Geheimnisvolle Melodie der Nacht

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Gebannt lauscht Cellistin Angie Han dem klassischen Stück. Geschrieben wurde es von dem geheimnisvollen Komponisten A.S., den niemand kennt. Doch plötzlich weiß Angie, wer es ist: ihr Ex-Lover Joshua Shin! Damals hat sie ihn ohne Erklärung verlassen, jetzt braucht sie ihn verzweifelt. Denn das Streichtrio mit ihren Schwestern steht vor dem Aus, wenn sie es nicht bald auf die Hitliste der Klassik schaffen! Mutig bittet sie Joshua um eine Komposition, und er erklärt sich bereit – allerdings unter einer pikanten Bedingung …


  • Erscheinungstag 21.06.2022
  • Bandnummer 2242
  • ISBN / Artikelnummer 9783751509077
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Das alljährlich stattfindende Dinner der Neimans war eigentlich kein Event, das Joshua Shin normalerweise besuchte. Viel lieber verbrachte er unzählige Stunden im Büro und noch lieber vor seinem Klavier. Doch sein Großvater, dem es augenblicklich nicht besonders gut ging, hatte ihn gebeten, ihn an diesem Abend zu vertreten. Und da Joshua seinen Halabuji – was auf Koreanisch Großvater bedeutete – seit jeher vergötterte, war er der Bitte natürlich nachgekommen.

Er wusste, dass es sich um ein Fundraising für die südkalifornische Chamber Music Society handelte, die sich der Förderung von Kammermusik verschrieben hatte. Daher bestand natürlich die Gefahr, dass sie heute Abend auftreten würde. Liebe Güte, wie pathetisch das klang. Doch auch nach zehn Jahren gelang es ihm nicht, an sie zu denken, ohne diese beklemmende Traurigkeit zu empfinden.

Nachdem er das schmiedeeiserne Tor des Anwesens in Beverly Hills passiert hatte, stand er kurz darauf vor dem majestätisch wirkenden Herrenhaus im gregorianischen Stil. Er parkte seinen Tesla neben den zahlreichen Luxuslimousinen, die bereits in der Einfahrt standen, übergab einem Mitarbeiter des Parkservice die Schlüssel und fügte sich in sein Schicksal.

Bereits auf dem Weg durch das Foyer, das in den Ballsaal führte und in dem sich die neuangekommenen Gäste versammelten, wurde ihm ein Champagnerkelch in die Hand gedrückt. Da ihm immer noch unbehaglich zumute war, nickte er den anderen Gästen bloß höflich zu. Er betrat den Saal und nahm neben den smaragdgrünen Vorhängen eines deckenhohen Fensters Platz.

Auf der Suche nach dem Gesicht, von dem er viel zu oft geträumt hatte, ließ er den Blick automatisch durch den Festsaal schweifen. Eigentlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass Angie Han ausgerechnet an diesem Abend auftreten würde, immerhin gehörten der Chamber Music Society mehr als einhundert Mitglieder an. Da die Musiker das Gebäude allerdings durch den Hintereingang betraten und in den angrenzenden Räumen warteten, bis sie auf die Bühne gerufen wurden, würde er Angie ohnehin nicht vor ihrem Auftritt sehen – gesetzt den Fall, dass sie überhaupt hier war.

Verärgert zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Seit einem Jahrzehnt schon war Angie nicht mehr Teil seines Lebens, und dabei sollte es auch bleiben. Warum ging sie ihm bloß nicht aus dem Sinn?

„Mr. Shin?“, erklang in diesem Augenblick eine kultivierte Stimme hinter ihm.

„Ja?“ Er drehte sich zu einem grauhaarigen Herrn in elegantem Anzug um.

„Mein Name ist Timothy Pearce. Ich bin der geschäftsführende Direktor der Chamber Music Society“, erklärte der Mann. „Es überrascht mich, heute Abend nicht Ihren Großvater anzutreffen. Für gewöhnlich verpasst er keins dieser familiären Konzerte.“

„Er bedauert es außerordentlich, heute Abend nicht dabei sein zu können“, erwiderte Joshua, ohne auf den Grund der Abwesenheit seines Großvaters einzugehen. „Ich vertrete ihn heute.“

„Nun gut, ich heiße Sie natürlich ebenfalls herzlich willkommen.“ Mr. Pearce musterte ihn aufmerksam und lächelte dann einnehmend. Ganz offensichtlich versuchte er einzuschätzen, ob Joshua genauso großzügig wie sein Großvater war. „Wir freuen uns, wenn wir auch die jüngere Generation für klassische Musik begeistern können.“

„Ich teile die Musikvorlieben meines Großvaters“, entgegnete Joshua wahrheitsgemäß. „Und da wir gerade darüber sprechen … Wer spielt heute Abend eigentlich?“

„Wir haben eine ganz besondere Überraschung für unsere Gäste.“ Timothy Pearce’ Lächeln war noch breiter geworden. Offenbar sah er eine großzügige Spende in greifbarer Nähe. „Das Hana Trio.“

Verzweifelt versuchte Joshua, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Neuigkeit bestürzte. Das Trio bestand aus Angie, der Cellistin, sowie ihren beiden Schwestern, die Violine und Bratsche spielten. Obwohl es nicht ganz unwahrscheinlich gewesen war, sie heute Abend wiederzusehen, versetzte die Gewissheit ihn in Aufruhr.

„Sie haben doch schon von den jungen Damen gehört, oder?“ Als Joshua schwieg, sah ihn der andere Mann neugierig an. „Ein außergewöhnliches Trio, dem eine glänzende Karriere bevorsteht.“

„Ja, selbstverständlich“, brachte Joshua schließlich hervor. Seine Lippen fühlten sich plötzlich ganz taub an. „Ich kann’s kaum erwarten, sie spielen zu hören.“

„Wunderbar. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“ Der Direktor entfernte sich, um ein älteres Paar zu begrüßen, das soeben den Ballsaal betreten hatte.

Was Joshua über seine Liebe zur Musik gesagt hatte, stimmte zwar, doch seine Verbindung ging weit darüber hinaus. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Musik sein Leben gewesen war. Er erinnerte sich, wie seine Finger über die Tastatur des Klaviers geflogen waren, an Melodien, die die Seele berührten, und glückliches Lachen, das sein Herz mit einer schier unverbrüchlichen Hoffnung erfüllt hatte. Doch dann hatte ihn die Realität mit brutaler Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als sie alles zerstört hatte.

Tief in Gedanken versunken, bekam Joshua kaum mit, wie die Gäste allmählich den Saal verließen. Wie ferngesteuert folgte er den Menschen hinaus in einen imposanten Wintergarten. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Ausblick auf die allmählich einsetzende Abenddämmerung, die über dem Park hereinbrach. Der Glanz der Lichterketten an der gläsernen Decke brachte den Abendhimmel zum Funkeln, und die geschmackvollen Leuchter, die sich überall im Raum befanden, unterstrichen die Erlesenheit des Veranstaltungsortes.

Als die Leute vor ihm Platz nahmen, entdeckte er am anderen Ende des Raums die provisorische Bühne. Und das war der Augenblick, in dem er sie sah. Angie. Alles um ihn herum verblasste zur Bedeutungslosigkeit, und sein Herzschlag war das Einzige, was er hörte.

Seitdem sie sich getrennt hatten, war aus dem entzückenden Mädchen eine atemberaubende Schönheit geworden. Das lange schwarze Haar, das sie normalerweise achtlos zu einem Zopf zusammengebunden hatte, fiel seidig schimmernd über ihre Schultern. Die hohen Wangenknochen verliehen ihren sanften Gesichtszügen eine verführerische Note. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Glücklicherweise sah sie nach unten, und die schlanken Finger bewegten sich geschickt über das Cello, als sie und ihre Schwestern ihre Instrumente stimmten.

Bevor sie aufblicken und ihn ebenfalls sehen konnte, nahm Joshua im Schutz einer großen Pflanze neben der Tür Platz. Einige der vorbeigehenden Gäste beäugten ihn neugierig, bevor sie sich setzten. Doch schon bald wurde es ruhig, und das Konzert begann.

Bereits die ersten Musikklänge ließen ihn wohlig erschauern. Schon auf dem College war Angie eine talentierte und vielversprechende Musikerin gewesen. Doch inzwischen fühlte sich ihre Kunst wie Magie an, die seidenweich seine angespannten Sinne berührte. Als er seinen Großvater besucht hatte, hatte er das Debütalbum des Hana Trios bereits gehört, daher wusste er, wie harmonisch ihre Musik war. Doch es war etwas völlig anderes, sie live zu erleben. Die drei Frauen machten dem Namen ihrer Gruppe alle Ehre, denn auf Koreanisch bedeutete Hana so viel wie Einklang. Die drei Instrumente verschmolzen zu einer Einheit und verzauberten die Zuhörer.

Joshua schloss die Augen und spürte, wie besänftigend die Klänge auf seine aufgewühlte Seele wirkten. Er empfand nichts für Angie Han, noch nicht einmal mehr Wut. All die Verbitterung und der Schmerz, die ihn erfüllt hatten, waren nun kaum mehr als ein leises Echo aus der Vergangenheit. Zwar war es nicht einfach gewesen, aber irgendwann war es ihm gelungen, über Angie hinwegzukommen.

Die Darbietung des Trios war wirklich ein Genuss, und als sie endete, klatschte Joshua genauso begeistert wie die anderen Gästen. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass sein Herzschlag sich beschleunigte, und er fragte sich, was er tun sollte, wenn Angie ihn bemerkte. Im Schutz der ausladenden Topfpflanze beobachtete er das Trio, wie es aufstand und sich vor dem Publikum verneigte. Sein Unbehagen wuchs. Er benahm sich einfach lächerlich. Immerhin war Angie bloß eine Musikerin, er hingegen ein Geldgeber der Chamber Music Society. Wenn sie ihn sah, würde er sie höflich grüßen wie eine entfernte Bekannte, sie schnell wieder vergessen und einfach mit seinem Leben weitermachen. Entschlossen trat er aus dem Schutz der Pflanze hervor und gesellte sich zu den anderen Gästen im Wintergarten.

„Ladies und Gentlemen“, hob Timothy Pearce die Stimme, um die aufgeregten Gespräche mit seiner Rede zu übertönen. Pflichtbewusst schenkte Joshua dem Direktor Gehör.

Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl, dass ihn jemand beobachtete, und verspürte ein merkwürdiges Prickeln. Langsam drehte er den Kopf und sah, wie Angie ihn entsetzt anstarrte. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihr Mund war wie für einem stummen Aufschrei leicht geöffnet.

Als sich ihre Blicke trafen, vermochte Joshua kaum noch zu atmen. Ihm wurde heiß, und unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten, als er sich daran erinnerte, wie unglaublich gut es sich angefühlt hatte, sie zu berühren. Nein. Er weigerte sich, auch nur das Geringste für diese Frau zu empfinden. Einen kleinen Augenblick noch hielt er ihrem Blick stand, bevor er ihr kaum merklich zunickte. Dann sah er weg und konzentrierte sich wieder auf die Rede von Pearce, der gerade sagte: „Sie sind ein Teil der Familie. Vielen Dank.“

Nachdem der neuerliche Applaus des Publikums verklungen war, sah Joshua sich ein weiteres Mal nach Angie um, erhaschte jedoch nur noch einen Blick auf ihren Rücken, als sie den Raum durch die Tür hinaus in den Garten verließ. Zunächst war er enttäuscht, ärgerte sich jedoch gleich darauf. Nein, er bedauerte es nicht, nicht mit ihr gesprochen zu haben. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Und auf den Austausch gezwungener Höflichkeiten konnte er sehr gut verzichten.

Während sich die Gäste auf den Weg ins Esszimmer begaben, machte Joshua Timothy Pearce ausfindig, um ihm einen Scheck zu überreichen. Wie Halabuji gewollt hatte, war er zu dieser Party gekommen und hatte sich die Vorstellung angehört. Seinem Großvater war es bestimmt egal, ob sein Enkel den restlichen Abend bei einem spießigen Abendessen in einem Raum voller fremder Menschen verbrachte oder nicht. Nachdem Joshua sich von dem Direktor verabschiedet hatte, lief er Richtung Eingangsbereich.

„Joshua“, sagte da plötzlich jemand hinter ihm.

Beim Klang seines Namens drehte er sich abrupt um. Zögernd folgte Angie ihm in das Foyer, um schließlich in großem Abstand zu ihm stehen zu bleiben.

„Was willst du?“ Er zuckte zusammen, als er hörte, wie verärgert er klang. Ein todsicheres Zeichen dafür, dass er nicht immun gegen sie war.

„Ich … ich wollte einfach nur Hallo sagen.“ Verlegen spielte sie mit ihren Fingern. „Und wissen, ob du … glücklich bist.“

„Glücklich?“ Verbittert lachte er. „Darauf erwartest du doch nicht wirklich eine Antwort, oder?“

„Es tut mir so leid, Joshua“, beteuerte sie leise.

Bevor er wusste, was er tat, stürmte er auf Angie zu und blieb kurz vor ihr stehen. Plötzlich war er ihr so nah, dass er die Wärme spürte, die ihr Körper ausstrahlte. Betäubt von der betörenden Wirkung, die sie noch immer auf ihn hatte, starrte er sprachlos in ihr Gesicht. Keiner von ihnen bewegte sich, als das Gefühl der Vertrautheit sie umfing wie ein unsichtbarer Schleier. Die Spannung zwischen ihnen wurde immer stärker, während die Zeit stillzustehen schien. Erst das schwache Gelächter, das zu ihnen herüberdrang, riss Joshua aus seinem tranceähnlichen Zustand.

„Du hast kein Recht, mich zu fragen, ob ich glücklich bin. Und deine Entschuldigung kannst du dir ebenfalls sparen“, stieß er heiser hervor und versuchte, das Verlangen zu zügeln, das seinen Körper erfasst hatte. „Dieses Anrecht hast du verloren, als du mich vor zehn Jahren verlassen hast.“

Dennoch brach es ihm beinah das Herz, als er sah, wie eine einzelne Träne über ihre Wange kullerte, und dafür hasste er sie. Er hasste sie dafür, dass er den Wunsch verspürte, diese Träne fortzuwischen und Angie in die Arme zu nehmen. Hasste sie dafür, Hoffnungen in sich aufkeimen zu spüren, die niemals in Erfüllung gehen würden. Dafür, dass er sie wieder begehrte, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick.

Kurz entschlossen machte er kehrt und verließ das Herrenhaus, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Angie war eine Gefahr für ihn. Über sie hinwegzukommen hatte ewig gedauert, und nie wieder würde er sich derart verletzen lassen. Sein Herz war für immer verschlossen. Angie Han bedeutete ihm nichts mehr.

1. KAPITEL

Zwei Monate später

Nach der Probe mit ihren Schwestern beeilte sich Angie, den Parkplatz des Colleges zu erreichen, in dem sie ein Klassenzimmer für ihre Übungszeiten gemietet hatten. Gleich wollte sie sich mit Janet Miller treffen, die nicht nur ihre Mentorin, sondern auch die künstlerische Leiterin der Chamber Music Society war.

Nachdem sie ihren Wagen entriegelt und die hintere Tür geöffnet hatte, verstaute sie das Cello auf der Rückbank, weil der Kofferraum zu klein für das Musikinstrument war. Dabei summte sie leise eine Melodie vor sich hin, die ihr schon seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging und von der sie einfach nicht wusste, woher sie sie kannte. Vielleicht war es ein Lied, das ihre Mutter ihr damals als Kind vorgesungen hatte.

Als sie ausparkte, wuchs ihre Nervosität wegen des bevorstehenden Treffens mit Janet. Seit der Pandemie durchlebte die Chamber Music Society schwierige Zeiten, weil alle Konzerte, Fundraisings und Hauskonzerte für großzügige Spender dem Lockdown zum Opfer gefallen waren. Ohne die großzügige Unterstützung ihrer finanzkräftigen Wohltäter hätten viele der Musizierenden inzwischen kein Dach mehr über dem Kopf. Die neue Saison startete in wenigen Monaten, und Angie hoffte inständig, dass sich die Situation wieder normalisieren würde – was auch immer das heutzutage bedeuten mochte. Doch vielleicht war die Lage ja noch angespannter, als sie ahnte.

„Meine Liebe, wie schön, dich zu sehen!“, begrüßte Janet sie kurz darauf und schloss sie in die Arme.

„Ich freue mich auch.“ Angie erwiderte die Umarmung.

Einige Male in ihrem Leben hatte sie bereits daran gedacht, mit dem Musizieren aufzuhören, weil sie daran zweifelte, talentiert genug zu sein. Doch ihre Mentorin hatte sie stets davon überzeugen können, dass sie ausreichend Talent, Leidenschaft und Motivation besaß, um als Musikerin in der ersten Liga mitspielen zu können. Sie wäre heute nicht da, wo sie war, wenn es Janet nicht gegeben hätte.

„Wollen wir uns ans Fenster setzen?“ Janet führte sie zu der behaglichen Sitzgruppe und setzte sich neben Angie auf das bequeme Polstersofa. „Möchtest du etwas trinken?“

„Nein, vielen Dank“, erwiderte Angie angespannt, denn sie musste unbedingt herausfinden, was der Grund für ihr Gespräch war. „Sag mir einfach, um was es geht.“

Janet seufzte und bestätigte damit Angies schlimmste Befürchtungen, bevor sie überhaupt ein Wort gesagt hatte. „Die finanzielle Lag der Chamber Music Society ist angespannter, als wir befürchtet hatten. Unser Überleben hängt vom wirtschaftlichen Erfolg der nächsten Saison ab. Auf unserer letzten Sitzung hat der Vorstand uns mitgeteilt, dass die Society anderenfalls vor dem Aus steht.“

„Einfach so?“, fragte Angie tonlos.

„Ja. Einfach so.“ Betroffen sah ihre Mentorin auf ihre Hände.

Ihr Zögern ließ Angie vermuten, dass es noch mehr schlechte Neuigkeiten gab. „Und?“

„Und Timothy will, dass du und deine Schwestern euren Vater um Hilfe bittet“, gab Janet schließlich zu.

„Aber … er unterstützt die Society nicht mehr, seit ich den Kontakt zu ihm abgebrochen habe“, erwiderte sie überrascht.

„Das weiß ich doch, und ich hasse es wirklich, dich darum zu bitten, aber ich verstehe, warum Timothy diese Bitte geäußert hat. Jede Spende erhöht die Chance, dass unsere Society überlebt. Euer Vater war einer unserer großzügigsten Förderer.“

Angie sah aus dem Fenster auf die Straßen von Los Angeles, die in das gleißende Licht der heißen Sonne getaucht waren. „Ich muss erst darüber nachdenken“, sagte sie. Obwohl sie die Bitte ihrer Mentorin am liebsten sofort ausgeschlagen hätte, wusste sie, dass sie die Entscheidung in aller Ruhe treffen musste. Hier ging es schließlich nicht nur um sie und die Society, sondern auch um ihre Schwestern und die anderen Musiker, die ebenfalls darunter leiden würden, wenn sie die Unterstützung der Gesellschaft verloren.

„Mehr verlange ich auch gar nicht.“ Janet fasste nach ihrer Hand und drückte sie leicht. „Vielen Dank.“

„Ist doch selbstverständlich. Ich möchte auch meinen Teil dazu beitragen, die Society zu retten.“ Rasch entzog Angie ihrer Freundin die Hand. „Und jetzt lass ich dich weiterarbeiten.“

Niedergeschlagen kehrte Angie zu ihrem Auto zurück. Ganz sicher würde ihr Vater nicht helfen, denn die Society war der Grund für ihre finanzielle und persönliche Unabhängigkeit. Obwohl ihre Schwestern ein besseres Verhältnis zu ihm hatten, würde er sich auch von ihnen nicht umstimmen lassen, wenn er damit indirekt Angie half.

Trotzdem musste sie einen Versuch wagen, oder?

Als sie im Auto saß, zog sie ihr Handy hervor und wählte die Nummer ihres Vaters, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Nach dem vierten Klingeln nahm er den Anruf entgegen.

„Lass mich raten“, sagte er barsch. „Du willst etwas von mir.“

Verärgert umklammerte sie ihr Handy, zwang sich jedoch, ihren Stolz hinunterzuschlucken. „Die Chamber Music Society braucht deine Hilfe.“

„Und warum sollte ich denen helfen?“, erkundigte er sich gelangweilt.

„Umma hat sie unterstützt, als sie noch lebte“, erwiderte sie leise.

Nach längerem Schweigen antwortete er schließlich: „Komm nach Hause, Angie. Ich spende etwas, wenn du deine kindische Revolte beendest und wieder zurückkommst.“

Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Zwar stimmte es, dass sie vor fünf Jahren das letzte Mal mit ihrem Vater gesprochen hatte, doch es war ganz bestimmt kein kindisches Aufbegehren gewesen, das sie dazu getrieben hatte. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass er erneut die Kontrolle über ihr Leben übernahm.

„Mein Zuhause ist nicht mehr bei dir.“ Sie verdrängte die aufsteigenden Tränen. „Ich werde woanders Hilfe für die Society finden. Good bye, Appa“, sagte sie, wobei sie das koreanische Wort für „Vater“ benutzte.

Bedrückt fuhr sie zu ihrem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, das in einem weniger schicken Viertel am Rand von Downtown Los Angeles lag. Trotzdem fühlte sie sich hier mehr zu Hause als in einer noch so prunkvollen Villa. Denn seit sie hier wohnte, fühlte sie sich zum ersten Mal unabhängig.

Fünf lange Jahre hatte ihre Mom gegen den Krebs gekämpft, und Angie war froh, an ihrer Seite gewesen zu sein. Doch seit dem Tod ihrer Mutter hielt sie es nicht mehr bei ihrem dominanten Vater aus, denn seine Gegenwart erinnerte sie unablässig daran, wozu er sie gezwungen hatte. Selbst seine Drohung, ihr jegliche Unterstützung zu entziehen, hatte sie nicht davon abgehalten, sich von ihm zu befreien. Sie wollte sein verdammtes Geld nicht – damals wie heute.

Nachdem sie ihren Wagen in die kleine Parklücke navigiert hatte, betrat sie die Lobby und sah in ihrem Briefkasten nach der Post. Danach fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach oben und ging einen schwach erleuchteten Flur entlang, bis sie endlich ihr Apartment erreichte. Nachdem sie es betreten hatte, fühlte sie sich plötzlich schrecklich müde. Trotzdem verstaute sie noch sorgfältig ihr Cello in ihrer Übungsecke, bevor sie sich auf das Sofa fallen ließ, die Pumps abstreifte und achtlos zur Seite kickte.

„Endlich zu Hause.“ Zufrieden kuschelte sie sich an ein weiches Sofakissen.

Das Gebäude, in dem sie wohnte, mochte zwar alt und etwas heruntergekommen wirken, doch ihre Wohnung hatte sich Angie anheimelnd eingerichtet, ohne viel dafür ausgegeben zu haben. Möglicherweise hatte sie ja ein paar Tisch- und Bodenlampen zu viel gekauft, aber sie liebte den hellen Lichterglanz, in dem ihr kleines Apartment erstrahlte. Zahlreiche bunte Kissen sowie ungewöhnliche Poster an den Wänden rundeten die behagliche Atmosphäre ab.

Doch schon bald verblasste ihr Lächeln. Der stille Frieden ihres sorgfältig geplanten Lebens war mit einem Mal in Gefahr geraten – durch die ungewisse Zukunft der Chamber Music Society und einen Geist aus der Vergangenheit. Unwillkürlich musste sie an den Abend des Dinners bei den Neimans denken und schloss die Augen, als sie sich an Joshuas Wut erinnerte. Selbst zwei Monate später noch tat es ihr unendlich weh, ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu sehen. Joshua hasste sie.

Bisher war es ihr gelungen, sich davon zu überzeugen, vergessen zu haben, wie sie damals ihr und Joshuas Herz gebrochen hatte. Doch die Begegnung nach all den Jahren hatte genügt, den Damm zum Einstürzen zu bringen, der ihre Gefühle bislang im Zaum gehalten hatte. Nur so war es ihr gelungen, ohne Joshua weiterzuleben. Jetzt allerdings …

Nein, sie empfand lediglich Bedauern, wenn sie an das dachte, was hätte sein können, mehr nicht. Sie durfte ihn nicht mehr begehren, schließlich hasste er sie. Nie wieder würde etwas zwischen ihnen sein. Diese Chance hatte sie vor zehn Jahren ein für alle Mal vertan. Ungeduldig wischte sie die Tränen von ihren Wangen und atmete zittrig ein. Ihr blieb keine Zeit, der Vergangenheit nachzutrauern, wenn die Gegenwart ihre volle Aufmerksamkeit erforderte.

Ihr Vater würde der Society nur helfen, wenn sie, Angie, auf seine Forderungen einging, doch sie würde ihre hart erarbeitete Unabhängigkeit nicht wieder aufgeben. Außerdem würde seine Spende allein kaum ausreichen, um die Society zu retten. Was sollte sie also tun? Seufzend setzte sie sich auf. „Alexa, spiel Klassikradio.“

Heute Abend brauchte sie einfach klassische Musik und eine Tasse guten Tees. Nachdem sie kurz in die Küche gegangen und sich einen Tee aufgebrüht hatte, nahm sie erneut auf dem Sofa Platz und ließ sich von den sanften Musikklängen einhüllen.

Das neue Stück eines Komponisten, den man lediglich unter den Initialen A. S. kannte, erklang in ihrem Wohnzimmer. Vor einigen Jahren war er praktisch über Nacht zum Shootingstar der klassischen Musikszene avanciert. Seine Kompositionen waren Meisterwerke, und seine geheimnisvolle Identität trug ein Übriges dazu bei, seine Berühmtheit zu steigern. Was sie von ihm im Radio hörte, gefiel Angie eigentlich immer.

Plötzlich presste sie die Finger auf die Lippen und richtete sich auf. „Das kann doch nicht sein“, flüsterte sie ungläubig. Eben gerade hatte sie für einen kurzen Moment die Melodie gehört, die sie schon seit Monaten vor sich hin summte. Doch wie konnte das sein, wenn sie dieses neue Stück heute zum ersten Mal hörte?

Rasch lud sie den Titel auf ihre Playlist herunter und spulte hastig zu der Stelle, die ihr eben so bekannt vorgekommen war. Immer und immer wieder hörte sie sich diesen kurzen Melodieausschnitt an und seufzte ungläubig.

Vielleicht lag es daran, dass sie nach all den Jahren Joshua wiederbegegnet war. Vielleicht aber auch an den längst vergessen geglaubten Erinnerungen, die wieder in ihr wach wurden. Endlich wusste sie, woher sie diese Melodie kannte. Sie war von ihm. Es war das Stück gewesen, das er ihr im College vorgespielt hatte, nachdem er gestanden hatte, dass er ein Cellokonzert für sie schrieb. Es war ihre Melodie.

Sie hatte ein Geheimnis aufgedeckt, das sie unweigerlich mit Joshua verband. Denn genau diese Melodie, die sie jetzt über ihre Lautsprecher hörte, hatte er damals für sie gespielt. Er also war der geniale Komponist dieser anonymen Werke. Er war A. S.

Und ich weiß es, dachte sie und sprang vom Sofa auf.

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Jetzt hatte sie eine Idee, wie sie die Chamber Music Society retten konnte, und wusste, dass Joshua Shin sie dafür hassen würde. Doch das musste sie nicht kümmern, oder? Schließlich konnte er sie schlecht noch mehr verabscheuen, als er es ohnehin schon tat.

Joshua drehte seinen Bürostuhl herum und sah aus dem Fenster, wobei er die grandiose Aussicht auf Downtown Los Angeles aus dem achtundvierzigsten Stockwerk, in dem sich sein Büro befand, kaum wahrnahm. Seufzend strich er sich durch das Haar.

Zahlreiche Berichte und Angebote warteten darauf, dass er sich um sie kümmerte, doch er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Seit zwei Monaten hatte er keine Nacht mehr durchgeschlafen, und auch in der vergangenen Nacht war es nicht anders gewesen. Er hatte unruhig geträumt und wusste nicht einmal, ob es Träume oder Erinnerungen gewesen waren. Zwar hatte er vergessen, was genau er im Traum erlebt hatte, aber er war sicher, dass Angie Han eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Lediglich ein kurzer Moment mit ihr – es waren bestimmt nicht mehr als fünf Minuten gewesen – hatte genügt, dass er seither unentwegt an sie dachte. Verdammt noch mal. Wie konnte er nur zulassen, dass sie nach all diesen Jahren immer noch so viel Macht über ihn hatte? Nein, das durfte er nicht. Sie hatte schon viel zu viel von ihm genommen. Sechs Jahre seines Lebens hatte er ihretwegen nicht mehr komponieren können. Etwas in ihm war zerbrochen, weil er den Schmerz der Trennung kaum hatte ertragen können, und er würde ihr nicht eine weitere Sekunde seines Lebens widmen.

Autor

Jayci Lee
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