Ein Frauenheld entdeckt die Liebe

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Seit die junge Serena Cachet überraschend auf Knightswood Hall aufgetaucht ist - angeblich, um hier das Testament ihres Vaters zu suchen -, amüsiert Nicholas Lytton sich prächtig. Die begehrenswerte, geheimnisvolle junge Dame wird ihm das langweilige Landleben versüßen. Schon malt er sich eine Sommerromanze aus. Denn der Kuss, den er ihr raubte, schmeckte nach sinnlichen Wonnen. Doch mehr als eine Affäre hat Nicholas nicht im Sinn; von der Ehe hält er nichts. Aber dann wird ein Anschlag auf Serena verübt, und er weiß: Er kann sie nur beschützen, wenn sie seine Frau wird …
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  • Erscheinungstag 12.09.2010
  • Bandnummer 531
  • ISBN / Artikelnummer 9783862952441
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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IMPRESSUM

HISTORICAL MYLADY erscheint alle zwei Monate

im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

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Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Ilse Bröhl

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

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Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,

Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

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Telefon 040/347-29277

Anzeigen:

Christian Durbahn

 

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

© 2010 by Marguerite Kaye

Originaltitel: „The Rake And The Heiress“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: HISTORICAL ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 531 (10) 2010

by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Übersetzung: Maria Fuks

Fotos: Harlequin Books S.A._gettyimages

Veröffentlicht im ePub Format im 10/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN-13: 978-3-86295-244-1

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

HISTORICAL MYLADY-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

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Marguerite Kaye

Ein Frauenheld entdeckt die Liebe

PROLOG

Paris, August 1815

Leise schloss der Arzt die Schlafzimmertür und wandte sich der jungen Frau zu, die im Flur auf ihn gewartet hatte. Bekümmert stellte er fest, dass man ihr deutlich die Sorgen und Anstrengungen der letzten Woche ansah. Noch war ihre Schönheit deutlich zu erkennen, doch manches wies darauf hin, dass die Gefahr bestand, sie könne vorzeitig verblühen. Die kornblumenblauen Augen blitzten nicht mehr vor Lebenslust. Die helle samtene Haut hatte einen fahlen Ton angenommen. Das blonde Haar wirkte glanzlos und war zudem nicht so sorgfältig frisiert wie noch vor wenigen Tagen. Die Schultern waren herabgesunken. Mit dem Rücken hatte die junge Dame sich gegen die Wand gelehnt.

Obwohl Dr. Rigaud meist streng dreinblickte und stets darauf bestand, dass seine Rechnungen pünktlich bezahlt wurden, war er ein Mann, dem es nicht an Mitgefühl mangelte. Daher seufzte er auf, als er die blasse Tochter seines Patienten jetzt anschaute. Manchmal, wenn er, so wie jetzt, schlechte Nachrichten überbringen musste, hasste er seinen Beruf.

Seine ernste Miene und das bedrückte Kopfschütteln bewiesen Serena, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheitet hatten. Einen Moment lang musste sie gegen die Verzweiflung ankämpfen, die sie zu übermannen drohte.

„Machen Sie es ihm so bequem wie möglich, Mademoiselle Cachet“, erklärte Dr. Rigaud. „Mehr können Sie nicht mehr für ihn tun. Ich komme morgen früh noch einmal vorbei, aber …“ Beredt zuckte er die Achseln. Offenbar rechnete er nicht damit, den Kranken dann noch lebend vorzufinden.

Mit Mühe unterdrückte Serena ein Schluchzen – schließlich halfen Tränen in dieser Situation überhaupt nicht – und richtete sich auf. Konzentriert lauschte sie den Anweisungen, die der Arzt ihr mit ruhiger Stimme gab. Doch schon Augenblicke später konnte sie sich kaum noch an das erinnern, was er gesagt hatte. Zu groß war der Schock darüber, dass sie alle Hoffnung aufgeben musste. Denn das hatte sie begriffen: Keine Behandlung, keine Medizin konnte jetzt noch den baldigen Tod ihres Vaters verhindern. Ein Schlaftrunk würde sein Leiden lindern. Doch darüber hinaus konnte man nichts mehr für ihn tun.

Dr. Rigaud verabschiedete sich mit dem Hinweis darauf, dass er selbstverständlich so rasch wie möglich kommen würde, wenn er gebraucht würde. Väterlich legte er der jungen Dame die Hand auf die Schulter und stieg dann die Treppe hinunter. Als er die schwere Eichentür öffnete, die die Privaträume der Cachets vom Spielsalon trennte, drangen Serena laute Stimmen und Lachen ans Ohr. Sie wusste, dass die Spieltische zurzeit gut besucht waren. Nach der Schlacht bei Waterloo hatten unzählige Männer den Weg nach Paris eingeschlagen. Viele von ihnen suchten Vergessen beim Glücksspiel.

Das allerdings interessierte Mademoiselle Serena Cachet im Moment kaum. Was sollte sie mit einer gut gefüllten Geldbörse, wenn sie den Inhalt nicht gemeinsam mit ihrem Papa ausgeben konnte?

Wichtig war jetzt nur eins: Sie wollte die letzten kostbaren Stunden mit ihrem Vater so intensiv wie nur möglich erleben. Er sollte seine Tochter nicht in Tränen aufgelöst sehen. Sie wollte ihm ruhig und liebevoll entgegentreten. Also fuhr sie sich mit der Hand glättend über die Locken, ehe sie sie sorgfältig im Nacken zusammenband. Dann strich sie ihren Rock glatt, holte tief Luft, hob den Kopf und betrat das Krankenzimmer.

Schwere Samtvorhänge verdeckten die bleigefassten Fensterscheiben und dämpften den Lärm, der von der Straße heraufdrang. Es war warm und ein wenig stickig im Raum. Im gedämpften Licht war ein großer Spiegel zu erkennen, außerdem ein dicker Teppich und wertvolle mit Bienenwachs behandelte Möbel, deren gold- und silberfarbene Beschläge auf Hochglanz poliert waren. Auf dem Nachttisch befanden sich mehrere Arzneiflaschen. Ein Gefäß mit Salbe stand neben einigen Streifen Leinen, die zum Verbinden der Wunden benutzt werden konnten. Mehrere von Blut durchtränkte Stoffstreifen lagen auf dem Fußboden und legten Zeugnis davon ab, dass der Arzt die Verbände gewechselt hatte. Es roch nach Lavendelwasser und Laudanum.

Inmitten der vielen Kissen und Decken auf dem breiten Bett wirkte Philip Cachet erschreckend klein. Tatsächlich war er immer ein großer kräftiger Mann gewesen. Doch zusammen mit dem Blut, das er verloren hatte, waren auch seine Kräfte geschwunden. Er war regelrecht in sich zusammengefallen. Sein Atem ging unregelmäßig, und seine Haut war krankhaft blass. Der kahle Kopf schien ohne die Perücke, die er im Allgemeinen trug, nur halb so groß zu sein.

Warum hat er seine Börse nicht einfach abgegeben, dachte Serena wohl zum hundertsten Mal.

Seit ihr Vater blutüberströmt, die Hand auf die Brust gepresst in die Wohnung gestolpert war, hatte sie nicht aufhören können, mit dem Schicksal zu hadern. Sie verfluchte den Räuber, der Philip Cachet sein Geld abgenommen hatte und ihm nun auch das Leben rauben würde.

Der Arzt hatte dem Verletzten klargemacht, dass die Wunde bei der kleinsten Bewegung erneut zu bluten beginnen könne. Daher rührte Philip Cachet sich nicht, als seine Tochter auf ihn zutrat. Seine Augen, die genauso blau waren wie die ihren, leuchteten allerdings kaum merklich auf.

Ma belle“, begrüßte er Serena mit schwacher Stimme, „wie schön, dass du da bist. Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen, denn meine Zeit ist gekommen.“

Sie wollte widersprechen, doch mit einer kleinen Geste gebot er ihr zu schweigen.

„Ich weiß, dass ich bald sterbe. Deshalb musst du mir nun genau zuhören.“ Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Und in seinem Mundwinkel zeigte sich ein Tropen Blut, den er mit zitternden Fingern fortwischte.

Noch konnte man erkennen, dass Philip Cachet einst ein attraktiver Mann gewesen war. Damals war sein markantes Gesicht oft von einem charmanten Lächeln erhellt worden, dem niemand hatte widerstehen können. In gefährlichen Situationen – und davon hatte es mehr als genug gegeben – hatte sein Charme ihn einige Male gerettet. Cachet hatte seine berufliche Laufbahn nämlich als Spieler begonnen. Er war klug, beherrscht, geschickt und hatte daher im Laufe der Jahre genug gewonnen, um seinen ersten Spielsalon in Paris zu eröffnen. Andere in anderen Städten waren diesem ersten gefolgt. Beinahe dreißig Jahre lang hatte Cachet sich und seine Familie mithilfe des Glückspiels ernährt.

Serena zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich. Ihre Röcke raschelten, als sie sich vorbeugte, um die schmal gewordene Hand ihres Papas zu streicheln. Ihr war, als könne sie sehen, wie alles Leben aus ihm herausströmte. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. „Sprich nur, Papa“, sagte sie leise.

„Meine Kleine, es war nie meine Absicht, dich in einer so schrecklichen Situation zurückzulassen. Dein Leben hätte ganz anders verlaufen sollen. Es tut mir leid.“

„Ich war immer sehr zufrieden mit meinem Leben“, gab sie zurück. „Wir hatten eine gute Zeit, nicht wahr?“ Liebevoll lächelte sie ihn an.

Einen Moment lang glomm der altbekannte Funke von Humor in seinen Augen auf. „Wie du weißt“, sagte er, „steht am Ende jedes Spiels die Abrechnung.“

Sie nickte und konnte plötzlich einen einzelnen Schluchzer nicht länger unterdrücken.

Unter ihren Fingern begann die Hand ihres Vaters zu zittern. „Ma fille, du musst jetzt tapfer sein. Bitte, hör mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Was ich dir zu sagen habe, ist von größter Wichtigkeit. Du wirst schockiert sein. Und ich kann dich nur bitten, mich nicht zu hart zu verurteilen. Meine Geschichte wird dein Leben verändern. Also, Liebes, ich beginne mit einem Ereignis, das sich vor 30 Jahren in England zugetragen hat …“

1. KAPITEL

England, April 1816

Serena blieb stehen, um die Fassade von Knightswood Hall zu bewundern. Das Haus war viel größer und beeindruckender, als sie erwartet hatte. Der älteste Teil musste aus der Zeit Elizabeth I. stammen. Das Hauptgebäude aus gebrannten Ziegelsteinen wurde von zwei Seitenflügeln eingerahmt wurde, die dem Ganzen eine hübsche Symmetrie verliehen.

Sie hatte das Grundstück nicht auf dem Hauptweg betreten, da sie beschlossen hatte, auf die Kutsche zu verzichten und stattdessen den wunderbaren Morgen zu einem Spaziergang zu nutzen. Das Wetter war sehr mild für die Jahreszeit, und überall blühten Frühlingsblumen. Der gepflegte Rasen, an dem der Weg entlangführte, war mit gelben Narzissen und bunten Primeln gesäumt. Hier und da sah man schon die Knospen von Iris, Kamelien und Forsythien. Ja, man konnte fast meinen, ihr Duft würde sich mit dem des frischen Grases vermischen.

„Du musst nach England reisen und meinen guten Freund Nick Lytton auf seinem Anwesen Knightswood Hall aufsuchen.“ So hatte der letzte Wunsch ihres Papas gelautet. Und nun war sie tatsächlich hier, auf dem Landsitz seines besten Freundes. In dem Land, in dem Philip Cachet, der damals noch einen anderen Namen trug, geboren worden war.

Die Monate, die seit seinem Tod vergangen waren, hatten Serena an die Grenzen ihrer Kraft gebracht.

Die Vorbereitungen, die sie hatte treffen müssen, um Paris zu verlassen, waren anstrengend gewesen. Aber sie erwiesen sich auch als willkommene Ablenkung von dem Schmerz über den Verlust ihres Papas. Der Verkauf des Spielsalons bescherte ihr eine überraschend große Summe. Mit diesem Geld konnte sie nicht nur ihre laufenden Ausgaben begleichen, sondern es stellte gleichzeitig eine Sicherheit für die nächsten Jahre dar. Denn wer wusste schon, ob alles sich so entwickeln würde, wie ihr Vater es prophezeit hatte?

Serena hatte sich nie viel Gedanken um die Zukunft gemacht, denn ihr unstetes Leben erforderte, dass sie sich in erster Linie mit der Gegenwart auseinandersetzte. Natürlich träumte auch sie von einem eigenen Heim und einer eigenen Familie. Doch konkrete Vorstellungen bezüglich des erträumten Glücks hatte sie nicht, was wohl daran lag, dass sie nie die Chance gehabt hatte, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen.

Philip Cachet hatte seine Tochter sehr behütet aufwachsen lassen. Daher hatte sie bis zu seinem Tode keinen einzigen jungen Mann getroffen, der auch nur im Entferntesten ihrer Vorstellung von einem passenden Gemahl entsprach. Und in Bezug auf die Gestaltung ihres zukünftigen Heims hatte Serena nur sehr verschwommene Ideen. Schließlich hatte sie nie ein wirkliches Zuhause kennengelernt. Viel zu oft war sie mit ihrem Papa umgezogen.

Die Dinge, die er ihr auf dem Sterbebett anvertraut hatte, würden ihr Leben von Grund auf verändern – das hatte er jedenfalls behauptet. Sie würde reich sein und eine angesehene Stellung innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Dagegen hatte sie natürlich nichts einzuwenden. Dennoch blieben Zweifel, ob sie tatsächlich für ein solches Leben geschaffen war. Ich werde einen Schritt nach dem anderen machen, hatte sie sich daher in den letzten Wochen oft gesagt. Und heute würde sie einen großen Schritt tun.

Als sie ihre Gedanken auf das Gespräch richtete, das sie bald führen würde, machte sich ein Kribbeln in ihrem Magen bemerkbar. Sie war nervös. Kein Wunder, denn von dem bevorstehenden Treffen hing viel für sie ab.

Das beeindruckende Äußere des Hauses, in dem der Freund ihres Vaters lebte, legte den Schluss nahe, dass er ein einflussreicher und womöglich auch Angst einflößender Mann war. Einen Moment lang verspürte sie den Wunsch, einfach umzukehren. Doch dann straffte sie die Schultern und rief sich in Erinnerung, wie gut sie sich auf die Begegnung mit Nick Lytton vorbereitet hatte. Sie trug ein nach der neuesten Pariser Mode geschnittenes lavendelfarbenes Kleid mit hoher Taille, schwingendem Rock und rüschenbesetzten Ärmeln. Es stand ihr, genau wie der halblange Umhang mit dem hohen Kragen, sehr gut. Dazu hatte sie ein Strohhütchen mit einem breiten lavendelfarbenen Band gewählt. Ihr goldblondes Haar war schlicht, aber modisch frisiert. Kleine Löckchen fielen ihr in die Stirn und über die Ohren.

Ihre Füße steckten in zierlichen Stiefeletten aus weichem Ziegenleder, die eher für einen kleinen Ausflug in der Stadt geeignet waren als für einen Spaziergang auf dem Lande. Doch glücklicherweise hatten die Schuhe den Weg bisher überstanden, ohne schmutzig zu werden. Serena konnte mit ihrer Erscheinung also durchaus zufrieden sein.

Jetzt bemerkte sie, dass der Pfad, den sie eingeschlagen hatte, sich teilte. Linkerhand führte er an verschiedenen Nebengebäuden vorbei um das Haus herum. Sie würde sich wohl nach rechts wenden müssen, um den Haupteingang zu erreichen. Doch in diesem Moment drang von den Ställen her ausgelassenes Lachen an ihr Ohr. Dann laute anfeuernde Rufe und neuerliches Lachen. Es hörte sich so mitreißend an, dass sie neugierig wurde. Sie entschied sich, nach links zu gehen.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Stallungen erreichte. Sie waren um einen rechteckigen Hof herum gruppiert, den man vom Weg aus durch einen Torbogen betreten konnte. Dort blieb Serena stehen. Vor sich sah sie eine größere Anzahl von Burschen, die im Halbkreis um etwas herumstanden, was offenbar ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Ein paar Frauen, vermutlich Küchenmägde, hielten sich etwas abseits, waren aber ebenso fasziniert von dem, was sich im Inneren des Halbkreises zutrug.

Jetzt erkannte Serena, worum es sich handelte: zwei Männer, die mit bloßem Oberkörper einen Boxkampf ausfochten! Die Menge rief ihnen Ratschläge und ermunternde Worte zu. Einige der Umstehenden schlossen Wetten auf den Sieger ab. Es roch nach Pferden und nach Heu, aber auch nach menschlichem Schweiß, nasser Wolle und aufgewühltem Schlamm. Wenn die Zuschauer einen Moment lang nicht allzu laut waren, konnte man den heftigen Atem der Kämpfenden hören sowie das Geräusch der Fäuste, wenn sie den Gegner trafen.

Unwillkürlich schlug Serena die Hand vor den Mund. Ihr Vater hatte nicht verhindern können, dass sie gelegentlich Zeugin einer handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Betrunkenen geworden war. Doch einen richtigen Boxkampf hatte sie noch nie gesehen. Sie spürte, wie eine unbekannte Erregung Besitz von ihr ergriff. Zögernd trat sie näher.

Die Kämpfer trugen nichts als Wildlederhosen und wollene Socken. Der größere der beiden, ein wahrer Riese, hatte breite Schultern, einen Stiernacken und Hände so groß wie Schaufeln. Allerdings schien sein kräftiger Körper ihm fast ein wenig hinderlich zu sein. Er bewegte sich langsam, und wenn er die Füße hob, so konnte man den Eindruck gewinnen, sie seien bleischwer. Sein linkes Auge war, wohl infolge eines heftigen Schlages, geschwollen, und die Haut begann bereits, sich zu verfärben.

Er könnte Schmied sein, dachte Serena, während sie seine muskulösen Oberarme bewunderte. Und sie hatte recht. Sein „Training“ fand im Allgemeinen am Amboss statt.

Interessanter als ihn fand Serena allerdings seinen Gegner. Er hatte feinere Gesichtszüge, war ein wenig kleiner, nicht so breit gebaut und dabei doch von einer beeindruckenden Körperkraft. Vermutlich waren es gezielte Übungen und nicht harte Arbeit, die ihm diesen sportlichen Körper eingebracht hatten. Ein Kutscher vielleicht? Fasziniert betrachtete Serena das Spiel seiner Muskeln.

Es ist fast so, fuhr es ihr durch den Sinn, als würde man ein edles Ross im Wettkampf mit einem schweren Zugpferd beobachten.

Der vermeintliche Kutscher zeigte noch kaum Ermüdungserscheinungen. Zwar war seine Haut feucht und glänzend vor Schweiß, doch Verletzungen hatte er bisher nicht davongetragen. Seine in engen Lederhosen steckenden Beine waren lang und beweglich, leichtfüßig tänzelte er um seinen Gegner herum. Immer wieder landete er leichte Treffer. Dann zog er sich rasch zurück, ehe die Faust des Riesen ihn traf.

Serena war fasziniert. Sein Körper erinnerte sie an ein lebendes Kunstwerk. Jetzt spannte er die Rückenmuskeln an. O Gott, er war umwerfend! Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Ein seltsames, beunruhigendes, erregendes Gefühl überkam sie.

Im Licht der Sonne glänzten die schweißbedeckten Körper der Kämpfenden. Deutlich konnte man erkennen, wie überlegt der Kutscher seine Kräfte einsetzte. Sein Anblick gemahnte Serena an einen zum Sprung bereiten Tiger. Er spielte mit dem Riesen wie ein Raubtier, das sich seiner Kraft bewusst ist und sich, ehe es zum tödlichen Schlag ausholt, noch ein wenig mit seiner Beute amüsieren will.

Die Stimmen um sie herum wurden lauter. „Los, zeig’s ihm, Samuel!“, rief jemand. „Lass dich nicht unterkriegen! Schlag zu!“ Doch zu spät! Der Schmied taumelte, als die Faust seines Gegners ihn hart am Kinn traf. Wahrscheinlich wäre er zu Boden gegangen, wenn die Umstehenden ihn nicht aufgefangen und noch einmal nach vorn geschoben hätten. Er versuchte einen Angriff, wurde, als der Kutscher auswich, von seinem eigenen Schwung mitgerissen und stolperte erneut.

Der leichtfüßig von einem Bein aufs andere tänzelnde Sieger lächelte. Es war ein selbstbewusstes und vielleicht auch ein wenig boshaftes Lächeln, das seine Augen hell aufleuchten ließ. Serena stockte der Atem. Er sah wirklich verteufelt gut aus! Diese klugen grauen Augen mit den dunklen Wimpern, die dichten Brauen und dazu das glänzende schwarze Haar, das durch den Kampf in Unordnung geraten war! Auch sein Mund war beeindruckend, männlich und mit unglaublich wohlgeformten Lippen.

„Noch eine Runde!“, forderten die Zuschauer jetzt einstimmig. „Los, noch eine Runde!“

Zögernd zuerst begannen die Boxer erneut, sich zu umkreisen. Plötzlich machte Samuel einen großen Schritt auf den Kutscher zu und landete einen harten Schlag auf dessen Brust. Zum ersten Mal war es ihm gelungen, seinen Gegner zu überraschen. Dieser taumelte, fand jedoch rasch das Gleichgewicht wieder und ging zum Gegenangriff über. Seine Fingerknöchel begannen zu bluten, doch das konnte ihn nicht bremsen. Als seine Faust ins Zwerchfell des Schmieds krachte, stöhnte der auf und wandte sich zur Seite, wobei er versuchte, den Feind mit der Hüfte fortzustoßen. Ein Fehler, wie sich sogleich zeigte! Denn darüber hatte der Riese vergessen, seinen Kopf zu schützen. Sobald der andere die vernachlässigte Deckung bemerkte, schlug er auch schon erneut zu. Mit einem rechten Haken schickte er seinen Gegner zu Boden.

Der Kampf war zu Ende.

Die Menge brüllte. Ein paar kleinere Geldbeträge wechselten den Besitzer. Einer der Burschen sammelte in einem Ledersäckchen Münzen für die Siegesprämie ein und reichte sie dem Gewinner. Dieser stand, ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht, inmitten der Männer. Das dunkle Haar, das seine Brust bedeckte, glänzte feucht. Er atmete unregelmäßig, erholte sich jedoch rasch von der Anstrengung des Kampfes. Jetzt erhob Samuel sich mühsam vom Boden. Sein Gegner streckte ihm die Hand hin, half ihm auf und gab ihm dann zu Serenas Erstaunen den gefüllten Geldbeutel. Die Umstehenden klatschten zustimmend.

„Du verdienst das mehr als ich, Samuel“, erklärte der Kutscher. „Denn du hast noch immer nicht begriffen, wann es an der Zeit ist, sich geschlagen zu geben.“

Die Menge lachte. Offenbar war dies nicht der erste Wettstreit zwischen den beiden gewesen. Und offenbar waren die früheren Kämpfe ähnlich ausgegangen.

„Der Sieger muss die Belohnung krieg’n“, meinte der Schmied.

Woraufhin sein Gegner lachend den Kopf schüttelte, zu seinem Hemd ging, das etwas abseits vom Kampfplatz auf der Erde lag, und sich danach bückte. Als er sich wieder aufrichtete, ließ er den Blick kurz über die Menge gleiten – und bemerkte dabei Serena zum ersten Mal.

Sie hatte sich zurückziehen wollen. Doch irgendwie war sie zwischen die Männer geraten, die plötzlich so eng um sie herum standen, dass sie sich nicht zwischen ihnen hindurchzudrängen vermochte.

Dann stand der siegreiche Boxer auch schon vor ihr, umfasste mit festem Griff ihren Arm und sagte: „Nanu, wen haben wir denn hier?“

Trotz des spöttischen Untertons empfand Serena seine Stimme wie eine körperliche Liebkosung. Ein Schauer überlief sie. Das Blut stieg ihr in die Wangen. Und sie konnte den Blick nicht von dem Gesicht des Mannes abwenden. Seine grauen Augen schienen eine geradezu magische Kraft auf sie auszuüben.

Die Zuschauer waren verstummt und beobachteten neugierig, was sich zutrug.

„Ein Kuss von der schönsten Frau weit und breit soll meine Belohnung sein“, verkündete der vermeintliche Kutscher.

Jetzt stand er so dicht vor ihr, dass sie deutlich die Mischung verschiedener Gerüche wahrnahm, die er verströmte. Da war zum einen der Schweiß, dann der Zitronenduft, der dem Leinenhemd entströmte, und schließlich etwas, für das sie keinen Namen wusste, etwas, das einfach nur männlich war.

Einen Moment lang hielt sie den Atem an. Der Unbekannte war so groß, dass sie, obwohl sie für eine Frau hoch gewachsen war, den Kopf in den Nacken hätte legen müssen, um ihm in die Augen zu schauen. So wie sie jetzt dastand, sah sie gerade noch seine Lippen, um die nach wie vor dieses spöttische Lächeln spielte. Sie zwang sich, ihre Unsicherheit nicht zu zeigen, und setzte eine überhebliche Miene auf.

„Eindeutig die schönste Frau weit und breit“, flüsterte er ihr zu, während er ihr zwei Finger unters Kinn legte, um ihren Kopf etwas anzuheben. „Ein Kuss von ihr ist mehr wert als alles Geld in der Börse des Siegers.“ Langsam beugte er sich zu ihr herab.

Serena wehrte sich nicht. Ihr Atem ging plötzlich schneller. Sie bemerkte, wie der Boxer einen Moment lang zögerte. Dann zog er sie mit der freien Hand näher und berührte ihre Lippen sanft mit den seinen.

Es war nur eine ganz kurze Berührung, und sie wirkte fast ein wenig spöttisch, so wie sein Lächeln. Warm und angenehm spürte Serena seinen Atem auf ihrer Haut. Seine Lippen kamen ihr überraschend weich und doch sehr, sehr männlich vor. Irgendetwas in ihr drängte sie, den Kuss zu erwidern. Doch da hatte ihr Gegenüber sich schon wieder aufgerichtet.

Die Rufe der Umstehenden – „Weitermachen!“; „Einen richtigen Kuss!“; „Da wird man ja neidisch!“ und ähnliches – brachten Serena endgültig zur Besinnung. Sie schluckte, erinnerte sich an den Grund ihres Besuches in Knightswood Hall und verlangte: „Lassen Sie mich sofort los, Sie Grobian!“ Mit den flachen Händen stieß sie ihn von sich. Was, um Himmels willen, war da in sie gefahren?

Der Mann, der es tatsächlich gewagt hatte, sie vor aller Augen zu küssen, trat einen Schritt zurück und musterte sie nachdenklich. „Auch wenn Sie mich für einen Grobian halten, können Sie nicht leugnen, dass es Ihnen ebenso gut gefallen hat wie mir“, stellte er, völlig unbeeindruckt von ihrem Zorn, fest. „Im Übrigen frage ich mich, was Sie überhaupt hier machen. Sie befinden sich auf einem Privatgrundstück. Haben Sie sich verlaufen?“

„Sind Sie hier angestellt?“, gab sie kühl zurück.

„Nun, man könnte sagen, dass ich die Ehre habe, diesem Anwesen zu dienen.“

„Dann will ich Ihnen mitteilen, dass ich hier bin, um mit Ihrem Herrn, Mr. Lytton, zu sprechen.“

„Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Sie ihn bei den Ställen finden, wo sich die Knechte und Mägde und natürlich solche Grobiane wie ich herumtreiben“, gab er lachend zurück.

Er war wirklich unerträglich! Serena biss die Zähne zusammen.

„Wenn Sie zum Haupteingang gehen und dort Ihre Karte abgeben, wird er Sie bestimmt gern empfangen“, fuhr der Kutscher fort, wandte sich ab und eilte mit großen Schritten davon.

Serena brauchte einen Moment, um ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Dann machte sie sich auf den Weg zum Vordereingang, wo sie die Stufen hinaufstieg und den Türklopfer betätigte. Während sie darauf wartete, dass man sie einließ, schob sie die Erinnerung an den Boxkampf und sein Nachspiel weit von sich und versuchte, sich noch einmal genau ins Gedächtnis zu rufen, was ihr Vater ihr auf dem Sterbebett erzählt hatte.

Die Tür wurde geöffnet, und Serena sah sich dem Butler gegenüber. Sie nannte ihren Namen und wurde aufgefordert einzutreten.

„Bitte, folgen Sie mir, Mademoiselle Cachet.“

Er ging ihr voran durch einen riesigen Raum, an dessen einem Ende sich ein großer offener Kamin befand und an dessen anderer Seite eine Treppe nach oben führte. Beeindruckt schaute Serena sich um. Doch da hatten sie schon eine in der hölzernen Wandverkleidung kaum erkennbare Tür erreicht, hinter der sich ein sonnendurchfluteter kleiner Salon befand. Hohe Fenster gaben den Blick auf den Garten frei. Im Kamin knisterte ein Feuer. Auf dem Tisch stand ein bunter Strauß, dessen süßer Duft den Raum erfüllte.

„Mr. Lytton wird gleich bei Ihnen sein, Madam.“ Mit einer Verbeugung zog der Butler sich zurück.

Serena faltete die in weichen Handschuhen steckenden Hände, damit sie nicht so sehr zitterten. Dann holte sie tief Luft und schaute sich neugierig um.

Sie befand sich in einem geschmackvoll eingerichteten Zimmer, das offenbar häufig genutzt wurde. Das Holz der Möbel hatte einen warmen Glanz. Der Teppich war in Rot- und Goldtönen gehalten; Farben, die sich im Poster der Stühle und des Sofas wiederholten. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt.

Wie würde der Besitzer dieses bezaubernden Hauses sie empfangen? Leider musste sie mit einem wenig angenehmen Gespräch rechnen. Nick Lytton und Philip Cachet waren einst Freunde gewesen. Vor langer Zeit hatten sie einander noch gelegentlich geschrieben. Doch irgendwann war der Kontakt eingeschlafen. Gesehen hatten die beiden sich zuletzt vor etwa dreißig Jahren. Es bedrückte Serena, dass sie nun die Nachricht vom Tode ihres Vaters überbringen musste.

Nervös begann sie im Raum auf und ab zu schreiten. Als sie sich der Wandvertäfelung näherte, bemerkte sie, dass diese mit geschnitzten Blättern, Blüten, Ranken und Tieren verziert war. Inmitten anderer Blumen entdeckte Serena eine kleine Rose.

Allein nun blüht noch die letzte Rose des Sommers. Diese Worte hatte ihr Vater in jener schrecklichen Nacht mehrfach wiederholt, und Serena hatte sie nachsprechen müssen. Denn angeblich stellten sie den Schlüssel dar, mit dessen Hilfe das Geheimnis gelüftet werden konnte. Gleichzeitig würden sie Nick Lytton beweisen, dass seine Besucherin keine Betrügerin war.

Wie sollte sie sich den Freund ihres Papas vorstellen, jenen Unbekannten, der plötzlich so große Macht über ihre Zukunft erlangt hatte? Er würde natürlich etwa so alt wie ihr Vaters sein. Der Zustand seines Anwesens und die Einrichtung des Hauses bewiesen zudem, dass er über einen gewissen Reichtum verfügte. War er ein mit zunehmendem Alter dick gewordener Landbesitzer? Ein Mann, der zu fett aß, zu viel trank und unter Gicht litt?

„Ich bin Nicholas Lytton“, sagte eine klangvolle Stimme. „Womit kann ich Ihnen dienen, Mademoiselle?“

Sie zuckte zusammen. In ihre Gedanken versunken hatte sie nicht gehört, wie die Tür geöffnet wurde. Nun stellte sie erschrocken fest, dass Mr. Lyttons Stimme – so angenehm sie auch war – ihr sehr bekannt vorkam. Verflixt! Langsam wandte sie sich um. Als sie den Gentleman ansah, gefror ihr das charmante Lächeln, mit dem sie ihn hatte begrüßen wollen, auf den Lippen.

Er hatte gebadet und die Kleidung gewechselt. In seiner hellen Hose und dem perfekt sitzenden Gehrock aus feinstem Garn sah er überaus elegant aus. Sein makellos weißes Krawattentuch war zu einem einfachen Knoten geschlungen, sein Leinenhemd frisch gebügelt, die Weste aus gestreifter Seide ein Beispiel für echte Schneiderkunst.

Serena musste sich zwingen, den Blick zu heben. Das Gesicht ihres Gegenübers zeichnete sich durch ein festes Kinn, einen fein geschwundenen, sehr männlichen Mund, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und kluge, schon wieder ein wenig spöttisch dreinblickende Augen aus. Graue Augen!

Nicholas Lytton verbeugte sich und trat, die Hand ausstreckend, auf seinen Gast zu.

Serena errötete. Und plötzlich war ihr heiß – was nichts mit dem kleinen Feuer zu tun hatte, das im Kamin flackerte.

Der Gentleman schien sich köstlich darüber zu amüsieren, dass sie so verwirrt war. Lächelnd führte er sie zu einem bequemen Sessel und ließ sich dann ihr gegenüber nieder. „Ich habe Tee bestellt“, sagte er freundlich. „Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse gebrauchen.“

Dieser Schurke genoss es, sie in Verlegenheit zu bringen! Serena funkelte ihn zornig an. Sie straffte die Schultern und gab ihrem Gesicht einen neutralen Ausdruck, der allerdings gar nicht zu den widerstreitenden Gefühlen passen wollte, die sie erfüllten. „Sir“, begann sie kühl, „Sie haben mich, was Ihre Identität betrifft, schon einmal in die Irre geleitet. Ich muss Sie bitten, das kein zweites Mal zu tun.“

„Gestatten Sie, dass ich Ihnen widerspreche. Als ich sagte, ich habe die Ehre, diesem Anwesen zu dienen, da habe ich nicht gelogen. Es ist wohl eher so, dass Sie falsche Schlüsse aus meinen Worten gezogen haben. Vielleicht war Ihre Urteilskraft getrübt durch das Vergnügen, das Sie beim Anblick des Boxkampfes und bei den darauf folgenden Ereignissen empfanden?“

„Es gehört sich nicht für einen Gentleman, sich über eine Dame lustig zu machen“, stellte Serena fest. „Ich bin hier, um Mr. Nicholas Lytton in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen.“

„Wie ich schon sagte: Ich bin Nicholas Lytton.“

„Aber das ist unmöglich! Mr. Lytton ist ein Freund meines Vaters, ein alter Herr.“

„Ah, Sie sprechen von meinem Vater.“

„Oh … Ja, so muss es sein!“ Serena konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. „Ihr Vater! Kann ich ihn sprechen?“ In ihrem Eifer beugte sie sich nach vorn.

Wie schön sie ist, dachte Nicholas beim Anblick ihrer leicht geröteten Wangen, der kornblumenblauen, von langen Wimpern beschatteten Augen und ihres in der Sonne wie Gold leuchtenden Haares.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass mein Vater schon vor zehn Jahren gestorben ist.“

„Er ist tot?“ Während der letzten Wochen und Monate hatte Serena sich immer wieder ausgemalt, was sie in Knightswood Hall erwarten mochte. Doch auf den Gedanken, der Freund ihres Papas könne verstorben sein, war sie nie gekommen. Ihre Schultern sanken herab. „Tot? Damit habe ich nicht gerechnet. Bitte, verzeihen Sie. Die Nachricht ist ein Schock für mich.“

Was soll ich jetzt nur tun? Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung für ihr Problem. Konnte sie sich diesem Gentleman anvertrauen, über den sie nur zwei Dinge wusste, nämlich, dass er gut boxte und dass er sich Damen gegenüber die größten Freiheiten herausnahm? Offenbar verkörperte er genau jene Sorte Mann, vor der ihr Papa sie stets ferngehalten hatte. Sie hatten ein recht unkonventionelles Leben geführt. Doch gerade deshalb hatte er größten Wert darauf gelegt, sie zu beschützen. Manchmal – so vermutete sie seit Langem – hatte er dabei ziemlich übertrieben.

Sicher, dass er ihr das Betreten des Spielsalons verboten hatte, war nachvollziehbar. Dort hätte sie wohl kaum passende Bekanntschaften schließen können. Leider hatte es auch sonst so gut wie keine Gelegenheit gegeben, jungen Gentlemen zu begegnen. Einerseits war Philip Cachet oft umgezogen, andererseits verkehrte er, da er sein Geld mit dem Glücksspiel verdiente, nicht in den richtigen Kreisen. So kam es, dass seine Tochter trotz ihrer Schönheit bis zu diesem Tag noch nie geküsst worden war.

Ja, Nicholas Lytton war der Erste, der ihre Lippen gekostet hatte. Aber das würde sie ihm natürlich nicht sagen. Er war auch so schon geradezu unerträglich arrogant.

Sie starrte ihn an, während sie noch immer nach einem Ausweg suchte. Ihr Papa hatte ihr eingeschärft, sie dürfe niemandem außer seinem Freund Nick Lytton vertrauen. Doch dieser Freund war tot. Ihre einzige Chance, überhaupt etwas zu erreichen, bestand darin, sich mit ihrem Anliegen an seinen Sohn zu wenden.

Doch eine innere Stimm riet ihr zur Vorsicht. Das hatte nichts mit den Warnungen ihres Vaters zu tun, sondern einzig und allein mit der Persönlichkeit des junge Mr. Lytton. Der Kampf, der Kuss, die zutiefst beunruhigende Wirkung, die er auf sie hatte – das alles machte sie misstrauisch. Obwohl … Sie errötete erneut, als ihr klar wurde, wie sehr sie es genossen hatte, ihn beim Boxen zu beobachten. Sein muskulöser Oberkörper, seine wachsamen Augen, seine geschmeidigen Bewegungen … Und dann dieser Kuss! Sie hätte den Mann wegstoßen müssen, doch stattdessen hatte sie sich gewünscht, sich an ihn zu schmiegen, seine warme Haut zu spüren, seine Haare zu berühren und mit den Fingerspitzen über seine starken Muskeln zu streichen.

Himmel, nie zuvor hatte sie so wollüstige Gedanken gehegt! Und nun war gewiss nicht die richtige Zeit, ihnen erneut nachzuhängen. Sie musste sich zusammenreißen! Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Dann straffte sie die Schultern und sagte: „Der Tod Ihres Vaters erschwert vieles. Doch mein Anliegen wird dadurch nicht weniger dringend. Ich fürchte, ich muss Sie um Ihre Hilfe bitten.“

„Sie müssen? Heißt das, Sie würden sich lieber anders entscheiden? Vertrauen Sie mir etwa nicht, Mademoiselle Cachet?“

Er spielte mit ihr, so viel war klar. „Wäre es denn gefährlich, Ihnen Vertrauen entgegenzubringen?“, gab sie, auf seinen leichten Ton eingehend, zurück.

„Das können nur Sie selbst entscheiden. Doch dazu müssen Sie mich wohl erst besser kennenlernen.“

„Dazu bleibt mir leider keine Zeit. Ich beabsichtige nicht, lange zu bleiben. Ich bin hier, um einige Papiere abzuholen, die mein Papa bei Ihrem Vater hinterlegt hat. Es handelt sich um persönliche Dokumente, die er aus Sicherheitsgründen während seines Aufenthalts auf dem Kontinent nicht bei sich tragen wollte. Wir haben ein – wie soll ich sagen – ein etwas unstetes Leben geführt.“

„Sie sind also erst kürzlich in England eingetroffen.“

„Ja, ich habe zuletzt in Paris gelebt. In England bin ich zum ersten Mal.“

„Sie beherrschen die englische Sprache ganz hervorragend – wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“

„Ich bin Engländerin“, gab sie ein wenig steif zurück. „Mein Vater war Engländer, und wir haben zu Hause stets Englisch gesprochen. Ich verstehe, dass mein unerwartetes Auftauchen Ihr Misstrauen weckt. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich weder eine Betrügerin noch eine französische Spionin bin.“

Er lachte. „So leid es mir tut, ich weiß nichts über Ihre Papiere. Nach dem Tode meines Vaters habe ich selbstverständlich alle Dokumente gesichtet. Wenn etwas dabei gewesen wäre, was Sie betrifft, dann hätte ich es gewiss entdeckt.“

„Aber diese Unterlagen müssen sich hier befinden! Mein Papa hat keinen Zweifel daran gelassen. Hat Ihr Vater vielleicht irgendwelche Andeutungen gemacht, ehe er starb? Vielleicht hat er die Papiere seinem Anwalt übergeben.“

Nicholas runzelte die Stirn. Der Ernst, mit dem seine Besucherin sprach, beeindruckte ihn. „Nein“, erklärte er schließlich, „wenn es so wäre, hätte ich davon erfahren.“

„Dann hat Ihr Vater meinen Papa also nie erwähnt.“

Jetzt klang ihre Stimme beinahe verzweifelt. Das bestärkte ihn in der Überzeugung, noch längst nicht die ganze Geschichte gehört zu haben. Seine Neugier war geweckt. Er musterte ihr schönes Gesicht mit den blauen Augen, die flehend auf ihn gerichtet waren. Selbst der hartherzigste Mann würde ihr kaum widerstehen können! In ihrem Kummer war sie hinreißend. Wie bezaubernd würde sie erst sein, wenn sie Dankbarkeit empfand!

„Vielleicht fällt Ihnen etwas ein, das meine Erinnerung anregen könnte?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß selbst nicht viel. Nur, dass es sich um private Dokumente handelt und dass sie sich in einem Umschlag befinden, auf dem der Name meines Vaters steht.“

„Das ist alles?“ Auffordernd schaute er sie an.

Serena biss sich auf die Unterlippe. Noch nie hatte ein Mann eine solche Wirkung auf sie ausgeübt. Seine grauen Augen schienen bis in ihr Innerstes sehen zu können. Deutlich konnte sie sein Misstrauen und seine Neugier fühlen. Dabei machte Nicholas Lytton eigentlich einen ganz entspannten Eindruck.

„Stamppe“, sagte sie. „Ist der Name wirklich nie gefallen?“

„Stamppe? Dann sind Sie mit Monsieur Cachet verheiratet?“

„Nein, ich bin nicht verheiratet. Auch ich heiße Stamppe.“

„Auf Ihrer Karte stand Cachet.“

„Ja, weil … Entschuldigen Sie, das alles ist ziemlich unangenehm für mich.“ Sie warf einen kurzen Blick auf sein Gesicht, bemerkte dessen spöttischen Ausdruck und schaute rasch wieder zu Boden. Nervös öffnete und schloss sie die Hände. Ihr Unbehagen war wirklich nicht zu übersehen. Jetzt atmete sie tief durch und zwang sich, Nicholas Lytton fest in die Augen zu blicken. „Cachet ist das französische Wort für Siegel oder Stempel und entspricht dem englischen Stamp beziehungsweise Stamppe. Tatsächlich wusste ich bis zum Tode meines Vaters nicht, dass mein wirklicher Name nicht Cachet, sondern Stamppe ist. Er hat es mir erst auf dem Sterbebett anvertraut. Eine seltsame Art von Humor …“

„Ja, es ist ganz erstaunlich, wie die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit einen Vater verändern kann.“

„Pardon?“

„Ich wollte lediglich mein Verständnis zum Ausdruck bringen, Mademoiselle. Ich habe nämlich ähnliche Erfahrungen gemacht wie Sie. Vermutlich waren Sie schockiert.“

„Allerdings.“ Sie seufzte. „Mein Vater starb nach einem Raubüberfall, bei dem er schwer verletzt worden war. Ich war auf seinen Tod nicht vorbereitet. Und auch nicht auf all das, was …“ Ihre Stimme brach, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Mit einem Seidentüchlein, das sie aus ihrem Retikül zog, wischte sie sie fort.

„Verzeihen Sie. Ich wollte keine schlimmen Erinnerungen wecken. Haben Sie andere Verwandte?“

„Nein. Niemanden. Also … Nein. Mama starb, als ich zehn war. Seitdem war ich mit meinem Papa allein. Und jetzt …“ Erneut drohten Tränen ihre Stimme zu ersticken. „Jetzt bin ich ganz allein.“

„Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine junge Dame, die so schön ist wie Sie, niemanden auf der Welt hat, der sich um sie sorgt. Sind die Franzosen denn alle blind?“

„Vielleicht bin ich einfach zu wählerisch. Aber wir kommen vom Thema ab, Mr. Lytton.“

„Ja, Sie haben recht. Also zurück zu diesen Papieren. Wie lange ist es her, dass Ihr Vater sie dem meinen übergeben hat?“

„Er hat sie vor mehr als zwanzig Jahre hierher geschickt.“

„Und in all dieser Zeit hat weder Ihr Vater noch sonst jemand die Dokumente zurückverlangt?“

„Ich zum Beispiel wusste nicht einmal von ihrer Existenz!“

„Dann hat Ihr Vater auch diese Unterlagen zum ersten Mal auf dem Sterbebett erwähnt?“

Autor

Marguerite Kaye
<p>Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...
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