Ein Märchenprinz für mich

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Ein Märchenschloss mit einem Prinzen? Von wegen! Zwar ist Faith zuerst wie verzaubert, als sie kurz vor Weihnachten auf Marcus Huntingtons malerischem Anwesen ankommt. Doch obwohl es immer heißer zwischen ihnen knistert, versucht Marcus sie plötzlich wieder zu vertreiben …


  • Erscheinungstag 29.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504027
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dieses Tor war dazu gemacht, Leute fernzuhalten. Faith legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu dem sieben Meter hohen, kunstvoll geschmiedeten schwarzen Eisengitter. Sowohl die Schönheit des Tores als auch der scharfe Wind, der durch die Stangen blies, vermittelten den Eindruck, dass Fremde hier unerwünscht waren.

Dummerweise musste Faith jedoch auf das Gelände von Hadsborough Castle, und zwar heute noch.

Frustriert sah sie über die Schulter zu ihrem kleinen Wagen, in dem ein Koffer und ihre Reisetasche auf dem Rücksitz lagen. Eigentlich hatte sie heute etwas ganz anderes vorgehabt. Nämlich etwas, das mit einem malerischen kleinen Ferienhäuschen an der Küste von Kent, einer heißen Schokolade mit Marshmallows und einem guten Buch zu tun hatte. Der perfekte Winterurlaub.

Aber all das hatte sich in Luft aufgelöst, als sie gestern Morgen einen unschuldig wirkenden Briefumschlag vor ihrer Haustür gefunden hatte. Der Aufkleber mit dem fröhlichen Schneemann auf der Rückseite hatte sie nicht täuschen können. Schon bevor sie den Brief öffnete, hatte sie gewusst, dass er nur Ärger bringen würde. Welche Art von Ärger, das hatte sie allerdings überrascht.

Über das Dach ihres Autos blickte Faith auf die sanfte englische Hügellandschaft auf der anderen Seite. Nebel hing in den Feldern, und überall lag frostiger Reif.

Es war seltsam. Zu Hause in den USA war Faith auch auf dem Land aufgewachsen. Doch die Landschaft hier hatte nichts von der vertrauten erdigen Atmosphäre, die sie erwartet hatte, als sie heute früh aus London losgefahren war. Obwohl sie schon seit fast zehn Jahren in England lebte und ihre Schwestern sich inzwischen über ihren britischen Akzent lustig machten, spürte Faith seit langer Zeit wieder einmal, dass sie hier eine Fremde war. Dieses neblige Fleckchen England fühlte sich nicht an, als wäre es einfach bloß ein anderes Land. Es wirkte wie eine völlig andere Welt.

Sie drehte sich wieder um und versuchte es an einem kleineren Durchgang neben den beiden großen Torflügeln, der offensichtlich für Fußgänger gedacht war. Zwecklos. Auch der war geschlossen. Auf einem Schild an der Seite standen die üblichen Öffnungszeiten für das Schloss: dienstags bis samstags von zehn bis vier, montags geschlossen.

Aber Faith war keine Touristin, sie hatte einen Termin.

Noch einmal rüttelte sie an dem kleineren Tor, sodass die Kette, mit der es abgesperrt war, rasselte.

So stand es in Grams Brief. Sie nahm ihn aus ihrer Tasche und blätterte die lilafarbenen Seiten durch. Dabei ignorierte sie den lachenden Schneemann auf dem Umschlag. Der hatte garantiert keine listige, weißhaarige alte Großmutter, die ihn um seinen wohlverdienten Urlaub bringen wollte.

Faith überflog die Zeilen, in denen Gram beschrieb, wie hübsch ihr Heimatstädtchen Beckett’s Run durch die Vorbereitungen auf das alljährliche Weihnachtsfest jetzt aussah.

Ah, da war es.

Faith, mein Schatz, könntest du mir wohl einen großen Gefallen tun? Ich habe einen Freund, eine alte Flamme von mir, der Hilfe bei einem Bleiglasfenster braucht, und ich habe ihm erzählt, dass ich genau die Richtige dafür kenne. Bertie und ich waren nach dem Krieg ein Paar. Wir haben zusammen einen wunderbaren Sommer erlebt, aber dann ist er nach Hause zurückgekehrt, hat ein nettes englisches Mädchen geheiratet, und ich habe deinen Großvater kennengelernt. Ich glaube, letztes Endes ist alles so gekommen, wie es sein sollte.

Das Fenster befindet sich auf dem Anwesen von Hadsborough Castle in Kent. Der Name des Mannes, der es entworfen hat, fällt mir gerade nicht ein.

Jedenfalls bist du mit dem Fenster in London doch bald fertig, und du hast gesagt, dein nächster Auftrag fängt erst im neuen Jahr an. Deshalb dachte ich, du könntest vielleicht hinfahren und Bertie helfen. Ich habe ihm gesagt, du würdest am dreißigsten November um elf Uhr vormittags zu ihm kommen.

Grams Brief noch in der Hand, schob Faith den Ärmel ihres grauen Dufflecoats hoch, um auf die Uhr zu sehen. Es war der dreißigste, zehn Uhr fünfzig. Und wieso war niemand da, um sie hereinzulassen? Ohne Grams grandiose Idee könnte sie schon längst ihre heiße Schokolade genießen.

So fantastisch das Fenster von St. Bede in Camden auch ausgesehen hatte, als das Team mit den Restaurierungsarbeiten fertig war, hatte das Projekt doch vier Monate harter, akribischer Arbeit gekostet. Faith hatte eine Pause verdient, und die wollte sie sich auf jeden Fall gönnen.

Sobald sie sich dieses Fenster hier angeschaut hatte.

Sie blätterte die letzte Briefseite um, las die Zeile unter der Unterschrift ihrer Großmutter und bekam erneut eine Gänsehaut.

P.S.: Jetzt weiß ich’s wieder! Der Künstler heißt Samuel Crowbridge.

Hätte ihre Großmutter nicht den Namen dieses berühmten englischen Künstlers erwähnt, hätte Faith sich den Abstecher auf dem Weg zu ihrem Ferienhäuschen sicherlich erspart.

Na ja, vielleicht wäre ich trotzdem gekommen, dachte sie bei sich. Gram war die einzige beständige Bezugsperson während ihrer ansonsten recht chaotischen Kindheit gewesen. Eher eine Ersatzmutter als eine Großmutter. Faiths glücklichste Erinnerungen hingen alle mit dem hübschen kleinen Haus von Gram in Beckett’s Run zusammen. Sie hatte ihrer Großmutter vieles zu verdanken, und vermutlich hätte Faith sogar nackt auf einem Bein mitten auf dem Trafalgar Square getanzt, wenn die alte Dame sie darum gebeten hätte.

Wahrscheinlich sollte sie dankbar sein, dass der Brief nicht mit einer solchen Bitte begonnen hatte: Faith, mein Schatz, lass dich bitte nicht von der Polizei erwischen, aber könntest du vielleicht mal eben schnell zur Nelsonsäule laufen und …?

Die Straße, die am Schloss vorbeiführte, war verlassen. Doch da Faith in diesem Augenblick das Motorengeräusch eines Autos hörte, wandte sie sich um. Ein Geländewagen hielt neben ihr an, und der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter.

In freundlichem Ton meinte der Mann, der einen dicken Pullover trug: „Heute ist zu.“

Faith nickte. „Ich habe einen Termin mit …“ In diesem Moment fiel ihr ein, dass Gram ihr gar nicht den vollen Namen ihrer Jugendflamme genannt hatte. „Bertie?“

Skeptisch zog der Fahrer des Geländewagens die Augenbrauen zusammen.

„Es geht um das Fenster“, setzte Faith hinzu. Obwohl sie nicht damit rechnete, dass dies viel helfen würde. Der Termin, den ihre Großmutter für sie vereinbart hatte, schien ebenso unwirklich wie die sich auflösenden Nebelschwaden.

Aber der Mann nickte. „Fahren Sie hinter mir her“, sagte er. „Weiter oben an der Straße ist ein öffentlicher Parkplatz. Von da aus können Sie den restlichen Weg zu Fuß gehen.“

„Danke.“ Faith stieg wieder in ihren Wagen ein.

Fünf Minuten später, nach einer kurzen Fahrt durch eine herrliche Parklandschaft, stand sie neben ihrem Auto und schaute dem davonfahrenden Geländewagen nach, dessen Motorengeräusch rasch leiser wurde. Sie wartete, bis der Wagen um die nächste Kurve verschwand, ehe sie den Pfad einschlug, den der Unbekannte ihr gezeigt hatte. Der Weg führte einen sanft ansteigenden Hang hinauf. Als Faith oben ankam, blieb ihr unwillkürlich der Mund offen stehen.

Hinter einer weiten Rasenfläche hing fein gesponnener Nebel über einem dunklen, spiegelglatten See. Oberhalb davon, beinahe als würde es über dem Wasser schweben, lag das schönste Schloss, das sie je gesehen hatte. Gebaut aus riesigen, cremefarbenen Sandsteinblöcken, hatte es zinnenbewehrte Mauern und obendrein noch einige Erkertürme. Lange, schmale Fenster unterbrachen das Mauerwerk.

Die Schlossanlage erstreckte sich vom rechten Ufer über zwei kleine Inseln hinweg. Eine einspurige Brücke verband die erste Insel mit dem Festland, bewacht von einem Torhaus. Die kleinere der beiden Inseln war eine befestigte Burg, älter als der Rest des Schlosses, und mit dem neueren, größeren Teil durch eine zweigeschossige Bogenbrücke verbunden.

Das Ganze sah aus wie ein Märchenschloss. Schöner als alles, was Faith sich jemals ausgemalt hatte, wenn Gram sie und ihre Schwestern in den Sommerferien ins Bett gebracht und ihnen aus ihrem Lieblingsgeschichtenbuch vorgelesen hatte.

Sie ging darauf zu, wobei sie überhaupt nicht darauf achtete, dass sie den Asphaltweg verlassen hatte. Als sie über das tau­schwere Gras lief, riskierte sie daher, mit ihren Stiefeln in Gänsedreck zu treten. Der Rand des Sees war von Schilf umgeben, und zwei schwarze Schwäne mit dunkelroten Schnäbeln ließen sich gemeinsam im Wasser treiben. Offensichtlich bemerkten sie Faith gar nicht.

Die Brücke vom Ufer zum Torhaus schien der einzige Weg ins Schloss zu sein. Also beschloss sie, es erst einmal dort zu versuchen. Vielleicht hatte ja jemand Dienst, der wusste, wo sie das Fenster oder diesen mysteriösen Bertie finden konnte.

Dicht am flachen Ufer entlang ging sie weiter. Während sie sich auf diese Weise dem Schloss näherte, erblickte sie auf einmal eine dunkle Gestalt im Nebel, die auf sie zukam. Faith blieb stehen und zog den Mantel enger um sich. Sie spürte die feuchtkalte Luft auf ihren Wangen.

Wie sie nach und nach erkannte, handelte es sich um einen hochgewachsenen Mann. Mit wehendem dunklem Mantel und langen, ausgreifenden Schritten kam er heran. Er erinnerte Faith sofort an die strengen viktorianischen Gentlemen aus früheren Schauerromanen. Es lag an seinem zielstrebigen Gang, an der Art, wie er den Mantelkragen hochgeschlagen hatte. Sobald sie ihn deutlicher sehen konnte, stellte sie jedoch an dem dicken Rippenpullover und den dunklen Jeans unter dem Mantel fest, dass er doch ein Mann dieses Jahrhunderts war.

Er hatte sie noch nicht entdeckt. Faith wusste, sie sollte etwas sagen, ihm etwas zurufen, aber sie war nicht einmal imstande zu atmen, geschweige denn zu sprechen.

Sie hatte das eigenartige Gefühl, ihn zu kennen, obwohl sie nicht hätte erklären können, weshalb seine Gesichtszüge ihr so vertraut erschienen. Es war einfach alles an ihm. Und weil er sich ausgerechnet an diesem Ort befand.

Absolut verrückt, denn noch nie zuvor in ihrem Leben war sie hier gewesen. Höchstens vielleicht in irgendwelchen kindlichen Tagträumen. Und mit Sicherheit würde sie sich daran erinnern, falls sie jemals einem solchen Mann begegnet wäre. Ein Mann, dessen plötzliches Auftauchen die Antwort auf eine Frage darstellte, die ihr selbst gar nicht bewusst gewesen war.

Schließlich bemerkte er sie und hielt einen Moment lang inne. Doch dann richtete er sich noch höher auf und setzte seinen Weg fort, wobei er sie eindringlich fixierte. Sein Blick erinnerte Faith an einen Jagdhund, der gerade Witterung aufgenommen hatte.

„Hey!“, rief er ihr zu.

Die feuchte Luft dämpfte ihren Gruß, sodass man ihn kaum verstand.

Mittlerweile war der Mann nur noch wenige Meter entfernt. Faith steckte ihre Hände mitsamt den Handschuhen in die Manteltaschen und legte den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er war wirklich sehr groß. Allerdings keineswegs stämmig, sondern hochgewachsen und schlank.

Jetzt begriff sie auch, weshalb sie diese merkwürdige Assoziation eines viktorianischen Gentlemans gehabt hatte. Etwas zu langes schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn und über den Kragen. Seine Gesichtszüge und die lange, gerade Nase zeugten von jahrhundertealter vornehmer Herkunft. Und die Art, wie er sie ansprach, ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er es gewohnt war, dass andere Menschen seinen Anweisungen Folge leisteten.

„Das Schloss und das Gelände sind heute für Besucher geschlossen. Sie müssen leider wieder denselben Weg zurückgehen, den Sie gekommen sind.“

Er stand da und wartete darauf, dass sie gehorchte.

Im Allgemeinen hatte Faith kein Problem damit, freundlich und höflich zu sein und zu tun, was von ihr verlangt wurde. Doch etwas an seinem Tonfall ärgerte sie. Ihm war nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sie möglicherweise einen triftigen Grund dafür haben könnte, hier zu sein. Wegen seiner Unterstellung, sie wäre mal wieder an einem Ort, wo sie nicht hingehörte, platzte ihr der Kragen.

„Ich bin nicht unbefugt hier. Ich soll …“

Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, packte er sie bereits am Ellbogen, um sie in die Richtung zurückzulotsen, aus der sie gekommen war.

„Hey!“ Entrüstet riss sie sich von ihm los. „Hände weg, Freundchen!“

„Ich hätte es wissen müssen“, brummte der Mann vor sich hin. „Amerikanische Touristen sind immer die schlimmsten.“ Dann erhob er die Stimme, als würde er mit einem uneinsichtigen Kind reden. „Hören Sie, Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass dies keine Besucherattraktion ist wie irgendein Vergnügungspark. Hier wohnt unsere Familie, und wir haben dasselbe Recht auf unsere Privatsphäre wie jeder andere auch. Und falls Sie jetzt nicht sofort das Gelände verlassen, sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu rufen.“

Faith hatte nicht mehr das geringste Interesse daran, diesem eingebildeten Kerl gegenüber auch noch höflich zu sein. Egal, wer er war, und egal, wie umwerfend er ausgesehen hatte, als er aus dem Nebel erschienen war.

„Nein, Sie hören mir jetzt zu!“, gab sie energisch zurück. „Ich habe jedes Recht, hier zu sein. Weil ich nämlich eine Verabredung mit Bertie habe.“

Er hielt inne und zog die Augenbrauen noch enger zusammen. Hinter diesem aristokratischen Aussehen steckte sicher auch ein scharfer Verstand. „Sie meinen Albert Huntington?“

Für ihre Antwort brauchte Faith einen Sekundenbruchteil länger, als ihr lieb gewesen wäre. „Ja, natürlich.“ Es konnte ja wohl nicht mehr als einen Bertie hier geben, oder? Das musste er sein.

Dummerweise entging Mr Groß, Dunkel und Eingebildet ihr kurzes Zögern nicht. Sofort ergriff er erneut ihren Arm und marschierte mit ihr in Richtung Eingangstor zurück. „Netter Versuch, aber niemand außer den engsten Familienangehörigen nennt ihn Bertie. Und Sie stammen von einem völlig verkehrten Kontinent, um mit ihm verwandt zu sein.“

Ha, von wegen!

„Zu Ihrer Information: Mein Vater ist genauso englisch wie Sie“, erklärte sie eisig. „Und meine Großmutter ist eine alte Freundin von Bertie. Ich bin hier, um meine professionelle Einschätzung zu einem Bleiglasfenster abzugeben!“

Er ließ ihren Arm los und musterte sie eindringlich von Kopf bis Fuß. „Sie sind der Experte, den Bertie gebeten hat, sich das Fenster anzusehen?“

Das kam der Wahrheit jedenfalls sehr nahe. Faith nickte. „Soviel ich gehört habe, sind offenbar einige Instandsetzungsarbeiten daran nötig.“

Nun ja, sie wusste nicht genau, ob das Fenster restauriert werden musste. Aber weshalb hätte Gram sie sonst hergeschickt? Es war immerhin sehr wahrscheinlich, und Faith wollte wenigstens einen Blick auf dieses Fenster erhaschen, ehe dieser Mann sie endgültig hinauswarf. Kein anderes der Glasfenster von Samuel Crowbridge hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt, und es waren ohnehin nicht viele gewesen. Das hier könnte eine bedeutsame Entdeckung werden.

Der gereizte und entschlossene Ausdruck wich aus dem Gesicht ihres Gegenübers. Flüchtig schloss er die Augen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bevor er zum Schloss zurückblickte. „Ich hatte gehofft, er hätte diese Idee aufgegeben.“ Resigniert sah er sie an. „Dann bringe ich Sie wohl am besten gleich zu ihm, Miss …?“

„McKinnon. Faith McKinnon“, erwiderte sie. Dabei bemühte sie sich um einen ruhigen Tonfall.

„Ich möchte mich bei Ihnen dafür entschuldigen, wenn ich ein wenig brüsk reagiert habe, Miss McKinnon.“

Ein wenig? Und es schien ihm überhaupt nicht leidzutun. Im Gegenteil, er wirkte noch angespannter als zuvor. Faiths jüngere Schwester hätte ihn vermutlich beschrieben als jemand, der einen Stock verschluckt hatte.

„Sicherlich können Sie nachvollziehen, wie schwer es ist, wenn die eigene Privatsphäre von unbefugten Eindringlingen verletzt wird“, fügte er hinzu. Dennoch hatte Faith den Eindruck, dass sie für ihn trotzdem zu dieser Kategorie gehörte. „Die Leute denken, bloß weil wir unser Zuhause ein paar Tage pro Woche für Besucher öffnen, dass es sich um öffentlichen Besitz handelt.“

Mit Eindringlingen in der Familie kannte Faith sich aus. Das wollte sie diesem Kerl jedoch auf keinen Fall erzählen, denn dadurch würde sie ihm wohl kaum sympathischer werden.

„Bertie geht es momentan gesundheitlich nicht besonders gut“, fuhr der Mann ernst fort. „Ich versuche, möglichst allzu viel Aufregung von ihm fernzuhalten.“ Er führte sie durch den dünner werdenden Nebelschleier zurück um den See. „Was sich allerdings als schwierig herausstellt, solange er so von diesem verdammten Fenster besessen ist.“

Mit seinen langen Schritten ging er voran, während Faith ihm einen kleinen Hang hinauf folgte, bis zu der ersten, schlichten Steinbrücke, unter einem großen Torbogen des Torhauses hindurch und dann zu einem oval angelegten Rasen, der mehr als die Hälfte der ersten Schlossinsel einnahm. Faith fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Wow.

Aus der Nähe sah das Schloss noch viel schöner aus als vorhin, als es vor ihr aus dem Nebel aufgestiegen war. Ein kiesbestreuter Weg um den Rasen führte zu einer mächtigen Eingangstür, die mit zahlreichen Eisenbeschlägen versehen war.

Sobald ihr Führer die Tür öffnete und beiseitetrat, damit Faith an ihm vorbeigehen konnte, verzog er seine Mundwinkel überraschenderweise zu einem kleinen Lächeln. „Ich nehme an, Bertie hat sein Frühstück inzwischen beendet. Ich bringe Sie zum Salon.“

Erstaunt sah Faith ihn an. „Bertie wohnt hier?“

Das Lächeln schwand. „Selbstverständlich wohnt er hier. Es ist sein Zuhause.“ Kopfschüttelnd meinte er: „Ihr Amerikaner habt wirklich manchmal komische Ideen.“

Faith hielt sich zurück, obwohl sie ihm gerne eine passende Erwiderung darauf gegeben hätte. Aber damit hätte sie verraten, wie wenig sie über diesen Bertie wusste. Außerdem bemühte sie sich, all die verschiedenen Puzzleteilchen in ihrem Kopf irgendwie zusammenzusetzen.

Gram hat in ihrem Brief ja einiges ausgelassen, dachte sie. „Hat Bertie auch einen vollen Titel?“

Der Mann warf ihr einen herablassenden Blick zu, mit dem er ihr zu verstehen gab, dass sie jetzt offenbar endlich anfing, vernünftige Fragen zu stellen. „Albert Charles Baxter Huntington, siebter Herzog von Hadsborough.“

Sie war verblüfft, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

Ein Herzog? Gram hatte eine Affäre mit einem Herzog gehabt? Nach allem, was in dem Brief stand, hatte Faith geglaubt, er wäre ein Mitstudent oder ein Kunsthandwerker gewesen, der an einem Projekt arbeitete. Sie hatte nicht einmal in Betracht gezogen, dass Bertie der Besitzer des Fensters sein könnte. Dass ihm dieses Schloss und vermutlich die meisten Ländereien meilenweit ringsum gehörten. Einerseits war Faith leicht schockiert über die heimliche Vergangenheit ihrer konservativen Großmutter. Andererseits hätte sie am liebsten triumphierend die Faust gereckt. Super, Gram!

Plötzlich wurde ihr jedoch der Mund trocken. „Das heißt, Sie sind …?“

Mit einem Stirnrunzeln streckte er die Hand aus. „Marcus Huntington, der Gutsverwalter von Hadsborough Castle.“

Zögernd nahm Faith ihren Handschuh ab und gab ihm die Hand. Da er keine Handschuhe getragen hatte, vermutete sie, seine Haut wäre eiskalt. Sein Händedruck war jedoch fest und seine Hand warm.

Sie schaute hinunter. Es fühlte sich absolut richtig an, am liebsten hätte sie gar nicht wieder losgelassen. Als sie wieder aufsah, hoffte sie, dass sie nicht genauso panisch wirkte, wie ihr zumute war. Auf einmal fing ihr Herz wie verrückt an zu pochen.

Marcus blickte ebenfalls auf ihre Hände. Dann schaute er auf, und ihre Blicke trafen sich. In seinen Augen erkannte sie dieselbe Verwirrung, die auch sie empfand.

Er räusperte sich. „Berties Enkel und Erbe.“

Marcus entzog ihr die Hand, wobei er es ignorierte, wie angenehm es sich anfühlte, als ihre Fingerspitzen seine Handfläche streiften. Es war nicht das Klischee eines elektrisierenden Prickelns, das seinen Arm hinaufschoss. Sondern etwas viel Beunruhigenderes. Ein besondere Art der Wärme, denn ihre Hand hatte sich in seiner so richtig angefühlt. Trotzdem war an dieser Situation einfach alles falsch. Diese Frau sollte gar nicht hier sein, um sich in seine Familie hineinzudrängen und unnötig Staub aufzuwirbeln.

Dabei war es nicht nur die Berührung. Es hatte schon vorher angefangen, als er sie unten am See entdeckt hatte. Etwas an ihren feinen, unaufdringlichen Zügen und an diesen braunen Augen mit dem offenen, direkten Blick brachte ihn vollkommen durcheinander.

Wenn Marcus eines hasste, dann das.

Als er die Hand von Faith McKinnon in seiner gespürt hatte, war das Rauschen in seinen Ohren schlagartig verschwunden. All seine Sinne schienen sich auf einmal beruhigt zu haben.

Und das war noch schlimmer.

Unter keinen Umständen durfte er wieder in diese Falle geraten. Dagegen musste er dringend etwas unternehmen. Es war Zeit, herauszufinden, was Faith McKinnon hier wollte, und sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Er wandte sich ab und ging voran durch eine geflieste Eingangshalle, deren Bogen und weiß getünchte Wände mit den Überresten alter Rüstungen geschmückt waren. Dann führte er sie in den gelben Salon, das kleinste und wärmste Empfangszimmer im Erdgeschoss des Schlosses.

Goldfarbener Damast mit schweren Brokatquasten bedeckte die Wände, auf antiken Tischen standen dekorative Gegenstände und Familienfotos. Ein Flügel sowie ein großes Sofa mit weichen Polstern vor einem riesigen Kamin vervollständigten die Ausstattung. Auf einer Seite des Kamins in einem hohen Lehnsessel saß sein Großvater, der gerade die Zeitung las. So unschuldig, wie er aussah, hätte ihm niemand zugetraut, dass er mit seiner Fenstergeschichte einen kleineren Familienkrach heraufbeschworen hatte.

Marcus wusste nicht, worum es bei der ganzen Sache eigentlich ging. Um irgendetwas, das vor Jahrzehnten geschehen war, zu einer Zeit, als eisernes Stillschweigen die beste Lösung für jedes Problem gewesen zu sein schien. Seine Großtante Tabitha hatte ihn jedoch davor gewarnt, dass Bertie im Begriff war, die Büchse der Pandora zu öffnen. Nichts von dem, was sie da­rüber erfahren würden, worüber die Familie schon ein halbes Jahrhundert lang Stillschweigen bewahrt hatte, würde irgendjemandem etwas nutzen.

Großer Trubel war das Letzte, was Marcus gebrauchen konnte. Immerhin hatte er die beiden letzten Jahre damit verbracht, die Familiengeschäfte wieder in Ordnung zu bringen. Obwohl Bertie mittlerweile auf Hadsborough lebte, hatte er in jungen Jahren seine Pflichten stark vernachlässigt, um die Welt zu erkunden.

Leider hatte er diese laxe Einstellung auch seinem einzigen Sohn vererbt. Vor seinem Tod hatte Marcus’ Vater das Schloss lediglich als einen imposanten Ort betrachtet, wo er gelegentlich mit Geschäftsfreunden das Wochenende verbringen konnte. Außerdem hatten die Scheidungen von seinen drei Ehefrauen die Finanzen der Familie weiter stark beeinträchtigt. Aber in Bezug auf Marcus’ Vater war das bloß die Spitze des Eisbergs. Es hatte Jahrhunderte gedauert, um den guten Ruf der Familie aufzubauen. Doch sein Vater hatte es geschafft, diesen Ruf innerhalb eines Jahres komplett zu ruinieren.

Also war Marcus von der Londoner City nach Hadsborough gekommen, um seinem trauernden Großvater zur Seite zu stehen. Nun lag es an ihm, alles ins Reine zu bringen. Das Familien­erbe war bei den Huntingtons viel zu lange für selbstverständlich gehalten worden. Doch man konnte die Dinge nicht einfach sich selbst überlassen, man musste sich darum kümmern. Sonst war bald nichts mehr übrig, was er seinen Kindern irgendwann weitergeben konnte. Nicht einmal ein guter Name.

„Großvater?“

Der alte Mann blickte von seiner Zeitung auf, und wie immer lag ein fröhliches Zwinkern in seinen Augen.

Mit einem Nicken deutete Marcus auf ihren Gast. „Ich habe Miss McKinnon auf dem Gelände getroffen. Sie wird von dir erwartet?“ Der skeptische Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Sein Großvater faltete sorgfältig die Zeitung zusammen, legte sie auf das Beistelltischchen neben sich, erhob sich etwas unsicher und streckte der Besucherin die Hand entgegen. „Miss McKinnon“, sagte er lächelnd. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

Alter Charmeur, dachte Marcus.

Mit einem höflichen Lächeln schüttelte Faith ihm die Hand. „Hi“, antwortete sie. Falls sein Charme bei ihr wirkte, ließ sie sich jedenfalls nichts davon anmerken.

„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten.“ Vorsichtig ließ der alte Mann sich wieder in seinen Sessel sinken. „Sie sehen Ihrer Großmutter ähnlich, wenn ich das so sagen darf.“

Überrascht sah sie ihn an. „Wirklich? Oh, vielen Dank.“

Marcus zog die Brauen zusammen. Dann hatte sie also doch die Wahrheit gesagt. Trotzdem hatte er eindeutig das Gefühl gehabt, sie hätte irgendwie gelogen.

Wieso wunderte sie sich darüber, dass sie ihrer Großmutter ähnlich sehen sollte? Marcus schaute zu dem Porträt des dritten Herzogs, das über dem Kamin hing, und berührte geistesabwesend seine Nase. Dieses hervorstechende Merkmal in der Familie der Huntingtons ließ sich nicht leugnen. Sie alle besaßen es, und es zeigte, dass jeder von ihnen Teil einer langen Ahnenreihe war. Und als einziger direkter Erbe war Marcus fest entschlossen, nicht das schwache Glied zu sein, mit dem diese Reihe endete.

Er wandte sich seinem Großvater zu. „Miss McKinnon hat mir erzählt, dass du ihre Großmutter kennst?“

Ehe sein Großvater antworten konnte, warf sie ein: „Bitte nennen Sie mich Faith.“

Bertie nickte lächelnd. „Mary und ich waren eine Zeit lang ein Paar, als ich nach dem Krieg in Amerika war. Eine außergewöhnliche Frau.“

Autor

Fiona Harper
Als Kind wurde Fiona dauernd dafür gehänselt, ihre Nase ständig in Bücher zu stecken und in einer Traumwelt zu leben. Dies hat sich seitdem kaum geändert, aber immerhin hat sie durch das Schreiben ein Ventil für ihre unbändige Vorstellungskraft gefunden. Fiona lebt in London, doch sie ist auch gern im...
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