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Die junge Reporterin Corinne muss fliehen: vor einem sehr attraktiven, aber leider auch sehr wütenden Mann! Unerlaubt hat sie Fotos gemacht und damit Hunter Marks auf den Plan gerufen. In einer Dessousboutique stellt er sie. Erst verlangt er die Aufnahmen, dann küsst er Corinne, wie sie noch nie geküsst worden ist…


  • Erscheinungstag 25.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753757
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Sommer 1999

Sollte er den Sprung nicht schaffen, würde er mit zerschmetterten Gliedern auf dem Asphalt landen. Harry Gibbs stand auf dem Dach des Hotels L’Adour in Paris und schätzte den Abstand zum Nachbargebäude ab. Er fühlte den vertrauten Adrenalinstoß und grinste.

Er schaute weder nach unten, noch achtete er auf das atemberaubende Panorama, das sich ihm vom Hoteldach aus bot. Um drei Uhr morgens waren der Eiffelturm und Notre-Dame immer noch effektvoll angestrahlt, doch Harry konzentrierte sich auf die schmale Lücke zwischen den Häusern – höchstens dreieinhalb Meter. Er war die Entfernung am Vormittag auf der Straße abgeschritten, nur für den Fall, dass sein Coup nicht ganz nach Plan verlief.

Und das war er nicht. Harry hatte das Collier aus dem Safe genommen, aber keine Zeit mehr gehabt, ihn zu schließen und den Wandteppich wieder davorzuhängen. Madame Cuvelier, die im Nebenzimmer schlief, war leider zu früh erwacht und hatte nach dem Dienstmädchen geklingelt. Es gab nur einen Weg von den Räumen der jungen Frau zu Madames Schlafzimmer, und der führte quer durch den Salon, in dem Harry am Werk gewesen war.

Madame Cuvelier residierte seit mehr als zehn Jahren in dem kleinen Hotel. Dass sie einen unruhigen Schlaf hatte, stand in dem Dossier, das er über sie zusammengestellt hatte. Der Diebstahl wurde dadurch riskanter.

Und spannender. Statt durch die Tür zu verschwinden, durch die er eingedrungen war, musste er nun über einen Balkon aufs Dach flüchten.

Polizeisirenen heulten durch die Nacht. Harry drehte sich um und ging ans andere Ende des Daches. Als er sich hinhockte wie ein Sprinter am Start, dachte er an seine Tochter Corinne. Das hatte er in letzter Zeit oft getan. Heute Nacht noch würde er ihr schreiben.

Er konzentrierte sich und flüsterte: „Du schaffst das, Harry. Wag es!“ Dann sprang er.

Für einen Moment schwebte er zwischen den Häusern in der Luft. Wenn ihm etwas passierte …

Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, setzte er hart auf und rollte übers Dach. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Harry richtete sich auf und lief zur Tür. Er brauchte keine drei Minuten, um das Schloss zu knacken. Die Sirenen waren immer noch einige Blocks entfernt.

Pfeifend betrat er das Treppenhaus.

Eine Stunde später stand Harry auf dem Balkon seines Apartments auf dem Montmartre und schwenkte den Cognac in seinem Glas. Jetzt, da sich seine Anspannung gelegt hatte, wurde er melancholisch. Er dachte wieder an Corinne. Er vermisste sie. Er hatte drei Töchter – Drillinge –, und in letzter Zeit vermisste er sie alle sehr.

Mehr noch, er verspürte den dringenden Wunsch, mit ihnen zu reden. Doch das war unmöglich. Sie waren zehn Jahre alt gewesen, als er und seine Frau Amanda gemeinsam beschlossen hatten, sich zu trennen, um den Kindern ein normales Leben zu ermöglichen.

Dabei hatte er sich jahrelang nach Kräften bemüht, ihnen ein guter Vater zu sein. Aber mit der Zeit langweilte ihn das „normale“ Leben in einem Vorort von Washington. Er vermisste das Abenteuer, das Risiko und den Nervenkitzel, einen perfekten Coup durchzuziehen.

Amanda war unnachgiebig geblieben. Für seine Töchter war Harry damals ein Idol, und Amanda wollte verhindern, dass sie seinen Lebenswandel verherrlichten. Sie hatte nichts dagegen, dass er an seine frühere „Karriere“ als Juwelendieb anknüpfen wollte, machte allerdings zur Bedingung, dass er seine Töchter vor ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag weder sehen noch anderweitig mit ihnen in Kontakt treten durfte.

Harry nippte an seinem Cognac. Es war der größte Fehler seines Lebens, dass er dieser Vereinbarung zugestimmt hatte. Amanda und er hätten einen anderen Weg finden müssen. Vor zwei Wochen hatten die Mädchen ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, und auf einmal erschienen ihm sechs weitere Jahre zu lang. Ihm konnte jederzeit etwas zustoßen. Heute Nacht wäre es beinahe so weit gewesen.

Er ging hinein und trat an den Schreibtisch. Am Geburtstag der Drillinge hatte er seiner ältesten Tochter Natalie einen Brief geschrieben. Heute Nacht auf dem Dach aber hatte er an Corinne, die Zweitgeborene, gedacht. Jede seiner Töchter hatte etwas von seinen Fähigkeiten geerbt. Natalie konnte jedes Schloss im Handumdrehen knacken. Sierra, die Jüngste, hatte von ihm die Neugier und den scharfen Verstand.

Corinne liebte wie er das Risiko. Schon als ganz kleines Kind war sie die Impulsivste von den Dreien gewesen. Sie stürzte sich stets aufs Neue in brenzlige Situationen und überlegte erst dann, wie sie da wieder herauskommen sollte.

Vorhin hatte er seine drei Lieblingsfotos von Corinne betrachtet. Auf einem rannte sie bei einem Wettlauf über die Zielgerade. Harry lächelte stolz. Das zweite war auf einem Schülerball entstanden. Wie schön sie war! Als kleines Mädchen hatte sie sich im Gegensatz zu ihren Schwestern immer hässlich gefühlt. Harry fragte sich, ob sie mit den Jahren wohl mehr Selbstbewusstsein gewonnen hatte.

Das letzte Foto zeigte sie auf einem Pferd, das gerade über ein hohes Hindernis sprang. Sie war damals neunzehn, und dieses Turnier hatte für sie eine große Herausforderung bedeutet. Aber mutig war Corinne immer gewesen. Und eine exzellente Reiterin. Harry erinnerte sich an ihre gemeinsamen Ausritte, und sein Herz krampfte sich zusammen.

Er hatte alle diese Fotos selbst aufgenommen. Zwar hatte er Amanda versprochen, keinen Kontakt zu den Mädchen aufzunehmen, doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, bei wichtigen Ereignissen in ihrem Leben heimlich dabei zu sein.

Harry stellte das Glas ab. Er hatte Fotos von seinen Töchtern, aber mehr auch nicht. Er griff nach Papier und Stift und verdrängte den quälenden Gedanken, dass ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Er würde vielleicht noch sechs Jahre warten müssen, bis er den Brief persönlich abgeben könnte, aber er würde ihn heute Nacht schreiben.

An Corinne, meine kleine Draufgängerin …

1. KAPITEL

Warum konnte sie nicht besser planen?

Entnervt bahnte Corinne Gibbs sich den Weg durch die Menge im Blue Pepper. Sie hatte ihre Schwestern um ein Treffen gebeten und dabei vollkommen vergessen, dass in der beliebten Bar in Georgetown, einem Stadtteil von Washington, am Dienstagabend immer Singletreff war. Jetzt musste sie sich wie immer auf ihr Glück verlassen, wenn sie noch einen Tisch ergattern wollte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ ihren Blick schweifen in der Hoffnung, einen der Lokalbesitzer zu entdecken.

George hatte wahrscheinlich an der Bar zu tun, aber sein Partner Rad müsste in der Nähe des Reservierungspults stehen. Wieder schaute Corinne sich um, oder genauer, sie versuchte es. Es war schon hinderlich, so klein zu sein.

„Entschuldigung.“ Corinne blickte lächelnd zu einem hoch gewachsenen Mann auf, als sie sich zwischen ihn und seine Begleiterin drängte. Er beachtete Corinne nicht einmal. Auch die anderen Gäste, die sie versehentlich anrempelte, schienen sie zu übersehen. Auf halbem Weg durch das Restaurant stieß sie schließlich mit Rad zusammen.

„Corinne.“ Rad ergriff ihre Hände und küsste die Luft neben ihrer linken Wange. Dann trat er einen Schritt zurück, um Corinne kritisch zu betrachten. Der ehemalige Modedesign-Student aus New York war der selbst ernannte Stilberater der Gibbs-Schwestern.

Gespannt wartete Corinne seine Reaktion ab. Rad, der seine Haarfarbe beinahe so häufig wechselte wie seine ausgefallenen Krawatten, hatte sie ermuntert, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Doch wie bei allem, was sie tat, war sie sich unsicher, ob es ihr gelang. Ein Foto in der Zeitschrift Celebrities hatte sie dazu inspiriert, ihre ausgeblichene Hüftjeans mit einer Organdy-Bluse zu kombinieren, die sie unter den Brüsten zusammengeknotet hatte. Dazu trug sie hochhackige Riemchensandaletten. Ihre. Ohren waren mit Gehängen geschmückt, die aus vielen goldenen Ringen bestanden.

Endlich lächelte Rad anerkennend. Er beugte sich vor, damit sie ihn besser verstehen konnte. „Eine gelungene Variation des Sarah-Jessica-Parker-Looks! Und der kleine Knopf in deinem Bauchnabel – sehr sexy.“

„Danke.“ Corinne wollte nicht darüber nachgrübeln, warum nur schwule Männer sie attraktiv fanden. Keine negativen Gedanken, ermahnte sie sich und schenkte Rad ein strahlendes Lächeln. „Du würdest mich noch glücklicher machen, wenn du einen freien Tisch für mich hättest.“

Rad zog die Augenbrauen hoch. „An einem Dienstagabend? Du hast Glück, dass du zwei Schwestern hast, die etwas umsichtiger sind als du. Detective Natalie hat mich heute Mittag angerufen.“

Das passt, dachte Corinne. Natalie nahm ihre Verantwortung als älteste Schwester ernst, und vorausschauendes Denken kam ihr als Polizistin sehr zugute.

„Dr. Gibbs hat sie übertroffen, indem sie mich bereits heute Morgen informiert hat“, fuhr Rad fort.

Auch das überraschte Corinne nicht. Sierra war ein ausgesprochener Planungsfreak und hatte die Angewohnheit, ständig blaue Kärtchen mit sich herumzutragen, auf denen sie sich Notizen machte. Ihre Gewissenhaftigkeit schien sich auszuzahlen. Seit kurzem unterrichtete sie im Fachbereich Psychologie an der Universität von Georgetown.

Ein Anflug von Neid beschlich Corinne. Sie und ihre Schwestern waren so verschieden wie Sonne und Mond. Corinne wünschte, sie wäre ihnen ähnlicher.

Zum einen beneidete sie die beiden um ihr Aussehen. Natalie und Sierra waren groß wie ihr Vater. Corinne dagegen schlug mehr nach ihrer Mutter und war klein. Natalie war eine rassige Rothaarige, Sierra der Typ kühle Blondine, während Corinne die Rolle der unscheinbaren Brünetten erhalten hatte. Zum andern störte sie, dass ihre Schwestern mit sechsundzwanzig genau wussten, was sie wollten, und zielstrebig an ihrer Karriere arbeiteten. Sie dagegen war immer noch am Ausprobieren.

Nein, das ist nun vorbei, sagte sich Corinne. Wenn morgen alles glatt ging, würde sie demnächst einen festen Job als Reporterin bei der Zeitschrift Celebrities haben. Dann hätte sie endlich etwas vorzuweisen. Ihr Magen krampfte sich nervös zusammen.

„Deine Schwestern warten im Innenhof auf dich“, erklärte Rad und wandte sich zum Gehen. „Sie haben schon die Vorspeisen bestellt.“

Essen. Das war genau das Richtige, um Corinnes Nerven zu beruhigen. Normalerweise kaute sie bei innerer Anspannung Kaugummi, aber sie hatte keins mehr – ein weiteres Resultat mangelhafter Planung.

Keine negativen Gedanken! hämmerte sie sich erneut ein, während sie sich weiter den Weg durch die Menge bahnte. Immerhin stand ihr ein entscheidender Moment bevor. Sie würde den Brief öffnen, den sie von ihrem Vater bekommen hatte.

Vor einem Monat hatten sie und ihre Schwestern hier im Blue Pepper ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Sechzehn lange Jahre hatten sie nichts von Harry Gibbs gehört, und dann hatte plötzlich jede von ihnen über seinen Anwalt einen Brief von ihm erhalten. Harry war bereits sechs Jahre zuvor verstorben. Es war eine schwere Zeit für die Schwestern gewesen, denn sie hatten im Abstand von ein paar Monaten nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter verloren.

Corinne hatte ihrem Vater nie ganz verziehen, dass er die Familie verlassen hatte. Ihren Schwestern ging es genauso. Kurz nachdem er verschwunden war, hatten sie aufgehört, ihn Dad zu nennen. Von da an war er für sie nur noch Harry.

Schon bei dem Gedanken daran, den Brief zu öffnen, spielten Corinnes Nerven verrückt. Natalie hatte ihren Brief vor einem Monat gelesen, und Harrys Rat – auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen und alles zu riskieren, um ein Ziel zu erreichen –, hatte ihr Leben verändert. Die Älteste der Schwestern hatte nicht nur Ja zum Abenteuer des Lebens gesagt, sondern in Sean Mitchell auch die große Liebe gefunden.

Natalie hatte allerdings schon immer über eine Menge Talente verfügt, auf die sie bauen konnte. Corinne konnte sich nicht vorstellen, was Harry ihr, Corinne, zu sagen hätte.

Endlich entdeckte sie ihre Schwestern und ließ sich auf einen Stuhl zwischen ihnen fallen. Die Martinis standen ebenso wie die Platte mit dem berühmten Fingerfood vom Blue Pepper schon bereit. Corinne steckte sich einen gefüllten Champignon in den Mund und kaute hastig.

„Danke, dass ihr gekommen seid“, stieß sie schließlich hervor.

„Du musst den Brief nicht öffnen, wenn du noch nicht bereit dazu bist“, meinte Natalie.

Sierra tippte auf das blaue Kärtchen, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Wir haben lediglich beschlossen, dass du als Zweite an die Reihe kommen solltest, deinen Brief von Harry zu lesen. Aber wann du das tust, liegt ganz allein bei dir.“

Corinne schluckte. „Ich habe lange genug gewartet.“ Sie zog den Brief aus der Tasche. „Ich brauche Harrys Rat.“

„Was ist los?“, erkundigte sich Natalie besorgt.

Corinne holte tief Luft. „Ich habe mich endlich für einen Beruf entschieden.“

Natalie lächelte. „Ich verstehe, dass es für dich wichtig ist, einen Entschluss zu fassen, aber du musst dich deswegen nicht so unter Druck setzen.“

Corinne sah auf den weißen Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Sie hatte die Selbstzweifel, die sie ihr ganzes Leben hindurch geplagt hatten, satt. „Ihr wusstet von klein auf, was ihr machen wolltet. Ich habe in vier Jahren sechsmal den Job gewechselt. Das ist bestimmt ein Fall fürs Guinness-Buch der Rekorde.“

„Wer sagt, dass jeder so sein muss wie Sierra oder ich?“, fragte Natalie.

„Und wer sagt, dass wir ewig denselben Beruf ausüben werden?“ Sierra musterte Corinne über den Rand ihrer Brille. „Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen unserer Altersgruppe drei- bis viermal im Leben ihre Berufsrichtung ändern müssen. Du wirst viel besser darauf vorbereitet sein als Natalie oder ich.“

Corinne konnte sich auf den Beistand ihrer Schwestern immer verlassen, doch das änderte nichts an ihrem mangelnden Selbstbewusstsein. Ihr Blick fiel wieder auf den Umschlag. „Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, wenn ich mich wie ihr mehr auf einen bestimmten Beruf konzentriert hätte, wäre Harry eher nach Hause zurückgekehrt. Ich wette, Mom hatte Angst, dass ich Dad nacheifern würde, wenn er wieder Teil unseres Lebens geworden wäre.“

„Du darfst dir keine Vorwürfe machen wegen einer Entscheidung, die unsere Eltern getroffen haben“, meinte Natalie. „Keiner von uns ist dafür verantwortlich.“ Sie hob ihr Martiniglas. „Zum Teufel mit den Schuldgefühlen.“

Corinne und Sierra stießen mit ihr an, und dann tranken sie alle einen Schluck.

„Also dann.“ Corinne nahm den Brief ihres Vaters, öffnete den Umschlag und faltete den Papierbogen auseinander.

Corinne, meine kleine Draufgängerin,

deine Mutter und ich waren beide sechsundzwanzig, als ihr drei Mädchen zur Welt kamt. Daher haben wir beschlossen, dass du diesen Brief an deinem sechsundzwanzigsten Geburtstag lesen darfst, falls ich nicht in der Lage sein sollte, persönlich mit dir zu sprechen.

Erinnerst du dich, wie du klein warst und ich dir riet, dass du dich immer auf dein Glück verlassen solltest? Nun, damals war dieser Rat verfrüht. Deine Mutter hat mir das immer vorgehalten. Sie hatte Angst, dass ich eines Tages zu viel riskieren würde, und weil du so impulsiv warst, machte sie sich auch um dich Sorgen. Ich denke aber, heute verstehst du, was ich meine. Vertrau voll und ganz auf dein Glück – und hilf ihm notfalls etwas nach. Hab Mut zum Risiko. Nur wer wagt, gewinnt. Und das Wichtigste – lauf nicht davon. Stell dich dem Leben!

Wenn ich diesen Rat gefolgt wäre, hätte ich dich und deine Schwestern niemals verlassen. Ich werde es immer bereuen, dass ich nicht stark genug war, bei euch zu bleiben.

In Liebe, Harry

Corinne hielt den Atem an, während sie die Zeilen nochmals überflog. Hatte er sie wirklich als draufgängerisch in Erinnerung gehabt? Sie empfand Stolz bei dem Gedanken und seufzte.

„Lass mal die Fotos sehen!“, drängte Sierra.

Corinne zog drei Aufnahmen aus dem Umschlag, und die Augen wurden ihr feucht. Das eine Foto zeigte sie bei einem Wettlauf auf der High School, als sie durch die Zielgerade lief, auf dem anderen sah man sie auf dem Abschlussball der High School. Das dritte Foto war bei einem Reitturnier im ersten Jahr auf dem College entstanden. Ihr Team hatte bei der Landesmeisterschaft ein Blaues Band gewonnen – ein Jahr vor Harrys tödlichem Unfall.

Er war unbemerkt dabei gewesen – so wie bei jedem anderen wichtigen Ereignis im Leben seiner Töchter. Corinne wurde das Herz schwer. „Ich vermisse ihn.“

„Ich auch“, gestanden Natalie und Sierra wie aus einem Mund.

Einen Moment herrschte Schweigen. Schließlich räusperte sich Natalie. „Und jetzt wollen wir wissen, warum du Harrys Rat ausgerechnet heute Abend brauchst. Hast du deinen Job bei Celebrities hingeworfen?“

„Nein.“ Corinne schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass Journalismus genau das Richtige für mich. Doch auf meinem jetzigen Posten fühle ich mich nicht ausgefüllt. Im Grunde bin ich nur die kleine Assistentin von Lea Roberts, der Chefreporterin. Ich habe zwar schon einige kleine Beiträge geschrieben, aber noch nie stand mein Name darunter.“

Während sie ihren Schwestern den Sachverhalt erklärte, spielte sich die Szene, die sich an diesem Morgen in Lea Roberts Büro zugetragen hatte, noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab.

Lea war eine große, attraktive Brünette, stets sachlich und beherrscht. An diesem Vormittag war sie unruhig hinter ihrem Schreibtisch auf und ab gegangen.

„Du wolltest ja gern einmal vor Ort arbeiten“, hatte Lea zögernd begonnen.

„Ja.“

Lea kam hinter dem Schreibtisch hervor und lehnte sich an die Kante. „Ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt schon so weit bist. Aber ich bin in einer verzweifelten Lage. Ich muss morgen früh Elizabeth Cavenaugh, die Frau des Obersten Bundesrichters, in New York interviewen, und ich kann das nicht verschieben. Du brauchst nur ein Foto für mich zu machen. Hier in Washington. Das ist alles.“

„Das kann ich“, antwortete Corinne eifrig. „Wen soll ich fotografieren?“

Lea beugte sich vor. „Du darfst mit niemandem darüber reden, verstanden?“

Corinne nickte.

„Ich habe den Tipp erhalten, dass Jared Slade morgen Vormittag im Hotel Les Printemps einchecken wird. Ich möchte, dass du ein Foto von ihm machst. Kriegst du das hin?“

„Sicher“, beteuerte Corinne aufgeregt. Sie wusste alles, was man über den öffentlichkeitsscheuen allmächtigen Firmenboss von Slade Enterprises in Erfahrung bringen konnte, schließlich recherchierte sie seit zwei Wochen über ihn. Der Gedanke, ihn persönlich zu treffen, begeisterte sie, denn dieser Mann faszinierte sie. „Ist das alles? Soll ich nicht gleich versuchen, ein Interview mit ihm zu bekommen?“

Lea starrte sie einen Moment lang an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. „Ein Interview?“

Corinne fühlte sich gedemütigt. Gleichzeitig stiegen Trotz und Wut in ihr auf. Sie beherrschte sich nur mühsam.

„Ein Interview“, wiederholte Lea amüsiert. „Slade hat noch nie ein Interview gegeben. Er hasst Reporter. Es wäre schon toll, solltest du überhaupt ein Foto von ihm zustande bringen. Konzentrier dich einfach nur darauf. Das wäre ein Riesenknüller für unser Blatt, und ich verlasse mich auf dich. Wenn du das schaffst, werde ich mich dafür einsetzen, dass du fest bei uns eingestellt wirst.“

Davon träumte Corinne, seit sie als freie Mitarbeiterin bei Celebrities angefangen hatte. Sie sollte sich freuen. Aber sie konnte nicht vergessen, wie Lea sie ausgelacht hatte. Dieser Spott kam einer Herausforderung gleich.

„Sie hat dir einen Vertrag angeboten? Das ist ja großartig“, meinte Sierra.

„Und es überrascht mich kein bisschen“, setzte Natalie hinzu.

Als ihre Schwestern ihre Gläser hoben, schüttelte Corinne den Kopf. „Es ist noch nicht spruchreif. Erst muss ich das Foto von Jared Slade haben.“

Stirnrunzelnd trommelte Natalie mit den Fingern auf den Tisch. „Jared Slade … Ist das nicht der geheimnisvolle Konzernchef, der Einsiedler?“

Corinne nickte. „Das Wall Street Journal nennt ihn den Howard Hughes des 21. Jahrhunderts. Seine Geschäfte umfassen Fünfsternehotels und Golfanlagen bis hin zu Edelboutiquen. Er ist faszinierend.“

„In letzter Zeit hat er eine Menge Ärger am Hals“, erzählte Natalie. „In seinem Hotel in Atlanta gab es einen Fall von Lebensmittelvergiftung, und in einer seiner Fabriken im Staat New York kam es zu einem Großbrand.“

Corinne horchte auf. „Woher weißt du das alles?“

„Er war vergangenen Monat zweimal in Washington. Zu meinem Job gehört auch, hochrangige Leute im Visier zu behalten, die gefährdet sein könnten. Sein Sekretariat weigert sich leider konsequent, uns seinen genauen Aufenthaltsort zu verraten.“

„Er ist wie ein Phantom“, bemerkte Corinne. „Niemand weiß, wie er aussieht. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt existiert.“

„Du musst schon einen guten Plan haben, wenn du jemanden fotografieren willst, den es womöglich gar nicht gibt“, meinte Sierra ironisch.

Corinne steckte sich einen Käsewürfel in den Mund. Sie schluckte den Bissen herunter und sagte dann: „Es ist ziemlich einfach. Ich werde in der Lobby des Hotels Les Printemps warten, bis Mr. Slade sich an der Rezeption meldet. Dann schieße ich das Foto.“

Natalie runzelte die Stirn. „Das finde ich zu riskant. Manche Promis sind dafür bekannt, dass sie gewalttätig werden, wenn sie von Paparazzi belästigt werden.“

Corinne sah ihre Schwester an. „Keine Angst, ich werde mich ja in der Lobby eines exklusiven Hotels aufhalten. Und ich war auf der High School ein Ass im Hürdenlauf. Falls es Probleme gibt, kann ich immer noch wegrennen.“

„Mir gefällt das trotzdem nicht“, beharrte Natalie.

Corinne beugte sich vor. „Ich muss das tun, Natalie. Die Festanstellung ist mir sehr wichtig. Damit kann ich jedem einschließlich mir selbst beweisen, dass ich es zu etwas bringen kann.“

„Ich vermute beinahe, es steckt mehr dahinter“, warf Sierra ein. „Es ist etwas Persönliches. Der Mann interessiert dich.“

Corinne wunderte sich immer wieder, wie leicht ihre jüngere Schwester sie durchschaute.

Natalie musterte Corinne neugierig. „Ich dachte, du hättest den Männern abgeschworen.“

„Stimmt. Ich halte sie auf Abstand, seit der Idiot Paul mich abserviert hat. Jared Slade ist für mich kein Mann, sondern nur ein Mysterium, das ich enträtseln möchte. Warum versteckt er sich vor aller Welt?“

Natalie hielt eine Hand hoch. „Lasst uns einen Punkt klarstellen. Paul hat dich während des letzten Jahres seines Jurastudiums nur benutzt, um billig wohnen zu können. Der Tag, an dem er bei dir auszog, war ein Glückstag für dich.“

„Darauf trinke ich“, verkündete Sierra und hob ihr Glas.

Corinne stieß nachdenklich auf ihr zweifelhaftes Glück an. „Es war ja nicht das erste Mal, dass ich hereingefallen bin. Ich habe mich in gewisser Weise schon daran gewöhnt. Ich habe eben kein Glück mit Männern. Deshalb will ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben, bis ich dem Mann meiner Träume begegne.“

„Dem Mann deiner Träume?“ Sierra holte ein neues blaues Kärtchen aus ihrer Tasche. „Ich mache gerade eine Untersuchung über erotische Fantasien von Frauen. Wie sieht er aus?“

Lächelnd strich Corinne mit dem Finger über den Rand ihres Martiniglases. „Er ist groß, dunkelhaarig und attraktiv – was sonst? Und er wirkt ein bisschen gefährlich. Typ raue Schale, weicher Kern. Und wenn er lächelt, bildet sich ein Grübchen in seiner linken Wange. Doch das Schönste ist, dass mein Traummann mich unwahrscheinlich sexy findet. Ich mache ihn verrückt.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme: „Und seine Hände … Nun, ich sage nur so viel: Er ist unglaublich zärtlich.“

„Und woher weißt du das?“, fragte Natalie.

Lässig suchte Corinne sich noch einen gefüllten Champignon aus. „Was hätte es für einen Sinn, sich einen Traummann auszudenken, wenn man ihn nicht für ein paar heiße Fantasien benutzt?“

„Paul hat ja wirklich gründliche Arbeit geleistet, wenn du seitdem nur noch in deiner Fantasie Sex hast“, bemerkte Natalie trocken.

„Hörst du mich klagen?“ Corinne leckte sich den Daumen ab. „Sex in der Fantasie hat den Vorteil, dass er viel abwechslungsreicher ist als Sex mit einem richtigen Mann.“

Sierra warf Natalie einen Blick zu, die plötzlich versonnen lächelte. „Ich glaube nicht, dass unsere große Schwester dir da zustimmt, Corinne. Sie hat ihren Traummann gefunden. Vielleicht gelingt dir das auch, wenn du deinem Glück ein wenig nachhilfst.“

Zweifelnd schaute Corinne auf den Brief ihres Vaters. „Ich bin schon froh, wenn ich ein Inter… ein Foto von Jared Slade bekomme.“

Natalie seufzte. „Ich kann dir dieses Vorhaben wohl nicht ausreden, oder?“

„Nein, also wünscht mir einfach nur Glück.“ Corinne griff nach einem weiteren Käsewürfel, um ihre Nerven zu beruhigen.

Sie hatte ihren Schwestern nicht den ganzen Plan verraten. Das Foto war nur der erste Schritt. Sie wollte Jared Slade dazu bringen, ihr ein Interview zu gewähren. Sie konnte das. Schließlich war sie doch eine Draufgängerin, oder etwa nicht?

Lea Roberts sah aus dem Fenster in ihrem Büro, ohne das Washington-Denkmal überhaupt wahrzunehmen. Sie fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Corinne auszulachen mochte ein wenig hart gewesen sein, doch Lea wollte nicht, dass Corinne überhaupt nur daran dachte, Jared Slade um ein Interview zu bitten. Das würde sie selbst tun. Ihr Plan war, das Foto gegen ein Interview einzutauschen.

Nervös ging Lea auf und ab. Sie hasste es, die Zügel aus der Hand zu geben – nur was hätte sie sonst tun sollen? Es war für sie zu riskant, selbst ins Les Printemps zu gehen. Falls Jared Slade wirklich Hunter Marks war, würde er sie wiedererkennen.

Lea presste die Finger an ihre schmerzenden Schläfen. Sollte es ihr gelingen, Jared Slade als Hunter Marks zu enttarnen, wäre das ihr Sprungbrett zum ganz großen Erfolg. Sie träumte schon vom Pulitzer-Preis und einem sechsstellig dotierten Buchvertrag.

Autor

Cara Summers
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