Eastwick Country Club - Das geheime Leben der High Society (6-teilige Serie)

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MEIN SEXY MÄRCHENPRINZ
Lily kennt nicht einmal seinen Namen, als sie auf einem Ball einen sexy Mann kennenlernt. Sie flirten heiß, und noch in derselben Nacht liegt sie in seinen Armen. Mit seiner Leidenschaft verwöhnt er sie, und mit seiner Zärtlichkeit verzaubert er ihr Herz. Zu spät erfährt sie, wer der unwiderstehliche Fremde ist: Der bekannte Anwalt Jack Cartwright kommt aus reicher, mächtiger Familie, und vor ihm liegt eine vielversprechende Karriere als Senator. Für Lily ist er ein unerreichbarer Märchenprinz. Da erfährt sie, dass sie ein Baby von ihrem Traummann erwartet ...

IM ZEICHEN DER LEIDENSCHAFT
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SÜSSE VERLOCKUNG IN MEXIKO
Eine Woche in einem Luxushotel in Mexiko - und das mit dem attraktivsten Mann, den sie kennt. Dieser Verlockung kann Felicity einfach nicht widerstehen. Sie nimmt Reed Kellys verführerische Einladung an. Und sie erlebt mit dem erfahrenen Liebhaber in dem exklusiven Hotel am weißen Strand ein Feuerwerk der Lust: prickelnde Leidenschaft und zärtliche Berührungen, die sie nie mehr missen will. Plötzlich träumt sie von einer gemeinsamen Zukunft mit dem charmanten Millionär - obwohl sie sich doch nie wieder binden wollte ...

DER FEIND, DER MICH VERFÜHRTE
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IM BANN DES MILLIONÄRS
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NUR IN DEN NÄCHTEN GEHÖRST DU MIR
Nur in den Nächten scheint Luke ihr zu gehören. Wenn seine sinnlich forschenden Hände ihren Körper in Flammen setzen, dann ist er ganz ihr Geliebter, ihr Ehemann. Doch sobald er morgens das Haus verlässt, taucht er ein in seine eigene Welt, eine Welt voller Heimlichkeiten, zu der Abby keinen Zugang hat. Wie und wo verbringt er seine Tage - bei seiner Geliebten? Zusehends schwindet das Vertrauen in ihren Mann. Als Abby eines Tages auch noch von einem Unbekannten verfolgt wird, ist sie mit ihrer Geduld am Ende: Luke muss endlich sein Geheimnis lüften ...


  • Erscheinungstag 24.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727987
  • Seitenanzahl 992
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Metsy Hingle, Jennifer Greene, Patricia Kay, Bronwyn Jameson, Katherine Garbera, Maureen Child

Eastwick Country Club - Das geheime Leben der High Society (6-teilige Serie)

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PROLOG

Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Sie gehörte nicht hierher. Lily Miller blieb am Eingang zum Ballsaal stehen und betrachtete die elegant gekleideten Männer und Frauen. So viele Menschen und so viele Diamanten! Offenbar gab sich auf dem Black-and-White-Ball die gesamte High Society von Eastwick, Connecticut, ein Stelldichein.

Sie sollte besser gehen, bevor sie noch anfing zu heulen. Allerdings müsste sie vorher wenigstens Bunny Baldwin Bescheid sagen. Bunny war es gewesen, die keine Ruhe gegeben hatte, bis Lily eingewilligt hatte, zu diesem Maskenball zu gehen, dessen Erlös für wohltätige Zwecke bestimmt war. Bunny hatte sich auch die Mühe gemacht, ein passendes Kleid für sie zu besorgen.

Lily strich mit der behandschuhten Hand über den glatten Stoff. Das trägerlose schwarze Kleid mit dem bauschigen Tüllrock war so ziemlich das Schönste, was sie je gesehen hatte, wie geschaffen für eine Prinzessin. Nur war sie keine Prinzessin. Sie war ein Niemand – sie wusste ja nicht einmal, wer ihre Mutter war. Tapfer unterdrückte sie die Tränen. Vor einer Stunde hatte ihr der Privatdetektiv am Telefon die traurige Botschaft übermittelt, dass bei der Suche nach ihrer Mutter wieder einmal eine Spur im Sand verlaufen war.

Finde dich damit ab, Lily. Hätte die Frau dich gewollt, dann hätte sie dich damals nicht in der Kirche ausgesetzt. Es wird Zeit, dass du endlich aufhörst, Zeit und Geld für die Suche nach jemandem zu verschwenden, der kein Interesse an dir hat.

„Tanzen Sie mit mir.“

Lily blickte auf – direkt in die blauen Augen eines hochgewachsenen dunkelhaarigen Fremden. Er trug einen Smoking und eine schwarze Maske, und einen Moment lang fragte Lily sich, ob sie träumte. „Wie bitte?“

„Kommen Sie, tanzen Sie mit mir.“ Er streckte die Hand aus.

„Danke, aber ich bin nicht …“

„Wie können Sie Nein sagen, wenn doch gerade unser Lied gespielt wird?“

„Unser Lied?“, wiederholte Lily, als die ersten Akkorde von „Music of the Night“ aus dem Musical „Das Phantom der Oper“ ertönten. „Wie können Sie von unserem Lied sprechen, wo wir uns doch gar nicht kennen?“

„Warum ändern wir das nicht?“, erwiderte er, nahm ihre Hand und führte sie auf die Tanzfläche.

Lily leistete keinen Widerstand. Von dem Augenblick an, als der Fremde sie in die Arme nahm, war sie wie von einem Zauber umwoben. Alle Traurigkeit, aller Schmerz schien verflogen zu sein. Lily sah nur noch die blauen Augen, die sie anblickten, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt. Sie spürte nur noch die Wärme seines Körpers und den Duft seiner Haut. Es war so aufregend und gleichzeitig so beruhigend, sich hinter einer Maske zu verbergen. Dank dieser Maske war sie jetzt nicht die Lily Miller, die keiner wollte und keiner liebte. Dank dieser Maske war sie eine Frau, die begehrt wurde, eine Frau, für die weder die Vergangenheit noch die Zukunft eine Rolle spielte, sondern nur die Gegenwart. Als der Fremde sie hinaus auf die Terrasse führte und küsste, spürte sie nicht, wie kalt die Nachtluft war. Alles, was sie fühlte, war die Kraft in seinen Armen und die Begierde, die sich in seinem Kuss ausdrückte.

„Es ist fast Mitternacht. Bald ist der Ball vorüber“, flüsterte er.

„Ich weiß.“

„Ich möchte nicht, dass die Nacht jetzt schon zu Ende ist.“

„Ich auch nicht“, gestand sie, und er küsste sie wieder. Seine Lippen schmeckten nach Champagner und nach Leidenschaft. Jeder einzelne Nerv in Lilys Körper schien auf das heiße Verlangen dieses Fremden zu reagieren.

„Dann lassen wir sie nicht enden“, sagte er leise und zog eine Chipkarte aus der Tasche. „Ich übernachte hier im Hotel. Zimmer Nummer 503. Wir treffen uns dort.“

Unwillkürlich fasste Lily nach dem goldenen Anhänger an ihrer Halskette, eine kleine goldene Scheibe mit dem Buchstaben L. Diese Kette hatte sie um den Hals getragen, als die Nonnen sie damals fanden. Aber jetzt war die Kette nicht da, denn sie hatte sie ja dem Detektiv gegeben. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich diesen Anhänger berühren, um sich daran zu erinnern, dass sie die vernünftige, realistische Lily Miller war.

„Wirst du kommen?“, fragte er.

Sie nahm die Chipkarte. „Ja“, sagte sie.

1. KAPITEL

Ihr Geheimnis war also in Sicherheit. Lily Miller blickte an der Menge der Trauernden vorbei auf den Sarg. Es donnerte, und dicke Wolken verdunkelten den Himmel über Eastwick. Es war sehr kühl, obwohl es Mitte Mai war.

„Asche zu Asche, Staub zu Staub.“

Lily stiegen Tränen in die Augen, und sie zog ein Taschentuch aus der Manteltasche. Während sie sich die Augen abtupfte, dachte sie an die Frau, deren Tod sie hier betrauerte – Lucinda „Bunny“ Baldwin, Liebling der Gesellschaft, Herausgeberin des unterhaltsamen Klatschblattes „Eastwick Social Diary“, oft auch nur kurz E. S. D. oder Diary genannt. Kaum zu glauben, aber Lily und Bunny waren miteinander befreundet gewesen. Bis Bunny an Herzversagen gestorben war. Mit zweiundfünfzig. Wie war das nur möglich?

Noch vor zwei Tagen hatten sie sich gesehen. Bunny war ganz aufgeregt gewesen wegen irgendeiner pikanten Neuigkeit, die zweifellos in einer der nächsten Ausgaben des E. S. D. erscheinen würde.

„Wir empfehlen dir, o Herr, die Seele unserer lieben Schwester Lucinda.“

Lily verspürte Gewissensbisse, wenn sie an die wissenden Blicke dachte, mit denen Bunny sie in den letzten Monaten bedacht hatte. Wegen dieser Blicke war sie ihrer Freundin seit Wochen aus dem Weg gegangen. Vor zwei Tagen allerdings hatte sie Pech gehabt. Bunny war überpünktlich zu einer Vorstandssitzung des Eastwick Cares Club, eines Vereins zur Unterstützung sozial schwacher Familien, erschienen. Da hatte Lily ihr nicht länger ausweichen können. Als Bunny dann angefangen hatte, ihr Fragen über jene Ballnacht zu stellen, da war Lily klar geworden, dass ihre Freundin die Wahrheit kannte und um ihr Geheimnis wusste. Lily hatte sogar Angst bekommen, es könnte womöglich ihr Geheimnis sein, das Bunny im Diary ausplaudern wollte. Sie hatte sich vorgenommen, Bunny zu bitten, nichts darüber zu veröffentlichen, aber sie war nicht mehr dazu gekommen. Die anderen Vorstandsmitglieder waren erschienen, und sie war gezwungen gewesen zu gehen, wenn sie nicht Jack Cartwright in die Arme laufen wollte. Aber noch im Weggehen hatte sie gewünscht, irgendwie dafür sorgen zu können, dass Bunny Stillschweigen bewahrte, wenigstens so lange, bis sie selbst eine Entscheidung getroffen hätte.

Jetzt war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Ihr Geheimnis war gewahrt, doch zu welchem Preis?

„Möge sie in Frieden ruhen, o Herr.“

Lily versuchte, sich auf die Worte des Geistlichen zu konzentrieren. „In deiner Gnade, deiner Liebe, o Herr …“

Lily blickte zu der Frau, die direkt neben dem Mann im schwarzen Talar stand und lautlos in ihr Taschentuch weinte. Es war Abby Talbot, Bunnys Tochter. Der ernst blickende Mann, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte, musste Luke sein, Abbys Ehemann. Lily war ihm noch nie begegnet. Bunny hatte erzählt, dass er viel auf Reisen sei. Bunny war deswegen ziemlich beunruhigt gewesen. Lily betrachtete Abby nachdenklich. Sie war ihr nur ein einziges Mal begegnet, hatte sie aber auf Anhieb gemocht. Sie war erstaunt über die Herzlichkeit der hübschen Blondine, die in der Modebranche bekannt gewesen war. Von Bunnys Erzählungen wusste sie, dass Abby und ihre Mutter sich sehr nahegestanden hatten. Es war kaum vorstellbar, wie groß Abbys Schmerz sein musste angesichts dieses plötzlichen Verlustes.

Aber nicht nur Abby hatte einen großen Verlust zu verschmerzen. Lily hatte eine Freundin verloren. Sie und Bunny mochten keine Busenfreundinnen gewesen sein, und sie hatte auch nie deren Begeisterung für Klatsch und Tratsch nachempfinden können. Aber der Wunsch, den Benachteiligten dieser Welt zu helfen, hatte sie beide verbunden. Bunny hatte den Eastwick Cares Club sowohl persönlich als auch finanziell nach Kräften unterstützt.

Aber ihre Großzügigkeit hatte nicht nur jenen gegolten, für die sich der Verein zuständig fühlte, zu dessen Vorstand sie gehörte. Nein, Bunnys Fürsorglichkeit hatte sich auch auf Lily erstreckt. Für Bunny war Lily mehr gewesen als nur eine Angestellte des Eastwick Cares Clubs. In mancher Hinsicht hatte sie sie fast wie eine Tochter behandelt, oder zumindest wie eine sehr nahestehende Freundin. Niemand sonst hatte es so gut verstanden, Lily das Gefühl zu geben, eine Prinzessin zu sein. Ganz sicher niemand in ihrer Kindheit, die sie abwechselnd im Waisenhaus oder bei Pflegeeltern verbracht hatte. Andererseits hatte sie auch nie an Märchen geglaubt, nicht an den Weihnachtsmann und schon gar nicht an die Zahnfee. Im Alter von sechs Jahren hatte sie bereits gelernt, dass das Leben mitnichten so war, wie in den Märchen beschrieben. Sicher, die meisten Familien, in denen sie gelebt hatte, waren sehr freundlich gewesen, aber sie hatte sich immer als Fremde gefühlt. Niemals hatte sie wirklich irgendwo dazugehört. Diese Lektion hatte sie sehr schnell gelernt. Infolgedessen hatte sie auch niemals Dinge erwartet wie modische Outfits oder gar Partykleider. Das war etwas für Träumer und naive junge Mädchen. Sie war weder das eine noch das andere gewesen.

Aber aus irgendeinem Grund hatte Bunny Baldwin sich in den Kopf gesetzt, der erwachsenen Lily Miller zu der Erfahrung zu verhelfen, die sie als Kind niemals gehabt hatte: eine Party zu besuchen, ein traumhaftes Kleid zu tragen und sich zu fühlen, als gehöre sie mit dazu. Und Bunny hatte dafür nicht irgendeine Party auserkoren, sondern die bedeutendste Wohltätigkeitsveranstaltung, die der Eastwick Cares Club organisierte – den Black-and-White-Ball.

Lily kam es vor, als sei es gestern gewesen, als Bunny in ihr Büro stürmte und verkündete, dass sie unbedingt zu diesem Ball gehen müsse. Sämtliche Einwände waren auf taube Ohren gestoßen. Bunny hatte darauf bestanden, dass sie als Angestellte des Klubs bei dem Ball dabei sein und den Organisatoren helfen müsse. Das war ganz offensichtlich ein Vorwand gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte Bunny Lily gegenüber wohl die Rolle der guten Fee übernommen, wie im Märchen von Aschenputtel.

Ein weiterer Donnerschlag riss Lily aus ihren Gedanken. Es wurde immer kühler. Lily zog ihren Mantel enger um sich und legte instinktiv die Hand auf ihren Bauch. Sie sollte jetzt besser gehen. Es war eigentlich schon viel zu riskant gewesen, überhaupt in die Kirche zu gehen. Warum noch mehr riskieren? Die gesamte bessere Gesellschaft von Eastwick war gekommen, um der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Und die Cartwrights gehörten ganz sicher zur Elite der Stadt. Jack Cartwright war jedenfalls in der Kirche gewesen, und bestimmt war er jetzt auch hier. Bis jetzt war es ihr gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber was würde geschehen, wenn er sie entdeckte und in ihr die geheimnisvolle Frau wiedererkannte, mit der er in der Ballnacht geschlafen hatte?

Sogar jetzt noch, fast fünf Monate später, konnte Lily nicht glauben, wie untypisch sie sich verhalten hatte. Aber sie war an diesem Abend einfach nicht sie selbst gewesen.

Sie hätte es natürlich besser wissen müssen. Wenn sie eines im Laufe ihrer siebenundzwanzig Jahre begriffen hatte, dann dieses: Es hatte keinen Sinn, zu hoffen, dass man etwas bekam, nur weil man es sich sehr wünschte. Man wurde garantiert enttäuscht. Und doch hatte sie genau das getan. Sie war so sicher gewesen, dass es diesmal anders sein würde. Der Detektiv, den sie beauftragt hatte, hatte endlich einen vielversprechenden Hinweis gefunden. Lily hatte geglaubt, dass sie endlich Antworten auf die Fragen finden würde, die sie ihr Leben lang quälten: Wer war sie, woher kam sie, warum war sie damals als Baby in der Kirche ausgesetzt worden? Vor allem hatte sie geglaubt, endlich die Frau kennenzulernen, an die sie keine Erinnerungen hatte.

Leider hatte der Hinweis nicht die erhofften Antworten gebracht. Lily war mehr als enttäuscht gewesen an jenem Abend.

Deshalb hätte sie nicht zu diesem Ball gehen sollen –nicht in dem emotional aufgewühlten Zustand. Aber sie hatte Bunny nicht enttäuschen wollen. Außerdem hatte sie auch ein bisschen Sorge um ihren Job gehabt, denn Bunny hatte so getan, als werde sie als Mitarbeiterin von Eastwick Cares bei dem Ball gebraucht. Und dann – sie hatte sich gerade entschlossen zu gehen – war er plötzlich vor ihr gestanden, der große dunkelhaarige Fremde mit den blauen Augen. Und er hatte sie zum Tanz aufgefordert. Sie hatte etwas gebraucht, irgendetwas, um diesen Schmerz zu betäuben, der sie überwältigte. Und sobald sie die Arme des Mannes um sich gespürt hatte, waren all der Schmerz, die Angst und die Enttäuschung verflogen gewesen.

Es hatte nur noch ihn gegeben, die Kraft seiner Arme, die Wärme seines Lächelns, das Gefühl seiner Lippen auf ihren. Für eine Nacht hatte sie aufgehört, die vernünftige, zuverlässige Lily Miller zu sein, die niemals etwas auch nur annähernd Leichtsinniges getan hatte. Eine Nacht lang hatte sie sich erlaubt, selbst leidenschaftlich zu sein, anstatt immer nur in Büchern davon zu lesen. Eine Nacht lang war sie ihrem Herzen gefolgt anstatt ihrem Verstand. Und deshalb war sie jetzt schwanger und erwartete ein Kind von Jack Cartwright.

„Gib ihrer Seele Frieden, o Herr …“

Lily atmete tief durch und verscheuchte die Erinnerungen. Sie betrachtete die Gesichter der Menschen um sie herum. Natürlich waren ihr viele davon vertraut, Mitglieder der besseren Gesellschaft, lokale Würdenträger, Politiker. Einige kannte sie durch ihre Arbeit bei Eastwick Cares, andere durch Zeitungsberichte. Plötzlich sah sie Jack. Er stand ein paar Reihen weiter vorne, mit dem Rücken zu ihr. Ihr Herz schlug schneller. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, erkannte sie ihn an der Haltung seiner breiten Schultern und an dem konservativen Haarschnitt.

Natürlich hatte sie auf dem Ball nicht gewusst, wer er war. Hätte sie gewusst, dass es sich bei dem Mann mit dem umwerfenden Lächeln um den neuesten Kandidaten für den Vorstand von Eastwick Cares handelte, dann hätte sie ihn vielleicht abblitzen lassen. Ganz sicher hätte sie sich nicht von ihm den Schlüssel zu seinem Hotelzimmer geben lassen. Aber sie hatte eben nicht gewusst, dass er es war. Oder vielleicht hatte sie es nicht wissen wollen. Sie hatte glauben wollen, dass es möglich war, dem Schicksal ein paar glückliche Stunden zu stehlen, solange man nur Masken trug und keine Namen austauschte.

Sie hatte sich geirrt.

Und doch, sie bereute nichts von dem, was geschehen war. Wie sollte es ihr leidtun, dass sie ein Baby erwartete? In weniger als vier Monaten würde sie es im Arm halten. Sie wollte dieses Kind. Nach all den Jahren des Alleinseins würde sie endlich so etwas wie eine Familie haben.

Du wirst geliebt, mein Kind. Du bist gewollt. Du wirst immer geliebt werden. Du wirst niemals das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.

Lautlos wiederholte sie den Schwur, den sie ihrem ungeborenen Kind geleistet hatte. Aber so sicher sie auch war, dass sie dieses Kind liebte, so unsicher war sie, ob ihre Entscheidung, zu schweigen, wirklich richtig war.

War es in Ordnung, Jack nichts davon zu sagen, dass er Vater werden würde? Aber wie hätte sie einem der reichsten und begehrtesten Junggesellen von ganz Eastwick sagen sollen, dass die Fremde, mit der er eine einzige Nacht verbracht hatte, ein Kind von ihm erwartete?

Lag es nur an ihrer tief sitzenden Angst vor Zurückweisung? Eigentlich konnte sie mit Zurückweisung umgehen. Nur ihr Baby … das war eine andere Sache. Ihr Baby sollte – auch wenn es noch nicht einmal geboren war – keine Zurückweisung erfahren. Niemals.

Als ob er Lilys Blick gespürt hätte, drehte Jack sich plötzlich um und schaute in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich. Einen Herzschlag lang war sie unfähig, sich zu rühren. Sie erwiderte einfach nur seinen Blick. Plötzlich verengte er die Lider. Offenbar hatte er sie erkannt.

Lily wartete nicht mehr auf das Ende des Begräbnisses. Sie drehte sich um und floh.

Jack Cartwright konnte es nicht fassen. Da war sie – die geheimnisvolle Schöne von dem Ball. Er hatte schon fast geglaubt, es habe all das gar nicht gegeben: die rothaarige Schönheit mit den saphirblauen Augen und der seidigen Haut, die Stunden voller Leidenschaft in seinem Hotelzimmer. Aber es war kein Traum gewesen. Sie existierte. Und sie ging fort.

„Jack, wohin gehst du?“, flüsterte seine Mutter tadelnd. „Die Begräbnisfeier ist noch nicht zu Ende.“

Sie hatte recht, aber das war ihm egal. Jack sah die Frau mit den roten Haaren und dem dunklen Mantel eilig auf das Friedhofstor zugehen. „Tut mir leid, ich muss gehen. Da ist jemand, den ich unbedingt sprechen muss.“

„Aber, Jack …“

Ohne auf den Protest seiner Mutter und den fragenden Blick seines Vaters zu achten, begann Jack sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. „Entschuldigung. Tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte“, sagte er immer wieder leise, während er sich an Freunden, Geschäftskollegen und Bekannten vorbeischlängelte.

Kurz darauf sang die Menge „Amen“ und begann, vorwärts zu gehen, während Jack weiter in die entgegengesetzte Richtung drängte. „Entschuldigung. Tut mir leid.“ Immer wieder streifte er Ellenbogen und Hutkrempen. Als er die Menschenmenge endlich hinter sich gelassen hatte, rannte er einen Abhang hinunter auf das Tor zu, durch das die Frau gegangen war. Atemlos blickte er auf die Straße. Aber er war zu spät gekommen. Sie war verschwunden –genau so wie sie damals aus seinem Bett verschwunden war, während er noch geschlafen hatte.

Verdammt!

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Wieder war sie ihm entwischt.

„Jack? Jack Cartwright, bist du das?“

Jack erkannte die laszive Stimme von Delia Forrester. Er presste die Lippen zusammen und drehte sich um. Er mochte Frank Forresters neue Ehefrau nicht, hatte sie vom ersten Augenblick an unsympathisch gefunden, als Frank im Eastwick Country Club aufgetaucht war, um die attraktive Blondine mit den sexy Kurven als seine neue Frau vorzustellen. Jack hielt sich selbst für unvoreingenommen genug, um Delia nicht wegen der dreißig Jahre zu verurteilen, die zwischen ihr und Frank lagen. Schließlich hatte er mitbekommen, wie gut Stuart Thorpe die kurze Ehe mit Vanessa im letzten Jahr seines Lebens getan hatte. Auch die Art, wie Delia Franks Geld unter die Leute brachte, ging ihn nichts an. Was Jack jedoch zuwider war, das waren Delias Versuche, ihn anzumachen. Und sie tat es praktisch vor den Augen ihres Ehemanns. Jack traute ihr nicht, und er verstand beim besten Willen nicht, wie Frank ihr trauen konnte. „Hallo, Delia“, sagte er und blickte noch einmal suchend die Straße hinab.

„Dachte ich mir’s doch, dass du das warst, der da so schnell von dem Begräbnis davonlief.“ Sie folgte seinem Blick. „Suchst du jemanden?“

„Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne. Ich hatte gehofft, mit ihr sprechen zu können.“

„Wie heißt sie denn?“ Delia stützte eine Hand auf die Hüfte, wie um Jacks Aufmerksamkeit auf ihre schmale Taille zu lenken. Wie um alles in der Welt schaffte diese Frau es, auf so hohen Absätzen zu balancieren? Jetzt warf sie ihr platinblondes Haar zurück – wahrscheinlich ein weiterer Versuch, seine Aufmerksamkeit zu erregen – und sah ihm in die Augen. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die leuchtend roten Lippen, so dass sie glänzten. „Vielleicht kenne ich sie.“

Sie und die geheimnisvolle Rothaarige hätten verschiedener nicht sein können. Dass sie sich kannten, war kaum anzunehmen. „Das bezweifle ich. Sie verkehrt nicht in deinen Kreisen.“

„Nun, ich bin sicher, es wird ihr leidtun, dass ihr euch verpasst habe. Mir ginge es jedenfalls so.“

Jack ignorierte diese Aufforderung zum Flirt. „Wo ist Frank?“, fragte er.

Delia seufzte. „Er wartet im Wagen. Du weißt ja, wie schwach er seit dem Schlaganfall ist. Ich denke, es ist besser, wenn er sich bei dem feuchten kühlen Wetter nicht im Freien aufhält.“

„Wie umsichtig von dir.“

Delia schlug den Mantelkragen hoch und blickte zum Himmel auf. „Wirst du auch noch mit zu Abby kommen?“

„Wozu das?“

„Um den Tag ausklingen zu lassen. Abby kann jetzt jede Unterstützung gebrauchen. Ich bringe eine Schichttorte mit.“

„Verstehe“, erwiderte Jack überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass Delia und Abby befreundet sein könnten. Immerhin gehörte Abby zum Klub der Debütantinnen, kurz Deb-Klub genannt. Diese Gruppe traf sich regelmäßig zum Mittagessen im Country Club, und soweit er wusste, gehörte Delia nicht dazu.

„Nur weil ich nicht Mitglied im Deb-Klub bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht mit Abby mitfühle“, sagte Delia, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Schließlich weiß ich, was es heißt, Mutter oder Vater zu verlieren. Ich verlor beide, als ich noch ein Teenager war.“

„Das tut mir leid“, sagte Jack, als er sah, dass ihre Augen feucht wurden. „Das wusste ich nicht.“

„Schon gut“, erwiderte sie und betupfte sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch. „Ich rede nicht gern darüber.“ Sie schob das Taschentuch in die Manteltasche. „Jetzt muss ich aber gehen. Frank wartet auf mich. Aber du solltest wirklich noch zu den Talbots gehen. Vielleicht ist deine Freundin ja auch dort.“

Sie war nicht dort. Als Jack noch einmal suchend über die Menge blickte, in der Hoffnung, die geheimnisvolle Schöne zu entdecken, fiel ihm Luke Talbot auf, der sich gerade von einer Gruppe verabschiedete und das Zimmer verließ. Und dass Abby ihrem Mann besorgt nachblickte.

Da legte sich eine Hand auf Jacks Schulter. „Jack, mein Junge, ich habe dich gesucht.“

Jack drehte sich zu seinem Vater um. John Cartwright war achtundsechzig und strotzte noch immer vor Gesundheit. Er war eins achtzig groß und hielt sein Gewicht. Die gesunde Bräune, die er seinen wöchentlichen Golfrunden im Club verdankte, bildete einen attraktiven Kontrast zu seinem silbergrauen Haar und seinen grauen Augen. Erst kürzlich hatte er seine Arbeit in einer Anwaltskanzlei aufgegeben. Wahrscheinlich war er deshalb so entspannt. „Hallo, Dad.“

„Du bist nach dem Begräbnis so schnell verschwunden. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung“, erwiderte Jack.

Sein Vater blickte ihn forschend an. „Bist du sicher? Falls es in der Kanzlei ein Problem gibt, ich helfe dir gern.“

„Entspann dich, Dad.“ Jack wusste genau, es war seinem Vater nicht leichtgefallen, die Leitung seiner Kanzlei jemand anderem zu überlassen, obwohl er sich nach Ruhe und Entspannung sehnte. „In der Kanzlei läuft alles bestens. Ich habe während des Begräbnisses jemanden gesehen, den ich schon lange zu erreichen versuche.“

Sein Vater hob eine Braue. „Und? Hast du sie erwischt?“

„Habe ich gesagt, dass es sich um eine Frau handelt? Nein, ich habe sie verpasst. Aber du hast nach mir gesucht. Worum geht es denn?“

„Ich soll dir von deiner Mutter ausrichten, dass sie eine Spinatquiche mitgebracht hat. Sie hat ein neues Rezept ausprobiert, und du sollst unbedingt davon kosten.“

Jack grinste. Seine Mutter war eine ziemlich schlechte Köchin. Allerdings liebte sie es, zu kochen, und deshalb hatten weder er, noch sein Vater, noch Jacks Geschwister jemals das Herz gehabt, ihr zu sagen, wie miserabel ihr Essen war. Zum Glück übernahm die Haushälterin, Alice, meistens das Kochen. „Schmeckt die Quiche so übel wie ihre Leberpastete?“

„Nichts kann so schlecht sein wie ihre Leberpastete“, erwiderte sein Vater trocken. „Jetzt komm schon. Sie schaut gerade zu uns rüber.“

Jack folgte seinem Vater, und kurz darauf stand er vor der Platte mit der Quiche. Zögernd nahm er einen Teller und bediente sich. „Nimmst du nichts?“, fragte er seinen Vater.

Der lächelte. „Ich habe es schon hinter mir. Jetzt bist du dran.“

Jack schob die Gabel in den Mund und zwang sich, die Mischung aus Ei und Spinat hinunterzuschlucken.

„Hier“, sagte sein Vater und reichte ihm ein Glas Wasser.

Hastig spülte Jack den Bissen hinunter und schüttete dann unauffällig den restlichen Inhalt seines Tellers in den Abfallbehälter. „Du kriegst das immer so toll hin. Ich weiß nicht, wie du das machst.“

John schmunzelte. „Man nennt es Liebe, mein Sohn. Denk an meine Worte. Eines Tages wirst du selbst etwas essen, das dich zum Schaudern bringt. Aber du wirst es mit einem Lächeln tun, weil es die Frau, die du liebst, glücklich macht.“

„Hoffentlich werde ich eine heiraten, die kochen kann.“

„Vielleicht“, erwiderte sein Vater achselzuckend. „Ich für meinen Teil habe deine Mutter nicht wegen ihrer Kochkünste geheiratet.“

Das stimmte. Jacks Eltern hatten ganz offensichtlich aus Liebe geheiratet. Dass man selbst nach vierzig Jahren Ehe immer noch verliebt sein konnte, hatte Jack immer in Erstaunen versetzt. Er selbst hatte in seinen dreiunddreißig Jahren schon zahlreiche Beziehungen gehabt und war vor ein paar Jahren sogar schon einmal verlobt gewesen. Seine Braut war jedoch zu dem Schluss gekommen war, dass es wohl besser wäre, sie blieben Freunde, anstatt sich zu heiraten. Niemals hatte er auch nur annähernd so eine Beziehung erlebt, wie seine Eltern sie hatten.

Plötzlich musste er an die schlanke Rothaarige mit den saphirblauen Augen denken. In jener Nacht hatte er etwas empfunden, etwas sehr Starkes, etwas, das über das Gefühl körperlicher Anziehung weit hinausging. Es war, als habe eine unsichtbare Macht ihn zu der Unbekannten hingezogen. Offenbar war es ihr genauso gegangen.

„Jack?“

„Entschuldige, Dad“, sagte Jack und verscheuchte die Erinnerungen. „Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, Tom Carlton hat mich gefragt, ob du ernsthaft darüber nachdenkst, für Petersens Sitz im Senat zu kandidieren, wenn er in Pension geht.“

„Das tue ich, aber ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich dafür geeignet bin.“

„Ich wüsste nicht, weshalb du das nicht sein solltest“, sagte sein Vater. „Du bist ein guter Anwalt, mein Sohn. Du bist smart genug, um auf dem Spielfeld der Politik klarzukommen und etwas zu erreichen. Vor allem aber bist du vertrauenswürdig und willst etwas für die Menschen tun. Bedenk nur, was du schon erreicht hast, seit du zum Vorstand von Eastwick Cares gehörst. Alle Welt war begeistert von der Alphabetisierungskampagne.“

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich eine so große Verpflichtung eingehen und mich in den politischen Alltag stürzen will.“

„Tja, du musst dich bald entscheiden. Petersen hat noch etwas mehr als ein Jahr, bevor er in Pension geht, und es stehen schon mehrere potenzielle Kandidaten in den Startlöchern. So eine Wahlkampagne kostet eine Stange Geld, und je früher Carlton und seine Leute wissen, wer ihr Kandidat ist, umso besser.“

„Ich habe Carlton gesagt, ich gebe ihm bis Ende des Monats Bescheid.“

Sein Vater klopfte Jack auf die Schulter. „Wie immer du dich entscheidest, deine Mutter und ich stehen hinter dir.“

„Danke, Dad. Das weiß ich zu schätzen.“

Sein Vater nickte. „Ich gehe jetzt mal zu ihr.“

„Und ich muss zurück in die Kanzlei.“

„Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen und ihr etwas Nettes über die Quiche zu sagen.“

„Versprochen.“

Jack ging zur Tür, holte seinen Regenmantel aus der Garderobe und trat auf die Veranda hinaus.

Es regnete jetzt in Strömen. Zu dumm, dass er seinen Schirm im Wagen gelassen hatte. Er schlug den Kragen hoch und schob die Hände in die Taschen. In der rechten Manteltasche berührten seine Finger ein Stück Papier. Jack runzelte die Stirn und förderte einen braunen Zettel zutage, der einmal in der Mitte gefaltet war. Er faltete ihn auseinander und begann zu lesen. Der Text war in Großbuchstaben gedruckt und nicht unterzeichnet:

WAS WÜRDEN WOHL DIE BRAVEN BÜRGER VON EASTWICK DENKEN, WENN SIE HERAUSFÄNDEN, DASS IHR SENATSKANDIDAT BALD VATER EINES UNEHELICHEN KINDES WIRD? WENN SIE NICHT WOLLEN, DASS IHR SCHMUTZIGES KLEINES GEHEIMNIS BEKANNT WIRD, VERPACKEN SIE 50 000 DOLLAR IN KLEINEN SCHEINEN IN EINER PLASTIKTÜTE UND DEPONIEREN SIE SIE BIS MORGEN MITTAG UM ZWÖLF IM EASTWICK PARK UNTER DER BANK GEGENÜBER DEM SPRINGBRUNNEN. FALLS SIE NICHT ZAHLEN ODER DIE POLIZEI INFORMIEREN, KÖNNEN SIE IHRE KANDIDATUR VERGESSEN.

2. KAPITEL

Jack war so verblüfft, dass er gar nicht bemerkte, dass es noch stärker regnete.

Er wurde also erpresst!

Er drehte und wendete das Papier hin und her, suchte nach einem Hinweis darauf, wer der Absender sein könnte. Doch er fand nichts.

Es war auch egal, wer das geschrieben hatte. Jack zerknüllte den Drohbrief. Der Schreiber hatte zwei große Fehler gemacht. Der erste war, zu glauben, er würde der Forderung nachgeben, und der zweite Fehler bestand in der Behauptung selbst. Die Anschuldigung war absolut lächerlich. Er hatte kein Kind gezeugt, und niemand erwartete von ihm ein Baby. Nicht nur, dass er keine Beziehung hatte, er war seit letztem Jahr überhaupt nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen, genau gesagt nicht mehr seit …

Jack erstarrte.

Nicht mehr seit dem Black-and-White-Ball.

Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, Bilder von einem nur vom Mondlicht erhellten Zimmer, von einer Frau mit Haut wie Seide und saphirblauen Augen.

Konnte es sein, dass sie schwanger war von ihm?

Nein, es konnte nicht sein. Okay, sie hatten den fantastischsten Sex aller Zeiten gehabt, ohne sich auch nur zu kennen. Aber sie waren wenigstens vernünftig genug gewesen, zu verhüten. Allerdings …

„Du hast so wundervoll weiche Haut“, flüsterte Jack und strich mit der Fingerspitze über ihren Rücken. Sie fühlte sich an wie Satin, nur wärmer, und außerdem duftete sie nach Rosen. An diesen Duft könnte er sich gewöhnen, ja er wollte sich daran gewöhnen. Aber sie hatten einander gleich zu Beginn versprochen, dass alles, was in dieser Nacht passieren würde, auch mit dieser Nacht enden sollte. Die Masken, die sie trugen, hatten den Abend zunächst besonders aufregend gemacht. Sie waren Fremde, doch die Anziehung zwischen ihnen war unglaublich stark. Er konnte selbst nicht glauben, dass er ihr die Chipkarte für sein Zimmer gegeben hatte – und dass sie tatsächlich gekommen war. Sie hatte darauf bestanden, dass sie beide ihre Identität nicht preisgeben sollten, und zu dem Zeitpunkt war auch ihm das richtig erschienen. Es war so erregend gewesen, nicht zu wissen, wer die Frau hinter der Maske war. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob er damit noch einverstanden war, denn je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto weniger wollte er, dass mit dieser einen Nach alles zu Ende sein sollte.

Er drückte einen Kuss auf ihren nackten Rücken. Sie schauerte. „Bist du kitzlig?“, fragte er.

„Nein“, flüsterte sie.

Er schob den Arm um ihre Taille und drückte sie an sich. Nein, es durfte nicht schon mit dieser Nacht enden. Er küsste sie auf die Schulter. Wieder erschauerte sie, und seine Begierde erwachte von Neuem. Es war kaum eine Stunde her, seit er sie das letzte Mal geliebt hatte, und schon wollte er sie wieder. Aber diesmal wollte er mehr, als nur ihren Körper zu besitzen. „Ich weiß, wir haben ausgemacht, uns gegenseitig nichts über uns zu verraten, aber vielleicht sollten wir das noch einmal überdenken.“

„Nein.“

Er spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte. „Warum denn nicht?“

„Weil wir damit in die Wirklichkeit zurückkehren würden, und ich will mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Nicht heute Nacht. Heute Nacht will ich an nichts denken, was außerhalb dieses Zimmers liegt.“

Ihr verzweifelter Ton erschütterte ihn. Er drehte sie zu sich herum. Zärtlich strich er mit dem Finger über ihre Wange unterhalb der Maske. Etwas quälte sie, das war offensichtlich. „Na schön. Heute Nacht existiert die Welt außerhalb dieses Zimmers nicht“, sagte er. „Aber sag mir wenigstens deinen Namen. Ich kann dich doch nicht die ganze Zeit Rotschopf nennen.“

„Ich mag es, wenn du mich so nennst“, erwiderte sie. „Niemand hat mich bis jetzt so genannt.“

„Aber ich …“

Sie setzte sich auf und drückte seine Schultern zurück auf die Matratze. „Pst. Lass uns nicht mehr reden.“ Sie übernahm die Führung. Sie küsste ihn auf den Mund, drang tief mit der Zunge in ihn ein. Irgendwann löste sie sich von ihm, und dann spürte er ihre heißen feuchten Lippen an seinem Hals, auf seiner Brust, auf seinem Bauch. Er streckte die Arme aus und hielt sie fest.

Diese Sirene hatte ihn völlig verzaubert. Jack küsste sie, dann erkundete er mit dem Mund ihren Körper, so wie sie es zuvor mit seinem getan hatte. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er eine Frau so sehr begehrt. Als er glaubte, die Kontrolle zu verlieren, streckte er die Hand aus, um ein Kondom vom Nachttisch zu nehmen.

„Lass mich“, sagte sie keuchend. Sie riss das Päckchen mit den Zähnen auf und streifte ihm das Kondom über. Ihr dabei zuzusehen, war unglaublich erregend. Genau wie der erstaunte Ausdruck auf ihrem Gesicht. Beim ersten Mal war ihm schnell klar geworden, dass sie nicht allzu viel Erfahrung hatte. Ihre Reaktion auf ihn war auf unschuldige Weise hemmungslos gewesen. Irgendwie war er sicher, dass diese Nacht für sie genauso außergewöhnlich war wie für ihn. Warum war sie zu ihm gekommen? Was hatte sie dazu veranlasst, der Wirklichkeit zu entfliehen?

Schließlich hörte er auf zu denken, denn sie saß rittlings auf ihm und nahm ihn tief in sich auf. Jack legte beide Hände um ihre Taille und gab den Rhythmus vor. Sie bewegte sich schneller und schneller.

„Ich … ich kann nicht“, keuchte sie.

„Doch, du kannst“, spornte Jack sie an und hielt sich immer noch zurück, denn er wollte ihr noch mehr Lust geben. Sie stöhnte auf, und als sie den Höhepunkt erreichte, riss es auch ihn mit. Mit jedem ihrer Seufzer kam er dem Gipfel näher. Er packte sie an den Hüften und rollte sich herum, so dass sie unter ihm lag. Seine Stöße wurden noch kraftvoller, noch fordernder.

Und dann platzte das Kondom.

„Cartwright, ist alles in Ordnung?“

Luke Talbot stand vor ihm und musterte ihn skeptisch. Jack verscheuchte die Erinnerungen und schob die Hand mit dem zerknüllten Papier in die Manteltasche. „Ich dachte, ich warte, bis es nicht mehr ganz so stark regnet, bevor ich zu meinem Wagen renne“, erklärte er.

„Und ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen.“

Ob das wohl stimmte? Der verärgerte Ausdruck im Gesicht des Mannes weckte in Jack gewisse Zweifel. Er musterte Talbot unauffällig. Dieser war ein paar Zentimeter kleiner als er, Jack, mit seinen über eins achtzig. Talbots Körperbau war das, was ein Footballtrainer am College als drahtig bezeichnet hätte, aber er wirkte sehr fit. Mit seinem braunen Haar und braunen Augen war er eher unauffällig, doch sein Blick war sehr intensiv. „Ich habe mit Abby geredet, aber Ihnen habe ich noch gar nicht mein Beileid ausgesprochen.“

„Danke. Es ist vor allem schlimm für Abby.“

„Ja, natürlich. Das kann man verstehen.“

Talbot schob die Hand in die Tasche seines Jacketts und nahm ein Handy heraus, das offenbar auf Vibrationssignal eingestellt war. „Tut mir leid, aber ich muss diesen Anruf annehmen“, sagte er.

„Kein Problem. Ich denke, ich gehe jetzt doch einfach los.“ Jack trat unter dem Verandadach hervor und rannte zu seinem Wagen.

Während der Regen ihm ins Gesicht peitschte, dachte Jack noch einmal an jene Nacht im Dezember. Die unbekannte Schöne war fort gewesen, als er am nächsten Morgen aufgewacht war. Er hatte versucht, herauszufinden, wer die geheimnisvolle Fremde war, doch niemand schien zu wissen, wer sie war. Aber sie hatte offenbar Bunny Baldwin gekannt. Jack schloss die Faust um den Zettel in seiner Manteltasche. Er benutzte die Fernbedienung, um seinen Wagen zu öffnen, und setzte sich ans Steuer. Er ließ den Motor des Wagens an, strich sich das nasse Haar zurück und starrte hinaus in den Regen. Sie hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keine Beziehung wollte, die über diese eine Liebesnacht hinausging. Deshalb hatte er auch nicht ernsthaft versucht, sie zu finden.

Bis jetzt.

Tut mir leid, Rotschopf. Die Spielregeln haben sich geändert.

Lily durchwühlte die Akten in ihrer Schreibtischschublade. Endlich fand sie die, die sie suchte, und schob sie in ihre Mappe. Sie blickte auf die Uhr und stöhnte. Schon zwanzig nach fünf. Die Vorstandssitzung würde in zehn Minuten anfangen, und bis dahin wollte sie aus ihrem Büro verschwunden sein. Aber als Kristen, eine der Jugendlichen, die sie betreute, aufgetaucht war, weil sie jemanden zum Reden brauchte, da hatte Lily es nicht fertig gebracht, Nein zu sagen. Zu dumm, die Vorstandsmitglieder würden jede Minute eintreffen.

Seit sie Jack vor drei Tagen bei der Beerdigung gesehen hatte, war sie ganz nervös. Er hatte sie erkannt, dessen war sie sicher. Und jetzt wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Prinz entschlossen war, Aschenputtel ihren verlorenen Schuh zu präsentieren. Lily schloss die Bürotür hinter sich und ging zum Aufzug, der sich direkt gegenüber ihrer Bürotür befand. Da öffnete sich die Tür, und im selben Moment wusste sie, dass Aschenputtel ihren verloren Schuh zurückbekommen würde. Jack Cartwright trat aus dem Aufzug. Genau das hatte sie befürchtet. Und jetzt konnte sie nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Der überraschte Ausdruck in seinen blauen Augen verwandelte sich in Empörung, als er von ihrem Gesicht auf ihren Bauch und dann wieder auf ihr Gesicht blickte.

Er machte einen Schritt auf sie zu. Seine Stimme klang gefährlich leise, als er sie begrüßte. „Hallo, Rotschopf.“ Er blickte auf das Namensschild an ihrer Bürotür. „Oder sollte ich sagen ‚Hallo, Lily Miller‘?“

Sie nickte stumm. Wie sollte sie auch nur einen Ton herausbekommen, wenn ihr Herz raste?

„Wann kommt das Baby?“ Sein Ausdruck war jetzt grimmig entschlossen.

„In vier Monaten. Aber …“

„Das heißt, ich bin der Vater“, stellte er fest. „Und denk nicht, du kämst damit durch, wenn du behauptest, das Kind wäre nicht von mir. Ich werde nämlich einen Vaterschaftstest beantragen, und wir beide wissen, wie das Ergebnis ausfallen wird.“

„Ich wollte dich nicht belügen“, verteidigte sie sich und legte unwillkürlich die Hand auf den Bauch. „Ich wollte nur … du sollst wissen, dass diese Schwangerschaft … ich meine, das war nicht geplant.“

„Das geplatzte Kondom auch nicht“, gab er zurück. „Warum hast du gesagt, du würdest die Pille nehmen?“

„Das habe ich nicht. Ich habe nur gesagt, es kann nichts passieren, weil ich dachte, es wäre vom Zeitpunkt her nicht riskant. Du bist deshalb davon ausgegangen, dass ich die Pille nehme“, erklärte Lily und spürte, dass sie rot wurde. „Niemand ist schuld. Es war ein Malheur, Jack …“

Er blickte abrupt auf und fixierte sie. „Du weißt also, wer ich bin?“

„Ja, aber zuerst hatte ich keine Ahnung. Erst später, als du in dem Hotelzimmer die Maske abnahmst“, gestand sie.

„Da hast du es also schon gewusst? Und trotzdem wolltest du nicht, dass ich erfuhr, wer du bist. Warum, Lily? Warum diese Geheimniskrämerei? War das alles für dich nur ein Spiel? Ein Scherz?“

„Nein, das war es nicht!“, rief sie. „Diese Nacht … ich war in dieser Nacht nicht wirklich ich selbst. Ich wollte es auch nicht sein. Und ich brauchte es nicht zu sein, denn wir hatten uns ja geeinigt, dass wir uns an die Regeln des Maskenballs halten und unsere Identität nicht preisgeben würden. Es schien so eine harmlose Sache zu sein“, sagte sie lahm, denn sie wusste nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass sie an jenem Abend emotional völlig am Ende gewesen war. „Dass ich damals einfach zu dir aufs Zimmer gekommen bin, das war nichts, was ich normalerweise tue.“

„Eine fremde Frau einfach auf mein Zimmer zu bitten, ist auch nichts, was ich normalerweise tue“, erwiderte er scharf. „Also, warum wolltest du mir nicht sagen, wer du bist?“

„Ich hatte Angst, dass du das Interesse an mir verlieren würdest, wenn ich dir sagen würde, wer ich bin“, gestand sie.

Er kam nicht dazu, zu antworten, denn am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür.

„Cartwright, die Sitzung fängt an!“, rief Doug Walters, eines der Vorstandsmitglieder.

„Fangt ohne mich an“, erwiderte Jack, ohne den Blick von Lily zu lösen.

„Wir müssen einen Nachfolger für Bunny wählen!“, rief Walters zurück.

„Geh nur zu deiner Sitzung“, sagte sie schnell.

„Wir müssen reden.“

„Ich weiß.“ Einerseits war Lily erleichtert, dass Jack endlich Bescheid wusste, andererseits fragte sie sich, was er wohl unternehmen würde. Es war ihr durchaus klar, welche Bedeutung sein gesellschaftlicher Status hatte. Eine unverheiratete Mutter zu sein würde für sie mit gewissen Unannehmlichkeiten verbunden sein, dass aber Jack Vater eines unehelichen Kindes sein würde, das war für die ehrwürdige Cartwright-Familie ein Skandal.

„Cartwright?“, rief Walters noch einmal.

„Geh ruhig. Ich werde hier sein, wenn die Sitzung zu Ende ist, dann können wir reden.“

Jack zögerte. „Na schön“, sagte er schließlich. „Aber wenn du daran denkst, wieder davonzulaufen wie kürzlich auf dem Friedhof, dann denk dran, dass ich jetzt weiß, wer du bist. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, wo du dich vor mir verstecken kannst.“

Lily sah ihm nach, als er durch den Korridor ging. Sie wusste, er meinte es ernst. Selbst wenn sie einen Platz gehabt hätte, wo sie sich hätte verstecken können, sie zweifelte keine Sekunde, dass er sie finden würde. Aber sie hatte niemanden – nur ihr Baby. Also ging sie zurück in ihr Büro und wartete.

Erst nach zwei Stunden war die Vorstandssitzung beendet. Als Jack zu Lilys Büro ging, rechnete er halb damit, sie nicht mehr anzutreffen. Aber er bezweifelte keine Sekunde, dass das Kind von ihm war. Er glaubte ihr. Eine Nacht mit einem Fremden zu verbringen war für sie genauso wenig normal gewesen wie für ihn.

Sie war immer noch da. Den Kopf an die Rückenlehne gelehnt, saß sie auf dem Sofa und schlief. Und da sie ihn offenbar nicht gehört hatte, nutzte er den Augenblick, sie ausgiebig zu betrachten. Bis jetzt hatte er nur seine Erinnerungen an eine rätselhafte Schönheit in schwarzer Seide gehabt. Wie viele Male hatte er sich gesagt, es könne nicht sein. Sie konnte nicht wirklich so schön sein, wie er sie in Erinnerung hatte.

Er hatte sich geirrt. Sie war jetzt sogar noch schöner. Ihr mahagonifarbenes Haar fiel ihr leicht gewellt auf die Schultern. Ihr Gesicht war ein perfektes Oval, ihre Züge fein geschnitten. Die Lippen, die ihm so viel Lust bereitet hatten, erschienen ihm noch verlockender als in jener heißen Nacht. Lange dunkle Wimpern warfen zarte Schatten auf ihre Wangen. Ein paar blasse Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken waren das Einzige, was nicht perfekt an ihr war, und das machte sie in seinen Augen noch schöner. Aber was seine Gefühle wirklich aufwühlte, das war ihr kleiner Babybauch. Sie trug also tatsächlich sein Kind.

Sie öffnete die Augen. Als sie ihn sah, wurde ihr Ausdruck angespannt. Sie straffte die Schultern. „Tut mir leid. Ich muss eingeschlafen sein. Das passiert mir in letzter Zeit öfter.“

Jack musterte sie, und ihm fiel auf, wie müde sie wirkte. Jetzt sah er auch die Ringe unter ihren Augen. Plötzlich machte er sich Sorgen um sie und das Kind. „Hast du das deinem Arzt gesagt? Was meint er dazu? Ist das normal?“

„Ja, ich habe es meiner Ärztin erzählt, und sie meint, das sei völlig normal.“

Jack setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel und atmete erst einmal tief durch. „Entschuldige, aber das kommt alles ziemlich überraschend für mich.“

„Das kann ich verstehen. Mir ging das am Anfang genauso, aber mittlerweile habe ich mich an den Gedanken gewöhnt.“

„Zu dumm, dass ich nicht dasselbe von mir behaupten kann“, erwiderte er grimmig. „Warum hast mir nichts von dem Kind gesagt? Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, zu wissen, dass ich Vater werde?“

„Natürlich hast du das. Und ich wollte es dir auch sagen.“

„Wann? Wenn er oder sie das Studium beendet hat?“

„Ich wollte es dir wirklich sagen“, wiederholte sie und zupfte verlegen an ihrem Ärmel herum.

„Warum hast du es dann nicht getan?“

„Weil ich nicht wusste, wie“, gab sie zurück.

„Ganz einfach die Wahrheit zu sagen, das wäre schon okay gewesen. Du hättest nichts weiter tun müssen, als mir zu sagen, dass die Nacht, die wir zusammen verbracht haben, nicht ohne Folgen geblieben ist.“

Ihr Ausdruck wurde weicher. „Du hast recht, und ich bitte dich um Entschuldigung.“ Sie straffte die Schultern. „Ich hätte es dir sagen sollen. Und jetzt, da du es weißt, solltest du auch wissen, dass ich das Baby behalten will.“

Es war ihm nie in den Sinn gekommen, das anzuzweifeln. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie das Kind auch einfach zur Adoption hätte freigeben können. Dann hätte er womöglich nie etwas davon erfahren, dass er ein Kind hatte.

„Aber nur weil ich das Kind bekommen möchte, heißt das nicht, dass ich irgendwelche Erwartungen an dich habe. Das tue ich nicht. Ich habe diesen Entschluss allein gefasst, und ich beabsichtige auch, die ganze Verantwortung zu tragen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass ich Ansprüche stellen könnte.“

„Das war eine nette, kleine Rede, Lily. Wie lange hast du die eingeübt?“, fragte er und wunderte sich selbst, wie er so ruhig sein konnte, wenn er doch so wütend war.

„Schon eine ganze Weile“, gab sie zu.

Jack beugte sich vor und fixierte sie. „Ob du Ansprüche an mich stellst oder nicht, spielt keine Rolle. Ich bin der Vater dieses Babys, und als sein Vater beabsichtige ich nicht nur finanziell die Verantwortung zu übernehmen, sondern auch eine aktive Rolle im Leben dieses Kindes zu spielen.“

„Aha.“

Okay, er hatte sie überrumpelt. Aber hatte sie etwa wirklich erwartet, dass er das Kind – und sie – einfach im Stich lassen würde?

„Ich bin sicher, wir werden uns über die Besuchsrechte einigen“, sagte sie. „Das funktioniert in vielen Familien. Natürlich müssen wir abwarten, bis das Kind ein bisschen älter ist, dann können wir uns in den Ferien abwechseln.“

„Ich glaube, du hast mich nicht verstanden, Lily. Ich will am Leben des Kindes Anteil nehmen, vom ersten Tag an –nicht irgendwann einmal für ein paar Tage.“

„Aber dir ist doch sicher klar, dass ein Baby erst einmal seine Mutter braucht“, widersprach sie, und ihre Stimme zitterte leicht.

„Es braucht auch seinen Vater. Ich habe nicht die Absicht, ein Teilzeitvater zu werden – einer von diesen Männern, die jedes zweite Wochenende ihre Kinder zu Besuch haben. Ich will bei allem dabei sein – wenn es nachts gefüttert wird und wenn es zum ersten Mal läuft.“

Lily sprang auf. „Ich werde nicht zulassen, dass du mir das Baby nimmst.“ Ihr Blick drückte wilde Entschlossenheit aus. „Es ist mir egal, aus welcher Familie du stammst oder wie viel Geld du hast. Ich werde gegen dich kämpfen. Wenn es sein muss, bis zum letzten Atemzug. Ich werde mir nicht mein Baby nehmen lassen.“

„Es ist unser Baby, Lily. Begreif das endlich.“

Sie kreuzte die Arme über dem Bauch, wie um das Kind zu schützen. Aber sie erwiderte dabei unbeirrt Jacks Blick. „Ich meine es ernst, Jack. Ich werde gegen dich kämpfen. Ich werde nicht zulassen, dass du mir das Kind nimmst.“

Er stand auf und trat auf sie zu. Er war fast einen Kopf größer als sie, und er wusste, seine Größe wirkte auf viele Menschen einschüchternd. Lily wich allerdings keinen Zentimeter zurück. Insgeheim bewunderte er sie dafür. „Hältst du mich wirklich für ein so ein herzloses Monster?“

Sie betrachtete ihn skeptisch. „Aber du hast doch gesagt, du willst alles miterleben.“

„Das will ich auch“, bekräftigte er und streichelte ihre Wange. „Ein Kind braucht Mutter und Vater.“

„Ich verstehe nicht. Das Baby kann doch nicht die ganze Zeit sowohl bei dir als auch bei mir sein.“

„Klar kann es das. Wir brauchen nur zu heiraten.“

3. KAPITEL

„Das kannst du nicht im Ernst meinen“, sagte Lily.

„Ich habe noch nie im Leben etwas ernster gemeint.“

„Dann bist du entweder verrückt, oder du hast den Verstand verloren.“ Lily ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich.

„Wieso? Weil ich unserem Baby ein richtiges Zuhause geben möchte mit beiden Eltern? Mir kommt das sehr vernünftig vor.“

„Aber wir kennen uns doch gar nicht.“

Jack ging ebenfalls zum Schreibtisch und setzte sich Lily gegenüber auf einen Stuhl. „Das lässt sich leicht ändern. Stell mir Fragen. Was möchtest du wissen?“

„Jack …“

„Hör mal, offiziell bin ich John Ryan Cartwright, der Vierte, aber ich wurde schon immer Jack genannt. Ich bin ledig, war nie verheiratet, meine Eltern sind Sandra und John Cartwright und ich habe zwei Schwestern, Courtney und Elizabeth. Väterlicherseits stamme ich von englischen Puritanern ab, sie gehörten zu den ersten Siedlern in diesem Bundesstaat …“

„Jack, das ist nicht nötig“, rief Lily. Alles, was er sagte, machte ihr deutlich, wie schlecht sie zusammenpassten. Sie passte nicht in seine Welt, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das sich jemals ändern würde.

„Und ob es nötig ist. Wir haben nämlich zusammen ein Kind gezeugt, ein Kind, das beide Eltern brauchen wird. Und weil wir uns dafür besser kennen müssen, möchte ich, dass du alles über mich weißt.“

Lily schwieg resigniert.

„Also, wo war ich stehen geblieben? Dass ich Anwalt bin, weißt du ja schon. Die Kanzlei heißt Cartwright und Partner und wurde von einem Urururgroßvater gegründet. Seit mein Vater sich letztes Jahr aus dem Geschäft zurückgezogen hat, bin ich geschäftsführender Partner. Außerdem sitze ich im Vorstand von Eastwick Cares und von zwei weiteren Wohltätigkeitsorganisationen. Ich bin überzeugt, dass man als Einzelner sehr wohl etwas bewirken kann, und zwar, indem man der Gemeinde zurückgibt, was man ihr verdankt. Ich besitze ein eigenes Haus und ein Boot, mit dem ich gern auf dem Long Island Sound herumfahre, wann immer ich Zeit dazu habe. Ich verdiene um die zweihundertfünfzigtausend brutto im Jahr und habe ein kleines Aktienpaket, das eine sechsstellige Summe wert ist. Ich esse am liebsten Spaghetti und zum Nachtisch Banana Split.“ Jack stand auf und ging um den Tisch herum auf Lily zu. Sachte strich er ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange. „Und ich habe eine Schwäche für Rothaarige mit Haut so weich wie Seide.“

Lily schloss einen Moment die Augen und spürte, genau wie in jener Nacht im Dezember, wie sie unter seiner Berührung schwach wurde.

„Heirate mich, Lily. Lass uns gemeinsam dem Kind ein Zuhause geben.“

Es klang so einfach. Einfach heiraten und zusammen ihr Kind großziehen.

„Es ist so einfach“, sagte er.

Erst da merkte sie, dass er ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Sie machte einen Schritt von Jack weg und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du irrst dich. Es ist nicht einfach.“ Sich von ihm einlullen zu lassen, wäre ein Fehler, den sie sich nicht leisten konnte. Das Glück ihres Kindes stand auf dem Spiel.

„Warum nicht?“

„Weil wir beide aus völlig unterschiedlichen Welten kommen.“

„Wenn du damit das Geld meinst …“

„Nein, das meinte ich nicht. Aber das spielt natürlich auch eine Rolle. Nur mal als Beispiel: Ich lebe in einer Mietwohnung. Mein Jahresgehalt liegt beträchtlich unter deinem. Ich habe ein kleines Sparguthaben und eine kleine Lebensversicherung. Mein Auto ist fünf Jahre alt, und ich habe kein Boot.“

„Das sind materielle Dinge, die sind nicht wirklich wichtig.“

„Es geht nicht nur um die Unterschiede im finanziellen Bereich, Jack. Du hast Vorfahren, die du Generationen weit zurückverfolgen kannst. Du hast Eltern, Geschwister, eine Familie. Du weißt, wer du bist und woher du stammst“, erklärte Lily. „Weißt du, wie weit ich meine Abstammung zurückverfolgen kann? Siebenundzwanzig Jahre – bis zu meiner Geburt. Ich weiß, dass ich Lily heiße, weil das auf dem Zettel stand, der an die Decke geheftet war, in die man mich gewickelt hatte. Außerdem ist der Buchstabe L in das Medaillon eingraviert, das ich um den Hals trug, als man mich fand.“ Sie zeigte Jack das Medaillon. „Was meinen Nachnamen betrifft – die Straße, in der die Kirche stand, in der ich ausgesetzt wurde, hieß Miller Street.“

„Lily, es tut mir leid …“

„Schon gut“, sagte sie und wandte den Blick ab. Er sollte nicht sehen, dass ihr die Tränen in den Augen standen. „Sicher ist dir jetzt klar, dass der Gedanke an eine Heirat, auch wenn es um das Wohl des Kindes geht, lächerlich ist.“

„Warum? Etwa weil du keinen Stammbaum vorweisen kannst? Hältst du mich wirklich für so oberflächlich? Traust du mir zu, dass ich dich danach beurteile, wo du geboren wurdest und wer deine Eltern sind? Das ist doch völlig nebensächlich.“

„Das kann ich nicht finden. Ich könnte zum Beispiel die Tochter eines Serienkillers sein.“

„Oder die Tochter eines Königs.“

Aber Könige setzten ihre Kinder nicht aus. Und reiche attraktive Männer aus angesehenen Familien heirateten keine mittellosen Frauen, die nicht einmal von den eigenen Müttern gewollt waren.

Sie spürte, dass Jack von hinten auf sie zu trat. „Na schön, ich weiß vielleicht nicht, wo du geboren wurdest oder wer deine Vorfahren sind, aber eines weiß ich.“ Er legte ihr beide Hände auf die Schultern. „Ich weiß, dass du liebevoll und mitfühlend bist. Ich weiß, dass du als Beraterin und Lerntherapeutin das Leben vieler Kinder und Jugendlicher zum Besseren gewendet hast. Für dich ist die Betreuung dieser Kinder nämlich mehr als nur ein Job. Dir liegen diese Kinder am Herzen.“

Sie war gerührt. Seit sie schwanger war, geriet sie emotional schrecklich schnell aus dem Gleichgewicht. Ständig lief sie Gefahr, in Tränen auszubrechen, was sonst gar nicht typisch für sie war.

„Ich weiß außerdem, dass du dieses Kind jetzt schon liebst, obwohl du es nicht geplant hast, und dass du für das Kind das Richtige tun willst“, sagte Jack und schob ihr einen Finger unters Kinn. „Und das Richtige tun heißt in unserem Fall heiraten. Dem Kind ein richtiges Zuhause und eine richtige Familie geben.“

„Aber dazu müssen wir doch nicht unbedingt heiraten“, erwiderte Lily.

„Wie bitte? Du meinst, wir sollen sie oder ihn zwischen deiner Wohnung und meinem Haus hin- und herschieben? Was für ein Leben sollte das sein? Was unser Kind braucht, ist Sicherheit, Lily – und ich meine das nicht nur im finanziellen Sinn. Unser Kind braucht eine intakte Familie, und dazu gehören beide Eltern. Es braucht uns beide, wenn es ins Bett gebracht wird oder wenn es nachts aufwacht, weil es schlecht geträumt hat. Möchtest du, dass unser Baby das bekommt?“

„Natürlich möchte ich das.“ Zu einer richtigen Familie zu gehören, das hatte sie sich ihr Leben lang gewünscht. Aber der Wunsch war ihr nie erfüllt worden.

„Aber wenn wir nicht heiraten, können wir das unserem Kind nicht geben.“

Sie wusste, er hatte recht. Und doch fühlte sie sich irgendwie enttäuscht. „Was ist mit der Liebe?“ Sie senkte den Blick. Sie hatte immer geglaubt, dass sie, wenn überhaupt einmal, dann aus Liebe heiraten würde. „Verheiratet zu sein bedeutet mehr, als mit jemandem einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Wie lange wird unsere Ehe wohl dauern, wenn wir uns nicht lieben?“

„Wer sagt, dass wir uns lieben müssen? Wir mögen und respektieren uns. Wir werden gemeinsam ein Kind haben. Und wir wissen bereits, dass wir sexuell sehr gut zusammenpassen. Es gibt viele erfolgreiche Ehen, die auf wesentlich weniger Gemeinsamkeiten basieren.“

Erschrocken blickte sie auf. Sie war so darauf konzentriert gewesen, was eine Heirat für das Baby bedeuten würde, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, was es für sie und Jack bedeuten würde. „Du meinst, du stellst dir das als eine echte Ehe vor, ohne Einschränkungen?“

Jack lächelte vielsagend, und sie spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch, genau wie damals, als er sie das erste Mal angesehen hatte. „Ich sehe keinen Grund, weshalb wir uns irgendwelche Einschränkungen auferlegen sollten. Ich schätze, wir hatten beide nie vor, enthaltsam zu leben. Es wäre also nur konsequent, wenn wir auch das Bett teilten würden.“

„Ich schätze, du hast recht“, hörte sie sich sagen. Irgendwie hatte er mit allem, was er sagte, recht.

„Bestimmt. Du wirst schon sehen.“ Jack schob ihr fürsorglich eine Strähne hinters Ohr. „Und ich denke, je schneller wir heiraten, desto besser.“

Plötzlich stieg Panik in ihr auf. „Aber was ist mit deiner Familie? Deinen Freunden? Was werden die denken? Was werden die Leute sagen?“

„Sie werden denken, dass ich verdammtes Glück habe.“

Oder sie werden denken, er habe seinen Verstand verloren, dachte Lily. Vielleicht hatten sie ja beide ihren Verstand verloren. Sie würde Jack Cartwright nämlich heiraten. Hoffentlich würden sie das nicht eines Tags beide bereuen.

Lily schien nervös zu sein wie ein junges Fohlen. Besorgt blickte Jack, der hinterm Steuer saß, zu ihr hinüber. Er konnte sie durchaus verstehen. Ihre Hände lagen verkrampft in ihrem Schoß, und er hatte schon zwei Toilettenpausen einlegen müssen. Lily hatte behauptet, das käme von ihrer Schwangerschaft, aber er hatte den Verdacht, dass es viel eher mit ihren Nerven zu tun hatte.

Nicht, dass Jack kein Verständnis dafür gehabt hätte. Er hatte es selbst kaum fassen können, als er mit dem Heiratsantrag herausgeplatzt war. Aber dann war ihm schnell klar geworden, dass es wirklich das einzig Richtige wäre. Er hatte auf Anhieb verstanden, dass Lily viel zu stolz war, um sich von ihm Unterhalt zahlen zu lassen. Also hatte er gar nicht erst den Vorschlag gemacht. Außerdem war es ihm wirklich ernst gewesen mit der Feststellung, dass ein Kind beide Eltern brauchte. Er hatte zwar nicht geplant, auf diese Art Vater zu werden, aber es war nun mal passiert, und er wollte in jeder Hinsicht ein guter Vater sein. Das bedeutete, dass er seinem Kind die gleiche Liebe und Fürsorge angedeihen lassen würde, die er als Kind genossen hatte, und das war seiner Meinung nach nur möglich, indem er und Lily ein Paar wurden.

Nachdem diese Entscheidung für ihn festgestanden hatte, hatte er ihre Einwände einen nach dem anderen entkräftet, so wie er das von Gerichtsverhandlungen gewohnt war. Zugegeben, er war nicht hundertprozentig fair gewesen. Als sie ihm von ihrer Familie – genauer gesagt, ihrer nicht vorhandenen Familie – erzählte, da hatte er sich nur zu gut vorstellen können, wie einsam und unglücklich sie als Kind gewesen sein musste. Und dann hatte er diesen Moment der Schwäche genutzt und sie dazu überredet, ihn zu heiraten. Bevor sie es sich noch anders überlegen konnte, hatte er vollendete Tatsachen geschaffen: Gleich am nächsten Tag war er mit ihr zum Standesamt gegangen, um eine Heiratslizenz zu beantragen, und jetzt fuhr er mit ihr zu seinen Eltern, damit sie Lily kennenlernten.

Tja, und in seiner Jackentasche lag die Schatulle mit dem Verlobungsring.

„Bist du sicher, dass ich richtig angezogen bin?“, fragte sie.

„Du siehst wunderschön aus“, versicherte er. Und es stimmte. Der Rock betonte ihre immer noch schlanken Hüften und ihre fantastischen Beine. Der lachsfarbene Pulli umschmeichelte ihre Brüste und ihren Bauch, dessen leichte Rundung der einzige Hinweis auf ihre Schwangerschaft war.

„Ist es noch weit?“, wollte sie wissen.

„Ungefähr zehn Minuten“, erwiderte er. „Soll ich noch einmal anhalten?“

„Nein, ich kann warten.“

Als sie an ihrem Rock herumzuzupfen begann, berührte Jack ihre Hand. „Versuch, dich zu entspannen. Es ist doch nur ein Brunch.“

„Ich weiß.“

Aber er wusste, dass die bevorstehende Begegnung mit seinen Eltern und seinen Schwestern sie schrecklich nervös machte. Wahrscheinlich ließ sie deshalb zu, dass er ihre Hand hielt und für den Rest der Fahrt nicht mehr losließ.

„Hier ist es“, sagte er, als sie auf das Eingangstor des Grundstücks zufuhren. Er gab den entsprechenden Code ein, und das Tor schwang auf. Kurz darauf fuhren sie die gepflegte Einfahrt entlang.

„Ein schönes Anwesen“, sagte Lily. „Und sehr groß.“

„Nicht groß genug, wenn man zwei kleine Schwestern hat“, erwiderte Jack in der Hoffnung, sie ein wenig aufzuheitern. „Reicht es, wenn ich sage, dass ich mich manchmal im Keller verstecken musste, um meine Ruhe zu haben?“

Lily musste lächeln. „Ich versuche gerade, es mir vorzustellen.“

„Glaub mir, es war nicht leicht“, sagte Jack und brachte den Wagen vor dem Haus zum Stehen. Rasch stieg er aus und öffnete die Beifahrertür. Wieder nahm er ihre Hand.

„Danke“, sagte sie.

Als sich die Haustür öffnete, drückte er sanft Lilys Hand und flüsterte ihr ins Ohr. „Was immer du tust, iss nichts, was meine Mutter gekocht hat.“

Bevor sie antworten konnte, stand seine Mutter schon vor ihnen. „Lily, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich freue, Sie kennenzulernen. Ich bin Sandra, Jacks Mutter.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Cartwright“, setzte Lily an.

„Nenn mich einfach Sandra, Liebes“, fiel ihr Jacks Mutter ins Wort und umarmte sie.

„Sandra, erdrück das Mädchen nicht.“ Jacks Vater erschien in der Tür. „Ich bin John Cartwright.“

„Mr. Cartwright“, sagte Lily und schien erleichtert, als dieser ihr einfach nur die Hand schüttelte.

„Hallo, mein Sohn.“ Er nickte in Jacks Richtung. „Kommt besser rein, bevor deine Schwestern und Alice noch auf der Türschwelle über das arme Mädchen herfallen.“

„Ja, ja, kommt herein“, sagte Jacks Mutter. „Ich hoffe sehr, du hast Hunger mitgebracht, Lily. Alice hat uns einen fabelhaften Brunch aufgetischt, und ich habe meine berühmte Leberpastete gemacht.“

Jack flüsterte Lily ins Ohr. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Halt dich von der Leberpastete fern.“

Aber das tat Lily keineswegs. Jack unterdrückte einen gequälten Seufzer, als sie noch eine Gabel davon in den Mund schob, um dann schnell wieder nach ihrem Wasserglas zu greifen. „Halt noch ein bisschen Platz frei für den Nachtisch“, warnte er sie. „Alice macht die besten Erdbeertörtchen von ganz Connecticut.“

„Das stimmt“, bestätigte Courtney. „Sie verwendet echte Schlagsahne.“

„Klingt wirklich lecker.“

„Jack sagt, du arbeitest bei Eastwick Cares“, bemerkte Jacks Mutter. „Du kümmerst dich vor allem um vernachlässigte Teeanger.“

„Ja, Ma’am.“ Lily wirkte erleichtert, als Alice die restliche Leberpastete vom Tisch nahm.

„Lily leistet wirklich Erstaunliches mit diesen Kindern“, erklärte Jack. „Die Anzahl der Jugendlichen, die einen Schulabschluss machen und das Programm durchhalten, hat sich fast verdoppelt, seit sie da ist.“

„Es sind ja die Mädchen und Jungen, die die eigentliche Arbeit leisten“, wandte Lily ein. „Ich höre ihnen eigentlich nur zu.“

„Deine Familie muss sehr stolz auf dich sein“, erwiderte Jacks Mutter.

„Lily hat keine Familie“, klärte Jack seine Mutter auf und hätte sich am liebsten geohrfeigt, weil er seine Mutter nicht gewarnt hatte, dass dieses Thema tabu war.

„Jack will damit sagen, dass ich Waise bin. Ich habe meine Eltern nie gekannt.“

„Das tut mir leid, Liebes. Ich wusste das nicht, Jack.“ Ihre Stimme klang scharf, als sie seinen Namen aussprach. „Du hättest es uns sagen sollen. Jetzt habe ich das arme Kind in Verlegenheit gebracht.“

„Ich bin nicht verlegen, Mrs. Cartwright, und bitte denken Sie nicht, dass Sie sich entschuldigen müssen. Ehrlich gesagt, fand ich schon immer, dass ich großes Glück hatte, denn ich musste nie jemandes Erwartungen genügen, außer meinen eigenen.“

„Sie hat recht“, meldete Courtney sich zu Wort. „Ist es schon zu spät für mich, Waise zu werden?“

Alle lachten, und Jack war erleichtert, dass die Spannung ein wenig nachließ.

„Nun, wenn ihr beide verheiratet seid, wirst du eine Cartwright, und wir werden deine Familie sein“, stellte Jacks Mutter fest.

„Wirst du den Namen Cartwright annehmen oder deinen Mädchennamen behalten?“, erkundigte sich Elizabeth.

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, erwiderte Lily.

„Ich denke, wenn ich mal heirate, dann behalte ich meinen eigenen Namen“, verkündete Courtney.

„Zu meiner Zeit nahm eine Frau den Namen ihres Mannes an“, warf Jacks Mutter ein.

„Wie immer Lily sich entscheidet, mir wird es recht sein“, erklärte Jack, der diese Diskussion lieber beendet hätte.

„Wisst ihr schon, wo und wann ihr heiraten wollt?“, fragte Courtney.

„Noch nicht“, antwortete Lily. „Es ist irgendwie alles so schnell gegangen.“

„Ich dachte mir, nächstes Wochenende wäre gut, und zwar nur standesamtlich, es sei denn, Lily besteht auf einer kirchlichen Trauung.“ Er blickte über den Tisch zu Lily hinüber. „Wärst du damit einverstanden?“

„Ja, warum nicht.“

„Nur auf dem Standesamt? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Jack“, protestierte seine Mutter. „Der Hochzeitstag ist einer der wichtigsten Tage im Leben einer Frau. Ich bin sicher, Lily möchte ihr Jawort nicht in einer dunklen stickigen Amtsstube geben, was meinst du, Liebes?“

„Es ist mir wirklich egal“, erwiderte Lily.

„Es ist keine dunkle stickige Amtsstube, Mutter. Das Gebäude ist letztes Jahr für eine Million Dollar renoviert worden“, widersprach Jack.

„Darum geht es nicht. Du und Lily, ihr verdient etwas Angemesseneres.“

„Das ist schon in Ordnung, Mrs. Cartwright …“

„Sandra, Liebes. Du musst mich Sandra nennen.“

„Sandra“, wiederholte Lily. „Eine standesamtliche Trauung wäre für mich völlig in Ordnung. Ich möchte wirklich nicht, dass so viel Aufhebens darum gemacht wird.“

„Ich bitte dich, du hast es verdient, dass man Aufhebens um dich macht“, erwiderte Jacks Mutter. „Und von einer rein standesamtlichen Trauung will ich nichts mehr hören. Eure Trauung soll ein denkwürdiges Ereignis sein für euch beide, und dafür werden wir sorgen. Wir müssen uns nur noch überlegen, wo sie stattfinden soll.“

Bevor Lily wusste, wie ihr geschah, wurde beschlossen, die Hochzeit im Garten des Anwesens zu feiern und Felicity Farnsworth mit der Organisation zu beauftragen.

„Sehr gut“, sagte Jacks Mutter. „Ich rufe gleich Emmas Mutter an. Vielleicht kann sie sie heute noch erreichen. Es gibt eine Menge zu tun. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, bis morgen zu warten.“ Jacks Mutter sah Lily an. „Lily, ich muss noch wissen, welches deine Lieblingsblumen sind, und …“

„Einen Moment, Mutter“, sagte Jack. „Bis jetzt hat Lily noch keinen Ton dazu gesagt.“ Er sah Lily fragend an. „Was meinst du dazu? Bist du damit einverstanden, dass die Trauung hier stattfindet? Wenn nicht, dann brauchst du es nur zu sagen.“ Lily blickte in die Runde. „Ich bin einverstanden.“

„Gut, dann werde ich versuchen, Mrs. Dearborn zu erreichen, damit sie mir Felicitys Nummer gibt. In der Zwischenzeit werden wir zusammen die Gästeliste aufstellen“, verkündete Sandra. „Ich denke, es wäre nett, ein Barbecue zu machen und ein italienisches Büfett zu haben, und ich könnte vielleicht Mini-Spinatquiches …“

„Nein“, erwiderte Jack, im Chor mit allen übrigen Familienmitgliedern. So erreichten sie, was keiner von ihnen alleine erreicht hätte: Sandra verstummte.

„Aber ihr liebt doch alle meine Spinatquiche. Was ist mit dir, Lily? Magst du Spinatquiche?“

„Ich … äh … ich mag Spinat nicht besonders.“ Lily senkte verlegen den Kopf.

Jack lächelte. „Da hörst du es, Mutter. Die Braut mag keine Spinatquiche.“

„Nun, ich könnte ja stattdessen Quiche Lorraine machen“, schlug seine Mutter vor.

„Liebling, du wirst ganz andere Dinge zu tun haben, als dich um das Essen zu kümmern“, warf Jacks Vater ein. „Warum überlässt du nicht alles, was mit dem Essen zu tun hat, Alice und dem Cateringservice?“

Sie schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Wahrscheinlich hast du recht“, sagte sie dann. Wir haben so viel zu tun und so wenig Zeit dafür. Courtney, würdest du bitte versuchen, mich mit Mrs. Dearborn zu verbinden? Und Elizabeth, könntest du mir bitte Schreibblock und Stift bringen?“ Sandra stand auf und legte ihre Serviette auf den Tisch. „Lily und Jack, lasst uns in die Bibliothek gehen und mit der Liste anfangen. John, könntest du Alice sagen, dass wir den Kaffee und das Dessert dort einnehmen?“

„Selbstverständlich.“

Jack ging um den Tisch herum zu Lily. Sie wirkte leicht benommen. Er konnte sich vorstellen, wie sehr sie das alles überwältigt hatte. Er nahm ihre Hand und drückte sie ermutigend. „Alles wird gut.“

„Sandra, geh doch schon mal mit den Damen voraus“, sagte John. „Ich möchte noch kurz mit Jack reden.“

Jack war keineswegs überrascht, dass sein Vater mit ihm allein sein wollte. Er hatte seine Eltern erst am Morgen des vorigen Tages mit seinen Heiratsplänen überrascht. Beide waren schockiert gewesen, aber es hatte keine Vorwürfe gegeben, auch keine Predigten – nur bedingungslose Unterstützung. Der besorgte Blick seines Vaters war ihm allerdings nicht entgangen.

„Warum gehen wir nicht nach draußen und rauchen eine Zigarre?“, schlug dieser vor. „Deine Mutter mag es nicht, wenn es im Haus überall nach Zigarren riecht.“

Sein Vater zündete sich eine Zigarre an und sagte. „Lass uns ein Stück gehen.“

Das Grundstück war zweieinhalb Hektar groß. Das Haus war riesig und bot mit fünf Schlafzimmern und sieben Bädern jede Annehmlichkeit, die man sich vorstellen konnte. Es gab fünf offene Kamine, eine Bibliothek, einen Billardraum, einen Wintergarten. Außerdem gab es in einem separaten Gebäude einen Swimmingpool mit einem Poolhaus, ausgestattet mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer und japanischem Bad. Aber trotz der Größe und der Eleganz des Anwesens herrschte überall eine warme, gemütliche Atmosphäre. Es war eben ein richtiges Zuhause. Jack konnte nur hoffen, dass auch Lily das so empfand.

„Lily scheint ein nettes Mädchen zu sein“, bemerkte sein Vater und blies den Rauch aus.

„Das ist sie“, bestätigte Jack. „Sie war ganz schön nervös. Ich glaube, sie hat damit gerechnet, bei euch auf Ablehnung zu stoßen. Unter diesen Umständen weiß ich es besonders zu schätzen, dass ihr sie so freundlich aufgenommen habt.“

„Ich sehe keinen Grund, weshalb wir ihr etwas vorwerfen sollten. Sie hat dieses Baby nicht allein gemacht.“

„Nein, hat sie nicht“, sagte Jack. Eines musste er seinen Eltern zugute halten: Seit er ihnen von Lilys Schwangerschaft und seinen Heiratsabsichten erzählt hatte, hatten seine Eltern keinen einzigen Tadel oder gut gemeinten Ratschlag geäußert. Das Einzige, was sie gefragt hatten, war, ob er sicher war, dass das Baby von ihm war. Als er ihnen versichert hatte, dass er in diesem Punkt ganz sicher sei, hatten sie nur noch gefragt, wie sie ihm helfen könnten.

Sein Vater ging zu dem kleinen Fluss, der sich an ihrem Grundstück entlangschlängelte. Schon früher waren sie oft zusammen hierher gegangen. Hier war es auch gewesen, wo sein Vater ihn über die Tatsachen des Lebens aufgeklärt und ihm die Sache mit den Frauen und der Verantwortung erklärt hatte. Und hier hatte er seinem Vater zum ersten Mal gesagt, dass er Anwalt werden wollte wie er. Jack wusste, es hatte einen bestimmten Grund, wenn sein Vater ihn hierher führte. Also wartete er ab, was sein Vater ihm sagen würde.

„Ich hatte gestern Abend einen Anruf von Carlton“, begann sein Vater. „Er sagt, er konnte eine weitere bedeutende Persönlichkeit davon überzeugen, dich im Wahlkampf zu unterstützen. Er wartet nur darauf, dass du offiziell deine Kandidatur verkündest.“

„Ja, das habe ich gehört. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen“, sagte Jack. Er wusste, er musste Carlton unbedingt zurückrufen.

„Er war besorgt, weil er nichts von dir gehört hatte, und wollte wissen, wie er dich erreichen kann. Ich sagte ihm, dass wir dich heute erwarten und ich dir sagen würde, dass du dich bei ihm melden sollst.“

„Ich werde ihn anrufen, sobald ich zu Hause bin.“

Sein Vater zog noch einmal an seiner Zigarre. „Hast du dir schon überlegt, wie deine Heirat mit Lily sich auf deine Pläne, in die Politik zu gehen, auswirken könnte?“

„Was die Politik betrifft, weiß ich immer noch nicht genau, was für Pläne ich habe. Aber, abgesehen davon, was Lily vielleicht von meiner Kandidatur halten mag, sehe ich eigentlichen nicht, was unsere Heirat damit zu tun haben soll.“

„Es sollte nichts damit zu tun haben“, sagte Jacks Vater. „Aber Connecticut ist ein konservativer Staat, und Tom Carlton und seine Leute sind ganz besonders konservativ. Sie sind sehr stolz auf ihre Abstammung und halten die konservativen Werte hoch. Natürlich sollen ihre Kandidaten und deren Familien diesem Muster entsprechen. So nett ich Lily auch finde, sie ist möglicherweise nicht das, was diese Leute als geeignete Partnerin für einen künftigen Senator betrachten. Auch diese ungeplante Schwangerschaft und Blitzhochzeit wird ihnen bestimmt nicht passen.“

Jack zog die Brauen zusammen. „Das ist ihr Problem, nicht meins. Lily ist nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Sie hat enorme Hindernisse überwinden müssen, um etwas aus sich zu machen. Was du oder Carlton oder andere Leute über sie denken, ist mir egal. Mir ist Lilys Herkunft nicht peinlich. Ich bin stolz auf sie, weil sie sich nicht davon unterkriegen lässt. Und weder du noch irgendjemand sonst wird daran etwas ändern.“

„Andernfalls wärst du auch nicht der Mann, für den ich dich bis jetzt immer gehalten habe“, erwiderte sein Vater.

„Wenn das so ist, wozu dann diese Predigt?“

„Weil ich denke, ihr beide solltet auf die Reaktion der Öffentlichkeit vorbereitet sein. Es gibt so viele Kleingeister, auch in Eastwick, die denken werden, du hättest dich von ihr in die Ehe locken lassen und deine Zukunft als Politiker damit ruiniert.“

„Die einzige Meinung, die für mich zählt, ist die meiner Familie.“

Jacks Vater nickte, und sie gingen schweigend weiter. Aber die Worte seines Vaters hatten ihn an den Erpresserbrief erinnert, den er eine Woche zuvor in seiner Tasche gefunden hatte. Er hatte ihn ignoriert und würde es weiter tun. Doch jetzt fragte er sich ernsthaft, wer der Absender gewesen sein mochte. Er hatte von Lily erfahren, dass es Bunny Baldwin gewesen war, die ihr die Eintrittskarte für den Ball gegeben hatte. Als Herausgeberin des Eastwick Social Diary hatte Bunny natürlich großes Interesse für die Gerüchteküche gehabt, und Jack hielt es durchaus für möglich, dass sie irgendwie herausgefunden hatte, dass Lily von ihm schwanger war. Aber da der Erpresserbrief nach Bunnys Tod aufgetaucht war, musste er von jemand anderem stammen.

Vielleicht gab es ja jemanden, dem Bunny das Geheimnis verraten hatte?

Jack runzelte die Stirn. Der Brief war in seiner Tasche gelandet, als er in Abby Talbots Haus war. Abby war Bunnys Tochter, und die beiden hatten sich sehr nahegestanden. Es war vorstellbar, dass Bunny Abby etwas erzählt hatte. Bunny hatte zwar immer in den höchsten Tönen von Lily gesprochen, aber den Skandal hätte sie wohl kaum ignorieren können. Es waren genau solche Geschichten, von denen ihr Blatt lebte.

Jack dachte daran, wie sehr Abby der Tod ihrer Mutter zu schaffen gemacht hatte. Sie wäre in ihrem derzeitigen Zustand eigentlich nicht fähig gewesen, sich so einen Erpresserplan auszudenken, geschweige denn, ihn in die Tat umzusetzen. Außerdem würde er Abby so etwas einfach nicht zutrauen. Ihr Mann Luke dagegen … Wieder dachte er daran, wie Luke am Tag der Beerdigung sich stillschweigend von den anderen entfernt hatte, um draußen auf der Terrasse zu telefonieren. Nicht dass er ihn unsympathisch fand, aber irgendetwas war merkwürdig an diesem Mann – etwas, das Jack nicht richtig definieren konnte. Luke hatte auf ihn schon immer einen ziemlich einzelgängerischen Eindruck gemacht, aber eigentlich war er mehr als das. Luke Talbot war absolut undurchschaubar. Möglicherweise hatte Abby ja in einer vertrauten Stunde Luke gegenüber wiederholt, was ihr Bunny erzählt hatte. Und nicht nur ihm gegenüber, sondern zum Beispiel auch im Deb-Klub.

Der Deb-Klub bestand aus fünf Frauen. Sie waren alle auch auf dem Maskenball gewesen. Wenn Bunny Abby etwas von ihm und Lily erwähnt hatte, könnte Abby das bei einem ihrer Lunchtreffs ihren Freundinnen weitererzählt haben. Wie hießen doch gleich die anderen vier? Emma Dearborn, Mary Duvall, Vanessa Thorpe und Felicity Farnsworth. Alle waren nach dem Begräbnis noch in Abbys Haus gewesen. Aber wenn er an Emma Dearborns große blaue Augen dachte, konnte er sie sich einfach nicht als Erpresserin vorstellen. Außerdem hatte sie genug Geld. Sie besaß eine gut gehende Kunstgalerie, und sie war mit Reed Kelly verlobt. Wo war das Motiv? Was Mary Duvall, das einstmals schwarze Schaf der Familie Duvall, betraf, die hatte sich völlig verwandelt, seit ihr Großvater einen Schlaganfall gehabt hatte. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um ihn – mit Erpressung passte das eigentlich nicht zusammen.

Blieben also noch Vanessa Thorpe und Felicity Farnsworth. Vanessas Mann Stuart war vor kurzem gestorben, und seiner sehr viel jüngeren Witwe hatte das Leben noch alles zu bieten. Warum sollte die hübsche Blondine sich als Erpresserin betätigen? Und Felicity Farnsworth … Er hatte davon gehört, dass sie vor ein paar Jahren, nach ihrer Scheidung, finanzielle Probleme gehabt hatte. Aber soweit er wusste, machte sie als Wedding-Planner ein sehr gutes Geschäft. Sollte sie die Erpresserin sein, wäre sie eine verdammt gute Schauspielerin.

„Meinst du, Lily hat eine Ahnung davon, in was für ein Wespennest ihr mit eurer Heirat und mit dieser Schwangerschaft stoßen werdet?“

„Sie ist nicht von gestern. Ich bin sicher, sie kann es sich vorstellen“, erwiderte Jack.

„Wahrscheinlich hast du recht. Aber Getuschel und Andeutungen … das macht einer Frau im Allgemeinen viel mehr zu schaffen. Was meinst du, wie sie damit klarkommen wird?“

„Sie ist stark. Sie wird sich nicht von ein bisschen Klatsch und Tratsch aus der Ruhe bringen lassen.“

„Ich hoffe sehr, dass du recht hast, mein Sohn. Meiner Meinung nach wird sie nämlich den größten Teil davon abbekommen, und sie ist diejenige, die sich umstellen muss.“

„Die Heirat wird für uns beide eine Umstellung“, bemerkte Jack.

„Schon, aber ihr Leben wird sich viel mehr verändern. Sie wird auf einen Schlag Ehefrau, Mutter und Mitglied der Cartwright-Familie. Das ist kein einfacher Job, egal für welche Frau.“

„Ich werde alles tun, um ihr die Sache so weit wie möglich zu erleichtern“, versicherte Jack. „Aber wie ich schon sagte, Lily ist nicht von gestern, und sie ist eine starke Frau. Ein paar tratschende Weiber bringen sie nicht aus dem Gleichgewicht.“

„Lass es dir gesagt sein, von einem Mann, der seine Frau durch drei Schwangerschaften begleitet hat: Es spielt keine Rolle, wie klug oder stark eine Frau ist, wenn sie ein Kind erwartet, ist alles ganz anders.“

„Ich werde daran denken.“

Sie gingen weiter, und eine ganze Weile sagte sein Vater nichts mehr. Aber Jack kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er noch nicht fertig war.

John paffte an seiner Zigarre. Sie waren jetzt am Fluss angekommen. „Hab ich dir eigentlich schon davon erzählt, wie ich deine Mutter kennengelernt habe?“, fragte er plötzlich.

„Sie hat mir erzählt, es sei bei einer Tanzveranstaltung gewesen.“

„Genauer gesagt, beim Militärball. Ich war in meinem letzten Collegejahr und als Reserveoffizier Captain meiner Einheit. Sie kam zusammen mit ihrer Cousine Bess. Ich hielt mich damals für einen tollen Kerl. War ich eigentlich auch. Ich hatte jede Menge Dates und hatte es nicht eilig, mich festzulegen“, erzählte John, als sie auf der Brücke stehen blieben, die über den Fluss führte. „Aber als ich deine Mutter sah, wusste ich sofort, dass es mich erwischt hatte. Leider hat deine Mutter das damals nicht ganz so empfunden, und ich habe eine Weile gebraucht, um sie zu überzeugen, dass ich der Richtige für sie war.“ Er schwieg einen Moment und sah Jack an. „Ich habe den Eindruck, dass Lily sich nicht so ganz sicher ist, was diese Heirat betrifft.“

„Das ist sie auch nicht“, gab Jack zu. Auch er selbst war hin- und hergerissen, obwohl er sicher war, dass es für das Baby auf jeden Fall das Beste war.

„Nur im Gegensatz zu dir und Mom kann ich Lily nicht viel Zeit lassen, sich zu überlegen, ob es richtig ist, mich zu heiraten.“ Wenn er das täte, dann würde sie womöglich ihre Meinung ändern.

4. KAPITEL

Vielleicht hatte Jack doch recht gehabt und sie sollten einfach nur zum Standesamt gehen? Lily saß an einem Tisch in der Bibliothek der Cartwrights. Wie konnte etwas, das sich so einfach anhörte, nur so kompliziert sein? Nachdem Sandra Cartwright Felicity Farnsworth erreicht hatte, hatte diese sich erboten, sofort vorbeizukommen, mitsamt allem, was zur Planung einer Hochzeit gebraucht wurde.

Ihrer Hochzeit.

Lily hatte ein flaues Gefühl im Magen. Sie konnte noch immer nicht ganz glauben, dass Jack sie gebeten hatte, ihn zu heiraten, und dass sie eingewilligt hatte. Eigentlich hatte er sie nicht gebeten, er hatte praktisch darauf bestanden. Doch wie auch immer, sie hatte eingewilligt.

Ihr Kind würde also ein oder eine Cartwright sein.

Sie waren ganz anders, diese Cartwrights, als sie sie sich vorgestellt hatte. Natürlich hatte sie aufgrund ihrer Tätigkeit bei Eastwick Cares schon öfter mit reichen Leuten zu tun gehabt, war auch schon ein- oder zweimal in ähnlich großen Häusern gewesen. Aber sie war nie ein Teil dieser Welt gewesen, war nie mit offenen Armen empfangen worden. Sie würde nie den Schock vergessen, als die elegante Sandra Cartwright sie umarmte. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet, viel eher damit, dass Jacks Mutter sie kühl und abweisend behandeln würde. Aber das hatte Sandra nicht getan. Weder sie, noch Jacks Vater, noch dessen Schwestern. Im Gegenteil, sie waren alle so nett und herzlich gewesen, dass ihr fast die Tränen gekommen wären – wie so oft, seit sie schwanger war.

„Wir müssen noch entscheiden, was für eine Art Hochzeitstorte Sie möchten“, unterbrach Felicity ihre Gedanken. „Haben Sie da schon eine bestimmte Vorstellung, Lily?“

„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte Lily hilflos. Die üppige Blondine war vor über zwei Stunden mit so viel Enthusiasmus in die Villa der Cartwrights gestürmt wie eine ganze Horde Teenager.

„Kein Problem.“ Felicitys grüne Augen funkelten. Sie holte einen weiteren Aktenordner aus ihrer Sammlung und klappte ihn auf dem Tisch auf. „Mal schauen, ob wir hier drin nicht etwas finden, das Ihnen gefällt.“

„Oh, die hier ist wundervoll!“, stieß Sandra hervor.

„Und diese erst!“, rief Courtney begeistert. „Und die hier.“

„Diese Torte sieht aus, als wäre sie für eine Barbiepuppe gedacht“, bemerkte Elizabeth trocken.

Lily lehnte sich zurück. Es war so gemütlich, hier bei den Cartwrights zu sitzen und die Wärme und Zuneigung zu erleben, die sie füreinander empfanden, trotz der ständigen Meinungsunterschiede. Sie waren wirklich eine richtige Familie. Lily blickte hinüber zu dem Kamin, auf dessen Sims lauter Familienfotos ausgestellt waren. Durch die Tür konnte sie von der Bibliothek ins Wohnzimmer schauen, wo ein kleiner Flügel stand, auf dessen polierter Oberfläche weitere Fotos standen: Jack als kleiner Junge, Elizabeth an ihrem sechzehnten Geburtstag, seine Eltern an ihrem Hochzeitstag, die ganze Familie unterm Weihnachtsbaum. Eines Tages würde auch ein Foto ihres Babys dort zu sehen sein. Ihr Baby würde zu dieser Familie gehören. Ihr Kind würde dazugehören. Das war der Grund, weshalb sie das hier tat. Sie wünschte nur, sie müsste dafür nicht Jacks Leben auf den Kopf stellen.

„Also, die hier ist wirklich schön“, erklärte Sandra Cartwright. „Was meinst du, Lily?“

Lily blinzelte und bemerkte erst jetzt, das aller Augen auf sie gerichtet waren. Sie richtete den Blick auf die aufgeschlagene Seite. Eine besonders elegante Hochzeitstorte war darauf abgebildet, die mit echten weißen Teerosen verziert war. „Wunderschön, ja“, sagte sie. „Ich denke, Sandra hat recht.“

„Sollen wir also die nehmen?“, fragte Felicity.

„Ja“, sagte Lily, und ihr wurde ganz flau im Magen. Sie würde tatsächlich heiraten.

„Wissen Sie denn schon, mit wie vielen Gästen Sie rechnen?“, fragte Felicity.

„Darüber habe ich noch nicht ernsthaft nachgedacht. Ich dachte eigentlich, wir feiern nur im engsten Familienkreis.“

„Aber Lily, meine Liebe, du weißt doch sicher, dass Jack unglaublich viele Freunde und Geschäftsfreunde hat, ganz abgesehen von den Freunden der Familie, die alle erwarten, eingeladen zu werden“, sagte Sandra. „Also ich denke, wir werden mindestens dreihundert Gäste haben.“

„Dreihundert!“, wiederholte Lily, und ihr Magen bildete einen schmerzhaften Knoten bei dem Gedanken, dass all diese Menschen sie beobachten würden.

„Es werden nicht mehr als dreißig sein!“

Lily fuhr mit dem Kopf herum. Jack stand in der Tür. Er trug eine dunkelgraue Hose und ein weißes Hemd, dessen obere Knöpfe er geöffnet hatte. Sie war noch nie so glücklich gewesen, jemanden zu sehen. Er ließ keine Sekunde den Blick von ihr, als er auf sie zuging. Im Nu löste sich der Knoten in ihrem Magen, und als Jack ihr von hinten die Hände auf die Schultern legte, konnte sie wieder ganz normal atmen.

„Dreißig?“, wiederholte Sandra entsetzt. „Das kannst du doch nicht wirklich ernst meinen, Jack. Meine Güte, mein Gartenklub hat ja allein schon dreißig Mitglieder.“

„Aber dein Gartenklub wird nicht eingeladen, Mutter.“

„Aber, Jack …“

„Lass es gut sein, Mutter. Lily und ich möchten es klein und intim, nur die Familie und ein paar Freunde. Wenn dir das nicht recht ist, dann werden wir unsere Hochzeit eben nicht hier feiern. Dann machen wir es so, wie ursprünglich geplant, und heiraten nur auf dem Standesamt.“

„Lily, meine Liebe, hilf mir, meinem dickköpfigen Sohn Vernunft beizubringen“, flehte Sandra. „Erklär ihm, dass es schrecklich unhöflich wäre, nicht all unsere Freunde zu eurer Hochzeit einzuladen.“

„Ehrlich gesagt, mir wäre es in kleinem Rahmen auch lieber“, gestand Lily.

„Aber …“

„Du hörst doch, was sie sagt, Sandra“, sagte John, der gerade dazukam. „Sie und Jack möchten aus ihrer Hochzeit keine Zirkusveranstaltung machen. Ich habe dafür vollstes Verständnis. Falls sie später doch noch einen größeren Empfang geben wollen, können wir ihnen den immer noch ausrichten.“

„Nun, wie ich sehe, bin ich überstimmt“, sagte Sandra und wandte sich an Felicity. „Offenbar brauchen wir also nur eine Torte für dreißig Personen.“

Felicity notierte sich die Details. „Also gut, nachdem wir die Sache mit der Hochzeitstorte geklärt haben, kommen wir nun zum Büfett.“

Lily merkte, dass ihre Konzentration nachließ. Gleichzeitig war jeder einzelne Muskel an ihrem Körper angespannt. Jacks Hände lagen noch immer auf ihren Schultern. Plötzlich stiegen die Erinnerungen an jene Nacht in seinem Hotelzimmer auf. Erwartungsvoll und gleichzeitig schrecklich nervös hatte sie vor seiner Tür gestanden. Sollte sie wirklich die Chipkarte benutzen? Sie hatte sich schon umgedreht, um zu gehen, als sich die Tür von innen geöffnet hatte. Jack hatte nichts gesagt, sondern ihr nur von hinten die Hände auf die Schultern gelegt. Dann hatte er sie sachte zu sich umgedreht und sie geküsst.

„… Lily, sind Sie einverstanden mit Beef Wellington?“, hörte sie Felicitys Stimme.

„Mutter, ich würde sagen, du und Felicity, ihr kümmert euch um das Büfett“, sagte Jack und stand auf, bevor Lily antworten konnte. „Ich habe morgen einen harten Tag, und Lily sicher auch. Ich bin sicher, ihr erledigt das zu unser beider Zufriedenheit. Nicht wahr, Lily?“

„Ja“, sagte sie erleichtert und stand auf.

„Und denk dran, Mutter, keine Quiche. Ansonsten wissen Lily und ich in jeder Hinsicht deine Hilfe zu schätzen.“

„Na schön“, sagte Sandra. „Dann mache ich nach der Hochzeit eine Quiche Lorraine für euch.“

„Danke“, sagte Lily. „Ich freue mich schon darauf.“

Zehn Minuten später, nachdem sie wortreich Abschied genommen und Lily versprochen hatte, sich am nächsten Tag mit Felicity in Verbindung zu setzen, saßen sie in Jacks Wagen.

„Tut mir leid, dass ich dich mit den Hyänen allein gelassen habe“, sagte Jack, als sie das schmiedeeiserne Tor passierten. „Aber Tom Carlton ist ein alter Freund der Familie, und er wollte unbedingt etwas mit mir besprechen, bevor er die Stadt verließ. Leider hat es länger gedauert, als ich dachte.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Lily. „Ich mag deine Familie. Sie sind ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe.“

Jack sah sie fragend an. „Soll ich dich jetzt fragen, wie du sie dir vorgestellt hast?“

„Ich weiß nicht. Ich schätze, ich habe nicht damit gerechnet, dass sie nett zu mir sein würden. Ich meine, wenn man bedenkt, wer sie sind, und wer ich bin, und … und dann diese Umstände.“

„Sie sind eben auch nur Menschen, Lily. Und was die Umstände betrifft … wenn sie jemandem Vorwürfe machen würden, dann mir.“

„Aber …“

„Aber sie machen niemandem Vorwürfe. Ehrlich gesagt, ich glaube, meine Mutter ist einfach froh. Sie wünscht sich schon seit Jahren ein Enkelkind. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft sie sich schon beklagt hat, weil all ihre Freundinnen schon mehrfache Großmütter sind.“

„Ja, ich glaube, das hat sie erwähnt.“ Lily war ganz überrascht gewesen. „Und sie wollte wissen, in welchen Farben ich das Kinderzimmer einrichten will.“

„Wenn wir gerade davon reden, wir haben noch gar nicht besprochen, wo wir wohnen werden. Ich weiß, du hast bestimmt eine schöne Wohnung, doch vermutlich wird sie nicht groß genug sein für uns drei.“

Er war ja so taktvoll. Ihr Einzimmerapartment war winzig. Natürlich hatte sie schon angefangen, eine größere Wohnung zu suchen, nachdem sie erfahren hatte, dass sie schwanger war. Am liebsten wäre ihr ein Haus mit Garten.

„Mein Haus bietet viel mehr Platz“, sagte Jack. „Und ich dachte mir, wir könnten, zumindest vorerst, dort wohnen. Wenn das Baby da ist und du lieber woanders leben möchtest, dann können wir natürlich umziehen.“

Wieder verspürte Lily Panik. Sie würde Jack Cartwright heiraten. Sie würde mit ihm unter einem Dach leben.

„Wenn du möchtest, können wir schnell zu mir fahren, damit du einen Blick darauf werfen kannst. Vielleicht möchtest du ein paar Veränderungen.“

„Schon gut. Ich bin sicher, das Haus ist okay, so wie es ist.“

„Aber möchtest du es nicht wenigstens einmal gesehen haben …“

„Vielleicht ein andermal. Ich bin ziemlich müde.“ Und mehr als nur ziemlich besorgt, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte – nicht nur für sich und das Baby, sondern auch für Jack.

Jack drehte sich zu Lily um, als er ihren Seufzer hörte. Sie hatte den Kopf an die Rückenlehne gelegt und die Augen geschlossen. Zweifellos war sie erschöpft. Was als harmloser Brunch im Kreis der Familie begonnen hatte, war zu einem Organisationsmarathon ausgeartet. Er hätte es sich natürlich denken können, dass seine Mutter sich in einen wahren Oberfeldwebel verwandeln würde. Sandra Cartwright mochte keine halben Sachen. Als er die Bibliothek betreten und Lilys Verwirrung bemerkt hatte, war ihm klar gewesen, dass er sie von dort wegbringen musste.

Sie hat wirklich ganz toll durchgehalten, dachte er, als er sich auf dem Highway in den fließenden Verkehr einfädelte. Er hatte ja gewusst, dass sie aufgeregt und nervös war und immer noch Bedenken hatte, ihn zu heiraten. Er hatte selbst welche, wenn er ehrlich war. Sein Vater hatte recht, eine Ehe war schon unter den günstigsten Umständen keine Sache, die man auf die leichte Schulter nahm, und in ihrem Fall waren die Umstände alles andere als günstig. In seinen Kreisen war es üblich, aus Liebe zu heiraten. So war es bei seinen Eltern gewesen, und bei seinen bereits verheirateten Freunden. Er und Lily liebten sich jedoch nicht.

Allerdings gab es da etwas zwischen ihnen – eine starke körperliche Anziehung und noch etwas, das er nicht genau definieren konnte. Und dieses Etwas war stärker geworden in den vier Tagen, seit er Lily ausfindig gemacht und erfahren hatte, dass sie von ihm schwanger war. Lily bedeutete ihm etwas, und das nicht nur wegen des Kindes, wie er zugeben musste. Und empfand sie nicht das Gleiche? Oder was sonst hatte der Blick zu bedeuten, mit dem sie ihn angesehen hatte, als er vorhin die Bibliothek betrat?

Er hörte sie keuchen und schaute zu ihr hinüber.

Sie hatte die Hand auf ihren Bauch gelegt. „Was hast du?“, fragte er erschrocken. „Ist etwas mit dem Baby?“

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren riesengroß und glänzten. „Nein, alles in Ordnung. Unser Kind strampelt mal wieder.“

Jack schluckte schwer. Er betrachtete Lilys Bauch, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Ihr Kind. Das Wesen, das da in Lily heranwuchs, war ein richtiger Mensch. Noch vier Monate, dann würde er sein Kind in den Armen halten. Ein winziges Wesen, für das er verantwortlich sein würde. Ein winziges Wesen, das ihn Daddy nennen würde. Wieder sah er Lily an. „Tut es weh? Wenn es strampelt, meine ich.“

„Das nicht gerade. Es ist einfach ein bisschen unangenehm. Allerdings muss ich zugeben, dass die Tritte immer kräftiger werden.“

Jack richtete den Blick wieder auf die Straße. „Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann?“

Sie lachte hellauf. Jack wurde bewusst, dass es das erste Mal war, dass er sie lachen hörte. Selbst in der Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, hatten sie nicht gelacht. „Was ist denn auf einmal so lustig?“, fragte er und hoffte, sie würde noch einmal lachen.

„Schwanger zu sein ist nicht so, als hätte man die Grippe, Jack. Die einzige Therapie besteht darin, das Baby zur Welt zu bringen. Bis dahin scheint nichts ihn oder sie zu besänftigen außer Eiscreme.“

„Das Baby mag Eis?“

„Ich glaube, ja“, erwiderte Lily belustigt. „Oder vielleicht bin ich es selbst. Jedenfalls hört der kleine Fußballer jedes Mal auf zu strampeln, wenn ich das Walnusseis aus dem Kühlschrank hole.“

Jack lachte. „Soso, unser Kleines mag also Walnusseis.“

„Sieht ganz so aus.“

„Und Schokokaramell?“, fragte er und setzte den Blinker.

„Keine Ahnung. Warum?“ Lily setzte sich verwundert auf, als er die nächste Ausfahrt nahm.

„Ich kenne da eine Eisdiele ganz in der Nähe. Lassen wir doch unser Baby entscheiden, welche Sorte es lieber mag.“

Es stellte sich heraus, dass das Baby am liebsten eine Mischung aus Walnusseis und Schokokaramell mochte. Auf der Heimfahrt dachte Jack, wie grässlich ihm diese Kombination vorkam. Lily dagegen hatte sie köstlich gefunden. Danach hatte er das Gefühl gehabt, eine Hürde überwunden zu haben, denn sie war viel entspannter gewesen. Also hatte er von jeder Eiscremesorte noch eine Packung gekauft, in der Hoffnung, die gute Stimmung würde anhalten. Der Verlobungsring befand sich noch immer in seiner Hosentasche.

Er hielt vor dem Apartmentblock, in dem Lily wohnte, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und streckte die Hand aus.

„Danke“, murmelte Lily.

„Keine Ursache“, sagte Jack und warf die Tür hinter ihr zu. Dann holte er die Tüte mit den Eiscremekartons vom Rücksitz.

„Ich kann das nehmen“, sagte sie. „Du musst nicht mit hochkommen.“

Jack tat, als habe er sie nicht gehört. „Meine Mutter und meine Großmutter haben mir beigebracht, eine Frau immer bis an die Tür zu begleiten.“

Als sie vor der Tür ihres Apartments standen, drehte Lily sich zu Jack um. „Danke, Jack. Es war schön bei deiner Familie. Sie sind sehr nett.“

„Sie mögen dich auch“, sagte er.

„Tja, dann also bis demnächst.“

Er hielt die Tüte hoch. „Ich denke, ich lege das Eis besser ins Gefrierfach.“

„Schon gut. Das kann ich selbst.“

„Lily, ich möchte noch mit hineinkommen.“ Sie hatte ihn bis jetzt noch nie in ihre Wohnung gelassen. Er wusste, ihr war nicht ganz wohl dabei, und er verübelte es ihr nicht. Aber irgendwann musste sie ihre Scheu ablegen.

„Ich bin wirklich müde, Jack.“

„Ich verspreche, ich bleibe nicht lange.“ Als sie zögerte, sagte er: „In einer Woche bist du meine Frau.“ Er streichelte ihre Wange mit den Fingerspitzen. „Ich erwarte nichts von dir, ich finde nur, es wäre nicht schlecht, wenn wir es schaffen würden, dass wir uns nicht unbehaglich fühlen, wenn wir allein zusammen sind.“

„Ich weiß. Du hast ja recht“, sagte sie. „Aber es ist ja auch nicht so, dass wir uns völlig fremd sind.“

„Nein, das sind wir nicht. Aber wenn diese Ehe funktionieren soll, müssen wir einander vertrauen.“

„Ich vertraue dir ja, Jack. Ich mache mir nur Sorgen, ob wir wirklich das Richtige tun, indem wir heiraten.“

„Das tun wir“, versicherte er und hielt wieder die Tüte hoch. „Aber wenn ich das nicht bald in den Gefrierschrank lege, haben wir ein Problem.“

„Zur Küche geht’s da entlang“, sagte sie. „Entschuldige mich bitte einen Moment.“

Wahrscheinlich wollte sie wieder einen kleinen Abstecher ins Bad machen. Jack nutzte die Gelegenheit, sich in der Wohnung umzusehen. Sie war kleiner, als er erwartet hatte. Er ging die wenigen Schritte zur Küche und legte die Eiscreme in den Gefrierschrank. Die Wohnung war sauber und ordentlich, die Einrichtung farbenfroh. Lily liebte offenbar helle leuchtende Farben, das hatte er bis jetzt nicht gewusst.

Offenbar liebte sie auch frische Blumen. Auf dem Küchentisch stand eine Vase mit Margeriten und auf dem Wohnzimmertisch eine mit Rosen. Auch das Wohnzimmer war klein, aber hell und gemütlich. Auf einem Ende der Couch lag eine Wolldecke. An der Wand hingen mehrere Bücherregale. Lilys Interessen schienen breit gefächert zu sein. Er fand den neuesten Thriller einer bekannten Autorin ebenso wie mehrere Fachbücher über Psychologie, Kunst und Gärtnerei. Offenbar mochte sie die Impressionisten, jedenfalls entdeckte Jack zwei Drucke von Monet.

Das Einzige, was fehlte, waren Fotografien. Im Gegensatz zu seinem Elternhaus, gab es in dieser Wohnung keine einzige. Das Fehlen von Familienfotos sagte Jack mehr als alles andere. Er empfand einen dumpfen Druck auf der Brust, wenn er daran dachte, dass Lily ohne die Geborgenheit einer Familie hatte aufwachsen müssen. Gleichzeitig bewunderte er sie dafür.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Kein Problem.“ Jack musste sich beherrschen, um sie nicht einfach in die Arme zu nehmen. „Ich habe mir gerade deine Kunstdrucke angesehen. Wie ich sehe, magst du Monet.“

„Ja, und Degas. Ich habe mir vorgenommen, irgendwann nach Paris zu reisen und eine ganze Woche im Louvre zu verbringen.“

„Du brauchst nicht auf irgendwann zu warten. Wir können nächste Woche fliegen, nach unserer Hochzeit. Schließlich haben wir doch ein Recht auf Flitterwochen, oder?“ Er nahm Lilys Hand. „Was meinst du dazu?“

„Ich … ich glaube, eher nicht.“ Lily entzog ihm ihre Hand und machte ein paar Schritte von ihm weg. „Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, jetzt eine Flugreise zu machen … nicht solange ich schwanger bin.“

„Dann reisen wir im Frühling. Paris im April ist wunderschön. Was meinst du?“

„Hört sich gut an“, sagte sie. „Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Ich habe Wasser, Eistee und Limonade, allerdings keinen Wein.“

„Eistee wäre gut.“ Als sie in der Küche verschwand, schob Jack die Hand in die Hosentasche und tastete nach der Schachtel mit dem Ring. Lily war ohne Familie aufgewachsen und konnte sich auf niemanden verlassen als auf sich selbst. Sie sollte niemals wieder allein sein. Er würde ab jetzt ihre Familie sein. Er und das Baby.

„Hier, bitte sehr.“ Lily kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Gläser und eine Karaffe standen, ein kleiner Teller mit Zitronenscheiben und eine Schale mit Süßstoff und Zucker.

„Lass mich das machen“, sagte Jack, nahm ihr das Tablett aus der Hand und stellte es auf den Couchtisch.

„Ich war nicht sicher, ob du Zucker nimmst oder Süßstoff, also habe ich beides gebracht.“ Lily schenkte jedem ein Glas Eistee ein und reichte Jack seines.

Jack nahm es und stellte es auf dem Tisch ab. „Lily, ich möchte keinen Tee.“

Überrascht stellte sie ihr Glas ebenfalls ab.

„Komm, setz dich einen Moment zu mir“, bat er und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Couch.

Sie kam zu ihm. „Stimmt etwas nicht? Hör zu, wenn du dir die Sache mit der Hochzeit anders überlegt hast …“

Jack berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen. „Ich habe es mir keineswegs anders überlegt. Ich wollte dir das hier geben.“ Er zog die kleine Schachtel mit dem Ring aus der Tasche und öffnete sie. Lily seufzte unwillkürlich, als sie den wertvollen antiken Diamantring sah.

Dann richtete sie den Blick auf Jack. „Ich habe doch gesagt, dass ich keinen Verlobungsring brauche.“

„Ich weiß. Aber das hier ist nicht einfach irgendein Verlobungsring. Er befindet sich seit fast zweihundert Jahren im Besitz meiner Familie, und es heißt, die Frauen, die ihn getragen haben, führten alle eine lange, glückliche Ehe.“

„Jack, ich kann nicht …“

„Er wurde von Generation zu Generation an den jeweils ältesten männlichen Erben weitergegeben. Zuletzt gehörte er meiner Großmutter. Meine Mutter war Einzelkind, sie hat ihn mir gegeben, damit ich ihn meiner Braut schenke. Du wirst meine Braut sein, also sollst du ihn tragen.“

„Jack, das geht doch nicht. Es wäre nicht recht. Dieser Ring soll von der Frau getragen werden, die du lie…“

„Er soll von der Frau getragen werden, die ich gebeten habe, meine Frau zu werden, Lily.“ Jack nahm den Ring aus der Schatulle. „Wirst du ihn tragen? Für mich? Für unser Baby?“

Einen Moment lang glaubte er, Lily würde ablehnen. Aber dann streckte sie die Hand aus.

Er schob ihr den Ring auf den Finger, und er passte genau, als wäre er für sie gemacht worden. Vielleicht hatte es wirklich etwas auf sich mit den irischen Sagen, die in der Familie seiner Mutter erzählt wurden. Jedenfalls wirkte der Ring an Lilys Finger so, als gehöre er genau dort hin.

„Er ist wunderschön.“ Fasziniert betrachtete Lily den Ring. Als sie aufblickte, trafen sich ihre Blicke. „Ich werde ihn hüten wie einen Schatz, versprochen.“

„Ich weiß.“

„Tja, ich fürchte, es ist schon ziemlich spät“, sagte sie und stand auf.

„Richtig“, sagte Jack und folgte Lily zur Tür. „Ich rufe dich morgen früh an.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, beugte er sich vor und küsste sie. Es war nur ein ganz zarter Kuss, eine leichte Berührung der Lippen, ohne Begierde, ohne Leidenschaft. Und doch glaubte Jack noch lange auf der Heimfahrt, Lilys Lippen auf seinen zu spüren.

Lange nachdem Jack gegangen war, stand Lily immer noch an den Türrahmen gelehnt und strich sich mit den Fingerspitzen über den Mund, dort, wo Jacks Lippen ihre berührt hatten. Anders als die Küsse in jener Nacht war dieser Kuss einfach nur zärtlich und liebevoll gewesen. Ein Kuss, der ein Versprechen enthielt.

Aber er tat das alles nur wegen des Babys, das durfte sie nicht vergessen. Als sie die Hand sinken ließ, blitzte der Diamant auf. Lily betrachtete ihn nachdenklich.

Jack hatte ihr den Ring seiner Großmutter gegeben.

Aber was bedeutete das schon? Er tat das alles wegen des Kindes. Dennoch konnte sie nicht aufhören, an Jack zu denken. Immer wieder sah sie sein Gesicht vor sich und erinnerte sich an die Wärme in seinem Blick. Sie presste die Lider zusammen, um die Erinnerung zu verscheuchen, aber das Bild blieb vor ihrem inneren Auge bestehen, und sie glaubte seine Stimme zu hören.

Es heißt, die Frauen, die ihn getragen haben, führten alle eine lange, glückliche Ehe.

Zuletzt gehörte er meiner Großmutter … damit ich ihn meiner Braut gebe …

Wirst du ihn tragen? Für mich? Für das Baby?

Lily öffnete die Augen. Wie oft hatte sie sich gefragt, wie sie sich wohl an dem Tag fühlen würde, wenn ihr ein Mann einen Heiratsantrag machte. Ein wunderbarer Mann, attraktiv, sympathisch, großzügig, hatte sie gebeten, seine Frau zu werden, und ihr ein Familienerbstück geschenkt.

Sie sollte glücklich sein. Ihr Baby würde alles haben, was sie sich für ihr Kind jemals hätte wünschen können – einen liebenden Vater, eine richtige Familie. Ihr Kind würde niemals einsam und allein sein.

Das alles symbolisierte dieser Ring. Und doch war das Gefühl, das sie dabei empfand, ganz anders, als man erwarten sollte. Lily wischte sich eine Träne von der Wange. Anstatt sich glücklich zu fühlen, war sie so traurig wie schon lange nicht mehr, weil sie immer geglaubt hatte, wenn eines Tages ein Mann ihr einen Ring ansteckte und sie bäte, seine Frau zu werden, dann würde er das nur aus Liebe tun.

Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie hatte sich Illusionen hingegeben und geglaubt, ein Märchen werde für sie wahr. Sie, die vernünftige, realistische Lily Miller, die Frau, die sich ihr Leben lang niemals etwas vorgemacht hatte, hatte sich von ihrem Wunschdenken leiten lassen und jämmerlich Schiffbruch erlitten.

5. KAPITEL

„Johanna hat zwar beträchtliche Fortschritte gemacht, seit sie zum ersten Mal zu uns gekommen ist, aber sie hat nach wie vor ein Problem damit, anderen Menschen zu vertrauen“, sprach Lily in ihr Diktiergerät. Es ging um die letzte Stunde, die sie mit Johanna zusammen verbracht hatte. „Dieser Vertrauensverlust hängt höchstwahrscheinlich mit dem Gefühl des Verlassenseins zusammen, das mit der Scheidung ihrer Eltern einherging.“

Lily hatte das Dutzende Male erlebt. Zu oft waren es die Kinder, die die meisten Narben davontrugen, wenn Eltern sich scheiden ließen. Lily hatte irgendwann aufgehört, die Fälle zu zählen, in denen Kinder wie die zwölfjährige Johanna Stevenson sich selbst die Schuld zuwiesen. Während die Familie sich auflöste und die Eltern immer weniger Zeit mit ihren Kindern verbrachten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, ihr eigenes Leben wieder unter Kontrolle zu bringen, verloren die Kinder ihre Geborgenheit. Am Ende fühlten sie sich nicht gewollt, nicht geliebt, überflüssig.

Lily dachte an ihr Baby. So sollte ihr Kind sich jedenfalls niemals fühlen. Deshalb hatten Jack und sie sich ja darauf geeinigt, zu heiraten – damit das Kind eine Familie hatte. Im Gegensatz zu ihr würde das Kind in dem Gefühl aufwachsen, geliebt und geborgen zu sein.

Es klopfte. „Hallo, darf ich?“ Felicity Farnsworth steckte den Kopf durch die Tür. „Sehr gut, dass ich Sie noch vor der Mittagspause erwische. Darauf hatte ich gehofft“, fuhr sie fort und wirbelte herein, einen weißen Kleidersack in der Hand.

„Felicity! Ich hatte gar nicht mit Ihnen gerechnet“, sagte Lily und stand auf.

„Ich weiß, aber ich habe Ihnen mehrmals Nachrichten hinterlassen, und als ich nichts von Ihnen hörte, dachte ich mir, Sie sind wahrscheinlich zu beschäftigt, um zu mir zu kommen. Also beschloss ich, stattdessen zu Ihnen zu kommen.“

„Es tut mir leid. Ich habe Ihre Nachrichten erhalten, aber ich war wirklich sehr beschäftigt“, sagte Lily, was allerdings nur teilweise der Wahrheit entsprach. Sie hatte vor allem deswegen nicht zurückgerufen, weil es ihr fast wie Betrug vorkam, dass Jack und seine Familie so viel Aufhebens um ihre Hochzeit machten, wo ihre Ehe doch gar keine richtige Ehe sein würde.

„Kein Problem“, versicherte Felicity, und ihre grünen Augen funkelten. „Deshalb haben Sie ja mich beauftragt – damit ich mich um alle Details kümmere. Und das hier …“, sie deutete auf den Kleiderbehälter, „… ist ein äußerst wichtiges Detail.“

„Felicity“, begann Lily. „Der Moment ist nicht sehr günstig. Ich habe in einer Viertelstunde noch einen Termin.“

„Dann verspreche ich, in zehn Minuten wieder weg zu sein. Sie müssen nur das hier anprobieren und entscheiden, ob es Ihnen gefällt. Es ist Ihr Brautkleid.“

„Aber ich brauche doch nicht extra ein Hochzeitskleid.“ Lily hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Für sie war klar, dass sie ihr beigefarbenes Leinenkostüm tragen würde, das sie sich Ostern gekauft hatte.

„Eine Braut braucht ein Brautkleid. Und da Sie keine Zeit haben, eines kaufen zu gehen, habe ich eines ausgesucht, von dem ich glaube, dass es Ihnen gefallen könnte.“ Felicity hängte den Kleiderbehälter an die Tür und begann, den Reißverschluss zu öffnen.

„Wirklich, Felicity, das ist doch nicht nötig. Ich entspreche ja wohl kaum dem Bild der jungfräulichen Braut“, erwiderte Lily, die sich ihres sichtbar gewölbten Bauches nur zu sehr bewusst war.

„Unsinn“, sagte Felicity. „Wenn nur jungfräuliche Bräute Brautkleider tragen dürften, würden kaum welche verkauft werden.“ Sie nahm das Kleid aus seiner Verpackung.

Hingerissen betrachtete Lily das weit ausgeschnittene Kleid im Empirestil, das ihren gewölbten Bauch hervorragend kaschieren würde. Es war von raffinierter Schlichtheit, die einzigen verspielten Elemente waren je eine kleine Seidenrosette auf jeder Schulter.

„Die Größe habe ich versucht zu schätzen.“ Felicity hielt das Kleid hoch. „Gefällt es Ihnen?“

„Es ist sehr schön.“ Lily strich über die elfenbeinfarbene Seide. Dann sah sie den Namen des Modestudios auf dem Etikett. „Felicity, ich kann das unmöglich tragen.“

Felicitys strahlendes Lächeln erstarb. „Aber ich dachte, es gefällt Ihnen.“

„Tut es auch. Es ist eines der schönsten Kleider, die ich je gesehen habe. Aber ich kann es mir nicht leisten.“

„Ach so, deswegen.“ Felicity machte eine wegwerfende Bewegung und lächelte. „Das ist bereits erledigt.“

Lily zog die Brauen zusammen. „Was soll das heißen, es ist schon erledigt?“, fragte sie, obwohl sie natürlich ahnte, dass Jack derjenige war, der das „erledigt“ hatte.

„Mrs. Cartwright hat veranlasst, dass die Rechnung an sie geschickt wird.“

Jack oder seine Mutter, das war letztendlich egal. „Es tut mir leid, Felicity. Ich weiß, sie meint es gut, aber ich kann unmöglich zulassen, dass sie das bezahlt. Und da ich selbst es mir nicht leisten kann, werde ich eines von meinen Kleidern tragen.“

Felicity wurde ernst. „Lily, ich verstehe, dass Sie selbst für sich aufkommen wollen. Ich war einmal verheiratet, und als es zu Ende ging, habe ich in finanzieller Hinsicht ganz schön harte Zeiten durchgemacht. Es hat lange gedauert, bis ich wieder auf eigenen Füßen stand, und ich musste es ganz alleine schaffen. Ich verstehe Ihr Bedürfnis, unabhängig und für sich selbst verantwortlich zu sein, sehr gut.“

„Dann verstehen Sie auch, warum ich dieses Kleid unmöglich tragen kann.“

„Ich verstehe vor allem, dass Sie in eine sehr reiche Familie hineinheiraten werden. Die Cartwrights haben eine gewisse gesellschaftliche Position hier in Eastwick. Ob das nun fair ist oder nicht, die Leute erwarten von ihnen ein gewisses Niveau.“

Lilys Herz sank. „Und ich entspreche natürlich nicht dem Bild, das man sich von einer Mrs. Cartwright macht.“

„Das tun Sie sehr wohl, was ihn betrifft. Ich glaube, Sie könnten einfach nur ein Feigenblatt tragen, es wäre ihm recht. Was sage ich, es wäre ihm wahrscheinlich lieber.“

Lily lachte. „Ein Feigenblatt könnte ich mir noch leisten.“

„Nur bin ich nicht sicher, ob seine Familie davon so begeistert wäre“, gab Felicity zu bedenken.

„Was soll ich also tun? Einfach zulassen, dass Sandra ein Vermögen für ein Kleid für mich ausgibt?“

„Nein. Sie sollen zulassen, dass die Mutter des Mannes, den Sie heiraten werden, das Gefühl hat, etwas Besonderes für Sie tun zu können. Ich weiß, es klingt vielleicht oberflächlich, aber für sie bedeuten solche Äußerlichkeiten viel, und sie möchte einfach, dass Sie sich wie eine von ihnen fühlen. Deshalb tut sie das. Für sie ist es sehr wichtig, das für Sie zu tun. Es gibt ihr das Gefühl, teilzunehmen, nicht einfach nur ihren Sohn zu verlieren.“

„Nun ja“, sagte Lily. „Schön ist das Kleid ja.“

„Ja, das ist es. Und ich finde es absolut perfekt für Sie. Aber warum probieren Sie es nicht einfach mal an? Vielleicht finden Sie ja das Kleid an sich selbst ganz schrecklich?“

„Das glaube ich kaum“, sagte Lily.

„Ich habe noch mehrere Paar Schuhe mitgebracht, jeweils in zwei Größen, für den Fall, dass Sie in Ihrem Zustand vielleicht Probleme mit geschwollenen Füßen haben.“

Lily blickte auf die riesige Einkaufstüte, die neben der Tür auf dem Boden lag. „Ich kann nicht glauben, wie viel Mühe Sie sich gemacht haben.“

„Das ist keine Mühe. Das ist mein Job, und ich muss gestehen, ich liebe ihn. Außerdem hat Ihr Verlobter mir das Versprechen abgenommen, diese Hochzeit für Sie so stressfrei wie möglich zu machen.“

„Jack hat Sie darum gebeten?“

„Jawohl. Er sagte, es sei nicht ganz einfach gewesen, Sie zur Hochzeit zu überreden. Deshalb wolle er dafür sorgen, dass für Sie alles perfekt wird.“

Lily wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Kommen Sie, probieren Sie es an.“ Felicity schloss die Tür ab und half Lily beim Umziehen. Schließlich zog sie den Reißverschluss zu und zupfte an den Seidenrosetten. Als sie zufrieden war, trat sie einen Schritt zurück. „Oh, Lily!“, rief sie und klatschte in die Hände. Ihr Ausdruck wurde ganz wehmütig. „Sie sehen so schön aus. Und dieser Farbton macht sich ganz wundervoll zu Ihrem Teint. Haben Sie hier irgendwo einen Spiegel?“

„In der Toilette, dort entlang“, sagte Lily und deutete auf eine Tür am anderen Ende des Raumes.

„Dann kommen Sie, sehen Sie selbst.“

Lily ging hin und betrachtete sich. Sie sah einfach toll in dem Kleid aus. Und man merkte ihr die Schwangerschaft nicht an, denn der Empirestil verbarg ihr Bäuchlein perfekt. Der weite Ausschnitt enthüllte mehr von ihr, als sie gewohnt war. Unwillkürlich legte sie die Hand auf die Brust. Sie hatte keine großen Brüste und hatte deshalb bei tiefer ausgeschnittenen Sachen immer einen Push-up-BH getragen. Aber seit sie schwanger war, hatte sich nicht nur ihr Bauch stärker gewölbt. Sie hatte jetzt definitiv mehr Kurven, auch wenn sie niemals so einen Körper haben würde wie Felicity. „Finden Sie nicht, dass es ein bisschen gewagt ist?“

„Ich finde, es sitzt perfekt. Warten Sie, ich hole die Schuhe.“ Felicity verschwand. Kurz darauf war sie wieder da und holte einen Karton mit elfenbeinfarbenen Satinpumps heraus. „Versuchen wir mal die.“

Lily schlüpfte hinein. Sie passten wie angegossen, und es war hübsch, wie die schmalen Spitzen unter dem Rock hervorschauten.

„Na, was meinen Sie?“

„Sie sind wunderbar.“

„Und sie passen genau zu dem Kleid.“ Felicity strahlte. „Sie werden eine wunderschöne Braut sein, Lily. Ich kann es kaum erwarten, Jacks Gesicht zu sehen, wenn er Sie zum Altar schreiten sieht.“

Lily wurde ernst. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Bestimmt wissen Sie, dass diese Heirat keine Liebesheirat ist und dass Jack mich nur aus einem Grund heiratet, nämlich weil ich schwanger bin.“

„Sind Sie da so sicher?“

„Wie meinen Sie das?“ Lily zog die Schuhe aus und schlüpfte aus dem Kleid. Sie gab Felicity beides zurück und zog ihre eigenen Sachen wieder an.

„Ich meine, ich habe mitbekommen, wie Jack Sie neulich angesehen hat. Das war nicht die Art, wie ein Mann eine Frau ansieht, die er aus Pflichtgefühl heiratet.“

„Da irren Sie sich.“

„Wirklich?“ Felicity hängte das Kleid wieder in den Kleidersack und zog den Reißverschluss zu. „Ich bin jetzt schon eine ganze Weile in dem Geschäft und habe einige Hochzeiten erlebt. Normalerweise kann ich die Paare, die aus Pflichtgefühl oder aus geschäftlichen Gründen heiraten, ziemlich gut von denen unterscheiden, die aus Liebe heiraten. Ich hätte schwören können, Sie und Jack gehören zur zweiten Gruppe.“

Es klopfte an der Tür, und so kam Lily um eine Antwort herum. Aber während sie sich von Felicity verabschiedete und ihren nächsten Besucher hereinbat, wünschte sie sich, die Hochzeitsplanerin hätte recht.

Ungeduldig wartete Jack auf den Beginn der Zeremonie. Jetzt verstand er, warum so viele Paare heimlich heirateten. So eine Hochzeit war wirklich stressig. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass er immer noch befürchtete, Lily könne in letzter Sekunde davonlaufen. Eine vor Glück strahlende Braut war sie ja nicht gerade. Obwohl sie doch auf dem Standesamt bereits die Urkunde unterschrieben hatte, und obwohl er für sie und für das Baby einen Treuhandfonds eingerichtet hatte, würde er sich erst wieder entspannen können, wenn er Lily den Ehering über den Finger gestreift hätte.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du heiratest“, sagte Scott Falcon leise, der neben ihm stand, bereit, seine Pflicht als Trauzeuge zu erfüllen.

„Glaub es nur, es passiert tatsächlich“, erwiderte Jack trocken. Er blickte auf die Uhr und zog eine Grimasse. „Jedenfalls, wenn sie endlich mit der Zeremonie anfangen.“

Scott grinste. „Ich hätte wirklich nie gedacht, dass ich es einmal erleben würde, dass dich mal jemand in den Hafen der Ehe lockt. Diese Lily muss etwas ganz Besonderes sein.“

„Das ist sie“, bestätigte Jack.

„Du bist dir doch im Klaren, dass du mit deiner Heirat die Träume von mindestens der Hälfte aller weiblichen Singles von Eastwick zerstörst, ganz zu schweigen von den vielen Müttern, die in dir ihren künftigen Schwiegersohn gesehen haben.“

„Dann ist es ja gut, dass sie deine Schulter haben, um sich daran auszuweinen.“

Scott grinste. „Stets zu Diensten.“

Jack lächelte. Er und Scott waren schon seit der Schulzeit befreundet, und sie hatten so manches Abenteuer gemeinsam bestanden, manchen Streich gemeinsam ausgeheckt. Auch Scotts Familie gehörte zu den ersten Siedlern von Connecticut. Sie hatte im Lauf der Generationen ein beträchtliches Immobilienvermögen angehäuft. Es gab wohl kaum eine Straße in Eastwick, in der nicht irgendwo das Falcon-Logo auftauchte. Scott war einer der wenigen, die Verständnis gezeigt hatten für Jacks Entscheidung, Lily zu heiraten.

„Deine Mutter und Felicity haben ihre Sache wirklich gut gemacht“, bemerkte Scott.

„Ja, das haben sie“, erwiderte Jack. Irgendwie hatten die beiden wirklich Wunder bewirkt. Wie viel das wohl gekostet hatte? Es war ihm egal. Jedenfalls hatten sie diese Hochzeit in weniger als einer Woche auf die Beine gestellt. Er wusste von Lily, dass sie ihr sogar ein Kleid und Schuhe besorgt hatten. Er wusste auch, dass sie dieses teure Geschenk von seiner Mutter eigentlich nicht hatte annehmen wollen. Wahrscheinlich hatte sie es dann doch getan, weil sie Angst hatte, ihn sonst vielleicht in Verlegenheit zu bringen. Seiner Mutter war es natürlich nie in den Sinn gekommen, dass Lily ein solches Geschenk vielleicht gar nicht haben wollte. Sie wollte nur alles so perfekt wie möglich machen.

Offenbar waren ihre Bemühungen erfolgreich gewesen. Sogar Petrus spielte mit, es war mild und sonnig, während es in den letzten Wochen so häufig geregnet hatte. Jack hatte einen kurzen Blick auf die Terrasse an der Südseite des Hauses geworfen, die man für den Empfang hergerichtet hatte. Lichterketten schmückten Bäume und Büsche. Der Eingangsbereich und sämtliche Tische waren mit frischen Blumen dekoriert. Zwei Eisskulpturen standen links und rechts am Rand der Terrasse. Die Hochzeitstorte, die in der Mitte eines Tisches thronte, war sechsstöckig und offenbar mit echten Rosen dekoriert. Das Büfett war auf mindestens ein Dutzend Tische verteilt, es gab Pasta, Rippchen, Steaks, gegrillte Shrimps und gegrillten Lachs. An beiden Enden der Terrasse war eine Bar aufgebaut, und Jack hätte schwören können, dass er genug Kellner gesehen hatte, um hundert Gäste zu bedienen.

Ja, seine Mutter und Felicity Farnsworth hatten sich selbst übertroffen. Nicht nur die Terrasse hatten sie verwandelt, sondern auch den Garten. Wo man hinblickte, standen Vasen mit weißen und lachsfarbenen Rosen und Lilien: auf dem Altar, auf dem Flügel, am Eingang zum Garten. Etwa drei Dutzend Stühle waren aufgestellt worden, und im Mittelgang lag ein weißer Läufer, der zum Altar führte. Ein mit einem Arrangement aus Rosen, Lilien und weißen Bändern geschmückter Pfosten markierte das Ende einer jeden Stuhlreihe. Jeder Sitzplatz schien besetzt zu sein. Jack blickte zum Altar, wo der Reverend bereits darauf wartete, ihn und Lily zu Mann und Frau zu machen.

Er musste zugeben, er war ziemlich nervös. Bis auf das eine Mal vor vielen Jahren hatte er eigentlich nie einen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Nicht dass er absolut dagegen gewesen wäre. Nein, er mochte Frauen. Er mochte alles an ihnen – ihre Blicke, ihr Lächeln, ihre Art, schwach zu sein und doch auch stark, und dass sie einfach anders waren als Männer. Er genoss die Gegenwart von Frauen. Und umgekehrt schien es genauso zu sein. Er hatte einfach nur nicht damit gerechnet, dass er sich bei seiner Hochzeit bangen Herzens fragen würde, ob seine Braut auftauchen würde oder nicht.

Als er Lily vorgeschlagen hatte, dass sie heiraten sollten, war ihm alles so einfach erschienen. Da war ein Kind unterwegs, und es brauchte beide Eltern. Aber jetzt fragte er sich doch, ob er Lily nicht zu sehr bedrängt hatte. Natürlich war ihm bewusst gewesen, dass sie Bedenken hatte, und er hatte es ihr nicht verübelt. Eine Ehe war kein Spiel, und sie hatten beide nicht viel Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. Dennoch war Jack sicher, dass es das einzig Richtige war. Er hatte alles ernst gemeint, was er zu Lily gesagt hatte. Er wollte ein richtiger Vater sein, in jeder Hinsicht, und das bedeutete, ganz als Vater da zu sein und sein Kind nicht zwischen Mutter und Vater hinund herwandern zu lassen. Nein, sein Baby sollte haben, was er und seine Geschwister gehabt hatten – ein richtiges, liebevolles Zuhause und beide Eltern. Auch wenn uneheliche Kinder längst nicht mehr so stigmatisiert wurden wie früher – Jack wollte ganz sicher sein, dass sein Kind oder Lily niemals den Grausamkeiten ausgesetzt wäre, zu denen Leute fähig waren, die ein außerehelich gezeugtes Kind als Resultat einer Sünde betrachteten. Er wollte Lily und das Baby beschützen, und der beste Weg dazu war die Heirat.

Allerdings wurde er das Gefühl nicht los, dass sie es sich in letzter Minute anders überlegen würde. Er wusste, sie hatte immer noch Bedenken – und das war wahrscheinlich milde ausgedrückt. Es war nicht schwer gewesen, die Zeichen zu deuten. Lily war ihm in der letzten Woche bei jeder Gelegenheit ausgewichen, und es hatte ihn einige Anstrengungen gekostet, sie dazu zu bringen, dass sie wenigstens einen Blick auf die Unterlagen für das Wertpapierkonto warf, das er für sie und das Baby eingerichtet hatte. Außerdem hatte sie darauf bestanden, ihre Wohnung wenigstens so lange noch zu behalten, bis der Mietvertrag auslief. Es war ihm nicht recht gewesen, aber er hatte sie deswegen nicht weiter bedrängt. Auf keinen Fall wollte er sie irgendwie beunruhigen und damit ihre Gesundheit oder die des Babys gefährden. Wenn die Hochzeit erst einmal vorüber wäre und sie unter einem Dach lebten, dann würde Lily vielleicht entspannter mit ihm umgehen und sich an den Gedanken gewöhnen, mit ihm verheiratet zu sein.

„Wie ich höre, ist Courtney aus New York zurückgekommen“, unterbrach Scott seine Gedanken.

„Ja“, sagte Jack. „Schon vor ein paar Wochen.“

„Wird sie bleiben?“

„Ich weiß nicht.“ Jack sah Scott fragend an. Sein Freund war ebenso groß wie er, ansonsten aber vom Äußeren her das genaue Gegenteil. Während er dunkelhaarig war und blaue Augen hatte, war Scott blond und seine Augen braun. Genau wie er liebte Scott die Frauen, hatte schon mehr als einmal kurz vor der Heirat gestanden und hatte schließlich gelernt, ernsthaften Beziehungen elegant auszuweichen. Als er und Jack Kinder waren, war er so etwas wie ein ständiger Gast im Haus der Cartwrights gewesen und hatte sich gemeinsam mit Jack über dessen kleine Schwestern geärgert. Jack hatte sich über die Heimkehr seiner jüngeren Schwester bis jetzt keine Gedanken gemacht.

„Wieso fragst du?“, wollte er von Scott wissen.

„Nur so.“ Scott wandte den Blick ab.

Sie schwiegen eine Weile. Wieder blickte Jack auf die Uhr. Minute um Minute verging, und er wurde immer nervöser. „Hast du den Ring?“, fragte er Scott.

Dieser klopfte auf seine Hosentasche. „Keine Sorge.“ Er schwieg einen Moment. „So nervös habe ich dich noch nie erlebt“, meinte er dann. „Bist du dir deiner Sache wirklich sicher, Jack?“

„Das bin ich“, sagte er. Er war sich sicher. Das Einzige, war jetzt noch fehlte, war die Braut.

Als der Geiger zu spielen begann, drehte Jack sich um und blickte zum Ende des Mittelgangs, wo seine Schwester Courtney unter einem künstlichen Blütenbaum stand. Sie trug ein lachsfarbenes Kleid und hielt ein kleines Bouquet aus lachsfarbenen Rosen und weißen Lilien in der Hand. Lächelnd begann sie, über den weißen Läufer auf den Altar zuzuschreiten. Als sie etwa die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte, trat Jacks Schwester Elizabeth unter den Blütenbaum. Da Lily keine Zeit gehabt hatte, eine ihrer Freundinnen zu fragen, ob diese für sie Ehrenbrautjungfer und Trauzeugin sein wolle, hatte Courtney sich dazu erboten. Lily, die offenbar Angst gehabt hatte, Elizabeth könne sich ausgeschlossen fühlen, hatte daraufhin vorgeschlagen, dass sie und Elizabeth sich den Job teilen sollten. Diese Idee hatte allen gefallen, seinen Schwestern, seiner Mutter und ihm selbst. Als seine Schwestern den Altar erreicht und ihre Plätze eingenommen hatten, hörte der Geiger auf zu spielen.

Nervös drehte sich Jack wieder um. Gleich geht es los, sagte er sich. Gleich würde Lily unter dem Blütenbaum erscheinen und durch den Mittelgang schreiten, um seine Frau zu werden. Sekunden vergingen, doch keine Lily erschien. Noch einmal erklangen die ersten Takte des Hochzeitsmarsches. Immer noch keine Lily.

Jack erstarrte. Sein erster Gedanke war, dass er sich zu Recht Sorgen gemacht hatte. Er hatte sie zu sehr bedrängt, und jetzt hatte sie es sich anders überlegt, genau wie er befürchtet hatte. Als Nächstes dachte er, dass ihr etwas passiert sein könnte. Vielleicht war sie ausgerutscht und gestürzt. Bei dem Gedanken drehte er sich um und wollte sie suchen gehen.

„Warte“, flüsterte Scott und hielt ihn am Arm fest. Er bedeutete Jack, zur letzten Stuhlreihe zu blicken, von wo Felicity ihm Zeichen machte, er solle ihr noch eine Minute geben. Sie stand auf und verschwand im Seiteneingang, wo eigentlich jetzt Lily hätte stehen sollen.

Jack hörte das Gemurmel der Gäste, das Scharren der Stühle, und er sah den besorgten Blick seiner Mutter. Verdammt. Sie hätten einfach heimlich heiraten sollen. Dann hätte Lily keine Zeit gehabt, ihre Meinung zu ändern.

Was sollte er tun, wenn sie es sich wirklich anders überlegt hatte? Irgendwie würde er sie schon überreden. Etwas anderes kam für ihn nicht infrage. Er blickte auf die Uhr. Er würde Felicity genau fünf Minuten geben und keine Sekunde länger.

„Entspann dich“, sagte Scott. „Sie hat sich wahrscheinlich einen Fingernagel abgebrochen oder eine Laufmasche im Strumpf. Du weißt, wie Frauen in der Hinsicht sind.“

Er wusste, wie Frauen waren. Die meisten Frauen würden auf eine Laufmasche oder einen gebrochenen Nagel mit Panik reagieren, aber nicht Lily. Sie war nicht wie andere Frauen. Das hatte er schon damals in jener Nacht nach dem Ball gespürt.

Es stimmte zwar, dass er sie nur deshalb gebeten hatte, ihn zu heiraten, weil sie von ihm schwanger war. Er war noch nie der Typ gewesen, der sich vor der Verantwortung drückte, und er hatte nicht die Absicht, es jetzt zu tun. Aber wenn er ehrlich war, erschien ihm dies keineswegs als Last. Da war etwas gewesen zwischen ihm und Lily in jener Nacht – etwas, das weit hinausging über guten Sex. Was immer das sein mochte, es wäre ein Anfang. Er war jedenfalls nicht bereit, Lily noch einmal zu verlieren.

Sie konnte das nicht. Lily stand in einem Ankleidezimmer der Villa vor dem Spiegel und betrachtete sich ungläubig. Sie sah aus wie eine echte Braut. Das Kleid war wunderschön, genau wie die Schuhe. Ihr Haar war zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, ein paar herausgezupfte Strähnen umrahmten ihr Gesicht. Courtney hatte mit ihren Schminkutensilien wahre Wunder vollbracht. Lilys Haut schimmerte seidig, ihre Augen strahlten, und ihr Gesicht wirkte so schön und ebenmäßig wie das eines Models. Sie berührte die mehrreihige Perlenkette und die dazu passenden Ohrringe, beides Hochzeitsgeschenke von Jack. „Für meine Braut“, hatte er gesagt, als er ihr den Schmuck am Abend zuvor geschenkt hatte.

Hochzeitsgeschenke. Für eine Braut. Auch das Bouquet aus weißen Rosen und Lilien sah aus, als gehöre es einer echten Braut. Keine Frage, die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, sah aus wie eine hundertprozentig echte Braut.

Nur sie war keine echte Braut. Das Ganze war eine Farce.

Und sie konnte dabei auf gar keinen Fall die ihr zugedachte Rolle spielen.

Als Jack den Vorschlag gemacht hatte, war ihr die Heirat durchaus sinnvoll erschienen. Schließlich war er der Vater des Babys, und sie hatte sich auch ein richtiges Zuhause für ihr Kind gewünscht, mit Vater und Mutter. Es war ihr durchaus vernünftig erschienen, dass Jack sein Kind nicht zwischen beiden Elternteilen hin- und herschieben wollte. Eigentlich wollte sie das ja auch nicht. Und als Jack Cartwrights Ehefrau konnte sie sicher sein, dass ihr Kind das Zuhause bekommen würde, das sie nie gehabt hatte.

Aber jetzt erschien ihr die ganze Sache einfach unmöglich. Sie liebte Jack Cartwright nicht, und er liebte sie nicht. Wenn man heiratete, sollte man das aber aus Liebe tun und nicht, weil man eine Nacht lang ein Opfer seiner Hormone gewesen war und daraus eine Schwangerschaft resultierte. Sie verstand Jacks Bedürfnis, Verantwortung für sie und das Kind zu übernehmen, aber dazu brauchte er sie nicht zu heiraten. Er hatte es verdient, mit einer Frau glücklich zu werden, die er liebte. Und sie, Lily, würde einen Mann finden, den sie liebte. Sie könnten doch ihr Baby lieben, ihm gute Eltern sein und ihm Geborgenheit geben, ohne einen grandiosen Fehler zu begehen. Das nämlich wäre diese Heirat – ein grandioser Fehler.

Wieder erklangen die ersten Takte des Hochzeitsmarsches. Sie musste weg von hier! Vielleicht könnte sie es unbemerkt bis zum Vordereingang schaffen und von dort aus einfach losrennen und in der Mainstreet ein Taxi nehmen. Jack würde Verständnis dafür haben. Wahrscheinlich wäre er sogar erleichtert. Lily drehte sich um. Sie war schon fast an der Tür, als diese aufflog und Felicity ins Zimmer stürmte.

„Lily, haben Sie Ihr Signal nicht gehört?“

„Doch, das habe ich. Aber Felicity, ich …“

„Wo ist Ihr Brautstrauß?“ Felicity blickte sich um, nahm das Bouquet von der Kommode und drückte es Lily in die Hand. Dann machte sie sich an Lilys Haar zu schaffen. „Sie sehen fantastisch aus“, sagte sie. „Und Ihr Bräutigam erst. Dieser Mann sollte niemals etwas anderes tragen als einen Smoking.“

„Felicity …“

„Achtung, da ist wieder Ihr Signal“, sagte Felicity.

Lilys Hände begannen zu zittern, doch Felicity schien nichts davon zu bemerken. „Ich glaube, ich kann das nicht.“

„Natürlich können Sie“, widersprach Felicity. Sie umarmte Lily kurz und strahlte sie an. „Jetzt nur noch tief Luft holen und an Jack denken.“ Und bevor Lily noch etwas sagen konnte, war Felicity schon wieder hinausgestürmt.

Zum dritten Mal begann der Hochzeitsmarsch. Lily war nicht imstande, sich zu rühren. Wie erstarrt blieb sie stehen. Wenn sie doch nur hexen könnte, dann würde sie sich jetzt unsichtbar machen. Stattdessen fragte sie sich, ob ihr jetzt wohl gleich schlecht werden würde. Da öffnete die Tür sich wieder. Diesmal war es Jack, der hereinkam.

Verrückterweise war ihr erster Gedanke, dass Felicity recht gehabt hatte. Dieser Mann sollte niemals etwas anderes tragen als das, was er gerade anhatte. Die schwarze Smokingjacke ließ seine Schultern noch breiter wirken und betonte seine Größe. Sein dichtes dunkles Haar wirkte fast schwarz, seine blauen Augen glänzten kühl, sein Kinn kam ihr noch markanter vor, als sie es in Erinnerung hatte, und sein Mund erschien ihr sinnlicher denn je. Er strahlte Entschlossenheit aus, ja er wirkte fast ein bisschen gefährlich –genau das hatte sie damals auf dem Ball so angezogen.

„Hast du vielleicht heute Morgen vergessen, auf den Kalender zu schauen?“, sagte er gelassen. „Auf meinem steht, dass wir heute heiraten, und zwar jetzt.“

„Ich habe es nicht vergessen“, erwiderte Lily ernst. Sie holte tief Luft und sah ihm in die Augen. „Es tut mir leid, Jack. Ich weiß, wie viel Mühe ihr euch alle gemacht habt, aber ich kann es nicht tun. Ich kann einfach nicht.“

„Aha.“

Aha?

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er wütend sein würde. Schließlich hatte er einige Mühen und Kosten auf sich genommen, um diese Hochzeit stattfinden zu lassen. Da draußen saßen mindestens drei Dutzend Gäste, Freunde und Verwandte, die darauf warteten, dass er sie zur Frau nehmen würde. Er hatte ihr sogar den Ring seiner Großmutter geschenkt. Keine Frage, Jack Cartwright hatte alles Recht der Welt, ungeheuer wütend auf sie zu sein. Stattdessen nahm er Lily das Brautbouquet aus den immer noch zitternden Händen und legte es auf die Kommode. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zu der Bank, die an der Wand stand.

„Warum setzen wir uns nicht einen Moment?“

Lily setzte sich. „Ich werde meinen Entschluss nicht mehr ändern, Jack. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht tun. Ich kann dich nicht heiraten.“

„Na schön“, sagte er, setzte sich neben sie und nahm ihre beiden Hände in seine. „Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb du mich nicht heiraten willst?“, fragte er ruhig. Und bevor sie etwas antworten konnte, fuhr er fort. „Liegt es an meiner Nase? Ich habe sie mir mal beim Footballspielen gebrochen, und sie ist nie wieder hundertprozentig gerade zusammengewachsen. Vielleicht möchtest du nicht mit einem Mann verheiratet sein, der eine hässliche Nase hat?“

„An deiner Nase ist nichts verkehrt. Sie sieht gut aus.“

„Dann vielleicht mein Haar. Du hast vielleicht bemerkt, dass ich anfange, an den Schläfen grau zu werden. Ich kenne Frauen, die das ziemlich unattraktiv …“

„Dein Haar ist völlig in Ordnung. Es sieht super aus. Du siehst super aus.“

„Hm. Es liegt doch wohl nicht daran, dass ich Anwalt bin, oder? Ich meine, ich kenne alle Anwaltswitze, und ich weiß, dass Anwälte nicht die beliebtesten Leute sind.“

Er sagte diese verrückten Dinge wohl, um sie abzulenken und zu beruhigen. „Nein“, sagte Lily. „Es ist nichts von alldem. Du siehst gut aus, bist charmant und lieb, und überhaupt einer der nettesten Männer, die ich kenne.“

Jack verzog das Gesicht. „Man könnte meinen, ich bin mein eigener Großvater. Mir wäre es lieber, du fändest mich sexy.“

„Oh, ich finde dich sexy – das weißt du doch. Sonst wären wir ja nicht in dieser Situation.“

„Aber wir sind nun mal in dieser Situation“, sagte Jack. „In vier Monaten werden wir Eltern sein. Und ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir um das Wohl des Babys willen heiraten.“

„Ich weiß, das haben wir. Aber wir haben uns geirrt. Ich habe mich geirrt“, sagte Lily erregt und stand auf. „Ich hätte niemals zustimmen sollen. Es ist verrückt, zu glauben, dass diese Ehe jemals funktionieren könnte. Ich weiß gar nicht, was ich mir gedacht habe, als ich mich darauf eingelassen habe.“

„Du hast dir gedacht, dass es für das Baby das Beste wäre.“ Jack stand auf und stellte sich hinter sie. „Unser Baby braucht Mutter und Vater, Lily.“

„Es wird Mutter und Vater haben“, gab sie zurück. „Wir müssen nicht verheiratet sein, um gute Eltern zu sein. Viele Paare erziehen ihre Kinder, ohne verheiratet zu sein.“

„Das hatten wir doch schon, Lily. Keiner von uns will, dass unser Kind ständig hin- und herpendeln und seine Wochenenden und Ferien immer zwischen seiner Mutter und dem Vater aufteilen muss. Ich will, dass unser Kind in einer richtigen Familie aufwächst. Ich will, dass unser Baby hat, was du niemals hattest. Ich dachte, du wolltest das auch.“

Verflixt, er hatte ja recht. Genau das wünschte sie sich ja für ihr Baby. Sie wollte für ihr Kind das Bilderbuch-Zuhause, das sie sich immer gewünscht, aber nie gehabt hatte. Sie wollte so ein Zuhause, wie es in Büchern beschrieben wurde, ein Zuhause, wo Kinder sich geliebt und geborgen fühlten. Sie wollte mit ihrer Familie am Esstisch sitzen, den Weihnachtsbaum schmücken, Plätzchen backen, im Garten frühstücken. Ihr Kind sollte so eine Familie haben und sich niemals so allein fühlen wie sie früher. „Ich möchte das alles. Ich möchte dafür sorgen, dass mein Baby sich geliebt und geborgen fühlt. Das ist mir sehr wichtig.“

„Mir auch. Und genau dafür können wir sorgen, indem wir ihm ein Zuhause bereiten, mit beiden Eltern.“ Jack legte Lily die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum. „Unser Kind kann das alles bekommen, Lily. Alles, was du tun musst, ist, mich zu heiraten.“

Es klang so einfach, wie er das sagte, so logisch. Aber sie wusste, dass es nicht so war. „Was ist mit der Liebe, Jack? Du weißt, dass du mich nicht liebst.“ Genau das war das Problem. Sie konnte einfach nicht von der Vorstellung ablassen, dass sie aus Liebe heiraten wollte.

„Und du liebst mich nicht. Aber wir beide lieben unser Baby“, stellte er fest.

„Aber was, wenn das nicht ausreicht? Dann wären wir beide in einer Ehe ohne Liebe gefangen.“

„Ich betrachte es nicht als Gefangenschaft, mit dir verheiratet zu sein. Ich sehe das eher als ein Geschenk. Ich werde eine kluge schöne Frau bekommen, die Mutter meines Kindes.“

„Und die Liebe? Glaubst du nicht an die Liebe, Jack?“

„Es gibt so viele Arten von Liebe. Die Liebe zu seinen Eltern und Geschwistern, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe eines Freundes.“

„Und die Liebe zwischen Mann und Frau? Wünscht du dir die nicht?“, fragte Lily.

„Ich glaube, es gibt Paare, wie zum Beispiel meine Eltern, die das haben. Ich weiß nicht, ob in solchen Fällen die Liebe von Anfang an da ist oder langsam wächst, weil man sich gegenseitig etwas bedeutet. Woran ich glaube, das ist die Leidenschaft zwischen Mann und Frau.“ Er strich mit der Fingerspitze über Lilys Wange. Ein Schauer überlief sie. „Ich begehre dich immer noch, Lily. Und ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Lily schluckte schwer. „Du meinst Sex ohne Liebe?“

„Ich meine heißes Verlangen. Es ist immer noch da. Genau wie in jener Nacht.“

Es stimmte. Die unglaublich starke Anziehung, die sie damals dazu gebracht hatte, all ihre Grundsätze über Bord zu werfen und mit Jack zu schlafen, war immer noch da. Sie war sogar noch stärker geworden, nachdem sie Jack näher kennengelernt hatte. „Aber was ist, wenn das nicht ausreicht?“

„Es ist mehr, als viele Paare haben“, erwidert er. „Ich denke, wir sind es unserem Baby schuldig, dass wir es wenigstens miteinander versuchen.“

Wieder einmal hatte er es geschafft, dass alles so einfach klang, so unausweichlich richtig. Jack war in Ordnung. Er war ehrlich und anständig, und er würde bestimmt ein guter Vater sein. Trotzdem kam es Lily falsch vor, unter diesen Umständen eine Ehe anzufangen.

„Es liegt an dir, Lily. Du weißt, was ich denke. Ich denke, dass es für das Baby das Beste ist, wenn wir heiraten.

Was soll jetzt werden? Soll ich hinausgehen und verkünden, dass die Braut es sich anders überlegt hat und dass aus der Hochzeit nichts wird? Oder soll ich hinausgehen und sagen, die Show kann beginnen, bevor die Eisskulpturen geschmolzen sind?“

Lily atmete tief durch und erwiderte Jacks Blick. „Sag, die Show kann beginnen.“

„Es wird dir nicht leidtun, Lily. Das verspreche ich.“

Hoffentlich würde Jack recht behalten. Lily sah ihm nach, als er durch die Tür ging. Als kurz darauf ein weiteres Mal der Hochzeitsmarsch begann, nahm sie erneut das Brautbouquet von der Kommode und ging hinaus. Langsam schritt sie auf den Altar zu. Hoffentlich begingen sie und Jack jetzt nicht den Fehler ihres Lebens.

6. KAPITEL

Als Jack zu seinem Platz beim Altar zurückkehrte, bemerkte er durchaus die Blicke der Leute und ihr Geflüster. Er blickte zu seiner Mutter hinüber, die die Hände in den Schoß gelegt hatte. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sein Vater erwiderte seinen Blick. Er nickte leicht. Daraufhin lehnte John sich zurück und nahm die Hand seiner Frau.

„Alles klar?“, fragte Scott leise.

„Alles in Ordnung.“

In Wirklichkeit war er dessen gar nicht so sicher. Lily hatte vorhin ausgesehen, als wäre sie völlig mit den Nerven fertig, ein eindeutiger Fall von Heiratspanik. Jack konnte es ihr nicht verübeln. Ihre ganze Welt wurde gerade auf den Kopf gestellt. Er fragte sich, was ihr wohl am meisten Angst machte – ihn zu heiraten oder die Tatsache, dass sie nun seiner Familie angehörte. Sosehr er seine Familie liebte, ihm war durchaus klar, dass es nicht einfach war, eine Cartwright zu sein. Der Name und das Vermögen der Cartwrights waren mit einem ziemlich hohen Verantwortungsdruck verbunden. Er selbst hatte sein Leben lang gelernt, damit umzugehen, aber für Lily war das alles neu und überwältigend.

Als die Musik ertönte, blickte er gespannt zum Haus. Obwohl Lily am Ende doch eingewilligt hatte, sich mit ihm trauen zu lassen, war er sich keineswegs sicher, dass sie es wirklich tun würde. Jack war schon fast überzeugt, sie habe sich endgültig dagegen entschieden – da trat sie aus dem Haus.

Wie schön sie war. Er hatte schon öfters davon gehört, dass Schwangerschaft eine Frau noch schöner mache, hatte dem allerdings nie eine Bedeutung beigemessen. Lily jedoch, wie sie da über den weißen Läufer schritt, war der lebende Beweis dafür, dass es stimmte. Sie schien von innen heraus zu strahlen. Genau wie damals vor fünf Monaten, als er sie das erste Mal gesehen hatte, konnte er nicht den Blick von ihr lösen. Sie strahlte etwas aus, etwas, das mehr war als Schönheit und Sex-Appeal, etwas, das ihn magisch zu ihr hinzog, genau wie in jener Nacht auf dem Ball.

Er erkannte an ihrem Blick, wie angespannt sie war. Auch das leichte Zittern ihrer Hände entging ihm nicht. Als sie endlich vor ihm stand, dachte er immer noch, sie könne sich jeden Moment umdrehen und davonlaufen. Also ergriff er schnell ihre Hand. Der Reverend runzelte die Stirn, offenbar war es ein Fauxpas, die Braut jetzt schon zu berühren.

Egal.

Die Trauungszeremonie begann. Jack spürte, dass alle Augen auf ihn und Lily gerichtet waren. Seine Freunde waren ganz schön geschockt gewesen, als er ihnen eröffnet hatte, dass er Lily heiraten und Vater werden würde. Natürlich hatten sie alle ihre Bedenken, die sie aber nicht aussprachen, da sie wussten, dass er einen Entschluss, wenn er ihn einmal gefasst hatte, nicht mehr änderte. Zum Glück stand seine Familie geschlossen hinter ihm.

„Wer auch immer einen Grund nennen kann, weshalb diese beiden Menschen nicht in der Ehe vereint werden sollten, der möge entweder jetzt sprechen oder für immer schweigen.“

Jack bemerkte, wie Lily die Schultern anspannte, und erwartete fast, dass sie etwas sagte. Aber nein, jetzt spürte er einen leichten Druck ihrer Finger. Er drehte den Kopf, sah die hektischen roten Flecken auf ihren Wangen. Sie wollte ihm etwas mitteilen, aber was? Dass sie Angst hatte? Dass sie es sich anders überlegt hatte?

„Jack. Jack“, wiederholte der Reverend.

Jack fuhr mit dem Kopf herum. Er hatte offenbar etwas verpasst.

„Wollen Sie, John Ryan Cartwright, Lily Miller zu Ihrer rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen und versprechen, sie zu lieben und zu ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Sie scheidet?“

„Das will ich“, sagte Jack.

„Dann sprechen Sie mir nach. Ich, John, Ryan Cartwright, nehme dich, Lily Miller, zur Frau …“

Kurz darauf war es so weit: Auch Lily hatte ihr Ehegelübde gesprochen, und sie hatten sich gegenseitig die Ringe angesteckt.

„Kraft meines Amtes erkläre ich Sie zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“

Jack küsste Lily. Eigentlich hatte er nur ganz kurz ihre Lippen berühren wollen, aber dann verweilte er doch einen Moment. Sein Herz schlug schneller, denn in diesem Augenblick wurde ihm ganz deutlich bewusst, weshalb er mit Lily hier vor dem Traualtar stand – und sie erinnerte sich auch. Er sah es an ihrem Blick.

„Liebe Gemeinde, darf ich Ihnen vorstellen: Mr. und Mrs. John Ryan Cartwright.“

Geschafft, dachte Jack, als er und Lily sich ihren applaudierenden Gästen zuwandten. Er und Lily waren jetzt Mann und Frau. Der Geiger begann zu spielen, und Jack legte Lilys Arm auf seinen und schritt mit ihr durch den Mittelgang zurück.

Eine Stunde später beschloss Jack, dass er genug hatte. Lilys Gesichtsausdruck nach zu schließen, ging es ihr genauso. „Entschuldige“, sagte er zu seinem langjährigen Freund und Kollegen Dan Granger. „Ich sehe besser zu, dass ich Lily rette, bevor meine Mutter sie noch zu einem Mitglied ihres Bridge-Clubs macht.“

„Natürlich“, sagte Dan. „Aber, Jack, ich hoffe, du entschließt dich nicht Hals über Kopf gegen die Kandidatur für den Senat. Mit Carltons Leuten als Unterstützer hättest du gute Chancen, und wir könnten wahrhaftig jemanden wie dich im Capitol Hill gebrauchen.“

„Ich weiß das zu schätzen, Dan. Aber im Moment sind mir Frau und Familie eigentlich wichtiger.“ Er hatte sich zwar noch nicht endgültig gegen die Kandidatur entschieden, aber nach dem Gespräch mit seinem Vater war Jack sich gar nicht mehr sicher, ob er Lily diesem Stress aussetzen wollte. Er selbst hatte nicht die geringsten Vorbehalte wegen Lilys ungeplanter Schwangerschaft und ihrer raschen Heirat. Und er war stolz darauf, was Lily aus sich gemacht hatte. Er wusste jedoch, dass sie selbst ein Problem damit hatte, ihm gesellschaftlich nicht ebenbürtig zu sein.

„Verstehe. Ich hätte dich nicht an deinem Hochzeitstag damit behelligen sollen. Wir reden in ein oder zwei Wochen darüber. Noch mal herzlichen Glückwunsch zu deiner Hochzeit.“

„Danke“. Jack schüttelte Dan die Hand und ging dann ans andere Ende der Terrasse, wo Lily und seine Mutter und noch ein paar andere Frauen standen.

„Jack, mein Schatz“, sagte seine Mutter strahlend. „Du erinnerst dich doch an meine Freundinnen Louise und Pamela?“

„Ja, natürlich. Guten Tag, die Damen.“ Er nickte den beiden zu.

„Wir haben gerade festgestellt, was für eine schöne Braut Sie haben“, bemerkte die aschblonde Pamela.

„Danke. Ich finde sie zufällig auch sehr schön“, erwiderte Jack. Dabei sah er Lily an, deren Wangen sich leicht röteten. „Wenn die Damen erlauben, werde ich sie Ihnen für ein paar Minuten entführen.“

Er nahm Lily bei der Hand und zog sie mit sich fort. Da entdeckte er seine Großtante Olivia Cartwright, die zielstrebig auf sie zusteuerte. „Achtung, da kommt Tante Olivia“, flüsterte er und führte Lily schnell zur Mitte der Terrasse.

„Jack, was ist los?“, fragte sie, als er sie in die Arme nahm und zu tanzen begann.

„Ich tanze mit meiner Frau.“

„Aber warum?“

„Weil meine Großtante Olivia sich als absolute Autorität auf jedem Gebiet betrachtet. Glaub mir, du würdest nicht wollen, dass sie anfängt, uns gute Ratschläge zu geben.“

„Oh“, sagte sie. „Deine Großtante sagtest du?“

„Ja. Die ältere Schwester meiner Großmutter.“ Zum Glück spielte die Band gerade einen langsamen Song, so hatte er einen Grund, Lily an sich zu drücken. Wieder erinnerte er sich an die Nacht, als er sie das erste Mal so in den Armen gehalten hatte. Und genau wie in jener Nacht fühlte sie sich zart und leicht und unwirklich an, wie das Mondlicht. Hm, wie sie duftete – eine sexy Mischung aus Rosen und ihrer ganz persönlichen Note. Sie schmiegte sich an ihn, und er spürte deutlich ihre Brüste und die kleine Rundung ihres Bauchs.

„Du hast sehr viele Verwandte“, sagte sie, und sein Puls schlug schneller, als ihr Atem seine Ohrmuschel streifte. „Wie ist das, wenn man so eine große Familie hat?“

„Nervig“, erwiderte er trocken und versuchte, seine sexuellen Impulse zu ignorieren. Dass er seine ehelichen Rechte geltend machte, wäre das Letzte, was Lily jetzt brauchen könnte. Nicht nur, dass sie schwanger war, sie musste verkraften, dass ihr Leben sich von heute auf morgen drastisch änderte. Es würde nie wieder wie früher sein, nun, da sie eine Cartwright war. Ob es ihr gefiel oder nicht, der Name Cartwright bedeutete Geld und Macht. Dass er ihr diesen Namen gegeben hatte, bedeutete einerseits Schutz und Sicherheit für sie und das Kind, andererseits aber auch, dass sie der Neugierde, dem Klatsch und oft auch dem Neid anderer ausgesetzt sein würde. Zum Teil hatte es schon angefangen. Als bekannt wurde, dass er Lily heiraten würde, hatte er einige Anrufe bekommen von Freunden, Geschäftsfreunden, Mitgliedern des Country Clubs und sogar von ehemaligen Freundinnen. Zweifellos lief die Gerüchteküche auf Hochtouren – kein Wunder, lieferte doch der Skandal um Lilys Schwangerschaft und ihre plötzliche Hochzeit Nahrung genug. Jack hoffte jedoch, dass sich ohne Bunny Baldwin und ihr Klatschblatt die ganze Aufregung bald legen würde. Bis dahin würde er Lily, so gut er konnte, dagegen abschirmen.

Lily lehnte sich zurück und sah zu ihm hoch. „Ich hätte gedacht, dass es wundervoll ist, so viele Menschen zu haben, die mit einem verbunden sind. Ich stelle mir vor, man ist niemals allein, hat immer jemanden, mit dem man die Ferien verbringen kann. Oder mit dem man besondere Augenblicke teilen kann.“

Jack wusste, Lily hatte ihre Ferien meistens allein verbracht. Und auch während sie innerhalb einer Pflegefamilie gelebt hatte, hatte sie doch nie wirklich dazugehört. Es tat ihm weh, daran zu denken. Nun, er konnte diese unglücklichen Erinnerungen nicht tilgen, aber er würde dafür sorgen, dass sie von jetzt ab viele glückliche Erinnerungen sammeln würde. „Ich schätze, es ist im Großen und Ganzen ganz nett – außer an Tagen wie diesem, wenn wohlmeinende Familienmitglieder, wie zum Beispiel meine Mutter, es sich nicht nehmen lassen, sich in deine Angelegenheiten zu mischen und Empfänge wie diesen veranstalten, nur um mit uns anzugeben.“

„So schlimm ist es doch gar nicht“, sagte Lily.

„Pst. Nicht dass sie das hört, sonst kommen wir nie von hier weg.“ Lily lächelte. Es war ihr erstes ungezwungenes Lächeln, das er an diesem Tag sah. Erfreut zog er sie noch fester an sich und wirbelte mit ihr herum.

„Wir werden beobachtet“, sagte sie.

„Beachte sie nicht“, erwiderte er. Er wollte diesen Augenblick ganz allein mit ihr.

„Das dürfte schwierig werden. Jetzt schwenkt deine Tante sogar schon eine Serviette. Ich glaube, sie will, dass wir zu ihr kommen.“

„Sie ist jetzt unsere Tante“, erklärte Jack. Natürlich hatte er das Winken auch bemerkt. Tante Olivia war schwer zu übersehen, denn sie war die einzige fünfundachtzigjährige Frau mit knallrotem Haar, die sich mit einer Hand auf einen Gehstock stützte und in der anderen ein Glas Bourbon hielt. „Du bist dir doch im Klaren, dass jetzt all diese wundervoll nervigen Verwandten auch deine Verwandten sind – einschließlich Tante Olivia.“

„Jack, ich glaube, sie wird ungeduldig.“

„Dann gehen wir wohl besser mal zu ihr.“

Da Tante Olivia auf sechzig Jahre Ehe zurückblicken konnte, bis zum Tod von Onkel Charlie, betrachtete sie sich als Autorität auf diesem Gebiet. Sie hielt Jack und Lily einen Vortrag darüber, wie wichtig es war, dass man gut zueinander war, dass man sich gegenseitig respektierte und die Verantwortung für die Kinder teilte; dass man nicht den Fehler machen durfte, die Gegenwart des anderen als selbstverständlich zu betrachten; dass man sich Zeit füreinander nehmen und einander zuhören musste.

„Ihr jungen Leute führt so oft das Wort Kommunikation im Mund. Tja, in der Ehe fängt Kommunikation im Schlafzimmer an“, verkündete Tante Olivia. Sie deutete mit dem Stock auf Jack. „Mach deine Frau im Bett glücklich, und der Rest ergibt sich von allein.“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
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