!“

Laut stöhnend brachte er sich über ihr in Position und legte ihre Beine über seine Schultern. Und dann drang er in sie ein, immer wieder, tief und so langsam, dass seine Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt wurde. Sie fühlte sich weich wie Samt an um seine stählerne Härte, ihr schlanker Körper sah so blass aus neben seiner dunklen Haut.

Nie würde er genug von ihr bekommen. Die Worte gingen ihm im Herzen herum, während sie sich gemeinsam dem Höhepunkt näherten und sie schließlich stöhnte und seinen Namen rief und sich um ihn zusammenzog.

Endlich wurde er für seine Geduld belohnt. Er drang ein letztes Mal tief in sie ein, bevor auch er sich ganz seiner Lust hingab und so heftig kam, dass er meinte, es würde ihn zerreißen.

Hinterher lag er eine lange Weile einfach nur auf ihr, angenehm ermattet und das Gesicht in ihrer Halskuhle vergraben, während sich sein Herzschlag langsam normalisierte. Er wollte sich nicht rühren, fürchtete aber, dass er ihr zu schwer sein könnte, weshalb er von ihr hinunterglitt und sich auf einen Ellbogen stützte.

Er wollte etwas sagen, doch Orla hielt ihm beschwichtigend zwei Finger vor den Mund.

„Sag nichts.“ Als er die Stirn runzelte, sagte sie: „Das ist der Zeitpunkt, wo du garantiert etwas Schreckliches sagen wirst, und damit kann ich jetzt nicht umgehen.“

Ihre Worte trafen ihn, umso mehr, weil es ihm recht geschah, dass sie ihm gegenüber argwöhnisch war. „Ich wollte sagen, dass du perfekt bist“, sagte er zerknirscht lächelnd. „Und dass du die schönste Bauingenieurin bist, die mir je begegnet ist.“

„Ich bin keine Bauingenieurin“, erwiderte sie mit bebenden Lippen. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich meinen Abschluss nicht gemacht habe.“

„Warum machst du ihn nicht nach?“

„Weil ich die Studiengebühren nicht bezahlen kann. Außerdem ist nicht gesagt, dass ich die Prüfung schaffe. David meinte, dass ich nicht clever genug wäre, um als Bauingenieurin Karriere zu machen.“

„Wie kam er denn darauf?“ Es gelang Torre nur mit Mühe, sich die Wut nicht anmerken zu lassen, die er auf diesen Mann hatte, dem er noch nie begegnet war.

Doch Orla antwortete nicht – sie war eingeschlafen. Er betrachtete ihr hübsches Gesicht, und wieder zog sich sein Herz zusammen. Heute Abend hatte sie ihm mit ihrer betörenden Sinnlichkeit einmal mehr den Verstand geraubt.

Er war schon wieder hart und hatte nicht wenig Lust, sich noch einmal über ihren herrlichen Körper herzumachen. Und mit jedem weiteren Mal würde dieses verdammte Verlangen nach ihr schwächer werden, bis es irgendwann ganz erlosch, da war er sich sicher.

Aber nach dem langen Flug war sie bestimmt müde, und er mochte sie nicht wecken. Also ging er ins Bad und sagte sich einmal mehr, dass Orla ihm nichts bedeutete.

9. KAPITEL

Zehn Tage später folgte Orla ihm die Gangway hinunter, nachdem der ARC-Flieger auf dem London City Airport gelandet war. Es nieselte, der Himmel war grau, und es war mindestens zehn Grad kälter als in Dubai und auch kühler als in Rom, wo sie im Hauptsitz von ARC das Fest zum hundertjährigen Bestehen der Firma besucht hatten. Die Feier hatte – genau wie die Eröffnung von Quasr Jameel – das Interesse der Medien auf sich gezogen.

Als sie die Ankunftshalle durchquerten, bemerkte Orla mit Entsetzen Bilder von sich und Torre auf den Titelblättern mehrerer Zeitungen. Die Schlagzeile unter einem Bild, auf dem sie gemeinsam beim Tanzen zu sehen waren, lautete: Italiens begehrtester Firmenchef und seine schöne Sekretärin.

„Mit deiner eigentlichen Sekretärin hättest du wohl nicht getanzt“, brummte sie.

„Stimmt, aber du bist auch wesentlich hübscher als Enzo“, antwortete Torre amüsiert. Draußen führte er sie zu einer schwarzen Limousine und nickte dem Fahrer zu, der ihnen die Tür öffnete.

„Das ist nicht witzig“, murrte Orla, während sie den Sicherheitsgurt anlegte und der Wagen losfuhr. „Ich will nicht, dass jemand bei ARC denkt, dass ich mit dir ins Bett gehe.“

Er zuckte mit den Schultern. „Es kann dir doch egal sein, was die Leute denken.“

„Ist es aber nicht. Ich habe gesehen, dass in ein paar Monaten wieder eine Sekretärinnenstelle bei ARC UK frei wird, um die ich mich gern bewerben würde. Und ich möchte die Stelle gern aufgrund meiner Eignung bekommen und nicht, weil alle wissen, dass ich eine Beziehung mit dem Chef habe.“

„Eine Beziehung?“ Torres eisige Stimme ließ Orla frösteln. „Ich weiß nicht, wie du darauf kommt, Cara. Eine Beziehung ist das ganz bestimmt nicht.“

„Was ist es dann?“, fragte sie und versuchte, hinter ihrer Wut zu verbergen, wie verletzt sie war. „Wir haben jeden der vergangenen zehn Tage miteinander gearbeitet und nachts im gleichen Bett geschlafen.“ Als wenn das alles wäre. Sie hatten gegenseitig die Geheimnisse ihrer Körper erkundet und gelernt, einander die größtmögliche Lust zu verschaffen.

Es war nicht zu übersehen, dass Torre von ihrem Wutausbruch überrascht war, und tatsächlich war sie selbst erschrocken darüber. Während der Ehe mit David hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken, aber Torres Tonfall machte sie rasend. Wie konnte er es wagen, so abschätzig von ihr zu sprechen?

„Wir haben Sex“, erwiderte er barsch. „Sehr guten Sex, das muss ich zugeben, aber das ist alles. In ein paar Wochen nimmt Renzo seine Arbeit wieder auf, und ich gehe davon aus, dass das Interesse, das wir aneinander haben, bis dahin erloschen ist.“ Sein Blick war eisig. „Ich habe keine Beziehungen.“

„Und warum nicht?“ Sie ignorierte sein Stirnrunzeln. Ihr war bewusst, dass sie ihn herausforderte, was sie bei David nie gewagt hätte. „Ich frage mich, ob deine Bindungsangst etwas mit dem frühen Tod deiner Mutter zu tun hat“, fuhr sie fort. „Du hast gesagt, dass du sechs warst, als sie gestorben ist. Ich war zehn, als ich meinen Vater verloren habe. Man ist nicht darauf vorbereitet, wie sehr das wehtut.“

Torres erboster Blick sagte ihr, dass sie ihn damit in Ruhe lassen sollte. Warum tat sie es nicht? Vielleicht, weil sie spürte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. „Wer hat sich nach dem Tod deiner Mutter um dich gekümmert? Giuseppe hatte sicher alle Hände voll zu tun mit ARC. Hat er mit dir über den Tod deiner Mutter gesprochen und dich ermutigt, um sie zu trauern?“

„Was soll der Quatsch? Wenn du es unbedingt wissen willst – Kindermädchen haben sich um mich gekümmert, bis mein Vater Sandrine geheiratet hat. Und ich habe mit niemandem über den Tod meiner Mutter gesprochen. Guiseppe hat das Thema aufgeregt, darum habe ich es ihm gegenüber nie erwähnt – und umgekehrt. Aber ich habe keine Lust auf deine Küchenpsychologie.“

Orla musterte ihn und sah hinter seiner finsteren Miene den unglücklichen kleinen Jungen, der er gewesen sein musste, nachdem er seine Mutter verloren hatte. „Du sagst, du hättest keine Beziehungen, warst aber mal verlobt“, erwiderte sie. „Jules hat erzählt, deine Verlobte wollte dich doch nicht heiraten. Aber er meint, dass du Marisa noch liebst.“

„Jules weiß nichts über mich“, erwiderte Torre eisig. „Und wo wir schon bei meinem Stiefbruder sind – falls du gehofft hast, eine Stelle bei ARC UK zu bekommen, um in der Nähe von Jules zu sein, dann vergiss es. Er ist nach Tokio gezogen und arbeitet nun für die japanische Niederlassung von ARC.“

„Meine Bewerbung um eine Stelle in London hat nichts mit Jules zu tun.“ Orla bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie kaum an Jules gedacht hatte, seitdem er die Villa Romano nach ihrem Korb verlassen hatte. In ihren Gedenken und Träumen hatte neben Torre nichts mehr Platz.

In Dubai hatten sie neben Quasr Jameel noch zwei weitere Bauprojekte von ARC besucht. Bevor sie nach Rom gereist waren, hatten sie einen Zwischenstopp in Serbien gemacht, um zu sehen, ob während der letzte Phase des Baus einer Einkaufspassage alles nach Plan verlief. Orla hatte Torre auf die Begehungen begleitet und war fasziniert gewesen, die Bauprozesse in all ihren Facetten zu Gesicht zu bekommen.

„Ich habe gerade eine Nachricht vom Projektmanager der Harbour Side bekommen. Er fragt, ob er uns morgen um zehn treffen kann“, sagte Torre und sah von seinem Telefon auf. „Ich bin gespannt, wie der Baugrund jetzt aussieht, wo die alte Druckerei so gut wie komplett abgerissen ist.“

Die Harbour Side war ein spannendes neues Projekt von ARC UK. In einem heruntergekommenen Teil des ehemaligen Londoner Hafens sollte ein Wohngebiet mit Schule, Stadtteilzentrum, Läden und Freizeiteinrichtungen entstehen. Ein Projekt genau nach Orlas Vorstellung. Ach, wenn sie doch nur ihren Abschluss gemacht hätte! Einmal mehr bereute sie es zutiefst, dass sie David so viel Macht über sich gegeben hatte.

Und nun war sie dabei, diesen Fehler zu wiederholen. Zwar hatte sie keine Angst, dass Torre sie misshandeln würde, wie ihr Ex-Mann es getan hatte. Er war gutherzig und zärtlich. Das Problem war, dass sie sich in ihn verliebte, obwohl er ihr ganz deutlich gesagt hatte, dass er keine dauerhafte Beziehung wollte.

Der Wagen kam im dichten Londoner Verkehr nur langsam voran. Sie waren auf dem Weg zu einem exklusiven Hotel in Mayfair, in dem sie auf Torres Bitte eine Suite für zwei Nächte gebucht hatte. Ihr Körper konnte es kaum abwarten, mit Torre zu schlafen und diese magische Leidenschaft zu erleben, die sie nur mit ihm kannte. Doch danach würde sie sich Vorwürfe machen, weil sie wusste, dass Torre ihren Körper nur zum sexuellen Lustgewinn gebrauchte. Heute war sie viel zu dünnhäutig, um das zu ertragen.

In Orlas Handtasche läutete das Telefon, doch sie fand es erst, als es schon wieder aufgehört hatte zu klingeln. Es wurden einige unbeantwortete Anrufe angezeigt, doch bevor sie nachsehen konnte, wer angerufen hatte, kam eine SMS ihrer Nachbarin Mandy an.

Hast du Zeit und Lust, mit mir heute Abend einen Wein zu trinken und Pizza zu essen?

Orla überlegte. Ein Abend mit einer Freundin und eine Nacht allein im eigenen Bett – war das nicht genau das, was sie brauchte? Sie wandte sich Torre zu. „Ich würde gern bei mir zu Hause wohnen, während wir in London sind. Ich muss ein paar Dinge erledigen und meine Post durchsehen.“ Sicher türmten sich längst die Mahnungen der Gläubiger ihrer Mutter.

Zu ihrer Überraschung widersprach Torre nicht. Im Gegenteil, es kam ihr fast so vor, als wäre er erleichtert. Vielleicht hatte er sie schon über? Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie wusste, dass er oft zum Arbeiten in London war. Wahrscheinlich hatte er irgendeine andere Geliebte hier, mit der er sich amüsieren konnte.

„Ich fahre mit der U-Bahn nach Islington. Könntest du den Fahrer bitten, mich an der nächsten Station rauszulassen?“

Torre runzelte die Stirn. „Ich dachte, du wohnst mit deiner Mutter in dem Penthouse in Chelsea, das sie von Giuseppe bekommen hat?“

„Das Penthouse wurde verkauft, als Kimberly nach Amerika gegangen ist“, antwortete Orla. Dass sie von dem Erlös die Hypothek abgelöst und die Arztrechnungen ihrer Mutter bezahlt hatte, erwähnte sie nicht.

„Sag dem Fahrer deine Adresse“, antworte Torre. „Er soll dich absetzen, bevor er mich ins Hotel bringt.“

Zwanzig Minuten später hielt der Wagen vor dem großen viktorianischen Wohnhaus, in dem sie lebte. Orla stieg rasch aus, während der Fahrer ihren Koffer auslud. Sie hoffte, dass Torre nicht auf die Idee kommen würde, sie ins Haus zu bringen. „Wir sehen uns dann morgen auf dem Harbour-Side-Gelände“, sagte sie und eilte zur Tür.

Von außen wirkte das Haus imposant, doch die Wohnungen darin waren relativ klein. Orla wohnte im Dachgeschoss und hatte durch die Deckenschrägen noch weniger Platz. Die Tür führte direkt in den Raum, den Orla als Schlaf- und Wohnzimmer zugleich nutzte. Mit dem Teppich, der die zerschlissene Auslegeware verdeckte, und den bunten Kissen auf dem Bett hatte sie es sich einigermaßen gemütlich eingerichtet. Eine Tür führte in die winzige Küche, hinter der sich das Badezimmer mit Dusche befand.

Orla legte ihr Gepäck auf dem Bett ab und ließ sich auf ihren abgewetzten Sessel fallen. Kaum zu glauben, dass es erst zwei Wochen her war, dass sie mit Jules nach Neapel geflogen war. Was alles passiert war seitdem!

Torre war passiert …

Wie sie es vorausgesehen hatte, hatte sich ich ihrem Briefkasten einiges an Post angesammelt. Doch zuerst einmal tauschte sie ihr Kostüm gegen Jeans und einen grauen Pulli, die High Heels gegen bequeme Sneakers. Mit einem erleichterten Seufzer löste sie ihren Dutt. Als sie Wasser für einen Tee aufsetzen wollte, klopfte es. In der Annahme, dass es Mandy war, die unter ihr wohnte, öffnete Orla, und ihr Herz blieb fast stehen, als sie Torre vor sich stehen sah. Ob das nie aufhören würde, dass er eine so heftige Wirkung auf sie hatte?

„Was machst du hier?“ Sie wollte nicht, dass er sah, wie sie lebte, und blieb im Türrahmen stehen, um zu verhindern, dass er hereinkam.

Doch er drückte sich einfach an ihr vorbei und betrachtete stirnrunzelnd das abgenutzte Mobiliar. Als sein Blick an ihren Höschen auf dem Wäscheständer hängenblieb, wäre Orla am liebsten im Boden versunken.

„Warum wohnst du in so einem Kabuff?“, fragte er.

„Weil ich mir nichts anderes leisten kann. Die Mieten in London sind nicht gerade günstig.“

„Du hast gesagt, dass es die Riesenabfindung, über die nach deiner Scheidung berichtet wurde, nie gegeben hat, aber irgendetwas musst du doch von deinem Ex-Mann bekommen haben.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nichts von David.“

Torre schien betroffen. „Hätte deine Mutter dir nicht helfen können, nachdem du deinen Job verloren hast?“, fragte er nach einem Moment. „Sie hat doch ein Vermögen aus meinem Vater herausgeholt.“

„Meine Mutter hat alles ausgegeben“, antwortete Orla. „Sie kann nicht mit Geld umgehen. Ich weiß, dass du sie verachtest, aber Giuseppe ist nicht so leichtgläubig, wie du denkst. Ich glaube, ihm war klar, dass sie sich für sein Geld interessiert hat, als er sie heiratete. Sie ist mit vierzehn von zu Hause abgehauen, nachdem ihr Onkel sie vergewaltigt hat. Danach hat sie auf der Straße gelebt.“ Sie setzte sich auf die Bettkante. „Meine Mutter hatte einen Schlaganfall und wäre fast gestorben. Meinen Job habe ich verloren, weil ich so viel freinehmen musste, um sie in Chicago zu besuchen. Kurz vor dem Schlaganfall hat sie sich in einen sehr netten Mann verliebt, der kaum Geld hat. Sie haben im Krankenhaus geheiratet. Die Ärzte sind sicher, dass Kimberly wieder einigermaßen auf die Beine kommt, aber die medizinische Versorgung in den USA ist teuer. Darum war ich so scharf auf die Stelle als Sekretärin bei ARC UK – um ihre Behandlung weiter bezahlen zu können.“

Torre setzte sich neben sie und seufzte tief. „Und darum hast du, nachdem du die Stelle nicht bekamst, mein Angebot, dich vorübergehend als Sekretärin einzustellen, gern angenommen.“

„Ja“, antworte sie und wurde rot, als er sie aufmerksam musterte.

„Aber das war nicht der einzige Grund, oder?“, fragte er und strich ihr eine Strähne hinter das Ohr.

„Das weißt du ganz genau“, flüsterte sie. „Ich wollte rausfinden, ob …“ Sie verstummte und fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen.

„Ob es immer noch so heftig knistert zwischen uns“, beendete er ihren Satz, umfasste sanft ihr Kinn beugte sich zu ihr herüber. „Das war auch der Grund dafür, dass ich dir einen Job gegeben habe, der es erfordert, dass wir Tag und Nacht zusammen sind.“

Sobald seine Lippen ihre berührten, war die Glut in ihr entfacht. Es war immer dasselbe, sie konnte ihm einfach nicht widerstehen. Doch dieses Mal beschloss sie, jeden Augenblick mit Torre auszukosten, anstatt sich über ihre Schwäche zu ärgern.

In dem Moment, als er seine Zunge in ihren Mund gleiten ließ, zog er Orla mit sich aufs Bett, sodass sie nebeneinanderlagen. Sie fuhr mit den Händen über sein Hemd und fühlte das heftige Pochen seines Herzens darunter. Während er mit einer Hand unter ihren Pullover fuhr und befriedigt aufstöhnte, als er feststellte, dass sie keinen BH anhatte, knöpfte sie sein Hemd auf.

Sie seufzte auf, als er ihre eine Brust umfasste und die aufgerichtete Knospe mit dem Daumen reizte, was ihr einen Schauer der Erregung durch den Körper jagte. Sie kümmerte sich nicht um ihr Festnetztelefon, das zu läuten begann, und nach kurzem Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

„Na, vergnügst du dich mit deinem Liebhaber, du dreckiges Flittchen?“ David lallte – ein sicheres Zeichen dafür, dass er getrunken hatte.

Orla wollte zum Telefon rennen und den Anruf abbrechen, doch sie war wie gelähmt.

„Er wird bald merken, was für ein nutzloses Stück du bist. Weiß er schon, dass man dir mit ein paar Klapsen zeigen muss, wo’s langgeht?“

David legte auf, doch sein höhnisches Lachen klang in Orlas Ohren nach. Sie wagte es nicht, Torre anzuschauen, wollte die Abscheu in seinem Blick nicht sehen.

Sie erstarrte, als es wieder klingelte, diesmal allerdings ihr Handy, und sah Torre verständnislos an, als er ihr Telefon aus seiner Jackentasche zog.

„Du hast es im Wagen vergessen. Darum bin ich hergekommen“, erklärte er.

In dem Moment, als Orla das Telefon nahm, hörte es auf zu klingeln. David hatte zehnmal darauf angerufen und außerdem mehrere SMS geschrieben. Es war nicht nötig, sie zu lesen, um zu wissen, dass sie genauso giftig waren wie sein Anruf eben.

Als das Festnetztelefon wieder klingelte, sprang Torre auf, ging hin und schnappte sich das Gerät. „Wenn Sie Orla noch einmal kontaktieren, dann beten Sie darum, dass sich das Gesetz um Sie kümmert, bevor ich es tue, Keegan“, knurrte er und legte auf.

„Oh nein“, flüsterte Orla. „Das macht es nur noch schlimmer. Das wird ihn wütend machen, und es ist nicht gut, ihn wütend zu machen.“ Sie erhob sich und berührte unwillkürlich die Narbe über ihrer Augenbraue. Als Torre auf sie zukam, verschränkte sie abwehrend die Arme vor der Brust.

„Hat er dich geschlagen?“, fragte er und klang dabei gleichzeitig wütend und mitleidig.

Orla wäre am liebsten im Boden versunken. „Geh weg!“, presste sie hervor. Gern hätte sie mit fester Stimme gesprochen, doch sie bekam kaum einem Ton an dem Kloß in ihrem Hals vorbei. „Ich möchte alleine sein.“

Er ignorierte ihre Bitte und strich behutsam mit einem Finger über ihre Narbe. „Das war Keegan, oder? Was hat er getan?“, fragte er und legte seine Hände auf Orlas Schultern, um zu verhindern, dass sie ihm auswich. Aber wo sollte sie auch hin?

„In den Flitterwochen hat er angefangen, mich verbal zu attackieren. Ein paar Wochen nach der Hochzeit wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber ich hatte niemanden, zu dem ich hätte gehen oder mit dem ich hätte reden können. Meine Mutter hatte ihr eigenes Leben, und meinen Freundinnen mochte ich nicht sagen, dass ich einen solchen Fiesling geheiratet habe. In der Öffentlichkeit war er immer freundlich zu mir. Jeder, der ihn kennenlernt, hält ihn für einen supernetten Typ“, erklärte sie. „Am Anfang dachte ich, dass er recht hatte, als er meinte, dass ich für unsere Eheprobleme verantwortlich wäre. Ich habe mein Bestes gegeben, um es ihm recht zu machen, aber er war nie zufrieden.“ Sie schluckte. „Ich hatte Angst vor ihm. Er hat oft damit gedroht, mich zu schlagen, und an dem Tag, an dem es dann … passiert ist, muss ich irgendetwas falsch gemacht haben. Er war sehr leicht reizbar. Vor allem, wenn er getrunken hat“, sagte sie. „Ich wollte mich im Badezimmer einschließen, aber er war zu schnell … und ich saß in der Falle.“

Orlas Stimme zitterte, als sie daran zurückdachte, wie David wutentbrannt auf sie zugestürzt war. Dass sie weinte, merkte sie erst, als Torre ihr behutsam die Tränen von der Wange wischte.

„Und dann?“, fragte er ruhig.

„Er hat oft gesagt, dass er mir Gehorsam einbläuen würde, wie er es nannte. Und irgendwann hat er wirklich zugeschlagen. Er hat einen großen Siegelring getragen, mit dem er mich über der Augenbraue getroffen hat. Der Ring hat wohl eine scharfe Kante gehabt … Weil es nicht aufgehört hat zu bluten, bin ich mit dem Taxi ins Krankenhaus gefahren. Sie haben die Wunde genäht. Danach bin ich zu einer Freundin gezogen. Das Haus, in dem ich mit ihm gewohnt habe, habe ich nie wieder betreten.“

„Bist du zur Polizei gegangen?“ Als sie den Kopf schüttelte, runzelte Torre die Stirn. „Warum nicht? Wenn du ihn angezeigt hättest …“

„Wer hätte mir denn geglaubt? David ist ja quasi ein Heiliger hier. Letztes Jahr hat er einen Orden für seine Wohltätigkeitsaktionen bekommen, und er gilt immer noch als einer besten englischen Cricketspieler aller Zeiten. Man hat mir die Schuld gegeben, als es sportlich nicht mehr so lief bei ihm. Es hieß, ich hätte ihn nur seines Geldes wegen geheiratet und ihm dann das Herz gebrochen – und alle haben es geglaubt.“ Durch den Tränenfilm hindurch sah sie Torre nur verschwommen. Sicher hatte sie sich seinen schmerzlichen Gesichtsausdruck nur eingebildet. „Du hast das Schlechteste von mir gedacht, ohne ein einziges Mal zu fragen, warum ich ihn verlassen habe“, sagte sie mit erstickter Stimme. Als Torre versuchte, sie enger an sich zu ziehen, unterdrückte sie einen Schluchzer und fuhr fort: „Niemand würde mir glauben, dass David ein gewalttätiger Alkoholiker ist. Alle würden mir vorwerfen, dass ich nur eine rachsüchtige Ex bin, wenn ich damit an die Öffentlichkeit ginge.“

Piccola … keine Frau darf häuslicher Gewalt ausgeliefert sein. Man wäre deinen Vorwürfen nachgegangen, wenn du die Polizei eingeschaltet hättest. Und im Krankenhaus ist das doch sicher auch irgendwie dokumentiert!“

„Ich habe erzählt, ich wäre gestürzt“, erwiderte sie. „Ich habe mich geschämt, zu erzählen, dass mein Mann, der mich eigentlich lieben sollte, mich geschlagen hat.“ Sie verbarg das Gesicht hinter ihren Händen. „David hat gesagt, ich hätte es verdient, schlecht behandelt zu werden. Er hat mir das Selbstwertgefühl genommen. Das ist auch das Grund dafür, dass ich nicht weiterstudiert habe.“

Torre brummte etwas, das Orla nicht verstand. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihm von ihrer gescheiterten Ehe erzählte. Wie demütigend! Doch als sie sich von ihm entfernen wollte, schlang er die Arme um sie und hielt sie ganz fest, und sie lehnte sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf.

10. KAPITEL

Torre kochte vor Wut. Zu gern hätte er David Keegan ausfindig gemacht und ihn vermöbelt. Er kannte den berühmten Cricketspieler von Bildern, und die Vorstellung, dass dieser robuste Kerl Orla geschlagen hatte, machte ihn fertig.

Doch noch mehr Gewalt war das Letzte, was Orla brauchen konnte. Und Torre wusste, dass Rache ein Gericht war, das am besten kalt serviert wurde. Er war fest entschlossen, Keegan den Ruf und die Karriere zu ruinieren. Der Sportler hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam.

Als es an der Tür klopfte, entzog sich Orla seiner Umarmung. Ihre Augen waren angstgeweitet, was Torre umso näherging, als er sie nie zuvor so verwundbar gesehen hatte – oder weil er es nicht hatte wahrhaben wollen, dass sie anders sein könnte als ihre geldgierige Mutter.

„Weiß Keegan, wo du wohnst?“, fragte er auf dem Weg zur Tür.

Sie nickte. „Vor ein paar Monaten bin ich mit einem Freund etwas trinken gegangen. Nachdem Philip mich nach Hause gebracht hat, habe ich einen Drohanruf von David bekommen. Er hat gesagt, ich solle mich von anderen Männern fernhalten. Er war krankhaft eifersüchtig. Wahrscheinlich hat er jetzt Bilder von uns in der Zeitung gesehen und ist gleich wieder durchgedreht.“

Torre riss kampfbereit die Tür auf und starrte erstaunt die Frau mit dem lilafarbenen Haar an, die vor ihm stand.

„Oh, hallo. Ist Orla da?“

Torre atmete tief durch und wandte sich zu Orla um, die sich gerade die Augen wischte, bevor sie zur Tür kam und ihm die Frau vorstellte. „Darf ich vorstellen? Meine Nachbarin Mandy. Torre ist mein Chef“, erklärte sie. „Könnten wir die Pizza verschieben? Ich glaube, ich habe mir eine Erkältung geholt.“

Mandy sah nicht gerade überzeugt aus, zuckte aber mit den Schultern. „Klar. Aber du solltest auf alle Fälle wissen, dass dein gestörter Ex hier war. Ich habe ihm gesagt, dass du nicht da bist, und da hat er …“ Sie zeigte auf die Flurwand, wo ein Stück Putz fehlte. „Er hat so sehr auf die Wand eingedroschen, dass das hier passiert ist. Ich bin froh, dass du nicht hier warst. Womöglich hätte er seine schlechte Laune sonst an dir ausgelassen.“

Nachdem Mandy in ihre Wohnung zurückgegangen war, sagte Torre: „Pack alles ein, was du brauchst, und wir fahren ins Hotel. Hier kannst du nicht bleiben. Ich rufe einen befreundeten Anwalt an und bitte ihn, ein Näherungsverbot zu beantragen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man keine Verfügung durchbekommt, bevor du Keegan anzeigst. Hast du die Nachrichten noch, die er dir geschickt hat?“

„Ich will nicht, dass du zur Polizei gehst. Vielleicht hält David sich eine Weile lang an ein Näherungsverbot, aber in ein paar Wochen arbeite ich nicht mehr für dich und muss hierher zurückkommen. Ich weiß, dass es bei David das Beste ist, den Kopf einzuziehen und ihn nicht zu reizen.“

Ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck weckte bei Torre eine eigenartige Mischung aus Mitleid, Beschützerinstinkt und einem Besitzanspruch, über den er lieber nicht weiter nachdenken wollte. „Du kannst nicht dein ganzes Leben in Angst vor Keegan verbringen“, sagte er. Als er sah, wie ihre Lippe zitterte, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.

„David hat sehr viel Macht.“

„Nicht so viel Macht wie ich, Cara.“

Im Wagen auf dem Weg ins Hotel nahm Torres Plan Gestalt an. Er würde Orla eine Wohnung in London kaufen und das Haus rund um die Uhr bewachen lassen, sodass sie sich auch dann sicher fühlen konnte, wenn er nicht in der Nähe war. Als Chef von ARC musste er in Italien leben, aber er könnte die Wochenenden mit ihr in London verbringen. Wenn sie wirklich arbeiten wollte, wie sie es so oft gesagt hatte, würde er ihr einen Job bei ARC UK geben. So hätte sie etwas zu tun, wenn er nicht da war, würde ihm aber jederzeit zur Verfügung stehen. Doch noch während er darüber nachdachte, war ihm klar, dass Orla zu mehr fähig war als zu irgendeinem schnöden Job. In den vergangenen zehn Tagen hatte sie bewiesen, dass sie nicht nur sehr engagiert war, sondern obendrein über ein beeindruckendes Fachwissen verfügte. Er zweifelte nicht daran, dass sie problemlos ihren Abschluss nachholen konnte. Das einzige Problem war das Selbstvertrauen, das ihr brutaler Ex-Mann ihr genommen hatte.

Torre hatte ein schlechtes Gewissen, weil er allzu bereit gewesen war, zu glauben, was über Orla in den Klatschblättern gestanden hatte. Die Überzeugung, dass sie eine Art Heiratsschwindlerin war, hatte ihm den perfekten Vorwand geliefert, sich von ihr fernzuhalten. Und doch war er damit kläglich gescheitert.

Denn er konnte die Finger einfach nicht von ihr lassen. Er sah sie an, wie sie in der Ecke des Sitzes kauerte, mit ihren großen Augen, ihrer Porzellanhaut und ihrem seidigen roten Haar, und stellte sich vor, wie weich es sich auf seinem nackten Oberkörper anfühlen würde. Kaum dachte er daran, regte sich das Verlangen in ihm. Seitdem sie sich nach so vielen Jahren wieder begegnet waren, befand er sich in einem Zustand ständiger Erregung. Doch heute brauchte sie keine Leidenschaft, sondern Zärtlichkeit.

Also führte er sie schnurstracks in das luxuriöse Badezimmer, sobald sie in der Hotelsuite angekommen waren. Wie sehr Keegans telefonische Attacken ihr zugesetzt hatten, erkannte er daran, dass sie matt fragte: „Willst du duschen? Ich gehe raus.“

Als er ihr den Pulli auszog, errötete sie. Zu gern hätte er ihre kleinen, festen Brüste mit den Händen umfasst und ihre Brustwarzen in den Mund genommen. Aber es spielte keine Rolle, was er wollte. Heute ging es nur um Orla. Er war fest entschlossen, die Trübsal aus ihrem Blick zu vertreiben.

Du wirst duschen, Piccola. Und ich werde mich um dich kümmern.“

„Ich will nicht, dass du dich um mich kümmerst“, log sie. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie verloren wäre, wenn sie der Sanftheit seiner Stimme erlag, die sie so noch nie gehört hatte. Eigentlich war sie jetzt schon verloren. Davids Anrufe hatten sie schmerzlich daran erinnert, dass sie sich nicht auf ihr Urteilsvermögen verlassen konnte. Ihre Ehe war eine so schreckliche Erfahrung gewesen, dass Orla fast ein wenig erleichtert gewesen war, als Torre ihr gesagt hatte, dass er keine Beziehung wollte. Er wollte nur Sex, und das Nichtvorhandensein einer emotionalen Bindung gab ihr ein sicheres Gefühl und erlaubte ihr, die eigene Sinnlichkeit zu entdecken.

Dass Torre sich nun um sie kümmern wollte, war etwas ganz Neues, und es klang zu verlockend.

„Ich kann sehr gut alleine duschen“, beteuerte sie, und doch sehnte sich ein Teil von ihr danach, alle Bedenken in den Wind zu schlagen und sich auf sein Angebot einzulassen, um den Schmerz aus ihrem Kopf und ihrem Körper zu verbannen. Sie wollte die Rachsucht ihres Ex-Mannes in den Armen von Torre vergessen. Also sträubte sie sich nicht, als er sie an seinen warmen, starken Körper zog.

Sie hatte keine Kraft, zu widersprechen, als er ihr erst die Schuhe, dann die Jeans und schließlich das Höschen auszog, bevor er sich selbst entkleidete. Errötend betrachtete sie seinen schlanken, ausdefinierten, sonnengebräunten Oberkörper. Als sie ihren Blick an ihm hinunterwandern ließ und sah, wie erregt er war, hörte sie ihn fluchen.

„Wenn du mich so anguckst, kann ich mich nicht beherrschen“, warnte er sie lächelnd, hob sie auf seine Arme und trug sie unter die Dusche. Das warme Wasser erweckte Orlas Lebensgeister wieder und wusch ihr Davids Beleidigungen vom Leib. Torre seifte sie von oben bis unten ein. Mit seinen gewissenhaften Händen versetzte er ihren Körper in Aufruhr.

„Ich glaube, ich bin jetzt sauber genug“, keuchte sie, als er die Seife über ihren Po gleiten ließ, bevor er seine Hand um sie herum nach vorne bewegte und zwischen ihre Beine schob. Doch Torre war noch nicht fertig mit ihr. Er griff nach dem Shampoo, wusch ihr Haar und massierte ihre Kopfhaut, was ungeheuer entspannend war. Als er endlich das Wasser abdrehte und Orla in ein Handtuch wickelte, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten.

Sie sah im Spiegel zu, wie er ihr Haar föhnte und bürstete. Als das Handtuch, das er sich um die Taille geschlungen hatte, gefährlich weit nach unten rutschte, folgte sie ihm hoffnungsvoll mit dem Blick.

Orla ging davon aus, dass er sie nun ins Bett bringen würde, und als er ihr Handtuch gegen einen Morgenmantel austauschte und sich selbst einen Bademantel überzog, lachte er über ihren enttäuschten Blick. „Erst wird gegessen“, erklärte er und führte sie in den Essbereich der Suite, wo er sie an einem Tisch Platz nehmen ließ, auf den der Zimmerservice eine Auswahl von Speisen gestellt hatte.

„Ich habe keinen Hunger.“ Der Schreck über die jüngste Konfrontation mit David saß ihr noch immer in den Knochen. Es war nun schon zwei Jahre her, dass sie ihn verlassen hatte, und er ließ sie immer noch nicht in Ruhe. Orla hoffte inständig, dass sie irgendwann frei von der Angst vor ihm sein würde.

„Mund auf“, sagte Torre und hielt ihr eine Gabel voll Käseomelett vor die Nase.

Sie schüttelte den Kopf.

„Komm schon“, bat er. Grummelnd gehorchte sie ihm und ließ sich von ihm füttern. Als sie ihm zu verstehen gab, dass sie genug hatte, hielt er ihr ein Glas mit Rosésekt an die Lippen.

Orla war zutiefst gerührt von seiner Fürsorglichkeit. Doch sie ermahnte sich, nicht zu vergessen, dass es nichts zu bedeuten hatte. In ein paar Wochen wäre ihre Zusammenarbeit beendet – und damit auch ihre Beziehung, von der Torre immer wieder betonte, dass es gar keine war. Aber gerade war es zu verlockend, an die Verheißungen seiner zärtlichen Küsse zu glauben, während er sie ins Schlafzimmer trug, ihr den Morgenmantel auszog und sie ins Bett legte.

Er nahm sie in die Arme, doch als Orla ihre Hände zwischen sich und ihn schob, umfasste er ihre Handgelenke und hielt sie über ihren Kopf. „Glaub mir, dein Ex-Mann wird dich nie wieder belästigen oder dir wehtun, Piccola“, versprach er. „Während du bei deiner Nachbarin warst, um ihr den Ersatzschlüssel zu geben, habe ich ein paar Telefonate geführt. David Keegan ist bewusst, dass Polizei und Regenbogenpresse über seine Verstrickung in ein illegales Wettsyndikat informiert werden, sobald er versucht, mit dir in Kontakt zu treten. Es ist vorbei“, erklärte er. „Keegan ist Vergangenheit. Du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben.“

Orla konnte kaum fassen, dass der Albtraum tatsächlich vorbei sein sollte, doch sie glaubte Torre. Und sie konnte nicht länger vor sich leugnen, dass sie ihn liebte. Sie hatte ihn von Anfang an geliebt und konnte sich nicht vorstellen, es irgendwann nicht mehr zu tun.

Hatte es etwas zu bedeuten, dass er heute so zärtlich und fürsorglich war? Empfand er etwas für sie? Orla war klar, dass es töricht war, sich zu große Hoffnungen für die Zukunft zu machen. Nur die Gegenwart war gewiss. Gerade lag sie mit Torre in einem sehr großen Bett, und der Blick seiner glänzenden Augen jagte ihr einen erregten Schauer über den Rücken, als er sich vorbeugte, um ihre Brüste zu küssen.

Er verwöhnte sie mit der Zunge und legte dabei die gleiche Gründlichkeit an den Tag wie eben unter der Dusche. Orla wand sich unter ihm und bog sich ihm entgegen, bis er lachend ihre Hände losließ und sie sich an seinen Schultern festhielt, als er an ihr hinunterglitt und ihre Beine auseinanderschob.

Seinen Mund an ihrer empfindlichsten Stelle zu spüren, ließ sie fast vergehen vor Lust, und sie vergrub ihre Finger in seinem Haar und versuchte, ihn wegzuziehen.

„Magst du das etwa nicht, Gattina?“, fragte er lachend. Natürlich wusste er, dass sie es liebte, wenn er sie mit seiner geschickten Zunge verwöhnte.

„Ich mag es zu sehr“, keuchte sie. „Aber ich will dich in mir. Ich brauche dich, Torre.“ Zu spät wurde ihr klar, dass ihre Worte sie verrieten. Ein undeutbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch dann brachte er sich in Position und drang mit einem einzigen Stoß tief in sie ein. Wieder und wieder glitt er in sie, bis es nur noch sie beide gab, ihre Körper, die sich im Einklang miteinander bewegten. Doch es dauerte nicht lange, bis sie den Höhepunkt gemeinsam erreichten und dort ein paar ewig erscheinende Sekunden verharrten, bevor sie sich fallen ließen und sich der Ekstase hingaben.

Torre wartete, bis Orla eingeschlafen war, bevor er seinen Arm unter ihr hervorzog und aufstand. Sie blinzelte kurz. Im Licht der Bettlampe konnte er die Narbe sehen. Er hatte schon vor ein paar Tagen Nachforschungen über Keegan angestellt, noch bevor Orla ihm erzählt hatte, wie brutal ihr Ex gewesen war. Es war bemerkenswert einfach gewesen, die Leichen in Keegans Keller zu finden, und wenn die Presse Wind von der Geschichte mit dem Wettbetrug bekäme, würde bekannt werden, was für ein widerwärtiger Typ der berühmte Cricketspieler in Wirklichkeit war. Torre wäre es lieber gewesen, sie hätte Keegan angezeigt, aber so blieb es ihr wenigstens erspart, ihrem Ex vor Gericht gegenüberzustehen.

Als Orla sich auf die andere Seite drehte, rutschte die Bettdecke beiseite und gab den Blick auf ihre Brüste frei. Torre wurde auf der Stelle wieder hart, doch er widerstand dem Drang, sich wieder zu ihr zu legen und noch einmal mit ihr zu schlafen – dieses Mal langsam und genüsslich. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Gegen ein gesundes sexuelles Verlangen war ja nichts einzuwenden, aber seine Besessenheit von Orla musste aufhören. Er wollte nicht weiter ständig an sie denken müssen. Wollte das Leben zurück, das er geführt hatte, bevor sie gekommen war und alles durcheinandergebracht hatte.

Der ganze Quatsch, den sie auf dem Weg vom Flughafen geredet hatte – dass er Angst vor Bindungen hatte, weil seine Mutter so früh gestorben war. Was für ein Unsinn! Er hatte einfach schon mit sechs gelernt, dass man auf manche Dinge wie den Tod eben keinen Einfluss hatte. Und er hatte sich früh klargemacht, dass man nicht verletzt werden konnte, wenn man niemanden liebte. Aber das hieß noch lange nicht, dass er Angst davor hatte.

Tatsächlich hatte er Marisa nicht geliebt, als er sich mit ihr verlobt hatte. Ihm war es angesichts steigender Scheidungsraten nur vernünftig erschienen, eine Ehe auf gegenseitigem Respekt und ähnlichen Wertvorstellungen aufzubauen statt auf einem Gefühl wie Liebe. Doch dann hatte Marisa sich verliebt, und …

Torre fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Mit einem Mal war ihm der Gedanke nicht mehr ganz geheuer, dass er drauf und dran gewesen war, eine Ehe ohne Liebe zu führen, um sich vor dem Schmerz zu schützen, den die Liebe mit sich brachte.

Leise fluchend schlich er sich ins Wohnzimmer, nahm sein Tablet zur Hand und suchte nach Luxuswohnungen im Zentrum Londons. Es war an der Zeit, dass er die Geschichte mit Orla in den Griff bekam. In ein paar Wochen, wenn Renzo wieder für ihn arbeiten würde, wäre er sicher wieder klar im Kopf. Dann würde seine Gedanken sich bestimmt nicht mehr nur um sie drehen.

Er würde sie in einem Appartement unterbringen und ihr eine seiner Kreditkarten überlassen, damit sie sich hübsche Anziehsachen kaufen konnte. So hatte er es auch mit seinen früheren Geliebten gehalten. Es würde klare Regeln und Grenzen geben – und nicht mehr dieses ständige unstillbare Verlangen nach ihr, das ihm den Verstand raubte, weil er es nicht unter Kontrolle hatte.

11. KAPITEL

„Willst du hier essen oder sollen wir ausgehen?“, fragte Torre eines Abends auf der Fahrt von seinem Büro in Neapel zu seinem Haus. „Wir könnten nach Positano fahren und in dem Fischrestaurant am Hafen essen, in dem es dir neulich so gut gefallen hat.“

Bei dem Gedanken an Fisch wurde Orla auf einmal übel. „Lass uns lieber bei dir essen“, antwortete sie. „Ich mache uns was. Ich weiß, dass meine Kochkünste nicht an die deines Personals heranreichen, aber Tomas und Silvia sind mehrere Tage weg, und wir können nicht ständig essen gehen.“

„Gut. Du kochst, und ich spüle ab. Das ist faire Arbeitsteilung.“

„Die Geschirrspülmaschine einzuräumen ist nicht besonders anstrengend.“

„Ich muss meine Energie für heute Nacht sparen, Cara“, antwortete er grinsend.

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, und ihr Herz machte einen Satz – wie jedes Mal, wenn sie ihn ansah. Ein Monat war vergangen, seitdem sie nach der Begehung des Londoner Projekts an die Amalfiküste zurückgekehrt waren. In der Zwischenzeit hatten sie weitere Projekte in Frankreich und Hongkong besucht. Orla war Feuer und Flamme gewesen und hatte sich an ihrer früheren Uni um eine Weiterführung ihres Studiums beworben. Nebenbei würde sie bis zu ihrem Abschluss als Sekretärin arbeiten.

Kimberly hatte sich so weit erholt, dass sie in ein Haus in Chicago ziehen konnte, das ihr neuer Ehemann rollstuhlgerecht eingerichtet hatte. Von der Sorge um ihre Mutter und der Angst vor David befreit, hatte Orla also allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Allerdings wusste sie nicht, wie es zwischen Torre und ihr weitergehen würde, wenn ihre Tätigkeit für ihn in zwei Wochen endete. Ihre gemeinsamen Nächte waren leidenschaftlicher denn je, aber für Torre war es einfach nur Sex. Orla wusste, dass er sich nie in sie verlieben würde, und war sich sicher, dass er seine Ex-Verlobte noch immer liebte.

Sie würde die Kameradschaft mit ihm sehr vermissen, das stand fest. Insgeheim hatte sie die ganze Zeit gehofft, dass Torre doch mehr für sie empfand und es vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft für sie geben könnte. Doch als sie heute Morgen beim Frühstück auf der Terrasse die Zeitungen durchgeblättert hatte, waren ihre törichten Hoffnungen zunichtegemacht worden.

Orla war ein Bild aufgefallen, das eine schöne Frau, einen gut aussehenden Mann und ein süßes Baby zeigte. Die Schlagzeile darunter lautete: Graf Valettis Tochter Marisa Cardello und ihr Ehemann Giovanni zeigen ihre Tochter Lucia!

„Ein süßes Kind!“, hatte sie zu Torre gesagt. Als er das Foto ungläubig angestarrt hatte, war ihr klar geworden, dass die Frau auf dem Bild seine Ex-Verlobte sein musste, jene Marisa, von der Jules gesagt hatte, dass sie Torre verlassen und ihm das Herz gebrochen habe.

„Ich weiß nicht“, hatte er erwidert. „Meine Kenntnisse über Babys beschränken sich auf das, was meine Freunde erzählt haben, denen man Kinder aufs Auge gedrückt hat.“

„Wie meinst du das?“

„Gennaro und Stephans Freundinnen sind beide versehentlich schwanger geworden – versehentlich in Anführungszeichen“, hatte er erklärt. „Sie haben beide des Kindes wegen geheiratet, und sie sind beide nicht glücklich damit.“

„Es gehören immer zwei dazu, wenn es darum geht, ein Kind zu zeugen“, hatte sie zu bedenken gegeben. „Vielleicht hätten deine Freunde vorsichtiger sein sollen.“

„Und vielleicht haben ihre Freundinnen die Schwangerschaft als eine ideale Methode gesehen, meine Freunde dazu zu bringen, sie zu heiraten.“

„Wieso bist du so zynisch?“

„Ich bin nur realistisch. Es gibt genug Frauen, die Kinder bekommen, um die Erzeuger zu zwingen, sie zu heiraten.“

Schließlich hatten sie das Thema gewechselt, und anschließend war Torre den ganzen Tag über abweisend gewesen. Orla hatte ihn mehrere Male dabei erwischt, wie er in der Tür, die sein Büro mit ihrem verband, gestanden und sie gemustert hatte – wahrscheinlich, um ihr fades Äußeres mit der Schönheit Marisas zu vergleichen.

Als sie vor seinem Haus ankamen, sah sie an dem ultramodernen Gebäude empor. „Warum hast du ein so großes Haus gebaut, obwohl du alleine lebst?“

„Ich habe nicht vor, mein ganzes Leben lang allein zu leben“, antwortete er.

„Hast du an jemanden Spezielles gedacht, als du Casa Elisabetta entworfen hast?“, fragte Orla. Sie wusste, dass die Arbeiten an dem Haus begonnen hatten, als er noch mit Marisa verlobt gewesen war. Womöglich hatte er ihr damit ein Denkmal gesetzt.

Torre blieb kurz am Treppenaufgang stehen, die Augen hinter seiner Sonnenbrille verborgen. „Ja, ich denke schon“, antwortete er mit einem eigenartigen Unterton, den sie nicht deuten konnte. „Wo willst du hin?“, rief er ihr hinterher, als sie sich umdrehte und die Auffahrt hinunterging.

„Ich hab dir doch heute Morgen gesagt, dass ich einen Arzttermin habe. Ich will herausfinden, warum mir neuerdings nach dem Essen schlecht wird. Es ist bestimmt eine Nahrungsmittelunverträglichkeit. Ich hoffe, dass ich nicht auf Pasta verzichten muss, obwohl das wohl nicht schlecht für meine Linie wäre“, sagte sie. In den letzten Wochen hatte sie ein paar Kilo zugelegt.

„Du hättest mich daran erinnern sollen. Ich fahre dich.“

Orla ging weiter. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah, die sie nicht zurückhalten konnte, weil sie sicher war, dass er dieses Haus für die Frau gebaut hatte, die er liebte. „Nach der langen Fahrt würde ich gern zu Fuß gehen. Außerdem erwartest du doch noch den Anruf aus Shanghai.“

In Wirklichkeit wollte sie einfach nur alleine sein. Das Gespräch beim Frühstück ließ sie nicht los. Und es war nicht allein Torres Reaktion auf das Bild seiner Ex-Verlobten. Die Diskussion über die Partnerinnen seiner Freunde hatte eine Befürchtungen in ihr geweckt, die sie seitdem nicht mehr losließ.

Denn ihr war nicht nur nach dem Essen schlecht, sondern neuerdings schon früh morgens nach dem Aufwachen. Aber ihre Periode war nur zwei Tage überfällig, und da sie die Pille nahm, war es sehr unwahrscheinlich, dass sie schwanger geworden war.

Normalerweise liebte Orla es, in den belebten Gässchen Ravellos herumzubummeln, doch als sie aus der Praxis kam, wollte sie lieber für sich sein und steuerte auf den Garten der Villa Cimbrone zu, wo sie sich auf die Terrasse stellte, die für ihren atemberaubenden Meerblick berühmt war. Doch gerade hatte sie keinen Sinn für die schöne Aussicht. Sie stand immer noch unter Schock, nachdem der Arzt ihr eröffnet hatte, dass sie schwanger war.

„Das kann nicht sein“, hatte sie gesagt, „ich habe die Pille kein einziges Mal vergessen.“

„Haben Sie sich irgendwann in den letzten Monaten den Magen verdorben?“

„Nein. Das heißt, doch, aber das waren keine zwei Tage.“

„Das kann bereits reichen, um die Wirksamkeit der Pille zu mindern“, hatte der Arzt erklärt.

Sie lehnte sich an die Balustrade und versuchte, sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Sie war schwanger von Torre, und nach dem Gespräch von heute Morgen war sie ziemlich sicher, dass er nicht gerade begeistert darüber sein würde.

Würde er glauben, dass sie absichtlich schwanger geworden war? Wenn sie versuchte, sich vorzustellen, wie er auf die Neuigkeit reagieren würde, wurde ihr ganz anders. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und versuchte, sich klarzumachen, was da passiert war. Was da in ihr passierte. Ein neues Leben wuchs heran.

Mein Baby, das ich lieben und beschützen werde, schwor sie sich, als ihr Mutterinstinkt an die Stelle des ersten Schrecks über die Aussicht, Mutter zu werden, trat.

Kurz überlegte sie, es Torre nicht zu sagen. Wenn er vorhatte, die Beziehung zu beenden, wenn sie nicht mehr für ihn arbeitete, wäre es vielleicht besser, es für sich zu behalten. Doch den Gedanken verwarf sie gleich wieder. Das Baby brauchte einen Vater, so wie sie ihren Vater gebraucht hatte. Sie musste einfach hoffen und darauf vertrauen, dass Torre sein Kind wollte.

Auf dem Weg zurück zu ihm stellte sie sich immer wieder vor, wie sie es Torre sagte, und als sie schließlich sein Arbeitszimmer betrat, klopfte ihr Herz so heftig, dass sie sich wunderte, dass er es nicht hörte. Er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete, doch als sie den Raum betrat, sah er auf und schaltete sofort den Rechner aus.

„Hallo, Cara“, sagte er und ging lächelnd auf sie zu, was ihre Anspannung nur noch verstärkte.

Dass er in seinen verwaschenen Jeans und dem schwarzen T-Shirt verdammt sexy aussah, war nicht gerade förderlich.

„Das hat aber lange gedauert. Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, sagte er und küsste sie. Sein Kuss war atemberaubend, und Orla war fest entschlossen, sich diesen Moment für immer zu bewahren. Gleichzeitig wusste sie, dass ihr Leben sich von nun an ändern würde. Sie würde immer auch an ihr Kind denken müssen. Diese Vorstellung machte sie glücklich und umso entschlossener.

Torre hob den Kopf und sah sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja … das heißt, nein. Also …“ Sie atmete tief durch. Ihr war klar, dass von Torres Reaktion auf das, was sie ihm jetzt eröffnen würde, nicht nur ihre, sondern auch die Zukunft ihres Kindes abhing.

„Orla?“

„Ich bekomme ein Kind von dir.“

Sie war fest entschlossen, das Kind zu bekommen, ganz egal, wie er reagieren würde. Aber seine erste Reaktion – oder eher das Ausbleiben einer solchen – war kein gutes Zeichen. Ihr Mut sank.

Er war wie versteinert, sein Blick eisig. Orlas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Sag doch wenigstens etwas“, presste sie hervor. Der Mann, der in den letzten Wochen nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Freund gewesen war, hatte sich in einen Fremden verwandelt. Aber sie hatte sich etwas vorgemacht. Torre war immer ein wenig auf Distanz zu ihr geblieben, und als er sie jetzt mit diesem ausdruckslosen Blick anstarrte, war sie sicher, dass er komplett dichtmachte und sie nie wieder an sich heranlassen würde.

„Was soll ich denn sagen?“, fragte er sehr beherrscht, was irgendwie beunruhigender war, als wenn er sie wütend angeschrien hatte. Mit seinem Zorn hätte sie umgehen können. Aber dieses offensichtliche Desinteresse an dem Kind, das sie zusammen erschaffen hatten, ließ die leise Hoffnung, die sie gehegt hatte, ersterben.

Torre wusste nicht, wie er mit dem Ansturm der Gefühle umgehen sollte, der ihn durchtoste – und mit dem Wissen, dass dies nun sein Leben bestimmen würde. Keine Kontrolle mehr über sich zu haben und Gefühlen ausgeliefert zu sein, die er nie hatte empfinden wollen.

Er wollte einfach nur ein geordnetes Leben ohne unangenehme Überraschungen führen. Mit sechs Jahren hatte er erfahren, wie vergänglich das Leben war, und ihm war klar geworden, dass Liebe wehtat. Seit seiner Kindheit hatte er das heikle Gefühl aus seinem Leben verbannt, aber jetzt lief alles aus dem Ruder. Orla war schwanger von ihm, und diese Neuigkeit erfüllte ihn mit einer Art Panik. Und er war wütend, weil er das nicht gewollt hatte. Das alles. Sie.

Seit sie in sein Leben geplatzt war, lief nichts mehr so, wie er es wollte. Er hatte keine Ahnung, wie er auf die neueste Bombe reagieren sollte, die sie hatte platzen lassen, und seine Wut war nur eine Abwehrreaktion auf all die anderen Gefühle, die in ihm rumorten.

„Du hast gesagt, du nimmst die Pille.“

Sie zuckte zusammen und sah einen Moment lang so aus, als wäre sie enttäuscht von ihm. Als habe er sie im Stich gelassen. Es wäre nicht das erste Mal, flüsterte sein Gewissen ihm zu.

„Ich nehme die Pille, aber sie hat nicht gewirkt. Ein paar Tage vor Giuseppes Geburtstagsfeier hatte ich etwas mit dem Magen. Und ich habe nicht daran gedacht, dass dadurch die Wirksamkeit der Pille beeinträchtigt werden kann. Wahrscheinlich ist es in der ersten Nacht passiert. Ich bin etwa in der sechsten Woche.“ Ihr Blick war entschlossen und fast ein wenig herausfordernd. „Ich übernehme die volle Verantwortung. Es war mein Fehler. Ich habe dir nur von dem Kind erzählt, weil ich finde, dass du ein Recht darauf hast, es zu wissen.“

Torre ging zum Schreibtisch zurück und setzte sich. Orla hatte es ihm nur gesagt, weil er ein Recht darauf hatte, es zu wissen. Das gab ihm zu denken. Meinte sie, dass er keine Verantwortung für sein Kind übernehmen würde? Es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie und das Baby finanziell abgesichert waren. Aber ein Kind brauchte mehr als Geld. Ein Kind brauchte Liebe – genau die Sache, der er den größten Teil seines Lebens aus dem Weg gegangen war.

Orla war ihm gefolgt und sah ihn über seinen Schreibtisch hinweg so verzagt an, dass sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog. Er konnte nicht damit umgehen, mit all den Gefühlen, die er nicht empfinden wollte. Also konzentrierte er sich auf praktische Dinge. Die Beschreibungen von ein paar exklusiven Wohnungen in London, die er angefordert hatte, lagen auf seinem Tisch. Er nahm sie und reichte sie Orla. „Ich hatte ohnehin beschlossen, dir eine Wohnung zu kaufen, wenn du nicht mehr als Sekretärin für mich arbeitest“, sagte er. „Sieh dir das mal an und such dir etwas aus, das du für dich und das Kind für passend hältst.“

Orla errötete, bevor sie ganz blass wurde. Sie sah verletzt aus. Torre fragte sich, wie es ihr ging. Er hätte gern gewusst, ob das Baby gesund war. Doch dann sagte er sich, dass es in diesem Stadium noch nicht einmal ein Baby war. Es war eine Ansammlung von Zellen, und doch machte er sich schon Sorgen um das neue Leben, das sie geschaffen hatten.

„Ich brauche keine Luxuswohnung“, erwiderte sie gereizt. „Und ich werde kein Geld von dir annehmen.“

Er runzelte die Stirn. Ihr war doch wohl klar, dass er nun für sie verantwortlich war? „In dem Kabuff, in dem du jetzt wohnst, kannst du wohl kaum ein Kind großziehen.“

„Das bekomme ich schon irgendwie hin.“

„Ich will nicht, dass du das irgendwie hinbekommst. Ich bin reich und kann es mir leisten, dir eine Wohnung zu kaufen – und alles andere, was ihr benötigt.“

Orla schüttelte energisch den Kopf. „Wag es nicht, mir zu unterstellen, dass ich dein Geld will.“ Sie schlug auf den Tisch und funkelte Torre an. „Ich will nur, dass du mir sagst, wie es sich für dich anfühlt, dass ich schwanger von dir bin, und was für ein Verhältnis du in Zukunft zu deinem Kind und zu mir haben möchtest.“

Torre wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Er starrte sie über den Tisch hinweg an, und plötzlich wurde ihm die Wahrheit sonnenklar. Er schloss die Augen, damit Orla nicht sah, was er sich so lange nicht hatte eingestehen wollen und auch ihr nicht hatte sagen können – weil er ein Feigling war.

Diese Erkenntnis war schlimmer als das Gefühlschaos, das in seinem Kopf herrschte. Aber er musste nicht zusehen, wie sie ihn mit ihrem Kind verließ. Er konnte um sie kämpfen. Damit riskierte er zwar, zu leiden wie damals, als seine Mutter gestorben war, aber die Vorstellung, Orla einfach ziehen zu lassen, war unerträglich.

Bereit, sich ihr anzuvertrauen, öffnete er die Augen. Aber es war zu spät. Sie war bereits fort.

12. KAPITEL

Als sie im Bus von Ravello nach Amalfi saß, kam Orla sich vor, als befände sie sich in einer Zeitschleife. Genau wie damals vor acht Jahren war sie nach Torres Zurückweisung aus seinem Haus geflüchtet und in den Bus gestiegen, der nicht weit entfernt an der Hauptstraße hielt.

Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, als könne sie ihr Baby so vor dem Kummer bewahren, den es mit sich brachte, wenn man sich auf Torre einließ. Doch das würde ihr nicht noch einmal passieren. Sie musste wütend auf ihn bleiben, um nicht zu weinen, also dachte sie an sein Angebot, ihr eine Wohnung zu kaufen, das sie rasend gemacht hatte. Doch auch das brachte sie zum Weinen, weil es zeigte, dass er bis auf materielle Unterstützung nichts zu geben bereit war.

Ihr Stolz ließ nicht zu, dass sie etwas von ihm annahm. Zwar hatte er sie nicht beschuldigt, absichtlich schwanger geworden zu sein, aber sie war sicher, dass er es dachte, genau wie er damals gedacht hatte, dass sie hinter seinem Geld her wäre. Sie fragte sich, ob sein Angebot, ihr eine Wohnung zu kaufen, nur eine Art Test gewesen war, und diese Vorstellung machte sie nur noch unglücklicher. Sie hatte nie etwas anderes von ihm gewollt als eine Beziehung, die von gegenseitigem Respekt und Freundschaft geprägt war – und von Liebe.

Auf der anderen Seite des Gangs saß ein kleiner Junge mit einer Frau, sicher seine Mutter, der sein Gesicht an die Scheibe drückte und aufgeregt nach draußen zeigte. Orla hörte einen Wagen vorbeibrausen und dachte, dass wohl fast alle kleinen Jungs Autos liebten. Sie betrachtete den Kleinen mit seinen schwarzen Haaren, der in die Arme der Frau gekuschelt dasaß.

Ihr eigenes Kind würde sicher auch schwarze Haare haben wie sein Vater, dachte Orla, und schon stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen. Doch es brachte nichts, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Sie hatte schon so viel durchgemacht – das hier würde sie auch hinbekommen. Es blieb ihr ja gar nichts anderes übrig.

Der Bus bog auf den großen Platz neben den Hafen von Amalfi ab. Hier könnte Orla in den Bus zum Flughafen von Neapel umsteigen und von dort nach London fliegen. Als sie den Blick über den Platz schweifen ließ, sah sie den Grund für die Aufregung des kleinen Jungen im Bus – einen knallroten Sportwagen, um den sich ein kleines Grüppchen Leute geschart hatte. Ihr Herz machte einen Satz, als sie Torre danebenstehen sah. Er sah ganz entspannt aus – nicht wie jemand, der gerade erfahren hatte, dass er Vater werden würde. Vielleicht liegt es daran, dass es ihm egal ist, dachte Orla bitter. Doch warum war er ihr dann hierher gefolgt?

Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, als sie bemerkte, dass er sie beobachtete. Sie musste an ihm vorbeigehen, um zu dem Schalter zu kommen, an dem sie ihr Busticket kaufen wollte. Als sie auf seiner Höhe war, hielt sie den Blick starr geradeaus gerichtet.

„Orla!“, rief er. „Piccola.“

Sie wirbelte herum. „Wag es nicht, mich noch einmal Piccola zu nennen! Was willst du hier? Ich habe dich über das Baby in Kenntnis gesetzt, und du hast deutlich gemacht, dass es dich nicht interessiert. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“

„Aber ich habe dir etwas zu sagen“, erwiderte er.

„Ich will es nicht hören. Es ist bestimmt wieder irgendeine fiese Anschuldigung.“

Torre legte ihr eine Hand auf den Arm. „Nein, ist es nicht“, erwiderte er. „Ich dachte, meine Fehler von damals wären Vergangenheit und du würdest mir jetzt vertrauen.“

Er klang fast ein wenig verletzt, aber das konnte nicht sein, sagte sich Orla. Er hatte ein Herz aus Stein.

„Ich habe nie gesagt, dass mich unser Kind nicht interessiert.“ Seine weiche, leicht heisere Stimme, mit der er die Worte unser Kind aussprach, ließ ihr Herz wieder auftauen.

Die Umstehenden beobachteten die Szene gespannt.

„Orla“, sagte Torre flehentlich. „Komm mit mir nach Hause. Bitte. Ich weiß, dass meine Reaktion vorhin nicht die war, die du dir gewünscht hättest.“

Nach Hause klang zu verlockend! Aber Torre hatte sein Haus nicht für sie gebaut, sondern für die Frau, die er liebte. „Ich sollte wahrscheinlich dankbar sein, dass du mich und das Kind finanziell unterstützen willst, aber ich denke, ich komme alleine klar“, sagte sie. Wie sie gleichzeitig arbeiten und ein Kind großziehen sollte, wusste sie zwar nicht, aber viele Frauen bekamen das hin.

„Mir ist klar, dass ich es verdient habe, dich auf Knien anflehen zu müssen, bevor du dir auch nur überlegst, ob du mir meine Reaktion von eben verzeihst.“ Er sah sie ernst an. „Und wenn nötig, tue ich das auch gern hier vor dem versammelten Publikum.“

Orla sah ihn hilflos an und wünschte, sie würde ihn nicht lieben. Er hätte es verdient, dass sie ging, aber das konnte sie nicht tun. Das Baby brauchte einen Vater. Also trat sie um den Wagen herum und stieg ein.

Auf dem Weg sagten sie beide kein Wort. Als er sie schließlich in sein Wohnzimmer führte, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie ließ sich auf das Sofa sinken und sah zu, wie er zum Fenster ging und die Hände in die Hosentaschen schob. Trotz der Entfernung konnte sie deutlich sehen, wie angespannt er war.

„Du hattest recht, als du sagtest, dass mich der Tod meiner Mutter traumatisiert hat“, gestand er. „Ich bin in die Kapelle gebracht worden, um sie vor der Beerdigung anzusehen. Es war schrecklich. Sie war kalt und grau, und obwohl ich erst sechs Jahre alt war, habe ich verstanden, dass der Tod endgültig ist. Kurze Zeit später ist mein Hund gestorben. Er ist vor ein Auto gelaufen, und ich habe es mitangesehen. Mein Vater meinte, es sei nur ein Hund und wir könnten einen neuen besorgen, aber ich habe keine Sinn darin gesehen, etwas oder jemand anderen zu lieben, wenn das Risiko bestand, auch diesen anderen zu verlieren.“ Sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie seine Stimme, doch an einem Zucken seiner Wange sah Orla, wie angespannt er war. „Ich habe meine Erfahrungen aus der Kindheit ins Erwachsenenalter mitgenommen. Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte, mit jemandem über den Tod meiner Mutter zu sprechen und richtig um sie zu trauern … vielleicht wäre ich dann jetzt ein anderer Mensch.“

Orla nickte. „Nach dem Tod meines Vaters bin ich weiter jeden Sommer zu meiner Großmutter nach Irland gefahren. Sie hat mir von seiner Kindheit erzählt und davon, wie gerne er Gedichte geschrieben hat. Wenn ich seine Gedichte lese, fühle ich mich ihm nahe.“ Sie zögerte. „Ich verstehe, dass du nach dem Tod deiner Mutter eine Scheu vor Bindungen hattest, aber du warst mit Marisa verlobt und hast sie sicherlich geliebt. Es muss dir doch ziemlich zugesetzt haben, als sie dich verlassen hat?“

„Ich habe die Beziehung beendet, nicht Marisa. Und ich habe sie nie geliebt. Ich mochte sie, und eine Verbindung unserer Familien hätte geschäftliche Vorteile gebracht.“

„Warum hast du dann so … erschüttert ausgesehen, als du das Bild von ihr und ihrer Familie in der Zeitung gesehen hast?“

„Ich war nicht erschüttert. Eher ein bisschen erleichtert darüber, dass Marisa das Glück gefunden hat, das sie verdient. Ich habe sie verlassen, als mir klar wurde, dass sie sich in mich verliebt hatte, weil ich wusste, dass ich ihre Gefühle nie würde erwidern können.“

„Aber hast du nicht dieses Haus für sie gebaut? Du sagtest doch, dass du das Haus gebaut hast, um mit jemandem zusammen hier zu wohnen. Wen meintest du denn da, wenn nicht Marisa?“ Sie schluckte. „Es ist ja nicht zu übersehen, wie durchdacht und sorgfältig ausgearbeitet dieses Haus ist. Casa Elisabetta ist eine gebaute Liebeserklärung.“

Torre antwortete nicht, worüber Orla ganz froh war. Sicher hätte sie es nicht ertragen, den Namen der Frau zu hören, die er liebte. Es war furchtbar, ihn zu lieben und zu wissen, dass sein Herz einer anderen gehörte.

„Ich habe das Haus für dich gebaut.“

Er sah dabei ganz ernst aus – sie musste sich wohl verhört haben. Das konnte er nicht so gemeint haben. „Hör auf, Torre. Meinst du, dich bei mir einschmeicheln zu müssen, damit ich dir das Kind nicht vorenthalte? Keine Sorge, ich würde dich nicht daran hindern, dein Kind zu treffen. Warum hättest du ein Haus für mich bauen sollen? Du hast mich verachtet.“

Nun gab er sich einen Ruck, als hätte sie ihn geohrfeigt, kam auf sie zu, fasste sie an den Oberarmen und zog sie vom Sofa hoch. „Ich habe dich nie verachtet. Nun wein doch nicht, Piccola“, sagte er und wischte ihr die Tränen von den Wangen. „Ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ich so dumm reagiert habe, als du mir von dem Baby erzählt hast. Ich war …“ Er schluckte, und Orla blieb das Herz stehen, als sie sah, dass seine Augen verräterisch glänzten.

„Torre?“

„Ich hatte Angst“, gab er zu. „Und ich habe immer noch Angst.“ Sein verzagtes Lächeln ließ sie hoffen. „Ich war ein Feigling, Orla. Ich wollte mich nie verlieben. Mein Vater war verzweifelt, als meine Mutter gestorben ist. Als er sich dann in deine Mutter verliebt hat, habe ich ihn für einen Narren gehalten. Aber als ich dir begegnet bin, ist der Schutzwall, den ich um mich aufgebaut hatte, einfach eingestürzt. Nie zuvor habe ich eine Frau so sehr begehrt wie dich, und als ich merkte, dass du noch Jungfrau warst, kam mir das vor wie ein Zeichen. Es hat sich angefühlt, als würdest du mir gehören.“ Er seufzte schwer. „Als ich kapiert hatte, wer du bist, habe ich mir eingeredet, dass du bist wie deine Mutter. Und ich hatte einen Vorwand, dich zum Teufel zu jagen. Aber ich konnte dich nicht vergessen. Eines Tages stand ich auf dem Grundstück des alten Bauernhauses, das bereits abgerissen worden war, und habe ganz klar die Villa vor Augen gehabt, die ich bauen wollte.“ Er umfasste ihr Kinn und sah ihr fest in die Augen. „Ich habe dich gesehen, habe uns gesehen – und unsere Kinder. Und da wusste ich, dass du die einzige Person bist, mit der ich zusammenleben wollte.“

Orla schüttelte den Kopf. Er spielte ein grausames Spiel mit ihr, sie durfte ihm nicht glauben. „Und wieso hattest du dann vor, mich als deine Geliebte in einem Appartement in London zu halten, bevor du wusstest, dass ich schwanger bin? Du wirst mich nicht mehr wollen, wenn ich hochschwanger und fett und hässlich bin.“

„Ich werde dich immer wollen.“ Seine Stimme klang so feierlich, dass Orla fast zu atmen vergaß. Er umfasste ihre noch schlanke Taille und fuhr fort: „Du wirst immer schön sein, aber wenn du mit unserem Kind hochschwanger bist, wirst du umso schöner sein!“

„Torre …“

Er streichelte ihre Wange. „Bevor du mir erzählt hast, dass du schwanger bist, hatte ich beschlossen, mein Büro für ein Jahr nach London zu verlegen. Zum Teil, um das Harbour-Side-Projekt besser betreuen zu können, aber hauptsächlich, weil ich in deiner Nähe sein wollte.“ Er strich ihr eine Strähne hinters Ohr. „Orla … Ich liebe dich, und das macht mir furchtbare Angst, weil ich nicht weiß, wie ich es überleben könnte, wenn ich dich verlieren würde. Aber ich kann nicht länger dagegen ankämpfen. Ich liebe dich über alles, und die Vorstellung, dass ich vielleicht meine Chance verspielt habe, mit dir zusammen zu sein, ist mir unerträglich. Als du eben gegangen bist, wusste ich, dass ich dich nicht wieder gehen lassen darf. Und ich hätte dich auch vor acht Jahren nie gehen lassen dürfen.“

„Oh, Torre“, flüsterte sie unendlich glücklich. Durch den Tränenschleier sah sie, dass auch seine Wimpern feucht waren, und war zutiefst gerührt, weil sie wusste, dass dies die Tränen eines kleinen Jungen waren, der nie geweint hatte. Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn ganz fest an sich. „Ich liebe dich über alles. Schon immer und für immer.“

Er küsste sie, zögernd und zärtlich erst, und dann, als die Glut in ihnen entfacht war, immer leidenschaftlicher. Sie drängte sich ihm entgegen, und er seufzte auf.

„Ich liebe dich, Orla. Willst du meine Frau werden und mich für dich und das Baby sorgen lassen – und für die anderen Kinder, die wir hoffentlich noch bekommen werden?“

„Ja“, antwortete Orla. Sie wusste, dass sie zu Torre gehörte und er zu ihr.

„Ich liebe dich“, flüsterte Torre, bevor er sie wieder küsste. „Das habe ich noch nie zu jemandem gesagt“, gestand er und trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie auf das Bett legte.

Er zog erst sie und dann sich selbst aus. Als er sich neben sie legte und ihr übers Haar streichelte, zitterten seine Hände ganz leicht. „Ich liebe dich“, sagte er wieder, und seine Stimme war so zärtlich, dass Orla die Tränen kamen. „Als du vorhin gegangen bist, hatte ich Angst, dich für immer verloren zu haben.“

Orla umfasste sein Gesicht und küsste ihn. „Du konntest mich nicht verlieren, weil ich zu dir gehöre und du zu mir“, sagte sie.

Und Torre wurde klar, dass es genau so war.

Zwei Monate später heirateten sie im Dom von Ravello.

Torre glaubte, sein Herz müsse zerspringen, als er sich umdrehte und Orla im weißen Kleid auf sich zukommen sah. Ihr rotes Haar trug sie unter dem Schleier offen, und abgesehen von dem Verlobungsring war ihr einziger Schmuck die vergoldete Kette mit dem vierblättrigen Kleeblatt von ihrem Vater.

Vierzehn Monate später sah Torre stolz zu, wie seine Frau ihr Abschlusszeugnis der Universität entgegennahm. „Kannst du deine Mamma sehen?“, fragte er seinen Sohn und zeigte auf die Bühne, wo Orla zusammen mit den anderen Absolventen stand. Der sechs Monate alte Luca strahlte, und Torre küsste gerührt den dunklen Schopf des Babys.

Als sie eine Woche später in sein Haus an der Amalfiküste zurückkehrten, sagte er zu ihr, dass sein Leben nicht perfekter sein könnte. „Hast du dir schon überlegt, ob du als Bauingenieurin für ARC arbeiten oder warten willst, bis Luca etwas größer ist, bevor du dich auf deine Karriere konzentrierst?“

„Die Karriere muss noch etwas warten“, antwortete Orla und schlang die Arme um seinen Hals. „Als du dieses Haus gebaut und dir vorgestellt hast, dass wir hier mit unseren Kindern leben, an wie viele Kinder hast du da eigentlich gedacht?“

„Ich weiß nicht – vielleicht fünf oder sechs?“ Er lachte über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck. „Ich habe sie nicht gezählt. Ich hatte nur Augen für dich.“

„Ich weiß nicht, ob ich sechs Kinder will, aber Baby Nummer zwei wird früher kommen, als wir geplant haben. Wir sind anscheinend eine sehr fruchtbare Kombination.“

Torre war überglücklich, doch er musterte sie mit ernstem Blick. „Und wie geht es dir damit? Wir wollten mit dem Geschwisterchen für Luca doch eigentlich warten, damit du erst einmal die Früchte deines Studiums ernten kannst.“

„Ich freue mich, schwanger zu sein. Ich freue mich sehr auf das Baby, und ich freue mich sehr darauf, irgendwann einmal als Bauingenieurin zu arbeiten“, antwortete sie. „Und ich liebe dich über alles, Torre.“

„Und ich liebe dich“, antwortete er. „Für immer.“

– ENDE –

PROLOG

„Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen. Ich wollte es nicht, aber ich war zu schwach. Von einer Sekunde auf die nächste musste ich erfahren, dass ich ein schlechter Mensch sein konnte.“

Die Stimme des alten Mannes auf dem Sterbebett war kaum hörbar, denn seine Lebenskräfte schwanden. Vittorio saß auf der Bettkante. Er nahm die Hand seines Vaters und sagte eindringlich: „So etwas darfst du nicht sagen, Papà. Du bist kein schlechter Mensch. Und du bist nie einer gewesen.“

„Erzähle das George Benton. Er ist der Mann, den ich um eine Million Pfund betrogen habe. Dessen Leben ich ruiniert habe, ohne dass er etwas davon geahnt hat.“

Verwirrt rieb Vittorio sich die Augen. „Aber das ist unmöglich. Wie kann er nichts davon gewusst haben?“

Sein Vater schloss die Augen und wandte den Kopf ab. Es fiel ihm sichtbar schwer, weiterzusprechen. Vittorio erhob sich und ging zum Fenster. Von dort wanderte sein Blick über die üppigen Gärten der Familie Martelli, in deren Besitz sie sich seit fünfhundert Jahren befanden.

Der alte Conte Franco Martelli lag reglos auf dem Bett; langsam wich das Leben aus ihm. In letzter Zeit war er häufig verwirrt gewesen, das hatte Vittorio bemerkt. So war es sicher auch in diesem Moment. Und doch hatte eine solche Verzweiflung in der Stimme seines Vaters gelegen, dass ihn ein unheilvolles Gefühl beschlich.

„Bitte mache dir keine Sorgen, Papà.“ Er kehrte zum Bett zurück und ließ sich wieder auf der Kante nieder. „Das alles gehört der Vergangenheit an.“

„Wenn ich keine Wiedergutmachung leiste, wird es nie der Vergangenheit angehören“, flüsterte der Conte. „Wir waren Freunde. Wir haben uns hier in Italien kennengelernt, als er Urlaub machte. Wir haben uns angefreundet, und als ich einige Wochen später nach England musste, habe ich ihn besucht. Er war jünger als ich, und wir hatten viel Spaß miteinander. Abends sind wir ausgegangen, haben etwas getrunken und mit Frauen geflirtet. Und wir waren in einem Wettbüro – natürlich nur aus Spaß, aber er hatte tatsächlich gewonnen. Aber er hatte es gar nicht mitbekommen, denn er war zu betrunken. Also habe ich seinen Gewinn genommen, ihn nach Hause gebracht und ins Bett gesteckt.“

„Was hast du dann gemacht?“, fragte Vittorio leise.

„Ich habe den Wechsel der Bank auf meinen Namen ausstellen lassen. Ich hatte vor, mir den Betrag auszahlen zu lassen und George zu übergeben, wenn er wieder nüchtern war. Stattdessen bin ich weggelaufen, bevor er aufgewacht war.“

„Und er hat nie einen Verdacht geschöpft?“

„Wie sollte er? Ich habe ihm nie etwas von seinem Gewinn erzählt. Ich habe mir das Geld auszahlen lassen und bin zurück nach Italien gefahren. Ich wollte ihn nicht hintergehen. Den Titel des Conte trug ich damals erst seit Kurzem, aber große Freude hatte ich daran nicht, denn ich fand heraus, dass unsere Familie schwer verschuldet war. Mit Hilfe von Georges Geld war ich auf einmal alle meine Sorgen los. Ich habe es genossen, dass die Leute mir Respekt entgegenbrachten und mich mit Conte Martelli ansprachen.“ Er lächelte gequält. „Vittorio, mein Sohn, bald wirst auch du dieses Gefühl kennen.“

„Nein, Papà“, beharrte Vittorio sanft. „Ich will nicht, dass du stirbst.“

Der alte Conte drückte Vittorios Hand. „Du bist ein guter Sohn. Aber meine Zeit ist gekommen.“

„Nein“, entgegnete Vittorio aufgebracht. „Du musst noch ein bisschen bei mir bleiben.“

Der Gedanke, ohne seinen geliebten Vater weiterzuleben, kam Vittorio unerträglich vor. Seine Mutter war vor vielen Jahren im Kindbett gestorben. Sein Vater hatte ihn alleine großgezogen. Sie waren ein Team und bedeuteten einander mehr als jeder andere Mensch auf der Welt. Dass ihm dieser Mittelpunkt seines Lebens nun genommen werden sollte, war mehr, als er ertragen konnte.

„Du musst kämpfen, Papà“, beschwor Vittorio seinen Vater. „Noch ein Tag, ein Monat, ein Jahr. Ich bin noch nicht bereit, ohne dich zu leben.“

„Das wirst du auch nicht müssen. Irgendwo werde ich immer sein – in deinen Gedanken, deinem Herzen, wo immer du willst.“

„Ich hätte dich lieber hier bei mir“, flüsterte Vittorio.

„Mein Sohn, es gibt etwas, um das ich dich bitten muss.“

„Was auch immer es ist, ich werde es tun.“

„All diese Jahre ist das, was ich George angetan habe, ungesühnt geblieben. Jetzt, wo das Ende naht …“ Der alte Mann schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Ich muss die letzte Chance ergreifen, meinen Fehler wiedergutzumachen. Ich brauche deine Hilfe. Versprich es mir – schwöre es.“

„Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Du hast mein Wort.“

„Finde Benton. Bitte ihn um Vergebung. Wenn er Geld braucht …“

„Ich werde ihm geben, was ihm zusteht. Er wird dir vergeben, und du kannst in Frieden ruhen.“

„Frieden? Ich habe vergessen, wie er sich anfühlt.“

„Aber du wirst ihn finden, Papà. Wo immer du auch sein wirst. Das verspreche ich dir.“

„Danke. Ich danke dir.“ Wieder und wieder flüsterte Franco diese Worte.

Vittorio erhob sich, um die Vorhänge vor den Fenstern zuzuziehen.

„Nicht“, bat sein Vater. „Du sperrst das Licht aus.“

„Ich hatte Sorge, dass die Sonne dich blendet.“

„Nicht mehr lange.“ Der alte Conte stieß einen Seufzer aus. „Das Licht der Sonne währt nie lange. Das glaubt man nur. Doch plötzlich ist es verschwunden, und um dich herum herrscht nur noch Dunkelheit.“

Vittorio setzte sich und nahm die Hand seines Vaters. „Man kann gegen die Dunkelheit ankämpfen“, sagte er. „Ich werde für dich kämpfen.“

„Eines Tages wirst du gegen deine eigene Dunkelheit ankämpfen müssen. Nie weiß man, wann oder warum sie über einen hereinbricht. Du musst immer auf alles gefasst sein. Pass gut auf dich auf – wenn ich nicht mehr bei dir bin …“

Dann brach seine Stimme.

„Aber du wirst immer bei mir sein. Du musst, hörst du? Hörst du mich, Papà? Papà!

Doch um ihn herum herrschte nichts als Stille. Franco hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht mehr.

Vittorio legte die Stirn an die seines Vaters. „Ich verspreche es“, flüsterte er. „Ich habe dir mein Wort gegeben, und ich werde es halten. Wo immer du auch bist – höre meine Worte und glaube mir. Ruhe in Frieden.“

1. KAPITEL

Die Welt war voller Licht und Glanz. Unbeschwert tanzte Jackie durch den Raum und erfreute sich an ihrem hinreißenden Spiegelbild. In der Ferne ertönte Musik und lud sie ein in eine Welt, in der sie die Heldin war.

Doch dann wachte sie auf. Als sie die Augen öffnete, fand sie sich in ihrer gewohnten Umgebung wieder. Im Spiegel gegenüber dem Bett sah sie nicht die verführerische Jackie Benton aus ihrem Traum, sondern eine schmale junge Frau mit intelligenten, aber nur durchschnittlich attraktiven Gesichtszügen.

Seufzend stand sie auf. Ihr Schlafzimmer wirkte klein und ärmlich. Sie hatte schon lange ausziehen wollen, sie wünschte sich eine größere Wohnung. Und ein aufregenderes Leben. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr gehabt. Noch immer war sie nicht von Benton’s Market losgekommen, einem kleinen Gemischtwarenladen, der ihr Arbeit und ein Dach über dem Kopf bot.

Sie hatte fast ihr ganzes Leben lang in der winzigen Wohnung über dem Geschäft verbracht, das ihr Vater George Benton vor zwanzig Jahren eröffnet hatte und für das er sich aufgerieben hatte. Immer hatten ihn Geldsorgen geplagt, und seine Tochter hatte er alleine großziehen müssen, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte.

In den letzten Lebensjahren ihres Vaters hatte Jackie das Geschäft alleine führen müssen – und überrascht hatte sie festgestellt, wie sehr diese Aufgabe sie erfüllte.

Sie war klug und arbeitsam, wusste immer, was sie im Lager hatten und wo sie es fand. Zuerst war ihr Vater beeindruckt gewesen.

„Woher weißt du immer, wo was ist?“, wunderte er sich. „Du bist gut. Der Einzelhandel liegt dir.“

„Du hast mir das beigebracht“, erinnerte sie ihn.

Es waren glückliche Momente gewesen, die Vater und Tochter zusammengeschweißt hatten. Er war stolz auf sie gewesen – nicht nur wegen ihres guten Gedächtnisses, sondern auch, weil sie einen sicheren Blick dafür besaß, welche Ware sich gut verkaufen würde.

Doch eines Tages glaubte Jackies Vater, sie warnen zu müssen. Ein Verkäufer, der als Aushilfe für sie arbeitete, war wütend aus dem Laden gerauscht. Ihr Vater hatte sie gefragt: „Musstest du wirklich so harsch mit ihm umspringen?“

„Ich war nicht harsch“, wehrte Jackie sich. „Ich habe ihn nur darauf hingewiesen, dass er einen Fehler gemacht hat. Und das hat er nun mal.“

„Du hättest etwas taktvoller sein können.“

„Jetzt komm, Daddy“, entgegnete sie neckend. „Willst du mir jetzt weismachen, eine Frau darf einem Mann nicht sagen, dass er etwas falsch gemacht hat, weil er sonst beleidigt ist? Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert.“

Er tätschelte ihre Hand. „Du vielleicht nicht, mein Schatz. Aber viele Männer schon. Du findest ein bisschen zu viel Gefallen daran, anderen Leuten Anweisungen zu erteilen.“

„Zu viel Gefallen für eine Frau, meinst du wohl. Du meinst, ich hätte ihn einfach machen lassen sollen? Obwohl ich weiß, dass er ein Trottel ist?“

Sie hatten zusammen gelacht, aber Jackie begriff auch, dass ihr Vater nicht ganz unrecht hatte. Von da an bemühte sie sich um einen zurückhaltenderen Ton.

Allmählich hatte sie angefangen, ihre Führungsrolle in dem Geschäft zu genießen – nicht nur, wenn es um die Angestellten ging. Sie entschied, welche Artikel sie bestellten, und alle verkauften sich gut. Sie besaß die Instinkte einer begabten Geschäftsfrau und machte sich um ihre Zukunft keine Sorgen.

Doch ihr Einsatz war zu spät gekommen. Die Schulden, die ihr Vater angehäuft hatte, waren zu groß, als dass ihr geschäftlicher Erfolg ihnen noch hätte helfen können. Am Ende war ihr Vater gezwungen gewesen, den Laden zu verkaufen.

Gesundheitlich war das für ihn der Anfang vom Ende. Rik, der neue Eigentümer, gestand ihnen widerwillig zu, dass sie in der kleinen Wohnung bleiben durften, und Jackie arbeitete weiterhin im Geschäft mit. Allerdings nur noch in Teilzeit, um sich um ihren Vater kümmern zu können. Sie pflegte ihn hingebungsvoll und tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihm für die Liebe und Fürsorge zu danken, die er ihr geschenkt hatte.

„Es ist so anstrengend für dich … du pflegst mich und arbeitest im Laden“, hatte er eines Tages gesagt. „Eine solche Belastung.“

„Hör auf, Dad. Du bist keine Belastung für mich. Niemals.“

„Ach, Schatz. Ich wollte dir das Geschäft so gerne überlassen. Es hätte mich stolz gemacht, es dir zu vererben. Ich hatte gehofft … Aber was soll’s. Es hat nicht funktioniert.“

Es wäre auch Jackies Traum gewesen. Große Teile seines Erfolges verdankte der Laden ihrer Arbeit, und noch immer herrschte in ihm die Atmosphäre vor, die ihr Vater geschaffen hatte. Und doch musste sie diesen Traum nun begraben.

Nur wenige Tage später war ihr Vater gestorben. Und inmitten ihrer Trauer hatte Rik ihr ein Angebot gemacht.

„Du kannst gerne bleiben und Vollzeit bei mir arbeiten. In der Wohnung kannst du auch bleiben.“

Jackie hatte gründlich nachgedacht, bevor sie zugesagt hatte. Sie mochte Rik nicht – einen übellaunigen, griesgrämigen Mann Mitte vierzig. Aber sie nahm sein Angebot an, weil sie so die Zeit gewann, sich einen Plan zurechtzulegen, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Sie träumte immer noch von einem eigenen Geschäft, für das allein sie verantwortlich war.

Ihre Abneigung Rik gegenüber war wohlbegründet. Er hielt sehr viel von sich und seinen Fähigkeiten, doch Jackie fand ihn wenig talentiert. Ständig unterliefen ihm Fehler, die er ihr dann anlasten wollte.

In der Hoffnung, eines Tages von hier weggehen und neue Möglichkeiten ausprobieren zu können, hatte sie versucht, Geld zurückzulegen. Doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Nachdem George gestorben war, hatte sie herausfinden müssen, dass der Schuldenberg, den er ihr hinterlassen hatte, noch größer war, als sie gedacht hatte. Nicht einmal der Erlös aus dem Verkauf seines Geschäftes hatte ausgereicht, die ausstehenden Forderungen zu begleichen, und so hatte Jackie all ihre Ersparnisse aufgebraucht, um Georges Schulden abzustottern. Und angesichts des geringen Lohnes, den Rik ihr zahlte, war sie auch kaum in der Lage, noch einmal Geld anzusparen.

„Ich bezahle dich anständig“, hatte er gesagt. „Immerhin lasse ich dich umsonst hier wohnen. Würdest du woanders arbeiten, müsstest du Miete bezahlen.“

Er hatte recht. Verzweifelt hatte sie sich nach einem neuen Job umgesehen, aber sie hatte keinen gefunden, mit dem sie dieser Misere hätte entfliehen können. Jetzt fühlte sie sich wie gefangen und konnte nur auf ein Wunder hoffen, das ihr einen Ausweg bot.

Jackie ging unter die Dusche und wählte ihre Kleidung danach sorgfältig aus. Sie bot ein Bild perfekter Effizienz – ideal für die Arbeit, die ihr gesamtes Leben einnahm –, aber sie war mit ihrem Aussehen wenig zufrieden. In ihren eigenen Augen war sie viel zu farblos.

Dann öffnete sie ihren Laptop und loggte sich bei ihrer Bank ein, um ihren Kontostand zu überprüfen. Was sie sah, ließ Jackie verzweifelt aufstöhnen. Trotz ihrer Bemühungen, so sparsam wie möglich zu leben, hatte sie kaum noch Geld.

Entmutigt ging sie auf eine Astrologie-Website und las ihr Horoskop.

Das Schicksal hält einen fantastischen Neuanfang für Sie bereit. Die Jupitersonne bringt eine völlig unerwartete Wendung und Entscheidungen, die Ihr Leben verändern werden.

Na klar, dachte Jackie verbittert. Letzte Woche hatte ihr Horoskop behauptet, dass sie bald Millionärin wäre. Und man sah ja, was daraus geworden war. Sie las die ihr versprochenen Aussichten ein zweites Mal und eilte dann hinunter ins Erdgeschoss, um den Laden aufzuschließen. Nachdem sie ein paar Kunden bedient hatte, sah sie sich im Laden um.

Die Auswahl, die das Geschäft bot, war vielfältig und umfasste unter anderem Haushaltsartikel und Lebensmittel. Schon oft hatte Jackie versucht, Rik bei der Sortimentsauswahl zu mehr Fantasie zu überreden – erfolglos.

„Das hier ist ein praktischer Laden, in dem praktische Dinge verkauft werden“, hatte er unfreundlich erwidert. „Du bist viel zu verspielt, Jackie, und das ist dein Problem. Du willst im Leben immer nur Spaß haben, aber dafür ist das Leben nicht gemacht.“

„Nicht immer Spaß“, hatte sie protestiert. „Nur ab und zu ein wenig Abwechslung. Daddy hat das genauso gesehen.“

„Dein Vater hat zu viel Zeit mit der Suche nach Abwechslung verschwendet, und das hat ihn ruiniert.“

Etwas hat ihn ruiniert …“, entgegnete Jackie seufzend. „Aber ich glaube nicht, dass es das war.“

„Mach dich wieder an die Arbeit und hör auf, meine Zeit zu verschwenden.“

Während des Fluges von Rom nach London grübelte Vittorio darüber nach, wohin ihn die Suche nach George Benton wohl führen würde. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, dass er überhaupt nicht verpflichtet war, George zu finden. Wer würde es schon erfahren, wenn er es nicht täte?

Doch mit seinem Gewissen konnte er es nicht vereinbaren. Sein Versprechen hatte seinem Vater in seinen letzten Momenten Frieden geschenkt. Wenn Vittorio sein Wort nicht hielt, würde ihn sein schlechtes Gewissen bis an sein Lebensende verfolgen.

Francos Tod hatte alles verändert. Er hatte von dem erhebenden Gefühl gesprochen, Conte Martelli zu werden, und Vittorio hatte schnell herausgefunden, dass sein Vater recht gehabt hatte. Als ihn das erste Mal jemand mit Signor Conte angesprochen hatte, wollte er seinen Ohren nicht trauen. Seine Angestellten begegneten ihm jetzt mit größter Achtung, beinahe ehrfürchtig.

Auf der Suche nach Hinweisen auf die Vergangenheit seines Vaters und nach George Benton war Vittorio die Papiere seines Vaters durchgegangen. Er hatte ein Foto mit den beiden Männern gefunden, das vor vielen Jahren während Francos Englandreise aufgenommen sein musste.

Wie alt mochte Benton jetzt sein? Wahrscheinlich in den besten Jahren. Würde er Rache üben wollen an der Familie, die ihn um ein Vermögen betrogen hatte? Vittorio konnte nicht behaupten, dass er sich auf das Treffen freute, doch er hatte keine andere Wahl.

Unter den Dokumenten seines Vaters hatte Vittorio auch einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel gefunden, in dem von einem Geschäft namens Benton’s Market die Rede war. Zwei Fotos zeigten einen kleinen, etwas heruntergekommenen Laden und George Benton, der deutlich älter aussah als der Mann auf dem Bild mit Franco.

Es waren die einzigen Hinweise, die Vittorio jetzt hatte.

Am Flughafen nahm er ein Taxi und studierte während der Fahrt einen Stadtplan von London. Die Gegend, in die er wollte, lag nördlich der Themse im Osten der Stadt. Als sie sich ihrem Ziel näherten, fragte Vittorio den Taxifahrer: „Gibt es hier in der Nähe ein Hotel?“

„Hier ist eins direkt um die Ecke, aber es ist ziemlich teuer.“

„Das macht nichts. Setzen Sie mich bitte dort ab.“

Das Hotel war ansprechend luxuriös. Er buchte ein Zimmer und machte sich dann auf den Weg, die Gegend zu erkunden.

Fast sofort fiel sein Blick auf einen Eckladen mit dem Schild Benton’s Market. Vittorio atmete tief durch, ballte die Fäuste und sagte sich, dass er jetzt nicht die Nerven verlieren durfte.

Ganz in der Nähe befand sich ein kleines Café mit ein paar Tischen vor der Tür. Er fand einen freien Platz, bestellte einen Kaffee und zog das Foto von Benton aus der Jackentasche. Von dort, wo er saß, konnte er gut genug durch die Schaufenster in den Laden hineinsehen, um zu erkennen, ob der Mann da war.

Doch auch nachdem er geraume Zeit gewartet hatte, war nichts von Benton zu sehen – nur eine junge Frau, die voller Konzentration das größte der Schaufenster dekorierte.

Vittorio bewunderte die Hingabe, mit der sie sich ihrer Aufgabe widmete, und ihre Liebe zum Detail. Eine solche Angestellte hätte er auch gerne in seinem großen Kaufhaus in Rom gehabt.

Als plötzlich ein Mann aus dem hinteren Teil des Ladens in sein Blickfeld trat, spannte Vittorio die Schultern an. War das Benton? Der Mann hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Foto. Seine Gesichtszüge wirkten streng, sein Gebaren der jungen Frau gegenüber war mürrisch. Als er zu sprechen begann, konnte Vittorio durch die offene Ladentür hindurch jedes Wort verstehen.

„Musst du unbedingt so viel Zeit mit diesem Schnickschnack verplempern? Hinten wartet neue Ware, die ausgepackt werden muss.“

„Aber ich dachte, wir hätten uns geeinigt …“, hob die Frau an.

„Tu einfach, was ich dir sage. Los jetzt.“

Mit verärgertem Gesichtsausdruck zog die Frau sich nach hinten zurück.

Vittorio stand auf und betrat das Geschäft.

„Ich hätte gerne ein paar Äpfel“, sagte er.

„Die haben wir da drüben“, antwortete der Mann. „Nein, warten Sie. Wir hatten sie da drüben. Wo hat das dumme Ding sie nur hingepackt?“

„Außerdem würde ich gerne Mr. Benton sprechen.“

Der Mann sah Vittorio böse an. „Was wollen Sie von ihm?“, fragte er misstrauisch. „Sind Sie Schuldeneintreiber?“

„Nein, es geht um etwas Persönliches.“

„Nun, Sie können ihn nicht sprechen. Er ist tot.“

„Tot?“ Vittorio erstarrte. „Wann ist er gestorben?“

„Vor einem Jahr. Aber seine Tochter arbeitet noch hier.“

„Ich glaube, ich habe sie eben gesehen. Kann ich mit ihr sprechen?“

„Das können Sie, aber nicht jetzt. Sie muss arbeiten. Sie werden warten müssen, bis sie Feierabend hat.“

Entmutigt verließ Vittorio das Geschäft und ließ sich wieder vor dem Café nieder, um den Laden zu beobachten. Er musste mit Bentons Tochter reden und darauf hoffen, dass sie eine vernünftige Frau war, die eine finanzielle Entschädigung akzeptieren und die Sache dann auf sich beruhen lassen würde.

Den ganzen Nachmittag lang sah Vittorio zahlreiche Kunden Benton’s Market betreten. Die junge Frau behandelte jeden von ihnen zuvorkommend und freundlich; jedem schenkte sie ein Lächeln. Und kein Kunde verließ das Geschäft mit leeren Händen.

Es schien, als sei Bentons Tochter die geborene Verkäuferin.

Jackie hatte viel zu tun. Endlich aber war es an der Zeit, den Laden zu schließen, doch noch bevor sie dazu kam, erschien Rik.

„Du kannst noch nicht gehen“, blaffte er sie an. „Wir müssen über die neuen Bestellungen reden.“

„Ich kann nicht bleiben.“ Sie lächelte ihn schief an. „Und wenn wir ganz ehrlich sind, zahlst du mir auch nicht genug, als dass ich Überstunden machen wollte.“

„Werde nicht unverschämt. Ich bezahle dich anständig. Wenn du besser arbeiten würdest, würde ich dir vielleicht mehr zahlen.“

„Es ist nicht meine Schuld, dass wir nicht mehr umsetzen“, erwiderte Jackie entrüstet. „Ich bin der Meinung, dass du die falschen Artikel bestellst.“

„Und ich bin der Meinung, dass du dich nicht genügend anstrengst“, sagte Rik kalt.

Die Wut hatte ihn laut werden lassen.

Vittorio, der nur wenige Meter entfernt saß, hörte ihn durch die offene Tür. Er erhob sich und ging in Richtung Laden, aus dem noch immer Riks grantige Stimme drang.

„Ich habe dich nicht gebeten zu bleiben, sondern ich verlange es von dir. Und jetzt werden wir über die Bestellungen sprechen!“

„Nein.“

Sie hatte Rik schon früher nachgegeben, ohne auch nur einen Penny mehr Lohn zu erhalten.

„Jackie …“

„Wir können morgen weiterreden“, sagte sie erschöpft.

Sie hielt es nicht mehr aus, mit Rik im Laden zu sein. Sie drehte sich um, rannte in Richtung Tür – und in einen Mann, der soeben das Geschäft betrat. Fast wäre sie zu Boden gestürzt, und fast hätte sie ihn mit sich gerissen.

„Entschuldigen Sie bitte …“, keuchte sie.

„Nein, entschuldigen Sie bitte“, entgegnete Vittorio und hielt sie fest.

„Du kommst jetzt zurück“, giftete Rik und packte Jackie unsanft am Arm.

„Lass mich in Ruhe!“, rief sie.

„Ich lasse dich in Ruhe, wenn du getan hast, wofür ich dich bezahle.“

Das letzte Wort entrang sich seiner Kehle mit einem lauten Jaulen, denn Vittorio hatte Riks Handgelenk mit hartem Griff umfasst.

„Lassen Sie sie sofort los“, herrschte Vittorio ihn an.

„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, heulte Rik auf.

„Ich habe gesagt, Sie sollen sie loslassen. Und wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, tun Sie besser, was ich sage.“ Er klang entschlossen und unnachgiebig.

Jackie spürte, wie Riks schmerzhafter Griff sich lockerte und schließlich löste.

Sie sah ihn an und stellte fest, dass er vor Wut schäumte. Schnell folgte sie Vittorio zur Tür, wo er schützend den Arm um sie legte.

„Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte nicht, dass Sie meinetwegen Streit mit Ihrem Boss bekommen.“

„Geben Sie nicht sich die Schuld. So ist er immer.“ Sie seufzte. „Ich fürchte, ich habe Sie beinahe umgerannt.“

„Nein, ich habe Sie umgerannt.“

„Aber Sie sind fast gestürzt. Haben Sie sich verletzt? Es sah aus, als wären Sie umgeknickt.“

„Nur ein bisschen.“

„Sie sollten sich hinsetzen. Lassen Sie uns in das Café gehen.“

Drinnen setzen sie sich an einen Tisch in der Ecke, riefen den Kellner und bestellten Kaffee. Als die Getränke gebracht wurden, atmete Vittorio tief durch.

„Signorina …“

„Ich heiße Jacqueline Benton. Die meisten Leute nennen mich Jackie.“

„Danke – Jackie.“

„Sie haben mich Signorina genannt. Kommen Sie aus Italien?“, fragte sie erwartungsvoll.

„Ja, ich heiße Vittorio.“

Die Tatsache, dass er Italiener war, schien Jackie zu erfreuen. Lächelnd hielt sie ihm die Hand hin „Buon giorno, Vittorio.“

Buon giorno, Jackie.“

„Ich bin Ihnen wirklich dankbar für das, was Sie da drinnen für mich getan haben – dass Sie mich vor Rik gerettet haben.“

„Es muss ein Albtraum sein, für ihn zu arbeiten. Aber wahrscheinlich sind Sie jetzt sowieso arbeitslos.“

„Eher nicht. Sie haben recht – er ist ein Albtraum. Aber so was wie heute ist auch früher schon passiert. Nachher hat er sich immer entschuldigt.“

Wie bitte? Das zu glauben fällt schwer.“

„Ist es auch. Aber wenn ich ginge, wäre es ziemlich schwer für ihn, jemanden zu finden, an dem er seine schlechte Laune ablassen kann und der sich im Laden so gut auskennt, wie ich es tue.“

„Dann zeigt er also nur Anstand, weil es ihm selber nutzt?“

„Ja sicher. Aber ich denke, dass trifft auf alle Menschen zu. Wir alle verhalten uns so, dass es uns nützt. Die Gefühle anderer spielen da keine große Rolle.“

Vittorio fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. Konnte es sein, dass Jackie wusste, warum er hier war?

Aber sie lächelte ihn freundlich an, und er befahl sich, die Ruhe zu bewahren.

„Bei Ihnen kann ich mir das nur schwer vorstellen“, sagte er sanft.

„Oh, ich kann auch ganz schön egoistisch sein, wenn ich will.“ Verschmitzt lächelte sie ihn an. „Sie würden nie glauben, wie weit ich gehen würde, um meinen Willen zu bekommen.“

Angetan von ihrem spitzbübischen Humor, erwiderte Vittorio ihr Lächeln.

„Doch, ich glaube Ihnen jedes Wort. Aber bei mir müssen Sie nicht sehr weit gehen. Sagen Sie mir einfach, was Sie haben wollen, und ich kümmere mich darum.“

Jackie musste an ihr Horoskop denken.

An einen charmanten, gut aussehenden Mann, der ihr seine Dienste anbot, hatte sie dabei nicht gedacht.

Vittorio musterte Jackies Gesicht. Er glaubte, ihre Gefühle darin lesen zu können. Wir könnten vermutlich ziemlich viel Spaß miteinander haben, dachte er. Nicht nur ihr Humor, auch die Wärme in ihrem Blick zog ihn an.

„Rik hat gesagt, dass ein Mann nach meinem Vater gefragt hat. Waren Sie das?“

„Ja. Es tut mir leid, dass er tot ist.“

„Warum wollten Sie mit ihm sprechen?“

Vittorio zögerte, denn er wollte die entspannte Atmosphäre, die zwischen ihnen herrschte, nicht zerstören.

„Vor vielen Jahren hat mein Vater ihn gekannt“, antwortete er vorsichtig.

„Wie haben sie sich kennengelernt? War Ihr Vater einer von Daddys Lieferanten?“

„Nein, er war kein Händler. Er war Conte Martelli.“

Er erwartete, dass Jackie wie alle anderen Menschen mit Entzücken auf seinen Adelsstand reagieren würde, doch sie fragte nur ironisch: „Ein Conte? Sie sind der Sohn eines Grafen? Nehmen Sie mich gerade auf den Arm?“

„Nein, das tu ich nicht. Und, da mein Vater gestorben ist, bin ich jetzt der Graf.“

Jackie lachte auf. „Sie müssen mich für ziemlich naiv halten.“

„Glauben Sie mir etwa nicht?“

„Mein Vater hat nicht ein einziges Mal erwähnt, dass er einen Grafen kennt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er jemals mit einem Aristokraten befreundet war – nicht so arm, wie wir immer gewesen sind.“

„War er wirklich so arm? Immerhin hat er sein eigenes Geschäft aufgemacht.“

„Er hat sich viel Geld geliehen, um den Laden kaufen zu können. Er hat nie so viel Gewinn gemacht, wie er gebraucht hätte, und wir haben immer am Rande des Existenzminimums gelebt.“

„Sie müssen ein sehr trauriges Leben geführt haben.“ Vittorio fühlte sich schrecklich.

„Ich weniger als er. Aber die Armut hat die Ehe meiner Eltern zerstört. Sie hat ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Jahrelang hatten mein Vater und ich nur einander. Ich habe ihn angebetet. Er war ein wunderbarer Mensch … gutherzig, großzügig. Ich habe im Laden gearbeitet, um ihn zu unterstützen. Es war nicht das Leben, das ich geplant hatte – ich hatte eigentlich davon geträumt zu studieren. Aber ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Am Ende war er gezwungen zu verkaufen. Rik hat den Preis nach unten getrieben, aber er hat mir den Job angeboten und uns die Wohnung gelassen. Ich habe für Daddy getan, was ich konnte, aber es hat nicht gereicht. Letztes Jahr ist er gestorben.“

Vittorio senkte den Kopf und starrte auf den Fußboden. Nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen hatte er sich vorgestellt, dass es so übel kommen würde. Wenn George Benton das ihm zustehende Geld bekommen hätte, wäre sein ganzes Leben anders verlaufen. Und er wäre vielleicht noch am Leben.

Was würde Jackie sagen, wenn sie die Wahrheit erführe?

Vittorio ballte die Fäuste und versuchte, Mut zu sammeln, um das Richtige zu tun.

Doch es gelang ihm nicht. Zu seiner Erleichterung trat in diesem Moment der Kellner an ihren Tisch.

„Wir schließen gleich.“

„Dann gehen wir wohl besser“, sagte Vittorio eilig und versuchte, seine Erleichterung zu verbergen.

Draußen war es bereits dunkel geworden. Er begleitete Jackie zurück zum Laden und fragte sich, ob sie ihn wohl hereinbitten würde. Doch sie sagte nur: „Ich freue mich, dass wir uns kennengelernt haben. Vielen Dank für den Kaffee.“

„Gern geschehen. Jackie …“ Unsicher brach er ab.

„Ja?“

„Nichts. Vielleicht können wir uns noch ein Mal treffen. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“

„Sehr gerne. Wie wäre es mit morgen?“

„Ich werde Sie abholen.“

Sie trat in den Laden und schloss die Tür hinter sich ab. Vittorio blieb allein zurück.

Er hätte ihr alles erzählen sollen, doch ihm war klar, dass die Wahrheit ihr große Schmerzen zufügen würde. Noch schreckte er davor zurück, ihr diesen Schlag zu versetzen.

Er hatte jeden Schritt geplant, wie er George Benton gegenübertreten würde. Er hätte die Situation erklärt, um Vergebung gebeten und einen Schlussstrich gezogen. Stattdessen sah er sich nun einer Frau gegenüber, deren Zartheit und Verletzlichkeit ihn tief berührten. Und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.

Nachdem er so einige Minuten vor ihrer Tür gestanden hatte, wandte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte Vittorio früh auf. Die Uhr zeigte erst halb sechs, doch es hielt ihn nicht länger im Bett. Er duschte, zog sich an und verließ das Hotel.

Er genoss die frische Luft und das sanfte Morgenlicht, den Frieden dieser frühen Stunde. Doch dann entdeckte er etwas, das ihn beunruhigte. Weit entfernt von ihm ging eine junge Frau. Details konnte er kaum ausmachen, doch sie sah aus wie Jackie.

Weil er sich sicher sein wollte, beschleunigte er seine Schritte und folgte ihr. Sie ging zum Fluss, setzte sich auf eine Bank und sah aufs Wasser. Vittorio näherte sich ihr, gefangen von dem Eindruck, dass sie in eine ganz eigene Welt versunken schien.

Plötzlich hob sie den Kopf.

„Vittorio? Was machst du so früh hier draußen? Oh, ich darf doch du sagen?“

„Natürlich. Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte mir ein bisschen die Beine vertreten. Wie geht es dir, Jackie? Machst du dir Sorgen wegen Rik?“

„Nein. Es geht mir gut, ehrlich.“

„Bitte vergib mir, aber das glaube ich dir nicht.“ Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. „Du hast geweint.“

„Nur ein bisschen.“

Überwältigt von dem Wunsch, sie zu beschützen, nahm er sie in die Arme. Nie zuvor hatte er so etwas in sich gespürt: das Bedürfnis, jemanden zu beschützen. Das Gefühl war höchst verstörend. Denn er würde ihr etwas erzählen müssen, das ihr das Herz brechen würde, und er war sich nicht sicher, ob er das über sich bringen würde.

„Halt dich an mir fest“, sagte er leise. „Alles wird gut.“

„Manchmal denke ich, dass es nie gut sein wird“, sagte sie. „Tut mir leid, dass ich das bei dir ablade, aber ich kann nicht über Daddy sprechen, ohne …“

„Ohne an all das Schlimme zu denken, das ihm widerfahren ist?“

„Ich weiß nicht warum, Vittorio, aber ich habe das Gefühl, mit dir über alles reden zu können.“

Sie sah zu ihm auf, und beim Anblick ihrer verletzlichen Züge wurde Vittorio von dem Wunsch überwältigt, sie zu küssen. Er gab ihm nach, legte seine Lippen aber nur auf ihre Stirn.

„Möchtest du mir mehr erzählen?“, murmelte er leise.

„Eine so furchtbare Geschichte möchtest du gar nicht hören.“

Sie ahnt nicht, wie sehr sie damit recht hat, dachte Vittorio unglücklich. Aber er war es ihr schuldig.

„Jackie, du kannst mir alles erzählen.“

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich weiß nicht genau, was ich erzählen soll, denn es ist nicht meine Tragödie.“

„In gewisser Weise schon. Es ist auch dein Verlust. Du wolltest an die Uni. Was wolltest du studieren?“

„Fremdsprachen. Ich glaube, das hätte mir gelegen.“

Verschmitzt sah er sie an.

„Buon per te, signora. La maggior parte delle persone non possono far fronte con le lingue.“

Gut für dich, Signora, die meisten Menschen tun sich schwer mit Fremdsprachen.

„Mit Italienisch komme ich am besten klar“, sagte Jackie. „Ich habe ein paar Kurse an der Abendschule gemacht, weil wir zusammen in den Urlaub nach Italien fahren wollten. Mein Vater hatte solche Sehnsucht nach dem Land. Als junger Mann war er einmal da gewesen.“

„Hat er dir von dieser Reise erzählt?“

„Ja. Er hat gesagt, dass er selten so viel Spaß gehabt hat.“

„Hat er nie von meinem Vater erzählt?“

„Er hat von einem italienischen Freund erzählt, aber nie davon gesprochen, dass er ein Graf war. Sie hatten sich in Italien kennengelernt und wenige Wochen später in England wiedergetroffen. Nach dem, was mein Vater erzählt hat, sind sie wirklich gut miteinander ausgekommen.“

Vittorio nickte. „Ja, das hat auch Papà erzählt – ich glaube, sie haben das eine oder andere Abenteuer erlebt, als er hier in England war.“

„Das glaube ich auch. Er hat den Besuch seines italienischen Freundes sehr genossen. Bis dann …“ Jackie richtete sich auf.

„Bis dann?“, fragte Vittorio angespannt. Er hatte das ungute Gefühl, bereits zu wissen, was als Nächstes kam.

„Bis dann plötzlich alles vorbei war. An einem Tag noch waren sie enge Freunde gewesen – und am nächsten Tag war der Freund verschwunden. Zwar hatte er eine Nachricht hinterlassen, doch die verriet nicht viel. Lediglich Mach es gut, mein Freund. Franco. Keine Adresse, nichts. Daddy konnte keinen Kontakt mit ihm aufnehmen und hat nie wieder von ihm gehört. Nachdem, was sie einander bedeutet hatten, hat ihn das sehr getroffen.“

„Das hat er dir erzählt? Sonst hat er nichts darüber gesagt, wer dieser Mann war?“

„Nein, nur, dass er Franco hieß. Hätte er mehr gewusst, hätte er mir das erzählt; dessen bin ich mir sicher. Vielleicht hat dein Vater ihm nie erzählt, dass er ein Graf war.“

„Vielleicht …“, murmelte Vittorio.

Ihre Blicke trafen sich, und das, was Jackie sah, nahm ihr den Atem. Sein Blick war so intensiv, als gäbe es nur sie auf dieser Welt. Eine solche Intensität hatte sie noch bei keinem anderen Mann wahrgenommen. Plötzlich spürte sie ihr Herz heftig pochen.

„Jackie …“ Vittorio versuchte sich zu sammeln, selbst wenn er nicht wusste, was er als Nächstes sagen sollte. Die ganze Geschichte erforderte mehr Mut, als er sich vorgestellt hatte.

„Was hast du?“, fragte Jackie. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja … aber es gibt etwas, das …“

Plötzlich fühlte Jackie sich, als bräche die Sonne durch die Wolken eines langen Regentages. Sie hatte kaum zu hoffen gewagt, dass die strahlende Anziehungskraft, die sie in seiner Anwesenheit spürte, auch von ihm Besitz ergriffen hatte. Aber vielleicht war es ja doch so.

Vielleicht stimmte ihr Horoskop ja, und Vittorio würde ihr gleich offenbaren, wie sehr ihre Begegnung ihn im tiefsten Herzen berührt hatte. So, wie ihr eigenes Herz es sich sehnlichst wünschte.

Sie nahm seine Hand.

„Was immer du mir sagen willst, ich weiß, dass es mir gefallen wird“, sagte sie leise. „Wir haben einander vom ersten Augenblick an verstanden, und …“

„Ja …“, murmelte er. „Ja …“

Vittorio wusste, dass die nächsten Minuten schwierig werden würden, aber Jackie hatte etwas an sich, das ihn ergriff und mit einer Wärme umgab, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Es war das, was er auf dieser Welt am meisten brauchte, und er hatte Angst, dass seine Enthüllung alles zwischen ihnen zerstören würde.

Er nahm ihre Hand und küsste sie. „Ich hoffe so sehr, dass du recht hast“, sagte er. „Aber du kannst dir nicht vorstellen …“

„Ich glaube, das kann ich doch. Daddy hat immer gesagt, dass man auf das Unerwartete vorbereitet sein muss.“ In ihrem Blick lag Hoffnung, als sie ihn ansah. „Ich bin zu allem bereit. Sag es, Vittorio, und vielleicht gefällt dir meine Antwort ja.“

Scharf sog Vittorio die Luft ein. Der Moment, in dem er den Mut finden musste, ihr alles zu erzählen, war gekommen. Doch er brachte es nicht über sich.

„Ich muss gehen“, sagte er beklommen.

„Was? Aber …“

„Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Ich muss zurück ins Hotel.“

Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Zögernd folgte Jackie ihm. Der magische Moment hatte sich in Luft aufgelöst, und sie fühlte sich leer und ausgehöhlt.

Während sie nebeneinander den Fluss entlanggingen, begann es zu nieseln. Ihre Schritte wurden schneller, bis sie vor dem Laden standen.

„Wir sehen uns bald wieder. Dann können wir reden“, sagte er. „Pass bis dahin gut auf dich auf.“

Damit wandte er sich um und ging. Innerlich verfluchte er sich als Feigling. Er hatte nicht erwartet, dass sein Bedürfnis, Jackie festzuhalten, sie zu trösten und zu beschützen, so groß sein würde. Er wollte alles tun – außer sie zu verletzen. Er fühlte sich unendlich hilflos.

Drinnen hastete Jackie die Treppe hoch und blickte aus dem Fenster. Sie sah Vittorio gerade noch um die Ecke verschwinden.

Sie stieß einen traurigen Seufzer aus. Es war klar, was passiert war. Er hatte sie küssen wollen, es sich dann aber im letzten Moment anders überlegt.

Sie hatte den Eindruck gehabt, dass er ihr etwas mitteilen wollte. Oder hatte sie ihn falsch verstanden? Doch er schien kurz davor gewesen zu sein, ihr etwas zu sagen.

Was mochte das nur sein?

Sie beeilte sich, den Laden aufzuschließen. Samstags war immer viel zu tun, doch sie musste die ganze Zeit an Vittorio denken. An den Ausdruck in seinen Augen, der ihr Herz hatte schneller schlagen lassen.

Am nächsten Tag blieb der Laden geschlossen. Aus Angst, Jackie zu verpassen, machte Vittorio sich früh auf den Weg dorthin. Am Morgen zuvor hatte ihn der Mut verlassen, doch das würde ihm kein zweites Mal passieren.

Über ihm wurde ein Fenster geöffnet, und er hörte eine kühle Stimme: „Guten Morgen, Vittorio.“

Jackie sah zu ihm hinunter.

„Guten Morgen!“, rief er lächelnd. „Kannst du runterkommen?“

„Ich weiß nicht …“

„Bitte, Jackie. Es ist wichtig. Wir müssen miteinander reden.“

„Das hätten wir auch gestern tun können.“

„Bitte.“

„Na gut. Gib mir eine Sekunde.“

Voller Hoffnung eilte sie die Treppe hinunter. Vittorio hatte sich ihr genähert und sich dann doch wieder zurückgezogen. Jetzt war er wiedergekommen. Der Traum, auf den sie so lange gewartet hatte, musste heute einfach wahr werden. Natürlich kannten sie sich erst seit Kurzem, doch was bedeutete schon Zeit, wenn ihre Herzen füreinander schlugen?

Vielleicht waren seine Gefühle für sie ja stärker, als ihm bewusst gewesen war, und er hatte sich davor gefürchtet, sie auszusprechen. Aber sie würde ihm mit offenen Armen entgegenkommen, und gemeinsam würden sie glücklich werden.

Sobald sie unten vor die Tür trat, legte Vittorio ihr einen Arm um die Schultern.

„Lass uns ins Café frühstücken gehen. Dort ist es gemütlich.“

„Und wir können in Ruhe reden“, ergänzte Jackie erwartungsvoll.

Nachdem sie an einem Tisch Platz genommen hatten, verfiel Vittorio in tiefes Schweigen, als wären ihm im letzten Moment Zweifel gekommen. Jackie verließ der Mut.

„Vittorio, bitte sprich mit mir. Was immer du auf dem Herzen hast, ich kann doch sehen, dass es wichtig ist.“

„Ja, das ist es“, gab er zögerlich zu.

„Dann nimm deinen Mut zusammen und sag es mir. Hast du Angst vor meiner Reaktion?“

„Kann sein“, antwortete er. „Du hast keine Vorstellung …“

Sie berührte sein Gesicht. „Erzähl’ es mir. Lass es nicht zwischen uns stehen.“

„Ja“, murmelte er. „Du hast recht. Erinnerst du dich daran, dass wir gestern über deinen Vater gesprochen haben?“

„Ja, natürlich, aber …“

„Ich hätte es dir da schon sagen müssen. Es ist eine schreckliche Geschichte, Jackie, aber ich muss sie dir erzählen. Dein Vater hat einmal bei einer Wette eine Million Pfund gewonnen.“

Sie starrte ihn an. „Das ist unmöglich. Er hätte es mir erzählt –, und wenn es so gewesen wäre, hätten wir nie so gelebt, wie wir es getan haben.“

„Er hat nichts davon gewusst. Als mein Vater hier in London war, sind die beiden abends feiern gegangen. Aus Spaß waren sie auch in einem Wettbüro und haben etwas Geld gesetzt. Dein Vater war ziemlich beschwipst und hat geschlafen, als die Wettergebnisse verkündet wurden. Als er wieder aufgewacht war, hatte mein Papà den Gewinn bereits eingesteckt und schließlich auch behalten.“

Jackie wollte ihren Ohren nicht trauen. Vittorios Worte wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Nur eines war klar.

Das, was sie gerade gehört hatte, war nicht das, was sie erwartet hatte.

„Was zum Teufel sagst du da?“, fragte sie. „Willst du etwa behaupten, er hat Daddy nicht gesagt, dass er gewonnen hatte? Das wäre unehrlich gewesen und ganz sicher …“

„Es war das einzige Mal, dass er unehrlich gewesen ist, und es hat ihn sein Leben lang gequält. Er hat mir erst kurz vor seinem Tod davon erzählt.“

„War es das – das, was du mir erzählen wolltest?“

„Ja. Ich habe lange gebraucht, bis ich den Mut hatte, dir zu sagen, dass meine Familie deine ruiniert hat. Das wirst du mir kaum vergeben können. Wahrscheinlich hasst du mich in genau diesem Moment.“

Damit war Vittorio der Wahrheit näher, als er ahnte. Jackie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Dann begann sich in ihrem Innerem eine unbändige Wut auszubreiten.

„Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss“, sagte Vittorio. „Ich bin mir nicht sicher, wie es bei dir ankommt.“

„Sag es einfach“, flüsterte Jackie mit neu aufkeimender Hoffnung.

„Ich musste Papà versprechen, dass ich deinen Vater finden würde und die Dinge wieder geraderücke.“

„Geraderücken? Was soll das heißen?“

„Ich sollte ihm das Geld geben, das Papà ihm genommen hat. Eine Million Pfund. Ich hatte gehofft, dass ich es so wiedergutmachen könnte.“

„Du hast was gehofft?“, fragte Jackie fassungslos. „Hast du wirklich geglaubt, dass man so etwas nach so vielen Jahren wiedergutmachen kann? Nachdem Daddy derart unter unserer Armut gelitten hat und seine Frau ihn deshalb verlassen hat? Nachdem er an seiner Verzweiflung gestorben ist? Du kannst ihm das Geld jetzt nicht mehr zurückgeben!“

„Ich werde es dir geben.“

„Denkst du, das macht sein Leiden wieder gut?“

„So hatte ich es nicht gemeint“, entgegnete Vittorio nervös.

„Oh doch, das hast du. Du glaubst, mit Geld kann man alles regeln –, aber wenn ein Mensch tot ist, kann es gar nichts mehr regeln. Aber das verstehst du nicht, oder? Stell einen Scheck aus, und alles ist gut! In der Geschäftswelt stimmt das vielleicht, aber nicht im richtigen Leben. Aber was weißt du schon vom richtigen Leben!“

„Jackie, bitte … lass es mich erklären. Ich möchte nur …“

„Du möchtest nur ein gutes Gefühl haben.“

„Ich glaube nicht, dass man mit Geld alles regeln kann, aber ich möchte die Schuld meiner Familie zurückzahlen.“

„Das ist doch alles ein Riesenschwindel. Soll ich dir wirklich abkaufen, dass du einfach so eine Million Pfund bezahlen kannst?“

„Du glaubst, ich habe so viel Geld nicht? Du irrst dich. Mein Vater hat die Million, die er gewonnen hat, gut angelegt.“

„Die Million, die er meinem Vater gestohlen hat, meinst du wohl.“ Jackie schäumte vor Wut.

„Ja. Die er deinem Vater gestohlen hat. Aber er wollte sie zurückzahlen. Er hat sie so investiert, dass sie sich vervielfacht hat. Ich kann dir jeden Penny zurückgeben – plus Zinsen.“

„Du glaubst wirklich, dass es so einfach wäre, oder? Ich würde dein Geld nicht mal annehmen, wenn ich am Verhungern wäre. Dieses Gespräch ist beendet.“ Sie stand auf. „Und wage es nicht, mir zu folgen.“

Vittorio streckte eine Hand nach ihr aus, um sie zurückzuhalten, doch die Heftigkeit ihrer Reaktion ließ ihn zögern.

„Bitte …“, hob er an.

„Nein. Verstehst du? Nein.“

Voller Angst, ihre wahren Gefühle nicht länger verbergen zu können, floh Jackie aus dem Café. Anstatt ihr, wie sie gehofft hatte, seine Liebe zu gestehen, hatte er ihr eine grauenvolle Geschichte erzählt, die sie zutiefst erschütterte – und ihr Geld angeboten! Wenn sie noch länger geblieben wäre, hätte sie für nichts mehr garantieren können.

Aufgewühlt blieb Vittorio zurück. Schuldgefühle übermannten ihn. Nichts war so gelaufen, wie er es gewollt hatte. Es war ihm nicht gelungen, den letzten Wunsch seines Vaters zu erfüllen.

Er beglich die Rechnung, trat auf die Straße und ging in Richtung Benton’s Market. Von Jackie war nichts zu sehen.

Ihm blieb nicht anderes übrig, als ins Hotel zurückzukehren und über sein weiteres Vorgehen nachzudenken.

Den ganzen restlichen Tag über wurde Jackie von den unglaublichen Ereignissen des Vormittags verfolgt. Auch abends noch war sie zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Sie nahm ihren Laptop, setzte sich aufs Bett und suchte im Internet nach Conte Vittorio Martelli. Als sie fündig wurde, erkannte sie ihn auf dem Foto sofort. Es bestand kein Zweifel. Auch ein Foto seines Vaters öffnete sie.

Als sie an Vittorios Versuch dachte, ihr eine Million Pfund zu geben, um seine Familie von Schuld reinzuwaschen, regte sich erneut der Zorn in ihr. Aber in ihren Ärger mischte sich etwas anderes. Unsicherheit. Hatte sie vielleicht doch überhastet reagiert? War wieder einmal ihr Temperament mit ihr durchgegangen?

Sie sah das Leiden ihres Vaters noch deutlich vor sich. Um sie zu schonen, hatte er oft eine heitere Maske aufgesetzt, doch immer war es ihm nicht gelungen. Manches Mal hatte Jackie ihn weinend vorgefunden. Dann hatte er sie angelächelt und zu beruhigen versucht, doch im Laufe der Zeit hatte Jackie das ganze Ausmaß seiner Schulden erkannt. Es hatte ihr fast das Herz gebrochen. Sie hatte versucht, ihn zu trösten und ihm Freude zu schenken.

Doch sein letztes Lebensjahr war trauriger, als sie sich jemals hatte vorstellen können. Noch immer brach sie bei der Erinnerung an sein Leid in Tränen aus.

Und Vittorio glaubte, dass Geld eine Lösung für alles war.

Doch sie wusste auch, dass es noch einen weiteren Grund für ihren Zorn gab.

Sie hatte gehofft, dass er Gefühle für sie entwickelt hatte, aber diese Hoffnung hatte sich in Luft aufgelöst.

Er hatte einfach nur ein Spiel gespielt, bis er schließlich das hatte, was er haben wollte.

Dann nimm das Geld doch an, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Er hat dir eine Million angeboten – plus Zinsen.

Weil er gedacht hatte, er könnte so wiedergutmachen, was sein Vater angerichtet hatte. Wenn er nicht ein so herzloses Ungeheuer wäre, wüsste er, dass nichts auf der Welt es jemals wiedergutmachen konnte.

Was hätte ihr Vater wohl getan? Wäre er noch am Leben, wäre es etwas ganz anderes. Dann hätten sie das Geld natürlich akzeptiert, es stand ihm schließlich zu. Aber jetzt, da er tot war, konnte sie das Geld an seiner Stelle annehmen?

Sie klappte den Laptop zu und legte sich hin. Irgendwann glitt sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Vittorio war ruhelos. Er war früh eingeschlafen, doch Jackies Verachtung hatte ihn bis in seine Träume verfolgt, sodass er irgendwann schweißgebadet aufwachte.

Draußen dämmerte bereits der Morgen, und er beschloss aufzustehen und frische Luft zu schnappen. Schnell zog er sich an und verließ das Hotel.

Unablässig dachte er an das Versprechen, das er seinem geliebten Vater gegeben hatte. Er musste die Angelegenheit zu ihrer aller Gunsten regeln.

Nachdem er lange spazieren gegangen war, fand er sich schließlich vor dem Geschäft wieder. Es war bereits geöffnet, und er spähte durch das Schaufenster, sah aber niemanden. Leise öffnete er die Tür und glitt ins Ladeninnere. Sofort hörte er Stimmen, die aus dem hinteren Teil zu ihm drangen. Eine gehörte Jackie, die andere dem unangenehmen Chef, den er während seines ersten Besuches kennengelernt hatte. Seine Stimme war vor Wut verzerrt.

„Jackie, du bist verrückt. Du hättest dem Grafen abknöpfen sollen, was geht, und das Geld hier in den Laden stecken sollen! Ich könnte ein bisschen Geld gebrauchen, um Schulden zu bezahlen. Du hättest mir dabei helfen können und hast einfach abgelehnt? Wie kann man nur so dumm sein?“

Als Jackie ihm antwortete, klang sie genauso zornig wie gestern im Gespräch mit Vittorio.

„Du meinst, ich hätte sein Geld nehmen und dir geben sollen? So dumm bin ich nun auch wieder nicht!“

Vittorio trat vorsichtig näher, um besser hören zu können, blieb aber außer Sicht der beiden.

„Du hattest die Chance auf ein Vermögen und hast sie einfach verspielt! Aber vielleicht warst du ja auf etwas ganz anderes aus.“

„Was soll das denn heißen?“

„Es geht dir um ihn, oder? Du hast sein Geld nicht angenommen, weil du auf ein besseres Angebot hoffst. Du glaubst, ihn in den Hafen der Ehe locken zu können, aber da verschwendest du nur deine Zeit. Ein Mann wie er würde dich in einer Million Jahre nicht heiraten!“

„Und ich würde ihn niemals heiraten. Er ist eiskalt – und arrogant genug zu glauben, dass man mit Geld alles bekommt.“

Vittorio verzog das Gesicht. Ein kluger Mann wäre jetzt seines Weges gegangen, aber seit er Jackie kennengelernt hatte, fühlte er sich alles andere als klug.

„Man kann dafür aber eine ganze Menge bekommen“, hörte er Rik sagen. „Und ich könnte meine Schulden abbezahlen – von denen die meisten sowieso du auf dem Gewissen hast.“

„Wie kannst du so etwas behaupten?“

„Wenn du einen besseren Job machen würdest, liefe auch der Laden gut. Also geh’ zu deinem italienischen Grafen und sag ihm, dass du das Geld doch nimmst.“

„Glaubst du wirklich, ich würde …? Du bist verrückt.“

„Du musst es tun.“

„Ich muss gar nichts.“

„Ich warne dich, Jackie. Du bewegst dich auf dünnem Eis. Vielleicht gehe ich selber zu ihm …“

„Vielleicht sollten Sie das tun“, sagte Vittorio und trat vor. Beide sahen ihn erschrocken an.

Rik versuchte die Fassung zurückzugewinnen. „Wir haben hier Geschäftliches zu besprechen.“

„Das Einzige, was Sie zu tun haben, ist, mir zuzuhören“, sagte Vittorio scharf. „Sie bekommen keinen Penny.“

„Aber Sie müssen eine Schuld zurückzahlen“, jammerte Rik.

„Aber nicht Ihnen.“

„Jackie, sag du es ihm. Sag ihm, dass er bezahlen muss, was er dir schuldet.“

Jackie sah Vittorio entschlossen an. „Ich habe nichts zu sagen. Die Schuld des Grafen kann man nicht abzahlen. Niemals.“

Rik bedachte beide mit einem bösen Blick.

„So ist das also“, schäumte er. „Ihr beide steckt unter einer Decke. Sobald ich außer Hörweite bin, nimmst du das Geld, und ich bin raus!“

„Diese Angelegenheit geht dich nicht das Geringste an“, schnaubte Jackie. „Du hast den Laden zu einem fairen Preis gekauft. Deine Schulden sind allein deine Sache. Und davon abgesehen werde ich nie einen Penny vom Geld des Grafen annehmen.“

„Du bist verrückt!“, wütete Rik. „Wie kann man so eine Summe nur ablehnen? Na schön, wenn Geld für dich keine Bedeutung hat, brauchst du ja auch diesen Job nicht. Oder die Wohnung, die ich dir zur Verfügung stelle. Du bist gefeuert. Ich gebe dir eine Stunde, um deine Sachen oben rauszuräumen.“

Er stürmte nach draußen und hielt an der Tür kurz inne.

„Eine Stunde!“, brüllte er. „Das ist mein Ernst!“

Er knallte die Tür hinter sich zu und war verschwunden.

„Gute Reise“, sagte Vittorio, bevor er sich Jackie zuwandte. „Vergiss ihn. Er ist es nicht wert.“

Jackie war erschüttert, aber fest entschlossen, ihre Würde zu bewahren. „Wie lange hast du uns schon zugehört?“

„Ich wollte dich sprechen und bin gerade hier angekommen, als du ihm erzählt hast, was passiert ist.“

„Ich wollte es ihm gar nicht erzählen, aber er hat mich so wütend gemacht, dass ich einfach das Grinsen aus seinem Gesicht vertreiben wollte. Ich hätte ihn am liebsten erwürgt.“

„Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich entschuldigt er sich wieder bei dir. Aber er ist ein Mistkerl, Jackie. Ohne ihn bist du besser dran.“

„Es geht nicht nur um den Job, Vittorio. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und verliere jetzt auch mein Zuhause.“

„Dann müssen wir etwas anderes für dich finden. Lass uns hier verschwinden.“

„Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“

„Überlass das mir.“

Am liebsten hätte sie gegen ihn aufbegehrt. Diese ganze Katastrophe hatte sie nur ihm zu verdanken. Ihr Job, ihre Wohnung – alles dahin. Und schuld daran war er.

Autor

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