Ein Wüstling und kein Gentleman?

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Nachforschungen in einem Bordell? Nicht einmal davor macht Enthüllungsautorin Jane Pickerington halt! Heimlich dringt sie in das Etablissement ein – und wird entdeckt! Zum Glück rettet sie ein attraktiver Fremder, der eine wilde Erotik verströmt, aus der misslichen Lage. Obwohl der geheimnisvolle Raven wie ein Lord gekleidet ist, kann er unmöglich zur feinen Gesellschaft gehören. Janes Neugier ist geweckt! Deshalb sagt sie sofort zu, als Raven sie bittet, ihm alles beizubringen, was ein echter Gentleman wissen muss. Doch wer garantiert ihr, dass sich hinter seinem verführerischen Äußeren nicht wahre Abgründe verbergen?


  • Erscheinungstag 03.06.2022
  • Bandnummer 140
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511155
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Oktober

Nur wenige Männer würden sich um drei Uhr früh zu Fuß durch Londons Straßen wagen, fein herausgeputzt in schwarzem Zwirn, gestriegeltem Filz und blank polierten Stiefeln. Raven wusste, dass er nach leichter, fetter Beute aussah, genau die Sorte Gentleman, der er als kleiner Knirps die Taschen geplündert hatte. Oder die man hin und wieder an den Ufern der Themse fand, aller irdischen Güter beraubt, einschließlich ihres Lebens.

Doch er war unbesorgt. Fast jeder Tag seiner achtundzwanzig Jahre hatte ihn gelehrt, was man über das Dickicht dunkler Gassen, über krumme Geschäfte, Betrüger und Halsabschneider wissen musste. Und trotz seiner unrühmlichen Herkunft hatte er es im Leben zu etwas gebracht.

Damit das auch so blieb, brauchte man sich eigentlich bloß an ein paar einfache Regeln zu halten. Raven folgte dieser aus vier Punkten bestehenden Lebensphilosophie schon seit Jahren, und sie hatte ihm gute Dienste geleistet.

Erste Regel: Immer wachsam sein.

Zweite Regel: Seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken.

Dritte Regel: Gut auf sich selbst und die Seinen samt ihrem Besitz aufpassen.

Vierte Regel: Anonym bleiben.

Man könnte meinen, dass die vierte Regel für einen im Findelheim aufgewachsenen Waisenjungen eigentlich kein Problem darstellen sollte. Weit gefehlt. Allein sein bloßes Dasein hatte ihm schon so viel Ärger eingehandelt, dass er früh gelernt hatte, sich bedeckt zu halten und nicht weiter aufzufallen.

Eine nützliche Fähigkeit, die ihm auch jetzt wieder sehr zupass kam.

Die frühen Morgenstunden waren die Hochzeit der Taschendiebe und Taugenichtse, der Streuner und Herumtreiber. Ein heftiger Regenguss ein paar Stunden zuvor hatte zwar letztere an die wärmenden Feuer der Hinterhöfe getrieben, aber wer Böses im Schilde führte, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, in den verlassenen Gassen auf den verräterischen Klang des Reichtums zu lauern – das Klimpern von Münzen, das Rascheln von Geldscheinen oder auch nur der unverkennbare Tritt fein gestiefelter Sohlen auf regennassen Pflastersteinen.

Um sich nicht dergestalt zu erkennen zu geben, stimmte Raven seine Schritte auf die des auf der anderen Straßenseite patrouillierenden Nachtwächters ab. Die genau bemessenen Auftritte hallten im Nebel wider, der sich in feinen weißen Schwaden übers bucklige Pflaster schlängelte und jeden im Dunkel lauschenden Tunichtgut in die Irre führen würde.

Ein Stück die Straße hinauf saß ein altes Bettelweib im Schein einer Laterne, ihren Korb mit welken Veilchen auf dem Schoß. Als sie ihn mit zusammengekniffenen Augen durch die diesigen Schleier ausmachte, schickte sie ihm ein zahnloses Lächeln entgegen. „Da schau an, zieht es den feinen Herrn das zweite Mal in einer Woche in die Arme des Verderbens?“

„Könnte es nicht die Versuchung sein, in den süßen Blüten Ihres Bauchladens zu schwelgen?“, erwiderte er und lupfte galant den Hut.

„Pah“, schnaubte sie. „Zwei Häuser weiter wollen Sie. Hier, da haben Sie Ihre süßen Blümchen.“

Er gab sich brüskiert. „Aber Bess, wann hätte mir denn je ein Sträußchen genügt? Drei müssen es schon sein. Ich habe gewissen Damen mein Wort gegeben, und ein Gentleman steht zu seinen Versprechen.“

Sie schnalzte mit der Zunge und fischte drei kümmerliche Gebinde aus dem Korb. „Drei Mädchen in einer Nacht, eine Schande ist das. Früher, als ich jung war, hätte ich Sie so kräftig rangenommen, dass Sie danach keine Lust mehr auf eine andere gehabt hätten. Zwei Ehemänner hab ich unter die Erde gebracht und die waren selbst nicht zimperlich. Waren natürlich längst nicht so feine Herren, wie Sie einer sind.“

Raven lächelte in stiller Genugtuung, denn ihr schien nicht bewusst zu sein, wie oft sich ihre Wege schon gekreuzt hatten, wenn er nicht seinen feinen Zwirn trug, sich nicht als Gentleman ausgab.

Sonst sah sie ihn in Hemdsärmeln und einem Anzug aus derber Wolle, den er zur Arbeit in Sterlings Spielhalle trug, wo er so etwas wie ein Faktotum war, ein Mann für alles. Oft kam es nicht vor, dass er sein schwarzes Haar gescheitelt und pomadiert trug und sich, wie jetzt, noch mit einem Zylinder krönte. Auch Kragen und Krawatte trug er eher selten zur Schau.

Doch er hatte früh gelernt, dass die Menschen meist nur sahen, was sie sehen wollten, und das machte er sich zunutze.

„Wie könnte ich einem so vollmundigen Versprechen widerstehen?“, fragte er mit einem tiefen Blick in ihre Augen und hob ihre ledrige Hand an seine Lippen. „Brennen Sie mit mir durch, Bess.“

Sie riss ihre Hand zurück und lachte rau, doch trat ein rosiger Hauch auf ihre runzligen Wangen und ihr Atem schwebte zwischen ihnen wie feine Schleierwolken im flackernden Schein der Laterne. „Passen Sie auf, was Sie sagen, junger Mann. Selbst auf meine alten Tage könnte ich einem Grünschnabel wie Ihnen noch was beibringen. Hier, nehmen Sie Ihre Blümchen, Sie können alles haben, was noch da ist, das kauft mir heute sowieso keiner mehr ab. Aber …“, sie hielt die schlaffen, mit grober Schnur gebundenen Sträußchen noch zurück, „… sollten Sie mal eine neue Köchin brauchen in ihrem schicken Palast, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“

Da er annahm, es wäre Ihre Art den Preis hochzutreiben, fischte er einen Silberling aus der Jackentasche und ließ die Münze in ihre ausgestreckte Hand fallen. Sie biss kräftig darauf und ließ sie dann in ihrem grau zerschlissenen Mieder verschwinden.

„Natürlich. Sie stehen ganz oben auf meiner Liste“, versprach er ihr, tippte kurz an seinen Hut und setzte seinen Weg fort.

Sowie er außer Sichtweite war, steckte er die Veilchensträuße in seine Rocktasche. Im Freudenhaus wusste niemand welke Souvenirs zu schätzen, aber Bess konnte sich jetzt wenigstens ein, zwei ordentliche Mahlzeiten leisten ohne dabei ihre Würde zu verlieren.

Denn Stolz, das wusste Raven aus eigener Erfahrung, war oft das Einzige, was einem Menschen noch blieb.

Mit einem wachsamen Auge auf seine Umgebung ging er weiter, denn sich von der Ruhe dieser frühen Morgenstunden in Sicherheit wiegen zu lassen, wäre gleichermaßen dumm wie fatal gewesen.

Doch es ließ sich nicht abstreiten, dass die Stadt in dieser Herrgottsfrühe etwas von der gedämpften, feierlichen Stille einer Kathedrale hatte. Auf der Straße ratterte in einsamer Prozession eine gelbe Droschke vorbei und strebte einem im dichten, andächtig gesenkten Nebel nur zu erahnenden Altar entgegen. Klipp-klopp, klipp-klopp schlugen die Hufe der Pferde den Takt, während die Kutschräder auf dem Pflaster sangen und das Riemenzeug schwang wie Kirchenglocken. Jeder Laut hallte wider von den Backsteinmauern und Schindelfassaden der Mietshäuser und Ladengeschäfte, die wie Beichtstühle voller armer Sünder düster erhaben ihren Weg säumten. Und wie Weihrauch regnete von den Schornsteinen der Ruß in feinen Schwaden herab, legte sich wie eine graue Decke auf alles und mischte sich mit den feuchten, fauligen Gerüchen der Gosse.

Raven sog all das tief in sich auf – die Geräusche, die Gerüche, den Anblick seiner vertrauten Welt.

Seine Schritte führten ihn unter drei Holzschildern entlang, die an ihren kunstvoll geschmiedeten Bögen still vor den dunklen Läden hingen, während die braven Kaufleute im Stockwerk darüber den Schlaf der Gerechten schliefen. Raven mochte diesen Teil Londons. Stadthäuser, Mietskasernen und Ladengschäfte reihten sich hier in bunter Folge und es fand sich alles beisammen, was ein Mann zum Leben brauchte: Barbier und Herrenschneider, Tuchhändler und Freudenhaus.

Nur dass bei Moll Dawson kein Ladenschild aushing. Nicht den kleinsten Hinweis gab es, und das brauchte es auch nicht.

Moll führte das exklusivste Bordell Londons, das der Hautevolee vorbehalten war und ausschließlich geladenen Gäste Zutritt gewährte. Laut der Dame des Hauses waren ihre Mädchen unberührt von den Händen des Pöbels und hatten die hohe Kunst ihres Metiers bei den besten Kurtisanen aus aller Welt erlernt.

Raven fiel eindeutig nicht in diese Kategorie, er war so gewöhnlich wie der Dreck auf den Straßen. Doch als er vor drei Jahren anfing, für Sterling zu arbeiten, war Moll mit einer Offerte und der Bitte um Diskretion auf ihn zugekommen.

Er erhalte Zutritt zu ihrem Etablissement, auch zu den in Seide gewandeten und reich parfümierten Mädchen, wenn er die Gewinner des Abends von Sterlings Kasino direkt zu ihr führe statt zur Konkurrenz.

Nachdem er sein Lebtag von wohlgeborenen Stutzern mit Verachtung gestraft worden war, hatte Raven diesem Angebot nicht widerstehen können. Jedes Mal, wenn er Molls Bordell besuchte, sah er zu, dass er seiner Rolle gerecht wurde und wie ein Gentleman auftrat. Er beherrschte die kleinsten Gesten und diesen Hauch von Arroganz, den er sich bei der Klientel im Sterling abgeschaut hatte.

Aber Moll sorgte schon dafür, dass er seinen Stand nie vergaß. Seine Anwesenheit verdankte sich allein ihrer Gunst.

Es hätte ihm gleich sein sollen. Ein Mann von seiner bescheidenen Herkunft konnte nicht mehr erwarten. Und doch hatte ihn schon immer nach mehr verlangt.

Raven schob den Gedanken beiseite, wie er es meist tat, und wartete einen Moment im Schatten des Hofdurchgangs, um die Lage zu sondieren.

Vor dem Haus standen zwei edle Gespanne, die im Dunkel aufleuchtende Glut einer Zigarette ließ oben auf dem Bock einen der Fahrer erkennen. Die Fenster auf Straßenebene erlaubten keinen Einblick, aber hinter denen weiter oben schimmerte Licht. Gedämpfte Musik wehte herunter, untermalt vom emsigen Knarren der Bettgestelle und gelegentlichem lustvollem Stöhnen.

Alles in bester Ordnung, so schien es.

Doch plötzlich vernahm er ein Geräusch … hinter ihm in der Gasse ein leises Rascheln.

Er spitzte die Ohren, lenkte all seine Sinne auf den verstohlenen Laut. Da war er wieder, gefolgt von zwei schweren Schritten.

Zögernd stand er da, versuchte den stechenden Geruch der Verzweiflung auszumachen, der jenen Ganoven anhaftete, die sich vor den besten Freudenhäusern der Stadt auf die Lauer legten, um sich einen noch von Lust beseelten Mann zu leichter Beute zu machen.

Was er dann hörte, klang allerdings ganz anders. Oder doch wenigstens nicht nach Ganoven, wie er sie kannte.

„Vetter, so eil dich doch“, flüsterte eine Frauenstimme, ehe rasche Trippelschritte übers Pflaster sprangen wie prasselnder Hagelschauer.

Raven spähte ums Eck und konnte im Dunkel nur schemenhafte Bewegung ausmachen, begleitet jedoch von unverkennbarem Röckerascheln, ein Geräusch, das er immer und überall erkannt hätte.

„Ich verstehe nicht, warum du durchs Fenster rein willst“, raunte eine Männerstimme.

Raven musste sich ein leises Lachen verkneifen. Es war durchaus schon vorgekommen, dass Frauen sich nach einer ausschweifenden Nacht zum Fenster des Freudenhauses hinausstahlen, aber dass eine auf demselben Wege hineinwollte, nun, davon hatte er noch nie gehört.

Aber das sollte nicht seine Sorge sein. Moll beschäftigte einen großen blonden Wikinger als Türsteher. Der würde sich schon darum kümmern.

„Weil ich für mein Buch recherchieren will“, erwiderte die Frauenstimme. „Und dazu brauche ich Beobachtungen aus erster Hand, ohne dass die … äh, die Forschungsobjekte Kenntnis davon haben, dass sie beobachtet werden. Ich mache das alles im Interesse der Wissenschaft.“

Raven horchte auf. Welch hochtrabende Worte! Die Stimme klang zudem kultiviert und unterschied sich von dem sinnlich rauen Register Molls oder jenem ihrer Mädchen wie die Kronjuwelen von billigem Strass oder Tag von Nacht.

Seine Neugier war geweckt. Im Schutz der Dunkelheit schlich er näher, bis er zwei Gestalten erkannte – einen Klotz von einem Mann und eine zierliche Frau in dunklem Umhang.

„Wenn du das sagst, Jane“, murrte der Klotz.

„Und wenn du nun bitte so freundlich wärst, mir auf den Sims zu helfen. Er befindet sich doch etwas weiter oben, als ich es in meiner Skizze des Gebäudes errechnet hatte.“

Ravens Stirn legte sich in immer tiefere Falten, während er dem seltsamen Wortwechsel lauschte. Die Stimme des Burschen kam ihm bekannt war, aber sein eigentliches Interesse galt der kleinen Schnüfflerin.

Im schwachen Lichtschein, der aus einem der oberen Fenster drang, zeichneten sich die Umrisse ihrer Figur ab, ihr scharfes Profil. Er meinte jeden Atemzug zu erkennen, jede kleine Regung. Wie sie den Kopf leicht zur Seite neigte, die Schultern kreisen ließ, dann die Arme zum Sims emporreckte. Hätte ihre Stimme es ihm nicht längst verraten, so ließen diese fließenden Bewegungen doch keinen Zweifel an ihrem blauen Blut.

Sie waren von der selbstverständlichen Anmut jener, die Jahre darauf verwandten, Tanzschritte einzuüben und das ziemliche Halten der Kanne beim Servieren des Tees. Eine junge Dame von Stand.

Aber warum sollte jemand wie sie durch das Fenster eines Bordells klettern? Hineinklettern, wohlgemerkt, nicht hinaus.

Und obwohl es gegen sämtliche seiner Regeln verstieß, gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Das Leben war voller Rätsel, und Jane Pickerington wollte so vielen wie möglich auf den Grund gehen – selbst wenn es bedeutete, sich in den frühen Morgenstunden heimlich Zutritt zu einem Bordell zu verschaffen.

Sie tat das keineswegs aus einer Laune heraus, oh nein. Sie hatte alles von langer Hand geplant und war auf alle Eventualitäten vorbereitet. Wahrscheinlich war ihr Plan der am besten durchdachte des neunzehnten Jahrhunderts, denn er enthielt sogar genaue Skizzen der Fassade und der Räumlichkeiten. Und sie hatte sich natürlich vergewissert, dass das Zimmer, durch das sie eindringen würde, um diese Zeit verlassen wäre.

Letzteres indes sollte sich als Trugschluss erweisen.

Als sie sich oben von der Fensterbank gleiten ließ, fand Jane sich sogleich einem Mann gegenüber, der sie mit harter, unergründlicher Miene ansah. Keuchend schnappte sie nach Luft und griff sich mit der behandschuhten Hand an den Hals.

Im Geiste ging sie rasch alle sieben Fluchtmöglichkeiten durch und rekapitulierte die drei bewährten Methoden, einen Angreifer außer Gefecht zu setzen … bis sie jäh erkannte, was es mit ihrem Gegenüber auf sich hatte.

„Eine Statue“, murmelte sie und atmete erleichtert auf. „Einfach bloß eine Statue.“

Ihr Herzschlag beruhigte sich und sie sah sich im Refugium der Madame um, das, nur vom warmen Schein der im Kamin ersterbenden Glut erhellt, seltsam anheimelnd wirkte. Hinter ihr an der Wand reihten sich noch drei weitere Skulpturen, doch von lebenden Geschöpfen keine Spur.

Ein Glück! Jane dankte ihren Sternen. Diese Mission war zu bedeutsam, um sich auch noch mit unvorhergesehenen Komplikationen herumschlagen zu müssen. Grundlage ihres Forschungsvorhabens war die Frage, was den Wüstling vom Gentleman unterschied, und genau das galt es heute herauszufinden.

Denn wo ließen sich die Eigenarten der männlichen Spezies besser studieren als in einem Habitat, das einzig dem Ausleben der niederen Triebe diente?

In Janes Augen kam die kurze Erkundungstour eines Bordells einer Reise in die Wildnis gleich, um Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten.

Zusammen mit ihren Freundinnen schrieb sie nämlich an einem Buch, das ihre Erkenntnisse jungen Damen zugänglich machen sollte, von denen die meisten doch bedauerlich schlecht auf das vorbereitet waren, was sie im Leben erwartete. Jane würde nicht zulassen, dass eine weitere ihrer Freundinnen ruiniert oder aufs Land verbannt würde wie die arme Prue.

Und da die neue Saison in nur wenigen Monaten begann, galt es keine Zeit zu verlieren.

Also wandte sie sich guten Mutes von der Skulptur ab, um sich an die Arbeit zu machen. Doch etwas hielt sie unerbittlich zurück, als wäre sie irgendwo hängen geblieben. Ihr Blick glitt über die Gestalt aus Marmor – der nackten, männlichen Gestalt, um genau zu sein –, und da hatte sie den Schuldigen auch schon gefunden.

Die golddurchwirkte Kordel ihres Retiküls hatte sich an dem ausnehmend zur Schau gestellten Fortpflanzungsorgan des Marmorgottes verfangen.

Sie versuchte, sich davon loszumachen. Als sich das als ausgesprochen mühselig erwies, erwog sie, den Phallus einfach abzubrechen.

Mit einem entschuldigen Blick in die unergründliche Miene des Eros schloss sie die Hand um den glatten Schaft und stemmte sich, leise schnaufend, mit aller Kraft darauf. Schnell stellte sie fest, dass es sich um ein sehr solides und unbewegliches Beiwerk handelte.

Sie nahm die zweite Hand zur Hilfe und versuchte es erneut, machte kleine Hüpfer, um die Hebelwirkung zu vergrößern.

Aber auch das half nicht.

Jane hielt inne und betrachtete den, man konnte es nicht anders sagen, Stein des Anstoßes. Dummerweise hatte sich bei ihrem eifrigen Bemühen nun auch die Spitze ihres linken Mittelfingers samt Handschuh in der Kordel verfangen.

Geborene Problemlöserin, die sie war, ging sie erstmal in die Hocke, um einen besseren Blick auf die vertrackte Aufgabenstellung zu haben. Doch da hörte sie, gar nicht weit entfernt, eine Tür zuschlagen und dann schwere Schritte, gefolgt von einem kurzen Wortwechsel. Verflixt aber auch!

Sie eilte sich, nahm nun auch die Zähne zu Hilfe, um die Seidenkordel zu durchsägen und schickte Stoßgebete himmelwärts, dieser Phallus möge nicht ihr Ruin sein.

Zwar schien ihr unwahrscheinlich zu sein, dass Besucher des Bordells geradewegs in das Refugium der Madame marschieren würden, aber ausschließen konnte sie es auch nicht. Sie hatte bei ihren Vorbereitungen jedes mögliche Szenario, jeden brenzligen Zwischenfall durchgespielt – eine Lektion, die sie ihr erstes Experiment mit Schießpulver gelehrt hatte.

Sie war dankbar, dass beide ihrer Augenbrauen derzeit vorhanden waren, denn den Großteil ihrer zweiten Saison hatte sie mit nur einer verbracht. Die andere war ein blasser Schatten ihrer selbst gewesen und hatte Jane das Aussehen einer unscheinbaren jungen Dame verliehen, deren Bildnis unvollendet geblieben war.

Und jetzt dieser verflixte Marmorphallus. Aber sie würde nicht zulassen, dass ihr der schon zu Beginn alles kaputt machte.

Ein paar Sekunden später gelang es ihr, ihre Hand aus dem Handschuh zu befreien und ebenfalls ihr Retikül. Na also! Leider blieb ein Stück der Kordel fest um den steinernen Schaft gewickelt – und das mitsamt des Handschuhs.

Sie würde ihn als Verlust abschreiben müssen, denn die Zeit drängte und ihr Cousin würde auch nicht ewig warten. Duncan war zwar die Geduld in Person, aber die Gefahr bestand, dass er irgendwann schlichtweg vergaß, warum er in dieser dunklen Gasse wartete. Sie mochte ihren Vetter ja sehr, er war ein herzensguter Mensch, nur leider nicht der Hellste.

Wendig schlängelte Jane sich zwischen dem kleinen Hain nackter Männerbildnisse hindurch, wich einem geschmacklosen rosa Quastenkissen aus, das mitten auf dem Teppich lag, und bezog hinter einem ausladenden Zimmerfarn Stellung, der gleich neben der perfekt in die Brokattapete eingepassten Dienstbotentür auf einem marmornen Säulenfuß stand.

Gerade noch rechtzeitig.

Denn genau in dem Moment, als sie kurz entschlossen durch die schmale Tapetentür ins Herz der dunklen Triebe vordrang, hörte sie, wie sich hinter ihr der Türknauf drehte. Jemand kam ins Zimmer!

Lautlos zog sie die Tür hinter sich zu und hoffte, dass man weder sie noch ihren in so misslicher Lage zurückgelassenen Handschuh bemerken würde.

2. KAPITEL

Im schwefeligen Schein ihres Glühwürmchenglases – lampyris noctiluca waren eine weithin unterschätzte Lichtquelle – schlich Jane durch den verborgenen Gang. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie sich den Grundriss des Hauses zuvor so genau eingeprägt hatte. Nicht dass sie am Ende noch falsch abbog und aus Versehen in der Küche landete!

Sie wusste, wohin sie wollte, und steuerte zielstrebig auf eine weitere Tapetentür zu, die sie in den großen Salon führen würde. Nachdem sie das Leuchtglas wieder in ihrem Retikül verstaut hatte, in dem sie alles bei sich trug, was sie brauchte, betrat sie die Arena, die ihr Aufschluss über das Triebleben der männlichen Spezies geben sollte.

Eine üppig grünende Zimmerpalme schirmte sie vor den Blicken der versammelten Gentlemen und ihrer Gespielinnen ab. Betörende Lautenmusik, untermalt von Flöte und Spinett, schwebte von der gegenüberliegenden Sängerempore herab. Als die Musik kurz anschwoll, zog Jane die Tür hinter sich zu. Niemand hatte sie bemerkt.

Der Raum war genau wie beschrieben. Es war schon verblüffend, worüber Männer sich bei Abendgesellschaften unterhielten, wenn sie vergaßen, dass eine Angehörige des schwachen Geschlechtes unter ihnen weilte. Aber es musste schließlich auch Vorteile haben, so unscheinbar zu sein, dass man für die Herren der Schöpfung praktisch unsichtbar war.

Hier war sie also, im Herzen … nein, wohl eher im Schoß des Verderbens.

Rote Lampenschirme tauchten den Raum in diabolischen Schein. Die ochsenblutfarben drapierten Wände waren mit Ebenholz paneeliert und von hohen goldgerahmten Spiegeln geschmückt. Über allem wölbte sich eine Freskendecke, an der nackte Himmelsboten sich in Posen vergnügten, die rein anatomisch betrachtet ein Ding der Unmöglichkeit waren. Und nur wenige Schritte entfernt befand sich ein mit schwarzem Brokat verhüllter Alkoven, den sie als ihren Beobachtungsposten auserkoren hatte.

Hinter den großen Palmwedeln verborgen, schlich sie ihrem Ausguck entgegen und kam sich vor wie eine Zoologin auf Expedition durch den Dschungel. Animalische Gerüche sättigten die Luft, notdürftig übertüncht von schweren, exotischen Parfüms. Und aus Richtung der Treppe, die unter der Sängerempore hinaufführte, hörte man es grunzen und quieken wie in einem Schweinepfuhl.

Faszinierend. Wirklich, sehr faszinierend!

Zwischen den Palmblättern hindurch erspähte sie ein Rudel enthemmter Männer – genus intoxicatus – an einem der acht leinenbetuchten Tische Karten spielen. Sie taten sich an alkoholischen Getränken gütlich und kommunizierten mit den spärlich, aber dafür sehr farbenfroh gekleideten Kurtisanen in einem Code, der aus Schnauben, Grunzen und knappem Kopfnicken bestand und nur Eingeweihten verständlich war.

Im Gegenzug warfen sich diese rotwangigen und schwarzäugigen Geschöpfe an ihre Brust, schlangen ihnen die Arme um den Hals und küssten und kosten sie, dass den Herren doch eigentlich die Luft wegbleiben musste.

Seltsamerweise schien es den Männern nichts auszumachen, derart massiv bedrängt zu werden, ja, sie vergruben gar ihre Gesichter im Dekolleté besagter Damen, als wollten sie dem Erstickungstod noch Vorschub leisten.

Jane schürzte noch immer in wissenschaftliche Betrachtung versunken die Lippen und stahl sich in den dunklen Alkoven. Vielleicht, so überlegte sie, lassen sich Gentlemen von Wüstlingen ja vermittels eines einfachen Tests unterscheiden, wer wie gut und wie lange die Luft anhalten kann. Je länger man ohne Sauerstoff auskam, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man ein Wüstling war …

Um diesen Gedankengang nicht zu verlieren und ihn später in Ruhe zu vertiefen, holte sie das kleine Notizbuch aus ihrer Tasche und machte sich einen Vermerk.

Als sie wieder aufsah, fiel ihr ein Mann auf, der am Eingang des Salons stand. Er war schlank und breitschultrig, ein Bild von einem Mann. Doch der Blick, den er unter der dunklen Krempe seines Huts hervor durch den Raum schweifen ließ, zeugte von Wachsamkeit und Argwohn, sodass auch sie prüfend durch den Raum schaute. Gerade als ihr Augenmerk zurückkehrte zu ihm, nahm er seinen Hut ab. Sein Haar war rabenschwarz und seine Augen so hell und leuchtend, dass sie es bis hierher sehen konnte. Irgendwie gelang es ihm, ihre Aufmerksamkeit ganz allein auf sich zu ziehen.

Ein leises Kribbeln kroch ihr wie statische Aufladung Wirbel für Wirbel den Rücken hinauf und ließ die feinen Härchen in ihrem Nacken zu Berge stehen. Wäre sie fantasiebegabter gewesen, hätte sie sich wohl auch dieses Phänomen in ihrem Notizbuch vermerkt, um es später zu rekapitulieren. Pragmatisch wie sie war, sagte sie sich jedoch, dass der Neuankömmling lediglich den Luftzug einer geöffneten Tür hereingetragen hatte. Und ihr mausbraun gelocktes Haar war nun mal feiner und anfälliger für Zugluft als die schweren Vorhänge des Alkovens, die sich nicht auch nur einen Millimeter gerührt hatten. Wahrscheinlich waren diese wunderlichen Luftströme den architektonischen Besonderheiten des Gebäudes geschuldet.

Dennoch konnte sie kaum den Blick von dem Neuankömmling wenden.

Und da war sie beileibe nicht die Einzige. Die Blicke aller Frauen hefteten sich auf ihn. Selbst die Musizierenden auf der Empore hatten aufgehört zu spielen.

In der nachfolgenden Stille hörte Jane eine der Frauen einen Seufzer tun, der sich leise murmelnd im Raum verflüchtigte wie der Wasserdampf aus einer von Watts Dampfmaschinen.

Er war anders. Auf jeden Fall anders als die Männer, die sie bislang studiert hatte. Da war nichts Bemessenes, Aristokratisches an ihm, wie er jetzt mit langen Schritten durch den Raum pirschte. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze, die Arme hielt er, als gelte es, jederzeit gegen Angreifer gewappnet zu sein. Seine harten, kantigen Gesichtszüge, das scharfe Kinn verliehen ihm etwas Wildes, Ungezähmtes, zumal in Verbindung mit den grimmig gesenkten schwarzen Brauen.

Er wirkte wie ein Mann auf einer Mission, die er kompromisslos zu erfüllen gedachte. Sollte er jedoch auf der Suche nach Gesellschaft sein, dürfte er sich mit dieser finsteren Entschlossenheit keinen Gefallen tun. Du liebe Güte, dachte Jane belustigt, er ist in einem Bordell und nicht auf einer Beerdigung!

Gleichwohl musterte sie ihn mit Wohlgefallen, auch wenn ihr Interesse rein wissenschaftlicher Natur war. Denn er war wirklich ein Prachtexemplar seiner Art. So sehr, dass sie ihre Gedanken wohl ein wenig hatte schweifen lassen, denn ehe sie es sich versah, stand er plötzlich vor ihr.

Oder wenn nicht vor ihr, so doch direkt vor ihrem Versteck.

Jane hielt den Atem an und rührte sich nicht. Obwohl er sie unmöglich entdeckt haben konnte, hüpfte ihr das Herz in der Brust wie ein Maiskorn in der heißen Pfanne.

Sie sah ihn den Kopf neigen, hörte, wie er tief Luft holte. Und dann sah sie ein süffisantes, ein verrucht triumphierendes Lächeln um seine Mundwinkel spielen.

Bei Newtons Apfel! Er würde doch nicht den Alkoven betreten?

Er murmelte Unverständliches, eher ein Knurren, das tief aus seiner Kehle aufstieg, und doch fand es sein Echo in ihr, spürte sie die feinen Vibrationen und das Blut surrte ihr in den Ohren wie das Schnurren einer Katze. Ein seltsames Schwindelgefühl bemächtigte sich ihrer, benebelte ihr die Sinne.

„Aha“, sagte er leise. „Da stecken Sie also.“

Sie erstarrte. Es bedurfte wirklich großer Selbstbeherrschung, nicht erschrocken nach Luft zu schnappen oder sich durch eine unbedachte Bewegung zu verraten.

Wenngleich er kaum sie meinen konnte, oder?

Natürlich meinte er nicht sie. Wahrscheinlich neigte er zu Selbstgesprächen. Oder seine Worte bezogen sich auf eine der Kurtisanen, mit denen er sich heute Abend zu vergnügen hoffte, was auch seinen prüfenden Blick durch den Saal erklärt hätte.

Doch bei aller Neugier wagte Jane es nicht, nach der Dame Ausschau zu halten, der sein Interesse galt, ja, sie wagte nicht mal zu mit der Wimper zu zucken aus Furcht, entdeckt zu werden.

Und dann, nach einer halben Ewigkeit, die ihr so lang zu währen schien wie Äonen, in denen ganze Erdplatten sich unter ihren Füßen verschoben und sie um ihr Gleichgewicht brachten, ging er weiter.

Endlich! Ihre erleichterten Lungenflügel ließen einen ordentlichen Schwall Luft ab, und langsam beruhigte sich auch ihr Herzschlag. Und doch konnte sie den Blick nicht von ihm lassen. Wie gebannt sah sie ihn sich die Handschuhe von den Fingern streifen und in seinen Hut werfen.

Dann schaute er sich nach einem Tisch um, wobei er sich über Gebühr viel Zeit ließ und immer wieder stehen blieb, um einen flüchtigen Blick durch den Raum zu werfen.

Bis er sich schließlich setzte, waren schon nicht nur eine, nein, gleich zwei Frauen von der Empore herabgeeilt, um ihm Gesellschaft zu leisten, sodass das Spinett nun einsam die Stellung hielt. Lautenspielerin und Flötistin trugen ein seliges Lächeln im Gesicht, goldene Lorbeerblätter im sich lockenden Haar und unter den an die griechische Antike angelehnten Roben aus hauchdünnem Musselin rein gar nichts.

Jane beobachtete, wie die zwei sich auf je einen starken Schenkel platzierten, sein Gesicht mit Küssen bedeckten und die Hände unter sein Jackett schoben. Bei alledem wurde ihr ganz wunderlich warm, und sie spürte ein verräterisches Prickeln in den Wangen, weil ihre Körpertemperatur um mindestens zwei Grad in die Höhe schoss.

Sie wurde rot! Wobei sie sich nicht erklären konnte, warum sie ausgerechnet jetzt erröten musste, nachdem sie die Annäherungsversuche der anderen Gäste doch mit wissenschaftlicher Objektivität und ungerührt verfolgt hatte. Seltsam war das, wirklich sehr seltsam.

Als er den Kopf wandte, um den beiden etwas ins Ohr zu flüstern, ertappte Jane sich, wie sie sich auf die Zehenspitzen reckte und ganz lange Ohren machte, als könnte sie so noch einmal das tiefe Timbre seiner Stimme vernehmen, was aus dieser Entfernung natürlich absurd war. Doch was er den zweien auch zuflüsterte, es sorgte für große Erheiterung, ehe sie ihn noch einmal herzten und dann hurtig wieder nach oben eilten.

Jane sah sie wieder auf der Empore erscheinen, doch statt an ihre Instrumente zurückzukehren, spannten sie einen durchscheinenden Vorhang quer über die Galerie, sodass sie wie bei einem Schattenspiel nur noch als scharf umrissene Figuren zu erkennen waren.

Während sie noch überlegte, welche Art der Unterhaltung den Gästen nun geboten würde, begann das Spinett wieder aufzuspielen und eine Aufführung begann, wie Jane sie noch nie gesehen hatte. Es war eine Art Tanz, anmutig sich kreuzende Glieder, schlanke Hälse, die sich schwanengleich bogen mit leisen Seufzern, Körper, die einander berührten und sich wieder trennten.

Da sie vor allem die Wirkung auf das Publikum interessierte, richtete Jane ihr Augenmerk wieder auf den Saal, wo die Gespräche verstummt waren und auch das Kartenspiel ruhte, denn aller Blicke waren gebannt auf das Spektakel gerichtet.

Aller Blicke bis auf einen.

Ausgerechnet er, für den die beiden dieses Schauspiel ablieferten, hatte keine Augen für sie.

Auch schweifte sein Blick nicht suchend umher wie vorhin, und er sah auch nicht gelangweilt auf die Uhr.

Vielmehr waren seine hellen Augen geradewegs auf den Alkoven gerichtet und ihr kam es vor, als könnte sein unergründlicher Blick das Dunkel durchdringen und fiele geradewegs auf sie.

Als Raven das Freudenhaus kurz nach der kleinen Schnüfflerin auf dem üblichen Wege betreten hatte, war er davon ausgegangen, sie in der Falle zu finden. Doch er sollte sich täuschen, denn Molls Privaträume waren leer. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Wobei … nicht ganz. Ein feiner Duft hing noch in der Luft.

Ein feiner Puderduft, unschuldig und rein, der sich deutlich abhob von den schweren, süßlichen Parfüms, die Moll und ihre Mädchen immer etwas zu dick auftrugen. Nein, dieser Duft roch sauber und frisch, ein bisschen wie die kleinen Lavendelsträuße, die er jüngst im Fenster einer Buchhandlung hatte hängen sehen.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dieser Duft nur von ihr kommen konnte. Genau wie der Handschuh ihr gehören musste, der schlaff an einem von Molls kostbaren Adonissen gehangen hatte.

Mit einem Grinsen und einem beherzten Ruck hatte er die feine schwarze Seide aus ihrer misslichen Lage befreit und in seine Tasche gesteckt, dann seine Suche fortgesetzt, denn weit konnte die kleine Schnüfflerin nicht sein.

Und er sollte recht behalten.

Gleich beim Betreten des Salons war ihm erneut der pudrige Lavendelduft in die Nase gestiegen. Er war ihm gefolgt bis zum Alkoven, wo er fast meinte, die Wärme spüren zu können, die in süß duftenden Wogen von ihr ausging. Er war versucht gewesen, die Hand nach ihr auszustrecken, sie aus ihrem Versteck zu zerren und zu entlarven.

Doch er hatte es nicht getan, denn niemand verstand besser als er, dass jeder seine kleinen Geheimnisse brauchte, die es zu wahren galt.

Seine Neugier indes war geweckt. Der Alkoven wurde gleichermaßen von Voyeuren wie Exhibitionisten genutzt, und er fragte sich, ob sie wohl zu einem Stelldichein verabredet war.

Hatte sie sich ins Bordell geschlichen, um sich mit einem Verehrer zu treffen? Oder führte etwas völlig anderes sie her, womöglich diese ominösen Recherchen, die sie vorhin erwähnt hatte?

Er wusste es nicht, aber alles deutete darauf hin, dass sie nicht erkannt werden wollte, zumindest von ihm.

Also hatte er getan, was er meistens tat – er hatte es dabei belassen und war weitergegangen, um sie aus sicherem Abstand im Blick zu behalten.

Erst hatte er sich gewundert, dass keiner der anderen Gäste sie zur Kenntnis nahm. Andererseits waren die Herren, die hier verkehrten, nicht darauf angewiesen, ihre Augen überall zu haben und die Umgebung nach Gefahren abzusuchen, als hinge ihr Leben daran. Für ihn war diese Wachsamkeit längst zur zweiten Natur geworden. Und wie er so um den Alkoven gepirscht war, hatte er zudem festgestellt, dass die Kleine ziemlich gut darin verborgen und von außen, von der Saalseite, fast nicht zu erkennen war.

Aber eben nur fast.

Mit einem zufriedenen Lächeln hatte er sich einen Stuhl am hintersten Tisch herangezogen, denn von dort fiel exakt so viel Licht in den Alkoven, um sie ihm schemenhaft zu enthüllen. Dann hatte er Hester und Venetia nach der gewohnt überschwänglichen Begrüßung rasch wieder nach oben geschickt, um sich seinen eigenen Recherchen zu widmen.

Die naseweise Debütantin war eine ziemlich schmächtige Person und verschwand schier in dem schwarzen Umhang, dessen Kapuze sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Eigentlich konnte er nur einen sehr hübschen, großzügigen Mund und ein spitzes Kinn erkennen. Ihre Lippen waren ständig in Bewegung, als murmelte sie leise vor sich hin. Auf einmal hielt sie inne und schaute zur Empore, wo Musik und künstlerische Darbietung gerade ihren Höhepunkt erreichten.

Ein Seufzen und Stöhnen schwebte herab in den Saal wie Sirenengesang. Es gab wenig Erbaulicheres im Leben, als zwei schönen, sinnlichen Frauen dabei zuzuschauen, wie sie einander Lust bereiteten. Kein Wunder, dass aller Augen auf das Spektakel gerichtet waren.

Mit Ausnahme der seinen.

Raven interessierte mehr die Reaktion der kleinen Schnüfflerin, die auf einmal ihre Lippen zu einer rosig gespitzten Schnute verzog, ein Anblick, der ihn kurioserweise mehr erregte als es die Küsse und Liebkosungen von Hester und Venetia vermocht hatten – so sehr, dass sich auch ihm ein Seufzer entrang und er das leise Kribbeln seines warmen Atems auf den Lippen spürte.

Wie aufs Stichwort erhoben sich die beiden Herren am Nebentisch mit ihren Auserwählten, um sich nach oben zu begeben und dort ihre Gelüste zu stillen. Drüben im Alkoven wurde schon wieder halblaut nachgedacht. Wie sie dort saß und lautlos die Lippen bewegte, hätte man meinen können, sie spräche Flüche und Beschwörungen über alle Anwesenden aus.

Ravens Blick glitt am Satinbesatz ihres Umhangs hinab zu einer schmalen blassen Hand und einer schwarz behandschuhten, doch waren es weniger ihrer Hände, als das, was besagte Hände hielten, dem sein Interesse galt: ein kleines Notizbuch und ein Bleistift.

Führte sie etwa Buch? In einem Bordell?

Da hol mich doch der Teufel, dachte er mit einem verwunderten Lächeln. Waren alle Debütantinnen so … speziell wie diese?

Leider war er so vertieft in ihre Reaktion auf die über ihren Köpfen sich abspielende Orgie, dass er kaum merkte, wie ein anderer Mann sich dem Alkoven torkelnden Schrittes näherte.

Alarmiert stellte er fest, dass es Ruthersby war. Der Baron war ein elender Trunkenbold, der gern mal seinen Handabdruck auf den Mädchen hinterließ. Leute wie er waren einer von vielen Gründen, warum Raven vom Adel mit all seinen Allüren nicht allzu viel hielt.

Was immer die kleine Schnüfflerin hier treiben mochte, von jemandem wie Ruthersby sollte sie sich besser fernhalten.

Raven setzte sich auf, bereit einzugreifen. Noch war der Baron blind und taub für alles außer den Darbietungen auf der Sängerempore. Nachdem er ein paar Schritte zur Seite getaumelt war und einen Moment bedenklich geschwankt hatte, fing er sich wieder und setzte seinen Weg Richtung Alkoven fort.

Doch die Schwerkraft kam ihm ständig dazwischen. Einmal fiel er beinah hintüber und ruderte mit seinem Spazierstock, den ein Raubvogelkopf aus massivem Silber krönte, Halt suchend herum. Der Raubvogelknauf traf dabei den dunklen Baldachin des Alkovens und der Schnüfflerin entfuhr ein erschrockener Laut ob dieser plötzlichen Gefahr.

Der Baron schien es nicht gehört zu haben. Er wankte weiter, und Raven blieb, getreu seiner zweiten Regel, an seinem Platz und hielt sich fein heraus.

Bis der Baron plötzlich innehielt und kehrtmachte.

Mit seinem Stock stocherte er blindlings ins Dunkel des Alkovens, dann griff er hinein.

Raven war schon aufgesprungen, als der Trunkenbold die Debütantin am Handgelenk aus dem Alkoven schleifte. Die Kapuze rutschte ihr vom Kopf auf die Schultern und enthüllte einen schief sitzenden Knoten honigbraunen Haars und eine schmale Maske aus schwarzer Spitze, durch deren mandelförmige Augenschlitze ihr entgeisterter Blick am zudringlichen Baron vorbeischoss und sich direkt auf Raven richtete.

Sein erster Gedanke war, dass das Blau ihrer Augen so tief war, so rein und klar, als hätte sie alle Farbe aus den seinen, fahlen grauen gesogen. Es war wie ein Schock, der sein Herz rasen ließ und in ihm den unerklärlichen Wunsch weckte, sich zurückzuholen, was ihm vermeintlich fehlte.

Doch er kam nicht dazu, den Gedanken zu vertiefen.

„Was haben wir denn hier?“, lallte Ruthersby in trunkenem Singsang. „Entzückendes Frischfleisch, das nur darauf wartet, von mir …“

Bevor der Baron seinen Satz beenden konnte, hatte Raven ihn gepackt und seine sich ums Handgelenk der Debütantin klammernde Faust aufgezwungen.

Er stellte sich vor sie und verkündete: „Sie gehört die nächste Stunde mir.“

Leider deutete sie seine gute Absicht völlig falsch und riss sich von ihm los. Raven rechnete damit, dass sie rasch das Weite suchen würde und machte sich bereit, ihr nachzusetzen, aber sie trat lediglich einen Schritt beiseite und zog sich die Kapuze wieder tief in die Stirn.

„Nur dass Sie es wissen“, stellte sie klar, „ich gehöre überhaupt niemandem außer mir selbst.“

Raven hob die Brauen. Dieser hochgestochene Ton, diese blasierte Selbstgewissheit schienen ihm unter den gegebenen Umständen doch ein wenig fehl am Platz.

Aber der Baron griente sichtlich angetan und straffte die Hände über dem Silberknauf, bis seine Lederhandschuhe leise knarzten unter der Anstrengung, dem Druck dieser feisten Finger standzuhalten. „Hmm … Sie klingt genau wie meine Gouvernante damals. Streng und aufbrausend. Sag, Schätzchen, magst du es auch mit einer harten Haarbürste?“

Sie neigte den Kopf und spitzte die Lippen, als dächte sie ernstlich darüber nach. „Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. Aber wahrscheinlich sind festere Borsten schon …“

„Sagen Sie jetzt besser nichts mehr“, riet Raven ihr und versuchte erneut, ihr Deckung zu geben. Von ihnen dreien schien ihm als Einzigem klar zu sein, dass sie in diesem Etablissement absolut nichts verloren hatte. „Und sollten Sie es wagen, sie noch einmal anzurühren, wird Ihnen das sehr leidtun“, warnte er den Baron.

Die vom Alkohol erhitzten Wangen Ruthersbys nahmen eine sehr ungesunde Färbung an, und in seinen Augen loderte heißer Zorn. „Was bildet der Eindringling sich ein! Ich habe sie zuerst gesehen.“

„Genau genommen stimmt das nicht“, meldete die Debütantin sich hinter Ravens Rücken hervor. „Dieser Herr hat mich schon eine Weile von seinem Tisch aus beobachtet, nur leider war mir sein Ansinnen nicht bewusst, bis dann Sie trunken des Weges kamen. Und wenn ich Ihnen eine Empfehlung aussprechen darf: Ein Mann Ihres Alters sollte wirklich nicht mehr so stark über den Durst trinken.“

Mit jedem ihrer Worte wuchs die Begierde in den Augen des Barons. Bestimmt malte er sich gerade aus, welche Grausamkeiten er ihr angedeihen lassen könnte. „Sag einfach deinen Preis, Schätzchen – ich zahl dir das Doppelte. Dieser Gentleman wird mir nicht mein Revier streitig machen.“

Sie schnaubte entnervt. „Sie scheinen mir gerade nicht zugehört zu haben, als ich sagte, dass ich niemandem gehöre außer mir selbst. Außerdem ist er kein Gentleman, wie einem schon ein Blick auf seine Knopfreihe verraten könnte.“

Raven erstarrte. Seine Übereinkunft mit Moll Dawson stand und fiel mit seiner überzeugenden Darstellung dessen, was er zugegebenermaßen nicht war. In drei Jahren hatte jedoch noch niemand Zweifel an ihm geäußert.

Der Baron starrte ihm aufs Revers, schüttelte dann schnaubend den Kopf, und Raven atmete vorsichtig auf. Die Kleine bluffte doch. Wie bitte sollte eine unbedarfte Debütantin seine Maskerade durchschauen?

Und doch ertappte er sich dabei, wie sein Blick an seiner Brust hinabglitt. „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie haben“, gab er sich blasiert und brüskiert zugleich, „mit meinen Knöpfen ist alles in Ordnung.“

„Das sehe ich anders“, sagte sie und zeigte mit bloßem Finger auf seine Brust. Sie klang sich ihrer Sache sehr sicher und setzte zu einer so wortreichen Belehrung an, dass ihn fast ein wenig schwindelte. „Der dritte Westenknopf von oben wurde mit einem braunen Faden angenäht, nicht mit einem schwarzen. Die Stiche sind auch deutlich unsauberer als die anderen, was eine ungeübte Hand verrät. Daraus schließe ich, dass Sie diesen einen Knopf selbst angenäht haben – und zwar mit dem erstbesten Faden, der gerade zur Hand war. Vermutlich dachten Sie, dass eine dunkle Farbe ebenso gut wäre wie die andere, aber da täuschen Sie sich. Einem geübten Auge fällt so etwas auf, und einer guten Ehefrau, einer Haushälterin oder auch einem Kammerdiener wäre ein solcher Fehler niemals unterlaufen. Woraus ich wiederum schließe, dass Sie nicht verheiratet sind, noch vermögend genug, um Dienstboten zu beschäftigen. Was mich zu dem Schluss führt, dass Sie unmöglich in derselben Liga spielen wie die Gentlemen, die üblicherweise in diesem Etablissement verkehren.“

Raven betrachtete sie mit trügerischer Ruhe. Dabei rauschte ihm das Blut in den Ohren und vielleicht schwindelte ihn gar nicht von ihrem Wortschwall, sondern vielmehr von der Erkenntnis, dass sie sein Geheimnis durchschaut und offengelegt und damit seinen Handel mit Moll hinfällig gemacht hatte.

Verdammt! Das kam davon, wenn man sich nicht an seine eigenen Regeln hielt. Andererseits, wenn Ruthersby ihr nicht glaubte, ließ sich der Schaden vielleicht noch begrenzen.

Doch ein Blick auf den Baron machte auch diese letzte Hoffnung zunichte.

Immerhin verfolgte Ruthersby seine eigenen Interessen. Nach einem kurzen Blick von Raven auf die Debütantin, blitzte in seinen Augen Triumph auf. Er schnappte nach Luft und brüllte dann aus voller Leibesfülle: „Haltet den Hochstapler!“

Und dann war vielleicht was los.

3. KAPITEL

Ein Diener in rosa Seidenlivree kam aus einem der verborgenen Gänge geeilt und hielt sich die gepuderte Perücke wie ein Schauspieler beim Ruf vor den Vorhang.

Baron Ruthersby wies mit dem Stock auf Raven und rief: „Dieser Mann ist nichts als gemeiner Pöbel, noch dazu schlecht getarnt! Wie konnte er überhaupt hereingelangen?“

„Mylord, ich … ich versichere Ihnen, davon keinerlei Kenntnis gehabt zu haben“, stammelte der Lakai.

„Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen, Mann“, schnaubte der Baron. „Rufen Sie den Türsteher und schmeißen Sie den Kerl raus.“

Raven blieb seiner Rolle treu und gab sich kühl und leicht belustigt. „Dieser Gentleman ist ganz offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne. Holen Sie besser seinen Kutscher, ehe er sich vollends zum Gespött macht.“

Etwas ratlos blickte der Diener zwischen den Männern hin und her. Dann legte er dem Baron eine Hand auf die Schulter, um ihn – und nicht Raven – hinauszugeleiten.

„Wie können Sie es wagen!“, röhrte Ruthersby, die Hand um den Silbergreif gelegt und im Gesicht von der Farbe einer Aubergine. Ohne jede Vorwarnung holte er mit dem Stock aus und hieb den Raubvogelschnabel an die Stirn des Dieners. Während der sich taumelnd den Hirnkasten hielt, ging der Baron erneut auf Raven los. „Und Sie – wie können Sie es wagen, so unverschämt zu mir zu sprechen!“

„Genau genommen hat der Herr nur über Sie gesprochen und zwar zu dem Diener, nicht direkt zu Ihnen“, merkte die Debütantin beiläufig an, während sie dem Verletzten zur Seite sprang. Sie reichte ihm ihr Taschentuch und riet, die Wunde sogleich in der Küche versorgen zu lassen. Der Diener gehorchte so willfährig, als wäre die kleine Schnüfflerin es, die hier die Strippen zog. Vielleicht stand er aber nur unter Schock.

„Und wenn wir mal ganz ehrlich sind“, fuhr sie fort und stahl sich dabei am Baron vorbei Richtung Tür, „hatten Sie sich doch schon zum Gespött gemacht, als Sie über Ihre eigenen Füße stolpernd beinah in den Alkoven gefallen wären. Wenn wir diesen bedauerlichen Zwischenfall jetzt einfach hinter uns lassen könnten …“

Hinter ihr war derweil der Türsteher aufgetaucht. Ivor walzte – blond, schwer und breitschultrig – in den Salon und erfasste, ohne sich ablenken zu lassen vom ungebrochenen Hedonismus auf der Sängerempore, mit einem Blick die Lage.

Doch sein Augenmerk galt weniger dem randalierenden Baron als der zierlichen Gestalt im schwarzen Umhang. „Wie sind Sie hereingekommen?“, fragte er sie. „Sie sind keins von unseren Mädchen.“

„Da ich ohnehin gerade gehen wollte, denke ich nicht, dass das noch etwas zur Sache tut“, erwiderte sie ihm.

„Wie wär’s, wenn wir das Moll entscheiden lassen?“ Der Kraftprotz verstellte ihr den Weg und schaute mit einem Blick auf sie hinunter, der vermuten ließ, dass er Debütantinnen am liebsten zum Tee verspeiste und sich mit ihren kleinen Fingern hernach die Zähne ausputzte.

Aber schon war Raven bei ihr, um sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen. Unter ihrer Kapuze hörte er sie murmeln: „Nun, damit konnte doch niemand rechnen. Es ist fast wie das Schießpulverfiasko.“

Schießpulverfiasko? Er schüttelte den Kopf und fragte sich, was sie da redete. Vielleicht hatte er sich aber auch verhört. Und was tat es schon zur Sache. Im Moment hatten sie wirklich andere Sorgen.

Er beugte sich zu ihr. „Bleiben Sie an meiner Seite. Ich kümmere mich schon um alles.“

„Außer um sich selbst brauchen Sie sich um rein gar nichts zu kümmern“, entgegnete sie. „Ich komme schon allein zurecht.“

Er hatte ihr eine Hand an den Rücken gelegt und spürte sie erstarren, dann hob sich ihr Blick in grimmiger Entschlossenheit zu ihm. Dabei rutschte ihre Kapuze zurück und eine feine Haarsträhne streifte ihre Wange, was Raven kurzzeitig aus dem Konzept brachte.

Lang genug indes für Ruthersby, um sie einzuholen und sich vor ihnen aufzubauen. Hätte er nicht in einer Hand den raubvogelköpfigen Stock geschwungen, würde er die perfekte Karikatur eines Boxers abgegeben haben: die Schultern breit gestrafft, die Knie gebeugt, eine Faust in die Luft gereckt.

Hinter Raven machte Ivor zwei schwere, zu allem entschlossene Schritte, die den Boden erbeben ließen.

„Verdammt“, fluchte Raven leise. Er wäre mit der Situation schon zurechtgekommen, aber er wagte sich kaum auszudenken, was mit der Debütantin geschehen mochte. Und dem Baron gegenüber würde er Gnade walten lassen müssen, schließlich wollte er nicht hängen wegen des Drecksacks. Alles in allem eine sehr unbefriedigende Situation.

Nachdem er die Kleine, die ihm den Abend schon jetzt gründlich verhagelt hatte, hinter sich in Deckung gebracht hatte, stellte er sich den von beiden Seiten auf ihn zuhaltenden Angreifern. „Keine Angst“, versprach er ihr, „ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas …“

„Passen Sie auf!“

Sie zerrte an seinem Ärmel und riss ihn zur Seite. Der Faustschlag ging ins Leere, doch er spürte noch den kühlen Lufthauch über seine Wange fächeln.

Nach einem gemurmelten Dankeschön parierte er den Angriff mit einem satten Haken. Ivor stand wie vom Donner gerührt. Raven verschwendete keine Zeit und legte gleich noch einmal nach. Geprügelt und benommen wankte der Schläger hintüber und krachte in einen der Tische, stürzte über ein paar Stühle und ging mit dem zu Schaden gerichteten Mobiliar zu Boden.

Die Debütantin räusperte sich und schob eine Hand in ihren Umhang. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Aber Ihnen würde ich raten, sich zu ducken.“

Im selben Moment sauste der Stock des Barons in einem hohen Bogen auf ihn nieder. Raven zog den Kopf ein und wich zur Seite aus, aber zu spät. Der scharf geschliffene Rubin des Raubvogelauges riss ihm eine brennende Spur in die Wange.

Raven blendete den Schmerz aus und versenkte seine Rechte im Bauch des Barons. Doch statt des zu erwartenden Schwabbelspecks trafen seine Handknöchel auf ein Stahlkorsett. Fluchend rieb er sich die Hand. Eitel war der Kerl also auch noch!

Trotzdem reichte die Wucht des Schlags, um den Baron ins Straucheln zu bringen. Wild mit den Armen rudernd versuchte er sich auf den Beinen zu halten. Dann sauste der silberne Habichtsschnabel abermals herab, schlitzte die Schulternaht von Ravens Rock auf und schnitt messerscharf durch das feine Tuch, das ihn einen halben Wochenlohn gekostet hatte.

Verflixt und zugenäht! Jetzt war es genug. Er entwendete den Stock dem feisten Griff des Barons und warf ihn mit solcher Wucht zu Boden, dass es im ganzen Saal widerhallte. Der Vogelkopf brach ab und schlitterte übers Parkett.

„Was fällt Ihnen ein, Sie elender Lump …“

Doch da trat schon die Debütantin dazwischen und blies dem Baron eine Puderwolke ins Gesicht. Ruthersby nieste erst, dann bekam er einen Hustenfall und rieb sich die tränenden Augen.

„Gut gemacht“, sagte Raven und nickte beifällig.

„Danke. Ich bin stets für alle Eventualitäten gewappnet.“

Das wiederum hörte er nicht so gern. Sie dachte wohl, sie käme hier zurecht, aber sie hatte ja keine Ahnung, worauf sie sich eingelassen hatte. Dieser Salon hatte nur den Namen mit den Salons der besseren Gesellschaft gemein. Allein durch ihre Anwesenheit zeigte die Debütantin, wie unbedarft sie war. Vermutlich ahnte sie nicht einmal, wozu ein Mann wie Ruthersby fähig war.

Aber jetzt war nicht die Zeit, sie aufzuklären oder sich mit ihr zu streiten.

Ivor hatte sich wieder aufgerappelt und zeigte kein Erbarmen mehr, auch nicht mit dem Mobiliar. Mit einem Stuhl bewaffnet kam er angestürmt.

Raven wich elegant aus, zog die Debütantin mit sich und schlängelte sich mit ihr zwischen den Tischen hindurch Richtung Tür; der Wikinger stieß die Tische einfach beiseite, machte einen Satz nach vorn und erwischte Raven hart am Kinn.

Sterne tanzten ihm vor Augen. Er taumelte zurück, versuchte nicht umzukippen. Doch da stürzte Ivor sich erneut auf ihn, packte ihn unter den Armen und knallte Raven mit dem Rücken gegen die Wand unter der Sängerempore.

„Uff!“ Alle Luft wich aus ihm, als der grobe Kerl ihn so an die Wand nagelte und immer wieder und wieder auf ihn eindrosch. Über ihm spielte dazu munter das Spinett und er hätte sich den Himmel nicht schöner vorstellen können.

Benommen schielte Raven über Ivors Schulter und sah, dass der Baron wieder auf den Beinen war. Mehr noch: Ruthersby ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt und jagte der Debütantin zischen den umgekippten Tischen und Stühlen hinterher.

Es schaute sich an wie ein zum Leben erweckter Groschenroman. Sie war ihm immer einen Schritt voraus, er ihr dicht auf den Fersen …

Bis er sie jählings bei ihrer Kapuze packte und zurückzerrte. Ihre Hände flogen an ihren Hals, doch es war zu spät. Der Baron hatte sie.

Da sah Raven rot.

Mit den Jahren hatte er gelernt, seine niederen Instinkte zu zügeln, das ewige Fressen oder Gefressenwerden, das ein Teil von ihm war und ihn durch die schlimmsten Albträume der Londoner Unterwelt gebracht hatte. Mittlerweile gestattete er sich nicht einmal mehr, an diese Zeiten, diese Seite seiner selbst zu denken. Doch als er nun mitansehen musste, wie sie sich gegen Ruthersbys übergriffige Pranken zur Wehr zu setzen versuchte, erwachte die Bestie in ihm.

Ein animalischer Laut entrang sich seiner Kehle.

Noch immer vom Türsteher an die Wand gepinnt, schlug Raven in rasendem Zorn um sich, teilte einen Schlag nach dem anderen aus, versuchte zu treffen, was er nur konnte: mit dem Ellenbogen die Schulter, mit dem Knie in die Rippen, ein Schlag an den Hals und ein Hieb vor den Kopf. Aber Ivor steckte alles standhaft weg, als wäre sein Schädel aus Granit.

Also griff Raven zu unlauteren Methoden, schlang die Arme fest um den Hals des Wikingers und drückte zu, bis ihm das angestrengte Keuchen des anderen wie Musik in den Ohren klang.

„Lassen Sie mich los!“, schrie derweil die Debütantin und wirbelte herum zu ihrem Angreifer. „Wenn Sie nicht sofort loslassen, werde ich Maßnahmen ergreifen müssen, die für Sie sehr unerfreulich werden könnten.“

„Komm schon, Kleines, stell dich nicht so an …“

Weiter sollte der Baron nicht kommen.

Blitzschnell wie die besten Trickdiebe von Covent Garden schnellte ihr Arm vor, ihr Fuß hakte sich hinter Ruthersbys Knie und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Mit einem lauten Grunzen sackte er in sich zusammen, blieb mit dem Hinterkopf an einer Stuhlkante hängen, ehe er schlaff zu Boden plumpste.

„Ich hatte Sie gewarnt“, sagte sie ungerührt, während sie ihm mit zwei Fingern den Puls fühlte. „Vermutlich werden Sie eine Woche lang einen ziemlichen Brummschädel haben, aber das wird schon wieder.“

Nachdem sie mit einem großen Schritt über den reglos Hingestreckten drübergestiegen war, sah sie sich nach Raven um, der just in diesem Augenblick seinen Angreifer bezwang. Ivor schwanden die Sinne, er kippte um wie ein gefällter Baum.

Und da standen sie nun, zwei geschlagene Gestalten zu ihren Füßen, das Ganze untermalt von den sinnlich-melodischen Klängen, die von der Empore herabschwebten.

Schwer nach Atem ringend hielt Raven ein und sah sie an – staunend und von einer Euphorie beseelt, die ihn daran erinnerte, wie er als Junge das erste Mal ein Feuerwerk am Nachthimmel über Vauxhall Gardens gesehen hatte.

„Und wenn man bedenkt“, sagte er versonnen, „dass ein simpler Knopf der Auslöser all dessen war.“

„Oh, es war nicht nur der Knopf, der Sie verraten hat“, antwortete sie mit einem blitzgescheiten Funkeln in den blauen Augen, führte ihre Überlegung aber nicht weiter aus. Einen Moment noch hielt sie seinen Blick, dann huschte sie an ihm vorbei zur Tür hinaus.

„Warten Sie!“, rief er und rannte ihr hinterher. Aber seine schmerzenden Rippen machten ihn langsam und schwerfällig, sodass er sie erst beim Zimmer der Madame einholte.

Im gedämpften Schein der ersterbenden Glut sah er schemenhaft ihre Gestalt am Fenster. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss. Die kleine Schnüfflerin, schon oben auf der Fensterbank, warf einen Blick über die Schulter.

„Wenn Sie näher kommen, werde ich hiervon Gebrauch machen müssen“, warnte sie ihn und hielt etwas hoch, das wie eine dicke Stumpenkerze aussah. „Und das könnte sehr brenzlig werden für Sie.“

Um sie in Sicherheit zu wiegen, blieb er bei dem großen Zimmerfarn stehen. Mit vier Schritten wäre er bei ihr. Drei, wenn er einen großen Satz über das Sitzkissen machte.

Er konnte sich einer gewissen Faszination für sie nicht enthalten, wie sie scheinbar seelenruhig dort saß und das kerzenartige Ding vorsichtig neben sich auf dem Sims abstellte. Doch die Ruhe war nur trügerisch, denn plötzlich nahm er einen Anflug der Verunsicherung in ihren zarten Gesichtszügen wahr.

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Sie bluffen doch bloß.“

„Warum sollte ich? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mich wehrlos und unbewaffnet einen Ort wie diesen begeben würde.“

Sie griff wieder in ihren Umhang und brachte Feuerstahl und Zunder zum Vorschein.

Er nahm es mit einem Schulterzucken. „Ich kenne Sie nicht. Woher sollte ich wissen, wozu Sie fähig sind.“

„Damit wären wir schon zwei“, sagte sie mit einem leichten Lachen und ließ ein Lächeln erkennen, das eine betörende kleine Lücke zwischen ansonsten makellosen Schneidezähnen erkennen ließ. „Aber behaupten Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Was immer Sie vorhaben, kommen Sie nicht näher ans Fenster.“

Mit einem schnellen Streich zündete sie die Kerze an, zog den Kopf ein und ließ sich aus dem Fenster gleiten.

Raven eilte zu ihr, damit sie nicht fiel. Aber sie war schon, geschmeidig wie eine Katze, sicher auf dem Boden gelandet, stieß einen scharfen Pfiff aus und verschwand im Dunkel der Gasse.

Er schwang ein Bein auf den Fenstersims und wollte ihr folgen.

Doch da hörte er ein Knarren der Dielen hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er die große, üppige Gestalt Molls im Zimmer stehen, ein langes Gewand aus dunkelrotem Samt und Straußenfedern um sich gezogen.

„Wer war die Kleine?“, fragte sie, ihre Stimme so schwer und rau wie der sich kräuselnde Rauch der Zigarre, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

Raven fluchte und konnte nur hoffen, es sich mit dem heutigen Abend nicht für alle Zeiten bei ihr verdorben zu haben. „Ich kann das alles erklären …“

Doch weiter sollte er nicht kommen, denn plötzlich flammte die ominöse Kerze auf und ließ Funken regnen, ehe sie, nach einem kurzen, trügerischen Moment der Stille, mit einem dumpfen Verpuffen eine dichte Wolke rosafarbenen Rauchs in den Raum schickte.

Jane stockte der Atem, als sie die Kutschentür hinter sich schloss und rosa Rauchschwaden aus dem Fenster des Freudenhauses wabern sah. Dann grinste sie und schlug in stillem Verzücken die Hände zusammen.

Ihr Rauchbomben-Fluchtplan war aufgegangen! Und er hätte prächtiger nicht funktionieren können.

Sie zückte ihr Notizbuch, um das geglückte Experiment festzuhalten, denn bestimmt würde sie davon noch öfter Gebrauch machen müssen.

Doch noch während sie die Spitze ihres Bleistifts anleckte, brachen die Ereignisse des Abends in ihrem ganzen Ausmaß über sie herein und sie ließ sich erschöpft in den Sitz zurücksinken, während ihr Cousin den Pferden die Peitsche gab und sie nach Hause fuhr.

Ein Bordell! Erst jetzt wurde ihr vollauf bewusst, in welche Gefahr sie sich begeben hatte, und das Herz raste ihr in der schmalen Brust. Das hätte schlimm ins Auge gehen können … ja, um ein Haar wäre es das tatsächlich! Es hatte nicht viel gefehlt und sie wäre nicht so glimpflich davongekommen.

Doch der Erkenntnisgewinn machte alles wieder wett. Noch eine dieser Exkursionen und sie hatte alles an Material beisammen, das es brauchte, um ihre Einführung in das Heiratsverhalten des gebürtigen Aristokraten zu einem Standardwerk für sämtliche Höhere-Töchter-Schulen Englands zu machen.

Jane strahlte von einem Ohr zum anderen. Sie sonnte sich schon im Glanz künftigen Ruhms. Scharenweise würden junge Damen vor den Buchhandlungen Schlange stehen für das eine, das einzige Buch, das ihr Leben für immer verändern würde!

Die Lider wurden ihr schwer, während sie versuchte, sich die Geschehnisse des Abends noch einmal zu vergegenwärtigen. Doch sah sie immer nur ein einziges Augenpaar vor sich, Augen von einem so blassen Grau, das sie fast farblos wirkten. Und diese Stimme … so tief und rau … sie meinte, sie immer noch zu hören, spürte das Schwingen mit jedem aufgeregten Herzschlag.

Sie gehört die nächste Stunde mir.

Wie wild und barbarisch! Und dabei hatte er so herrisch geklungen, dass sie es ihm sofort abgenommen hätte.

Es hatte ihr regelrecht Schauer der Erwartung über den Rücken gejagt, und auch wenn sie jetzt daran dachte, stellten sich ihr wieder die feinen Härchen im Nacken auf und der Atem stockte ihr und ein leiser Seufzer schwebte ihr über die Lippen. Wie es wohl gewesen wäre, eine Stunde lang ihm zu gehören?

Aber da kamen ihre Gedanken zu einem unfreiwilligen Halt. Sie hatte keine Erfahrung, auf die sie hätte zurückgreifen können, war noch nie das Objekt männlicher Begierde gewesen. Und wäre sie ihm nicht in der erhitzten Atmosphäre eines Bordells begegnet, sondern im gesetzten Ambiente eines Ballsaals, hätte er wohl geradewegs durch sie hindurchgeschaut wie alle anderen Männer auch.

Doch blieb festzustellen, dass die Art und Weise, wie er mit dem lüsternen Gentleman verfahren war, wirklich sehr draufgängerisch gewesen war. Eine solche Zurschaustellung männlichen Dominanzgebarens war ihr noch nie untergekommen. Wirklich, es war nachgerade faszinierend!

Wenn sie ihn nur als Studienobjekt für das Buch gewinnen könnte. Das würde mit Sicherheit das ergiebigste Kapitel von allen werden. Der primitive Mann in all seiner Pracht und Herrlichkeit könnte sie es nennen.

Schade, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Als sie merkte, dass die Kutsche plötzlich bloß noch dahinkroch, öffnete sie die Augen wieder und klopfte ans Verdeck. „Vetter, um diese Nachtzeit sollten wir nicht unnötig am Haymarket herumtrödeln.“

„Aber ich muss doch anhalten!“, rief Duncan durch die kleine Klappe zurück und zog die buschigen roten Brauen über der dreimal gebrochenen Boxernase in stummer Verwunderung zusammen. „Da vorn ist Raven, soll ich ihn vielleicht über den Haufen fahren?“

Jane schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, wusste sie doch, dass sich bei Duncan Pickerington unter dem raubeinigen Äußeren ein Herz so weich wie Karamellpudding und ein Hirn von der Größe einer kandierten Walnuss verbarg. „Ich bin mir sicher, der Vogel wird rechtzeitig wegfliegen, ehe er den Pferden unter die Hufe gerät.“

„Kein Vogel. Er arbeitet mit mir bei Sterling. Keine Ahnung, was mit ihm passiert ist, er ist komplett rosa!“

Nun war es an ihr, verwundert die Stirn zu runzeln. Es war nicht leicht, aus Duncan schlau zu werden, manchmal redete er einfach nur Unsinn.

Doch ihre Neugier gewann wie immer die Oberhand, und so öffnete sie den Kutschenschlag, um zumindest einen Blick auf diese vermeintliche Laune der Natur zu werfen.

„Raben sind schwarz, nicht ro … Oh.“

Ihr versagte die Stimme, als eine bekannte, nun rosa überpuderte Gestalt aus dem Dunkel ins Kutschenlicht trat, und sie sich einmal mehr diesen frostgrauen Augen gegenübersah.

„Raven, alter Bursche“, hörte sie ihren Cousin launig rufen. „Biste in einen Farbtopf gefallen?“

Der Mann maß sie mit frostigem Blick, und sie sah seine Nasenflügel sich blähen. „Ich bin einer experimentierfreudigen kleinen Debütantin begegnet, die sich an einem Ort herumtrieb, an dem sie nichts verloren hatte.“

Jane schluckte gegen ihre aufsteigende Panik an. „Du liebe Güte! Sie sehen ja aus wie ein Flamingo! Verrückt, wie gut das Rote-Bete-Pulver funktioniert, das muss ich mir sogleich notieren.“

Doch als ihr Griff zum Notizbuch mit einem bösen Knurren bedacht wurde, ließ sie es wieder sinken. Vielleicht sollte sie das Ergebnis später festhalten, wenn die Umstände passendere wären.

„Mach dir keine Sorgen, Raven. Jane kann das wieder in Ordnung bringen. Sie ist clever und denkt sich die unglaublichsten Sachen aus.“

Dunkle Brauen hoben sich spöttisch über den eisgrauen Augen, und jede Silbe, die er sprach, tropfte wie Säure von seinen Lippen. „Ach ja? Dann kann ich mich aber glücklich schätzen.“

„Kein Grund, so sarkastisch zu klingen. Wirklich, Jane ist …“

„Pickerington“, fiel er ihm ins Wort, jedoch ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Wie wäre es, wenn Sie mich zu Hause absetzten? Ich würde mich gern in Ruhe mit der cleveren Jane unterhalten.“

Sie betrachtete die langgliedrige Hand, die sich auf den Kutschenschlag legte und entsann sich der rohen Gewalt, die er jenen Männern hatte angedeihen lassen, vor allem dem blonden Klotz von einem Kerl. Und nie war sie sich ihrer eigenen zierlichen Gestalt bewusster gewesen als jetzt. „Bedauerlicherweise haben wir keine Zeit, einen Umweg zu fahren“, beschied sie ihm oder ihrem Vetter oder wohl beiden.

„Aber es ist doch Raven“, erwiderte Duncan so ehrfürchtig, als handelte es sich um einen sagenumwobenen Gott. „Er hat mich noch nie um einen Gefallen gebeten. Ich würde seine Wohnung zu gern mal sehen. Es dauert auch nicht lang. Bitte, Jane. Nur dieses eine Mal. Dann gehe ich dir auch nicht mehr auf die Nerven, versprochen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Ihr Blick fiel auf den Schnitt an seiner Wange, dann auf den Riss in seinem Ärmel. Und war das etwa … Blut? Der feine Zwirn war völlig durchtränkt.

„Na schön“, gab sie mit einem schuldbewussten Seufzer nach. Ihn wiederherzustellen war vermutlich das Mindeste, was sie tun konnte.

Doch als er ihrem Cousin eine Adresse in Covent Garden nannte und dann zu ihr in den Wagen stieg, in dem es auf einmal unglaublich eng wurde, sah sie sich dennoch genötigt, ihn zu warnen: „Duncan wird mir beim leisesten Mucks zu Hilfe kommen, und dann kann ich wirklich für nichts garantieren.“

Der Fremde, den sie nur als Raven kannte, ließ sich ihr gegenüber ins Polster sinken und verschränkte die Arme. „Und wer beschützt mich vor Ihnen?“

4. KAPITEL

Jane saß unbehaglich auf ihrem Platz, während die Kutsche durch die nachtleere Straße Richtung seines Quartiers rumpelte. In all den Stunden, die sie auf ihren Plan verwandt hatte, wie sie zu Studienzwecken ins Bordell gelangen wollte und heil auch wieder hinaus, war ihr nicht ein einziges Mal die Möglichkeit in den Sinn gekommen, dass sie es mit einem Wüstling im Schlepptau verlassen würde, und schon gar nicht mit einem, dem es so sehr an Charme gebrach.

Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass er rosa war. Also nicht direkt. „Nur um eins klarzustellen: Ich habe nie um Ihre Hilfe gebeten.“

„Und ich habe Sie nicht gebeten, mein Leben zu ruinieren“, stieß er wie ein Unhold zwischen den Zähnen hervor, und es ärgerte sie, wie verführerisch seine Stimme selbst dann noch klang.

„Wenn Ihr Leben sich einzig um Bordellbesuche dreht, sollte die Farbe Ihrer Haut Ihre geringste Sorge sein. Da fällt mir ein, ich habe kürzlich eine sehr interessante Abhandlung in einem medizinischen Journal gelesen, in dem ein Leiden beschrieben wurde, welches Männer sich beim Besuch solch übel beleumundeter Häuser einhandeln können.“

Ihr Blick hinter der schmalen Spitzenmaske senkte sich hinab auf jene im Dunkeln liegende Körperregion, von der sie in besagtem Aufsatz gelesen hatte.

„Keine Sorge, ich habe keine Syphilis“, erwiderte er und setzte sich unter der prüfenden Musterung zurecht. „Weil ich stets Pariser zu benutzen pflege.“

Jane griff zum Notizbuch. Wenn es doch nur heller wäre in der Kutsche! Aber wie dumm wäre es, die missliche Situation nicht für weitere Recherchen zu nutzen?

„Interessant“, sagte sie. „Ich habe schon davon gelesen, aber noch nie einen gesehen. Wie genau funktionieren diese … Hilfsmittel? Sind sie schwer zu handhaben?“ Sie leckte wieder an der Spitze ihres Bleistifts und deutete vage auf seinen Schoß. „Tragen Sie jetzt gerade einen an sich?“

„Nein, ich trage jetzt gerade keinen. So funktioniert das nicht.“

Ihre wissenschaftliche Neugier derart enttäuscht, sank sie in ihren Sitz zurück und steckte das Notizbuch weg. „Vermutlich sollte ich erleichtert sein. Wer würde die Kutsche schon mit einem Mann teilen wollen, der nur auf die nächste Gelegenheit wartet.“

„Da brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Ich ziehe Frauen mit Erfahrung vor – keine kleinen Debütantinnen, die glauben, ihre unbedarften Nasen in Angelegenheiten stecken zu müssen, die sie nichts angehen.“

Jane war bewusst, dass sie klein und unscheinbar war. Und doch hatte noch niemand es gewagt, ihr das so direkt auf den Kopf zuzusagen. Und dann noch ein Fremder! Er hätte wenigstens den Anstand besitzen können, sie für eine Prostituierte zu halten, so wie der andere Gentleman es getan hatte.

„Sie müssen mit den Damen des Etablissements sehr vertraut sein, wenn Sie sogleich wussten, dass ich keine von ihnen bin“, meinte sie und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine Bemerkung an ihrer Eitelkeit kratzte.

Er gab einen belustigten Laut von sich, der ihr verriet, dass sie damit gescheitert war. Dabei hielt der Schuft es nicht einmal für nötig, ihre Vermutung zu bestätigen oder aber zu entkräften, was sie in ihrem Verständnis seiner Spezies keinen Deut voranbrachte.

„Dann verraten Sie mir doch mal“, forderte er sie mit einem knappen Nicken und einem leicht grollenden Unterton in der Stimme auf, „was hat mich, außer meinem falsch angenähten Knopf, noch verraten?“

Vermutlich hätte es ihr nicht solche Genugtuung bereiten sollen, dass ihre Bemerkung anscheinend einen wunden Punkt bei ihm getroffen hatte.

Aber sie kam einfach nicht dagegen an.

Ein Grinsen zuckte um ihre Lippen. „Ehrlich gesagt erstaunt es mich etwas, dass ein Mann in ihrem Alter nicht über eine gesundere Selbsteinschätzung verfügt. Ich weiß nicht, wie lange Sie mit dieser Maskerade schon durchgekommen sind, aber ich habe Sie gleich im ersten Augenblick durchschaut.“

So, das dürfte gesessen haben, dachte sie sich und verschränkte die Arme.

Er starrte sie schweigend an, und das mit so eindringlichem Blick, als wollte er so lange warten, bis sie auch mit dem Rest herausrückte oder aber ihr ein Loch in den Schädel bohren und darin herumwühlen, um selbst an die gewünschten Informationen zu gelangen.

Und es war wirklich verflixt, aber sie konnte es nicht auf sich beruhen lassen. Es war einfach nicht ihre Art, Fragen unbeantwortet zu lassen.

„Also gut“, gab sie sich geschlagen. „Sie haben etwas Ungezähmtes, etwas Barbarisches an sich, das man in Ballsälen oder auf Soireen vergeblich suchen würde. Sie gehen nicht einfach durch einen Raum, nein, Sie pirschen durch die Gegend, als wären Sie gerade aus Ihrer Höhle gekommen und auf der Jagd nach der nächsten Mahlzeit.“

„An der ich mich jetzt gütlich tun würde, wären Sie mir nicht in die Quere gekommen.“

Ein müder Seufzer entrang sich ihr. „Müssen wir immer wieder darauf zurückkommen? Ich wage mir kaum auszumalen, wie es um die Welt bestellt wäre, würden alle Männer so ausschließlich auf die Befriedigung Ihrer Triebe fokussiert sein wie Sie. Meine Recherchen, was den Gentleman vom Wüstling unterscheidet, wären hinfällig.“

„Dem diente also Ihr fleißiges Mitschreiben.“

Sie nickte eifrig und wohl auch recht selbstgefällig. „Meine Freundinnen und ich verfassen ein Buch, das künftigen Generationen junger Damen Rat und Hilfe geben soll.“

„Wie klug und fortschrittlich von Ihnen.“ Er zog die Brauen hoch und lächelte spöttisch.

Sie erwiderte nichts.

„Na dann, mein kleiner Blaustrumpf, ich raube Ihnen nur ungern Ihre Illusionen, aber unter dem Firnis gesellschaftlicher Konventionen sind im Grunde alle Männer gleich.“

Natürlich gab er diese Erkenntnis ohne auch nur den Hauch von Bedauern von sich, ihr ihre Illusionen geraubt zu haben. Doch es war sein im Kutschenlicht aufscheinendes süffisantes Lächeln, das ihren Widerspruchsgeist weckte.

„Alle Männer sollen gleich sein?“, entgegnete sie. „Das wage ich zu bezweifeln. Die meisten sind nicht annähernd so rosa.“

Er maß sie mit finsterem Blick. Dann setzte er sich plötzlich vor, streckte die Hand aus und zog ihr die Kapuze über den Kopf, ehe es ihr ob seiner unerwarteten Nähe auch nur den Atem verschlagen konnte.

Trotzdem blieb ihr der Mund offen stehen. Sein Geruch, eine betörende Mischung aus ledernen und erdigen Aromen, bestürmte ihre Sinne. Und so nah war sie seinen blassen Augen noch nie gewesen. Es war, als blickte sie in zwei tiefe Seen, die zu massiven Eisblöcken gefroren waren.

„Vielleicht ein Wort der Warnung, Jane: Reizen Sie den hungrigen Löwen nicht, in dessen Höhle Sie sich wagen.“

Erst jetzt merkte sie, dass die Kutsche gehalten hatte. Sie sah zum Fenster hinaus auf die Backsteinfassade eines recht heruntergekommenen Terrassenhauses in Covent Garden.

Bei Newtons Apfel, die Wohnstatt eines Wüstlings! Darauf hatte sie es nun wirklich nicht angelegt.

Raven trat ins Haus und schloss die Tür hinter sich, sperrte alles Licht aus, das von der Straße hereindrang. Er hörte Jane auf dem nackten Dielenboden unsicher einen Schritt zur Seite machen.

Gut. Sollte ihr ruhig ein bisschen bang sein, nachdem sie ihm solchen Ärger eingebrockt hatte.

Autor

Vivienne Lorret

Bestsellerautorin Vivienne Lorret liebt Liebesromane, ihren pinkfarbenen Laptop, ihren Ehemann und ihre beiden Teenagersöhne (nicht zwingend in genau dieser Reihenfolge …). Sie beherrscht die Kunst, unzählige Tassen Tee in Wörter zu verwandeln, und hat sich mittlerweile mit zahlreichen wunderbaren Regency-Romances in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben.

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