Historical Collection Band 8

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DIE UNANSTÄNDIGE DUCHESS von MCCABE, AMANDA
Melisande will endlich frei sein von den Fesseln der Gesellschaft. Ein Skandal soll ihr helfen, London für immer zu verlassen! Doch dann trifft sie den faszinierenden Lord Sanbourne …

NIMM MICH, MEIN WILDER HIGHLANDER! von WILLINGHAM, MICHELLE
Der verwundete Highlander berührt ihr Herz, deshalb verhilft Lady Alys ihm zur Flucht. Vielleicht kann der geheimnisvolle Fremde sich revanchieren, indem er ihre Sehnsucht nach leidenschaftlichen Stunden stillt?

LÜSTERNES VERLANGEN EINER LADY von MERRILL, CHRISTINE
Ist eine arrangierte Ehe wirklich ihr Schicksal? Die verwitwete Emma glaubt, sie kann ihrem Verhängnis nicht entgehen. Dann trifft sie den glutäugigen Zigeuner Chal - und ihr Verlangen erwacht!

VERZEHRENDE LEIDENSCHAFT EINES SKLAVEN von GILBERT, GRETA
Rom, 80 n. Chr. Die junge Clodia ist verzweifelt. Sie ist ihrem Sklaven Altair verfallen, deshalb soll er in der Arena sterben! Kann sie ihren Geliebten vor dem Tode bewahren?

WIE VERFÜHRT MAN EINEN WÜSTLING? von HALE, DEBORAH
Er ist Genias letzte Chance auf eine heiße Affäre - doch der berüchtigte Lebemann Blade Maxwell scheint immun gegen ihren Charme. Wird es ihr trotzdem gelingen, ihn zur Sünde zu verführen?


  • Erscheinungstag 17.03.2017
  • Bandnummer 0008
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768645
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Michelle Willingham, Christine Merrill, Greta Gilbert, Deborah Hale

HISTORICAL COLLECTION BAND 8

AMANDA MCCABE

Die unanständige Duchess

Seit er sie das erste Mal sah, ist Lord Sanbourne hingerissen von der bezaubernden Melisande. Doch die verführerische Duchess hat noch andere Verehrer. Kann er sie trotzdem für sich gewinnen?

MICHELLE WILLINGHAM

Nimm mich, mein wilder Highlander!

Warum verhilft die schöne Burgherrin Alys ihm zur Flucht? Weiß sie nicht, dass Highlander Finian ihren Gatten töten muss, um seinen Clan zu rächen?

CHRISTINE MERRILL

Lüsternes Verlangen einer Lady

Die junge Lady Emma erweckt in Zigeuner Chal nie gekanntes Begehren. Plötzlich will er nur noch eines: diese leidenschaftliche Frau besitzen!

GRETA GILBERT

Verzehrende Leidenschaft eines Sklaven

Sklave Artair sehnt sich nach Freiheit – und nach seiner Herrin Clodia. Doch ihre Lust bringt sie beide in große Gefahr …

DEBORAH HALE

Wie verführt man einen Wüstling?

Vor der Ehe will Blade Maxwell eine letzte Affäre. Auf der Überfahrt nach England erweckt die feurige Genia sein Verlangen …

1. KAPITEL

Um Himmels Willen, Melisande! Warum hörst du eigentlich nie auf mich? Wann fängst du endlich an, dich um deine Familie zu sorgen und nicht nur um dich selbst?“

Melisande, die verwitwete Duchess of Gifford, – die es nebenbeibemerkt ein wenig befremdlich fand, im Alter von dreiunddreißig Jahren bereits Witwe zu sein –, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und beobachtete ihren Bruder Charles, seines Zeichens Lord Litton, der aufgebracht durch ihren Salon marschierte. Dabei gestikulierte er wütend mit den Händen und verfehlte lediglich um Haaresbreite eine kostbare chinesische Vase. Achtlos schob er einen vergoldeten französischen Stuhl beiseite. Da Charles ein großer muskulöser Mann war, der zur Jagd ritt, wann immer er Gelegenheit dazu hatte, versetzte er dem Stuhl versehentlich einen solch kräftigen Stoß, dass dieser auf den erlesenen Teppich fiel. Melisande seufzte. Sie wusste, sie hätte die zerbrechlichen Einrichtungsstücke in Sicherheit bringen sollen, sobald ihr Bruder seinen Besuch angekündigt hatte, doch dafür hatte sie nicht genügend Kraft aufbringen können. Am Abend zuvor war sie lange aus gewesen – erst im Theater, dann auf einem Ball – und verspürte daher heute Morgen einen überaus lästigen Kopfschmerz in den Schläfen.

Charles trug nicht gerade dazu bei, ihr Befinden zu bessern. Seine beständige Unruhe und die Vorwürfe, die er nicht zum ersten Mal gegen sie erhob, verursachten ein leichtes Schwindelgefühl bei ihr.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Charlie“, sagte sie ruhig. „Und was treibt dich zu solch früher Stunde in mein Haus? Gehst du um diese Zeit nicht für gewöhnlich mit Louise und den Kindern spazieren?“

Charles wirbelte herum und stapfte wieder auf sie zu. „So früh ist es ganz bestimmt nicht mehr – was du wüsstest, wenn du vergangene Nacht zu einer anständigen Zeit heimgekehrt wärst.“

„Ich bin nicht später nach Hause gekommen, als es bei dem Großteil der Londoner Gesellschaft üblich ist“, erwiderte sie, schließlich hatte sie kurz vor Sonnenaufgang ihr Haus wieder betreten. „Und woher weißt du überhaupt, wie lange ich fort gewesen bin? Schließlich ist es schon viele Jahre her, dass wir unter demselben Dach gelebt haben.“ Genau genommen hatten sie das seit ihrem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr getan, seit Melisande den Duke geheiratet hatte, der wesentlich älter als sie war und bereits erwachsene Kinder hatte. Ein Opfer, das sie für das Wohl ihrer eigenen Familie erbringen musste.

„Das weiß ich, weil die Leute darüber reden, wie unziemlich du dich gestern Abend auf dem Ball der Trates aufgeführt hast!“, rief Charles.

Unwillkürlich zuckte sie zusammen und schloss die Augen, „Man sagt, du hättest gemeinsam mit Lady Trate und Mrs. Whitely barfuß auf dem Gras getanzt – trotz des entsetzlich kalten Wetters. Und all diese Frivolität, weil ihr vorgabt, die Drei Grazien oder etwas ähnlich Unsinniges zu sein.“

Die leicht verschwommene Erinnerung an den gestrigen Abend brachte Melisande unwillkürlich zum Lachen. In Lady Trates Garten war es in der Tat furchtbar kalt gewesen, aber das hatte niemanden gestört. „Oh, ja, und Freddy Mountbank hat darauf bestanden, den Gott Paris zu spielen. Aber er war zu betrunken, um sich an seine Rolle in dem Mythos zu erinnern. Er sollte das Urteil darüber fällen, welche der drei Grazien die Schönste sei. Bevor er jedoch dazu kam, ist er in den Brunnen gefallen. Glücklicherweise war der zugefroren. Was für ein Spaß!“

„Das ist kein Spaß, sondern schlichtweg empörend! Lord Milton höchstpersönlich hat mich heute Morgen darauf angesprochen, als ich ihm zufällig im Park begegnet bin. Louise ist heute Nachmittag mit seiner Gattin zum Tee verabredet. Dieser Mann ist sehr einflussreich und könnte mir den ein oder anderen Vorteil verschaffen, wenn ich ihn nicht vor den Kopf stoße.“

Beinahe hätte Melisande laut gelacht. Sie biss sich auf die Lippen und beobachtete, wie sich ihr Bruder schwerfällig in den großen Sessel gegenüber von ihr sinken ließ.

„Dein Gesicht hat bereits eine besorgniserregend rote Färbung angenommen, Charlie. Bist du sicher, dass es dir gut geht? Möchtest du vielleicht einen Schluck Wein?“

„Nein, ich möchte keinen Wein!“, erwiderte Charles ungehalten, bevor er sich seufzend über das Kinn strich. „Melisande, verstehst du denn nicht, was du tust? Ich möchte in der Politik erfolgreich sein, aber dafür ist ein ehrenwerter Ruf unerlässlich.“

Auch das hatte Melisande schon einige Male von ihrem Bruder zu hören bekommen. „Und wem hast du die Kontakte zu verdanken, die dir eine politische Laufbahn überhaupt ermöglichen? Wer hat denn das Vermögen unserer Familie gerettet? Mein Mann – und niemand sonst. Ich habe den Duke geheiratet, um uns alle vor dem Ruin zu bewahren. Allein aus diesem Grund haben unsere Schwestern so gute Partien gemacht – und nur deswegen kannst du überhaupt daran denken, politische Ziele zu verfolgen.“

Selbst Monate nach dem Tod des Duke erschauderte sie bei dem Gedanken daran, wie sich seine Hände auf ihrem Körper angefühlt hatten. Lediglich auf Bällen und in der Gesellschaft von Freunden gelang es ihr, diese Erinnerungen abzuschütteln – doch selbst die frohe Zerstreuung solcher Anlässe konnte die Gedanken nie vollends verdrängen.

„Ich weiß, Melisande, und dafür bin ich dir ewig dankbar“, sagte Charles. „Aber die Dinge haben sich nun einmal geändert. Du bist Witwe, und ich stehe am Anfang einer politischen Karriere. Unsere Schwestern und ihre Familien haben sich auf dem Land eingerichtet. Louise und ich wären überglücklich, wenn du unser Anwesen für eine Weile als dein Zuhause betrachten würdest.“

„Diesen Vorschlag hast du mir bereits unterbreitet“, entgegnete Melisande und fühlte sich mit einem Mal so müde wie Charles aussah. Sie wusste genau, wie man sie in seinem Haus aufnehmen würde – wie einen unwillkommenen Gast, über dessen Schritt und Tritt mit Argusaugen gewacht wurde. Selbst auf ihrem eigenen Anwesen hatte sie dieses Gefühl ständig begleitet. Erst mit dem Tod des Dukes konnte sie das Haus als ihre eigenes betrachten. Allerdings besaß sie immer noch nicht die ersehnte Freiheit, zu tun, was sie wollte. „Auf gar keinen Fall kann ich mich euch aufdrängen – ihr braucht die Zimmer für die Kinder.“

„Melisande, es ist doch offensichtlich, dass du unsere Hilfe nötig hast. Lass uns dir bitte helfen.“

„Versuche nicht, mich ans Gängelband zu legen, Charlie“, widersprach sie. „Du solltest nicht vergessen, dass ich älter bin als du.“

„Aber du bist eine Frau.“

„Danke, dass du mich darauf hinweist, Charlie. Das ist mir bisher nun wirklich nicht aufgefallen.“

Er schüttelte den Kopf, und sein Gesicht verfärbte sich abermals rot. „Du weißt genau, was ich meine. Du brauchst Hilfe dabei, wieder Ordnung in dein Leben zu bringen. Seit dem Tod des Duke bist du nicht mehr zu bändigen – das muss ein Ende haben.“

„Es gibt nichts, womit ich mir ansonsten die Zeit vertreiben könnte.“

„Genau“, entgegnete Charles zu ihrer Verwirrung und wirkte mit einem Mal so zufrieden mit sich selbst, als hätte Melisande ihn bekräftigt, anstatt ihm zu widersprechen. „Du vertreibst sie dir, indem du den Ruf unserer Familie ruinierst. Das muss endlich ein Ende haben. Du darfst nicht immer nur an dich selbst denken.“

Melisande hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, an alle anderen, jedoch nie an sich selbst zu denken. An ihre Familie, an Gifford und an dessen Familie – die sie zum Dank mit Missachtung strafte und nichts für sie übrig hatte außer zynischen Bemerkungen über die Höhe von Melisandes Erbteil.

„Ich werde über deinen Rat nachdenken, Charlie“, erwiderte sie, wie sie es immer tat.

„Ziehst du es auch in Erwägung, bei uns zu wohnen?“

So weit – das wusste Melisande ganz genau –, würde es niemals kommen. Trotzdem nickte sie, da sie keine Lust verspürte, den ganzen Tag mit ihrem Bruder herumzustreiten. Kurz darauf brach Charles auf – und sie winkte ihm zum Abschied vom Fenster aus, um sicherzugehen, dass er wirklich fort war.

Nachdenklich betrachtete sie die Passanten, die vor ihrem Fenster durch die Straßen liefen. Draußen war es grau und ebenso kalt wie schon in den letzten Tagen – ein Wetter, das hervorragend zu ihrer Stimmung passte. Unablässig fiel kalter Regen vom Himmel und ließ die Leute frösteln, die an Melisandes Stadthaus vorübereilten. Der Wind hatte aufgefrischt und kündigte noch unerfreulicheres Wetter an.

Inständig hoffte sie, dass der fürchterliche Regen das Fest der Brownleys nicht gefährden würde, das in ein paar Tagen stattfinden sollte. Schon lange freute sie sich auf die Gelegenheit, London den Rücken kehren zu können.

Melisande zog den Kaschmirschal enger um die Schultern und ging die Treppe hinauf zu ihrem Schlafgemach. Wie immer nach Charles’ Besuchen spürte sie eine quälende Rastlosigkeit. Die Worte ihres Bruders führten ihr jedes Mal erneut vor Augen, dass sie den Ansprüchen ihrer Familie niemals genügen würde.

In ihrem luxuriösen Gemach, dessen Möbel und Wände mit feinstem blauen und weißen Satin verkleidet waren, eilte die Zofe geschäftig auf und ab. Sie legte das Kleid zurecht, das Melisande am heutigen Abend auf dem Ball der Smythes tragen wollte. Doch Melisande schickte das Mädchen hinaus. Sie musste allein sein, um in Ruhe nachdenken zu können. Rastlos wanderte sie im Zimmer auf und ab, spielte mit den silbernen Ornamenten ihrer Frisierkommode, strich über den seidigen Stoff des Ballkleids und versuchte, ihre ungebändigten roten Locken wieder zu richten, während sie über das nachdachte, was ihr Bruder gesagt hatte. Der Kern ihres Streits bestand schon seit vielen Jahren. Melisande war jeder Auseinandersetzung solange sie konnte aus dem Weg gegangen, doch sie wusste, dass sie Charles schon bald nicht mehr würde ignorieren können.

Sie setzte sich auf einen Samtsessel vor dem Kamin und griff nach einem Stapel Bücher, die sie sich aus der Bibliothek geliehen hatte. Ihre Vorliebe für romantische Geschichten mit düsteren Helden und jungen Damen in Gefahr war eines ihrer großen Geheimnisse. Wenn sie las, stellte sie sich vor, selbst an einem der exotischen Orte zu leben – auf sonnigen Inseln, in italienischen Schlössern, geheimnisvollen Wüsten oder verschneiten Bergen. Überall wünschte sie zu sein, überall – nur nicht in London. Doch heute vermochten selbst ihre geliebten Romane nicht, sie auf eine Reise in die Fantasie mitzunehmen.

Nachdenklich schaute sie den Flammen zu, die im Kamin auf und ab tanzten. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, den Wünschen ihrer Familie zu entsprechen und sich mit dem Gedanken getröstet, dass sie eines Tages finden würde, was sie selbst glücklich machte. Doch auch jetzt als Witwe stand es ihr nicht frei, zu tun, was ihr Herz begehrte – es sei denn, sie befreite sich selbst aus der Misere. Aber wie nur? Seufzend öffnete sie das oberste Buch. Lady Priscillas Flucht – ein verheißungsvoller Titel. Schon bald tauchte sie vollkommen ein in die Geschichte um Lady Priscilla, einer jungen, schönen Erbin, die von ihrem niederträchtigen Vormund hintergangen wurde, und deren Name schließlich so sehr Schande genommen hatte, dass sie ins Exil nach Italien fliehen musste.

Vor der gesellschaftlichen Schande ins Exil fliehen …

Plötzlich hatte Melisande eine Eingebung. Das Buch fiel ihr aus der Hand und schlug mit einem lauten Knall auf dem Dielenboden auf. Es war ein verrückter Einfall, das wusste sie, aber bestimmt nicht ungewöhnlicher als manch andere Idee, die sie in ihrem Leben schon gehabt hatte. Es musste endlich etwas passieren, wenn sie irgendwann einmal selbstbestimmt sein wollte – und auch ihrem Bruder und seiner Familie wäre Melisande als freie Frau keine Last mehr. Im Augenblick redete man hinter ihrem Rücken über sie, aber auch nicht mehr, als über andere Damen aus den vornehmen Kreisen. Doch wenn sie ihren Ruf vollends ruinierte – so endgültig, dass man in der feinen Gesellschaft noch nicht einmal mehr wagte, ihren Namen zu nennen? Das zu erreichen, wäre gar nicht so einfach für eine Duchess. In der Tat eine große Herausforderung, aber nicht unmöglich.

Jedermann dachte bereits, dass sie einige heimliche Affären führte, denn schließlich war allseits bekannt, wie sehr sie es liebte zu tanzen, zu lachen und Wein zu trinken. Doch das Gerede der Leute entsprach nicht annähernd der Wahrheit. Um ehrlich zu sein, verlief die einzige kleine Liaison, die sie sich nach dem Tod des Duke gegönnt hatte, überhaupt nicht glücklich. Und ihre anderen Bekanntschaften waren nie über kleine Flirtereien hinausgegangen. Wenn sie ihr Ansehen voll und ganz in den Schmutz ziehen wollte, wusste sie nur zu gut, wer ihr dabei helfen könnte. Lord Abercrombie.

Als sie an ihn dachte, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. Lord Abercrombie, ein schottischer Adeliger, der beinahe so alt war wie ihr verstorbener Ehemann, machte ihr bereits seit mehreren Wochen Avancen. Er sandte ihr Blumen und kleine Geschenke, die Melisande wieder zurückschicken ließ, lud sie auf Bälle ein und bat sie, mit ihm in seiner privaten Theaterloge zu speisen. Er war gut aussehend und wohlhabend, ein Mann mit hervorragenden Kontakten und einem messerscharfen Verstand. Die Damen umschwärmten ihn und wetteiferten lautstark um seine Aufmerksamkeit. Stets tuschelte man über sein neuestes Tête-à-Tête – von Lady Evansly sagte man sogar, sie hätte versucht, sich wegen ihm das Leben zu nehmen und wäre deshalb so überstürzt ins Ausland aufgebrochen.

Melisande hatte alle seine kleinen Aufmerksamkeiten abgewiesen, doch das schien seinen Jagdtrieb nur noch stärker geweckt zu haben. Irgendetwas an diesem Mann bereitete ihr Unbehagen, aber er wäre der perfekte Anwärter, um ihren Ruf ein für alle Mal zu ruinieren. Dann würde sie wie Lady Evansly nach Italien gehen und dort endlich in Frieden leben. Charles könnte sie dann enteignen und müsste ihr nie wieder vor die Augen treten.

Lord Abercrombie hatte bereits verkündet, dass er auf Lady Brownleys Fest sein würde. Melisande könnte alles genau planen und dort in die Tat umsetzen. Sicher war es eine extreme Lösung, aber sie befand sich auch in einer extrem verzweifelten Lage – und wie sagte man? Der Zweck heiligte die Mittel – wenn sie es nur durchhalten würde, diese Mittel bis zum Äußersten zu gebrauchen.

2. KAPITEL

Bist du sicher, dass es dir gut geht, Mel? Du wirkst so entsetzlich gedankenverloren.“

Melisande wandte sich vom Fenster der Kutsche ab und sah ihre Freundin Cassandra lächelnd an. Cassandra und ihr Gatte Ian saßen ihr Hand in Hand gegenüber und betrachteten Melisande mit der gleichen besorgten Miene. War ihre Unruhe wirklich so offensichtlich? Sie gab sich stets alle Mühe, ihre wahren Gedanken zu verbergen. Doch jetzt wollte es partout nicht klappen, und es fiel ihr schwer, ruhig und gelassen zu bleiben. Unentwegt musste sie an ihren verwegenen Plan denken.

„Mel?“, erkundigte Cassandra sich ein weiteres Mal. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Melisande lachte etwas gezwungen. „Es geht mir gut, wirklich. Ich freue mich schon sehr auf das Fest heute Abend. Lady Smythes Feiern sind immer so vergnüglich.“

„Trotzdem wirkst du gerade etwas melancholisch“, stellte ihre Freundin fest.

„Das liegt bestimmt am Wetter“, erwiderte Melisande. „Es ist so furchtbar kalt, und es scheint mir fast, als ob in London niemals wieder die Sonne scheinen würde. Ich glaube, ich brauche ganz dringend einen langen Urlaub an einem warmen Ort. Das ist alles.“

Cassandra und Ian tauschten einen kurzen besorgten Blick aus und verstanden sich offenbar – wie immer – wortlos. Melisande freute sich darüber, dass die beiden die wahre Liebe gefunden hatten. Das tat sie wirklich. Schon lange vor ihrer Hochzeit hatten sich Cassandra und Ian nach einander gesehnt. Doch immer, wenn Melisande nun Zeit mit ihren Freunden verbrachte, wurde sie wehmütig. Wenn ihr eigener Ruf erst einmal ruiniert war, dann mochte sie vielleicht frei sein, doch welcher Mann würde eine gefallene Frau jemals aufrichtig lieben können?

„Sagt doch, meine Lieben“, fragte sie leichthin. „Werdet ihr nächste Woche zum Fest der Brownleys fahren? Es wird bestimmt ganz wunderbar.“

Ihre Freunde planten keinen Besuch bei den Brownleys, gaben sich aber glücklicherweise mit dem abrupten Wechsel des Gesprächsthemas zufrieden. Schon bald hielt die Kutsche vor der Veranda von Lady Smythes Veranda. Das imposante Haus aus grauem Stein wirkte in der verschneiten Mondnacht wie ein Märchenschloss. Goldener Lichtschein drang durch die großen Fenster nach draußen, begleitet von Gelächter und heiterer Musik.

Melisande reichte einem der Diener ihren pelzverbrämten Mantel, strich die Röcke ihres grünen Seidenkleids glatt und schritt die prachtvolle Wendeltreppe hinauf in den Ballsaal. Dicht auf den Fuß folgten ihr Cassandra und Ian, die leise miteinander tuschelten. Melisande hoffte nur, dass die beiden nicht über sie sprachen. Um keinen Preis durfte ihr Plan aufgedeckt werden, bevor es kein Zurück mehr gab.

Als sie zusammen mit einer kleinen Traube an Ballgästen den Saal betrat, war sie froh über die wohlbekannte Ablenkung, die eine Festgesellschaft mit sich brachte. Lady Smythes Feiern strahlten stets mit den exiquisitesten Arrangements, und auch heute Abend funkelte das ganze Anwesen vor Prunk und Grandeur. Der Saal glich einem verzauberten Wintermärchenland. In großen Alabastervasen prangten herrliche weiße Rosen aus dem Gewächshaus und kristallverzierte Straußenfedern. Wohin man schaute, leuchtete alles in Weiß und Silber – eine dekorative Hommage an das strahlende Mondlicht.

Noch einmal sah Cassandra sich besorgt zu ihrer Freundin um, bevor Ian sie auf die Tanzfläche geleitete. Melisande nahm ein Glas Champagner von dem Tablett, das ihr ein Diener anbot, und hob es mit einem stillen Toast auf das glückliche Paar lächelnd hoch. Ehe sie sich versah, wurde sie von einer Gruppe lachender Bekannter umringt, die ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und sie von ihren trübsinnigen Gedanken ablenkten.

Von Lord Abercrombie gab es bisher keine Spur, aber das kam Melisande sehr entgegen. Sie benötigte Zeit, um ihr Vorhaben bis in alle Feinheiten auszuarbeiten. Immerhin hing ihre Zukunft von dem Gelingen ab.

„Euer Gnaden! Ich freue mich, dass Sie zu meiner bescheidenen Abendgesellschaft erschienen sind“, vernahm sie die Stimme ihrer Gastgeberin. Als Melisande sich umdrehte, sah sie Lady Smythe vor sich stehen, die sie strahlend anlächelte und mit einem weißen Federfächer auf die Dame neben sich wies. „Sicher erinnern Sie sich noch an Lady Sanbourne. Sie hat soeben Ihr wundervolles Kleid bewundert.“

„Selbstverständlich erinnere ich mich“, erwiderte Melisande und lächelte Lady Sanbourne zu. Sie war sich sicher, dass die Countess, die seit Melisandes Heirat mit Gifford zu ihrem entfernten Bekanntenkreis zählte, ganz gewiss nichts an ihr bewundert hatte. Die Sanbournes waren überaus angesehen und für ihren hohen moralischen Anspruch bekannt. Das einzige schwarze Schaf der Familie war ein jüngerer Sohn, der angeblich in einen geheimnisvollen Skandal verwickelt gewesen war. Lady Sanbournes abfällig gespitzte Lippen zeigten nur zu deutlich, dass die Countess noch immer keine besonders respektable Meinung von Melisande unterhielt. Für Leute wie sie würde die Duchess of Gifford immer eine fragwürdige Person bleiben – besonders dann, wenn sie ihren Ruf ein für alle Mal ruiniert hatte. Dann würden die Sanbournes und Ihresgleichen nicht einmal mehr mit ihr sprechen.

Rasch biss sie sich auf die Lippen, um ein erfreutes Lächeln zu verbergen, das sie bei dem Gedanken verspürte „Wie überaus reizend, Sie wiederzusehen, Lady Sanbourne“, sagte sie. „Bestimmt haben Sie eine Weile außerhalb der Stadt verbracht?“

„So ist es in der Tat, Duchess“, antwortete Lady Sanbourne. „Auf unserem Anwesen mussten selbstverständlich auch einige Angelegenheiten geregelt werden, aber wir sind nun wieder in der Stadt, um unseren jüngeren Sohn willkommen zu heißen, der gerade erst aus Westindien nach England zurückgekehrt ist.“

Ah, natürlich, der verlorene Sohn. „Faszinierend“, sagte Melisande, die sich nicht daran erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein – und trotzdem beneidete sie ihn. Er konnte nach Westindien fliehen, ohne sich Gedanken über seine Zukunft machen zu müssen.

„Oh, ja“, erwiderte Lady Sanbourne und runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber er kann sich Ihnen selbst vorstellen. Ich habe ihn dazu überredet, mich heute Abend zu begleiten.“ Sie deutete hinter sich, und Melisande bereitete sich darauf vor, höflich zu lächeln. Schon häufiger hatte sie die Erfahrung gemacht, dass jüngere Söhne aus gutem Hause einer Gattung angehörten, der man besser aus dem Weg ging. Sie liebten es zu tanzen, zu flirten und leichtsinnige Heiratsanträge zu verteilen, wenn sie nichts Besseres vorhatten. Oder sie begaben sich auf Reisen, wie es dieser Mann offenbar getan hatte. Schwach erinnerte sie sich an Gerüchte über den jungen Sanbourne, die in den gehobenen Kreisen ihre Runde machten, als ihre Stieftochter noch Debütantin gewesen war. Angeblich unterschieden sich seine Werte sehr von denen seiner respektablen Eltern, und er sorgte für den ein oder anderen Skandal in der Stadt, bis er plötzlich verschwand. Offenbar in die Tropen, wohin jüngere Söhne reicher Familien eben entfliehen, nachdem sie in der feinen Gesellschaft zu viel Staub aufgewirbelt hatten.

Doch ihr Lächeln erstarb, als sie den Mann erblickte, der sich einen Weg zwischen den Ballgästen bahnte. Er wirkte gar nicht wie einer der verwegenen jüngeren Söhne, die Melisande bisher zu Gesicht bekommen hatte. So einem Mann war sie in ihrem Leben noch nie begegnet.

Er war groß und schlank – aber nicht dünn und schwächlich. Unter seinem maßgeschneiderten dunkelblauen Frackrock und der silberfarbenen Brokatweste erkannte man deutlich einen muskulösen Körper. Das dunkle Haar hatte er sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt, doch eine einzige widerspenstige Strähne schien darauf zu bestehen, immer wieder über seine Brauen zu fallen und zog dabei den Blick auf die strahlend blauen Augen und die hohen, markanten Wangenknochen des Fremden. Seine Augen funkelten wach und aufmerksam, ganz so als ob er alles um sich herum wahrnehmen würde. Und vor allem … Melisande. Während er näherkam, sah er sie unverwandt an, und sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm abzuwenden. Mit einem Mal kam sie sich furchtbar töricht vor, wie ein albernes Schulmädchen, das beim Anblick des ersten gut aussehenden Mannes in ihrem Leben verlegen kichern musste. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren, denn etwas in seinem Blick hatte sie in den Bann gezogen und ließ sie nicht wieder los.

Was ist bloß los mit mir? überlegte sie fieberhaft und umklammerte den Champagnerkelch so fest, dass ihre Hand zu schmerzen begann.

„Duchess, darf ich meinen Sohn vorstellen? Lord Grayson Sanbourne“, sagte die Countess, als der Mann an ihre Seite getreten war. Sie umfasste seinen Arm, und er lächelte ihr kurz zu, aber sein Blick ruhte sofort wieder auf Melisande. „Grayson, das ist die Herzoginnenwitwe, die Dowager Duchess of Gifford. Ihre Gnaden hat vorhin ihr Interesse an Westindien bekundet, mein Lieber.“

„Das ist zu freundlich von der Countess“, entgegnete er geheimnisvoll lächelnd, und sie hatte das Gefühl, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Als sie sein Lächeln erwiderte, wünschte sie sich, ebenfalls zu wissen, was er dachte. Aber das charmante Lächeln dieses schönen Mannes gab nichts preis, das Melisande hätte deuten können.

„Vielleicht können wir uns nachher während eines Tanzes über meine Reisen unterhalten, Euer Gnaden“, schlug er vor.

Ein Tanz? Mit ihm? Melisande wusste nur zu gut, dass sie sein verlockendes Angebot besser ausschlagen sollte. Auf der anderen Seite wurde ihr bewusst, wie lächerlich das war – immerhin beabsichtigte sie, ihren Ruf zu ruinieren. Doch Grayson Sanbourne war einfach nicht mit Lord Abercrombie zu vergleichen. Von letzterem wusste sie genau, was er erwartete und was sie im Gegenzug dafür von ihm erhalten würde. Ein leichtes Lächeln dieses Mannes hingegen genügte, um ihre Welt aus den Angeln zu heben.

Was ziemlich gefährlich war – besonders zum jetzigen Zeitpunkt.

„Vielen Dank, Lord Grayson“, erwiderte sie. „Aber eigentlich habe ich nicht die Absicht, heute Abend zu tanzen.“

„Und du hast bereits Lady Branchs Tochter einen Tanz versprochen, mein Lieber“, sagte Lady Sanbourne rasch. „Vergiss das nicht. Am besten, wir halten gleich nach ihr Ausschau …“

Die Sanbournes wandten sich um, und Melisande war befreit von dem Zauber, das dem Lächeln Lord Graysons innezuwohnen schien. Augenblicklich spürte sie, wie ihre Schultern nach unten sanken, und ihre Heiterkeit erlosch. Was um alles auf der Welt war soeben geschehen?

Melisande. Was für ein exotischer Name für so eine faszinierende Frau …

Grayson nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und starrte in den dunklen, kalten Garten. Er hatte sich hier draußen auf der Terrasse vor seiner Mutter und ihren „geeigneten“ Debütantinnen versteckt. Dieser eine Moment der Ruhe kam ihm gerade recht, um tief durchzuatmen und über sie nachzudenken. Die Duchess. Sie war das Erste, was ihn seit seiner Rückkehr nach England zu bezaubern und seine innere Unruhe zu besänftigen verstand. Eigentlich hatte er diesen furchtbaren Ball überhaupt nicht besuchen wollen. Nachdem er monatelang in seine Studien der atemberaubenden Natur der Westindischen Inseln vertieft gewesen war, kam ihm die Londoner Gesellschaft falsch und farblos vor. Er ertrug es nicht länger, sich der Etikette der Welt zu unterwerfen, in der er aufgewachsen war, und seine Zeit mit unzähligen Bällen und Theaterbesuchen zu vergeuden.

Dabei hatte er sich bemüht, sein altes Leben, das er vor der Abreise zu den Westindischen Inseln geführt hatte, wieder aufzunehmen. Frauen, Kartenspiele, ausgelassene Feiern – all das hatte ihm früher genügt. Doch das war jetzt nicht mehr der Fall. Diesen Ball hatte er lediglich besucht, weil seine Mutter einen Begleiter gebraucht hatte und sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder keine Zeit gehabt hatten.

Dann jedoch hatte er die Duchess gesehen, wie sie auf der anderen Seite des Ballsaales umgeben von einer Traube von Verehrern gestanden und eine Geschichte erzählt hatte, die ihre Zuhörer zu amüsieren schien. Ihre Worte hatte sie mit lebhaften Gesten unterstrichen und glücklich dabei gelächelt. Sie war nicht nur schön, sondern strahlte in diesem Tempel aus kühlem Marmor eine pulsierende Lebendigkeit aus, die Graysons Herz berührte.

Er war so lange in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er ganz vergessen hatte, wie sich das wirkliche Leben anfühlte. Ein Blick auf die Duchess hatte genügt, um seine Sehnsucht nach Wärme, Licht und Fröhlichkeit wieder zu entfachen. Das war ihm bisher bei keiner Frau so ergangen – und schon jetzt vermochte er nicht mehr, sie aus seinen Gedanken zu verbannen.

Plötzlich öffnete jemand die Terrassentür hinter ihm. Rasch stellte er sein leeres Glas auf die Balustrade und drehte sich herum, bereit höflichen Smalltalk zu halten – selbst wenn es sich um seine Mutter handeln sollte, die ihn abermals mit einer guten Partie bekannt machen wollte.

Doch es war nicht seine Mutter. Vor ihm stand Melisande. Ihr rotes Haar strahlte verführerisch im goldenen Kerzenschein, der aus dem Ballsaal hinter ihr strömte. Sie trat auf die Terrasse und schlenderte langsam zum Geländer herüber, um in den Garten zu sehen. Offensichtlich hatte sie Grayson nicht bemerkt, und er nutzte die unverhoffte Gelegenheit, sie ungestört zu betrachten. Sie war wirklich wunderschön, wirkte jedoch auch zutiefst unglücklich, nun, da sie sich unbeobachtet fühlte.

Grayson hatte es noch nie leiden können, eine Dame traurig zu sehen.

Melisande hatte pochende Kopfschmerzen. Sie hatte gelacht und geredet und Champagner getrunken, bis ihr schwindelig geworden und das Stimmengewirr der anderen Gäste zu einem ohrenbetäubenden Crescendo angeschwollen war. Obwohl sie es liebte, Feste zu feiern, wurde sie mit einem Mal von einem unstillbaren Bedürfnis nach Ruhe überwältigt.

Sie stellte ihr leeres Glas auf einem Tablett ab und sah sich suchend unter den Gästen um. Doch keine Spur von Grayson Sanbourne, der wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien, nachdem seine Mutter ihn fortgeführt hatte. Seit ihrer kurzen und höchst eindrucksvollen Begegnung hatte Melisande ihn nicht mehr gesehen – und trotzdem den ganzen Abend an ihn gedacht. Diese tiefblauen Augen … Kopfschüttelnd lachte Melisande über sich selbst. Keinesfalls durfte sie sich von einem hübschen Gesicht und einem geheimnisvollen Lächeln ablenken lassen – nicht jetzt, da sie endlich einen Weg gefunden hatte, um ihrem Leben in London für immer zu entfliehen.

Sie kam an einer der Glastüren am Rand des Ballsaals vorbei, die zu einer Terrasse führte, und trat nach draußen. Die Kälte der Winternacht war so schneidend, dass sich niemand der anderen Gäste ins Freie verirrte. Der kühle Wind ließ Melisande erschaudern, denn über den langen Handschuhen waren ihre Arme unbekleidet. Doch sie begrüßte die Möglichkeit, einen kleinen Moment lang an der frischen Luft allein sein zu können.

Doch plötzlich hörte sie ein Geräusch und hielt erschrocken inne. Offenbar hatte sie sich geirrt, und noch jemand hatte nach einem Augenblick der Stille gesucht.

Hastig drehte sie sich um … und sah, dass er es war, der nur wenige Schritte von ihr entfernt gegen die marmorne Brüstung lehnte. Lord Grayson Sanbourne. In ihrer Überraschung stieß sie versehentlich gegen eine große Steinvase, die daraufhin auf dem Podest bedenklich hin und her wackelte.

Grayson bewegte sich so rasch, dass sie es kaum wahrnahm. Bevor sie sich versah, war er an ihrer Seite und stützte die Vase, bevor Melisande von ihr getroffen werden konnte. Er war so dicht bei ihr, dass sein Ärmel ihre Wange streifte. Er duftete nach erlesener Wolle und einem verführerischen Hauch von Sandelholz. Wie berauscht ließ sie sich von seiner überwältigenden männlichen Ausstrahlung fesseln.

Er berührte sie leicht, als er die Vase wieder auf ihrem Platz zurechtrückte. Dabei schaute er Melisande unverwandt in die Augen. Sie fasste in die seidigen Falten ihrer Röcke, um sich davon abzuhalten, Grayson zu berühren und zu sehen, ob sie das alles möglicherweise nur träumte.

„Ist Ihnen auch nichts geschehen, Duchess?“, fragte er mit dunkler, samtweicher Stimme.

„Ich … ja, ich meine, nein“, erwiderte sie und ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme so atemlos klang. „Dank ihrer raschen Reaktion.“

„Es hat mich gefreut, Ihnen zu Diensten sein zu können“, entgegnete er lächelnd, und plötzlich schien es um sie herum heller und wärmer zu werden.

Sie erwiderte das Lächeln und stützte sich auf dem Geländer ab. Dabei fühlte sie den kühlen Marmor durch ihre dünnen Seidenhandschuhe. Grayson stand immer noch neben ihr, warm und stark. Zwar hatte sie schon mit vielen Männern geflirtet, doch noch nie hatte sie sie sich dabei so gefühlt wie in diesem stillen Augenblick mit ihm. So verwirrt, nervös und gleichzeitig beschwingt.

Sie vernahm ein Rascheln und bemerkte, dass Grayson seinen Mantel auszog, um ihn ihr um die Schultern zu legen. Sofort wurde sie von seiner wohltuenden Wärme eingehüllt.

„Danke“, sagte sie leise.

Statt einer Antwort strich er zärtlich über ihre Wange. Seine Berührung war so sanft, dass Melisande sie kaum spürte und doch erschauerte sie wohlig.

„Ich hätte schon viel früher nach England zurückkehren sollen“, stellte Grayson fest.

Melisande lachte und streifte mit den Lippen seine Handfläche. Seine Finger waren lang, schlank und stark und am Ansatz mit Schwielen versehen, wie sie überrascht feststellte. Es war einfach traumhaft, sich von ihm berühren zu lassen, und Melisande kam es so vor, als bliebe die Zeit stehen. Behutsam berührte sie mit den Fingerspitzen Graysons Handrücken und spürte, wie er sich anspannte unter ihrer Berührung. Sie fragte sich, ob auch er das brennende Verlangen spürte, das zwischen ihnen loderte.

Er umfasste ihre Finger und führte sie an seine Lippen, um sie mit ungeahnter Zärtlichkeit auf die empfindliche Innenseite ihres Handgelenks zu küssen. Durch den Stoff ihrer Handschuhe fühlte sie seinen warmen Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie Grayson die Augen schloss und tief einatmete, als gliche Melisandes Duft einem lebensspendenden Elixier.

Mit einem Mal vernahm sie ein lautes Geräusch aus dem Ballsaal und schreckte auf. Augenblicklich schwand die Macht des Zaubers, der sich ihrer Sinne und ihres Körpers bemächtigt zu haben schien. Entsetzt trat sie einen Schritt zurück. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust, und ihr Atem beschleunigte sich.

„Ich muss gehen“, stieß sie hervor, nahm seinen Mantel von ihren Schultern und reichte ihn Grayson zurück, bevor sie sich umdrehte und zur Tür zurückeilte.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er, als sie nach der Klinke griff und gerade den Saal betreten wollte.

Melisande hielt inne und schüttelte den Kopf. Sie bezweifelte, dass er sie wiedersehen wollte, wenn sie auf dem Fest der Brownleys erst einmal ihren Ruf ruiniert hatte. Das würde seine Familie sicher zu verhindern wissen. „Ich verlasse London schon bald“, erwiderte sie.

„Duchess … Melisande“, rief er ihr nach, doch sie eilte in den Ballsaal, bevor er sie noch weiter in Versuchung führen konnte.

3. KAPITEL

Verdammnis. Hatte sie etwa die Jahre ihrer furchtbaren Ehe überstanden, um nun auf dieser einsamen Straße zu sterben?

Melisande zog ihren pelzverbrämten Mantel fester um die Schultern und starrte aus dem Fenster der Kutsche in das wirbelnde Weiß der Schneeflocken, das den Rest der Welt unter sich begraben hatte. Als sie sich am Morgen in London auf den Weg gemacht hatten, war die Kälte zwar durchdringend gewesen, doch der Himmel hatte in einem klaren hellen Blau gestrahlt. Dem Anschein nach hatte nichts ihrer Reise zu den Brownleys und ihrem Plan, ihr gesellschaftliches Leben zu ruinieren, im Wege gestanden.

Doch dann lag London so weit hinter ihnen, dass es für eine Umkehr zu spät war. Der klare Himmel hatte sich zusehends verfinstert, und Schnee fiel in großen Flocken aus dunklen Wolken, um sich wie eine erstickende Decke auf Felder und Hecken zu legen. Ein heftiger Wind war aufgekommen, und schon bald konnte man draußen die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Im Schneckentempo bewegte sich die Kutsche vorwärts.

Zitternd versuchte sie, nicht daran zu denken, was ihr alles widerfahren konnte. Wie ihr Gefährt möglicherweise in einen Graben fuhr oder eine andere Kutsche rammte, die ihnen entgegenkam. Sie sah sich, ihren armen Kutscher, den Diener und die bedauernswerten Pferde bereits zu einem elenden Kältetod verurteilt. Wäre sie doch bloß nicht aufgebrochen …

Energisch schüttelte sie den Kopf. Auf keinen Fall durfte sie ihre Entscheidung bereuen – nicht jetzt. Unvermittelt hielt die Kutsche an, und Melisande befürchtete, dass sie in einer Schneewehe stecken geblieben waren. Jemand klopfte an die Wagentür, und Melisande griff mit eiskalten Fingern nach dem Türknauf.

Vor ihr stand ihr Diener, der bis zu den Augen in einen dicken Schal gehüllt und zur Gänze von Schnee und Eis bedeckt war.

„Der Kutscher sagt, dass es hier ganz in der Nähe ein Gasthaus gibt, Euer Gnaden“, teilte er ihr mit. „Sollen wir dort hinfahren?“

Oh, dem Himmel sei Dank, dachte sie. „Ja, selbstverständlich. So schnell es geht.“

Der Mann verschloss die Tür wieder, und unendlich langsam nahm die Kutsche Fahrt auf. Eine Weile darauf drosselte der Kutscher das Tempo, und Melisande bemerkte, dass sie das Inn erreicht hatten. Ein einladender Lichtschein drang durch die vereisten Fenster nach draußen. Im Schimmer der Kerzen erkannte sie, dass die braune Farbe der Hauswand bereits abblätterte und die Treppe ein wenig marode aussah – mit Sicherheit zählte dies nicht zu den luxuriösen Gasthäusern, doch sie war überzeugt, nie einen lieblicheren Ort gesehen zu haben. Erst jetzt bemerkte sie zu ihrer großen Freude den Rauch, der aus dem Schornstein stieg und Wärme und Behaglichkeit versprach.

Den Mantel fest um die Schultern geschlungen, stieg sie aus der Kutsche und eilte in den Gastraum. Zahlreiche andere Reisende hatten hier bereits Zuflucht vor dem Schneesturm gesucht. Alle Tische und Stühle waren besetzt, und die Schankmädchen hasteten geschäftig mit voll beladenen Tabletts umher. Es war eine lärmende, fröhliche Szene, die Melisande erfreute und sie das Chaos vor der Tür vergessen ließ.

Lächelnd atmete sie die warme, nach Ale und Wolle riechende Luft ein. Es gab nichts, was ihr mehr Freude bereitete als eine Ansammlung von Menschen, die miteinander lachten und das beste aus einer Notlage machten.

Vielleicht war dieser Tag doch nicht so schlecht, wie sie befürchtet hatte.

Sie schlug die Kapuze ihres Mantels zurück und steckte flüchtig die ungebändigten roten Locken mit einigen Haarnadeln fest, aus denen diese sich gelöst hatten. Als sie die Menschen betrachtete, fiel ihr auf, dass auch die Gäste sie neugierig ansahen. Bestimmt fragten sie sich, wer die Dame in feiner roter Reisekleidung und dem Pelzmantel wohl sein mochte. Doch schon kurz darauf eilte eine kleine, rundliche Frau auf sie zu und schien genau zu wissen, wer ihr neuer Gast war.

„Euer Gnaden“, sagte sie. „Ich bin Mrs. James, die Wirtin. Es tut mir leid, dass Sie von diesem furchtbaren Wetter überrascht worden sind.“

„In der Tat, Mrs. James. Ich bin sehr dankbar dafür, in Ihrem Haus zu Gast sein zu dürfen“, erwiderte Melisande. „Ich gehe davon aus, dass Sie bereits mit meinen Dienern gesprochen haben?“

„Ja, Euer Gnaden. Sie laden Ihr Gepäck ab. Die Mädchen bereiten gerade meinen privaten Salon für Sie vor. Dort sind Sie völlig ungestört. Das Essen ist jeden Moment fertig.“

Bedauernd sah Melisande zu den fröhlichen Gästen herüber. Viel lieber wäre sie hier geblieben, hätte sich mit den Menschen unterhalten und ein Ale mit ihnen getrunken, anstatt allein in einem Zimmer in Gesellschaft ihrer trübsinnigen Gedanken zu sitzen. Doch sie wusste natürlich, dass ein privater Salon wesentlich angemessener war für eine Dame ihres Standes.

„Vielen Dank, Mrs. James“, sagte sie. „Das klingt außerordentlich reizend.“

Suchend sah Mrs. James sich um. „Haben Sie eine Zofe dabei?“

Melisande schüttelte den Kopf. „Ich habe sie schon gestern vorgeschickt. Sicher ist sie bereits bei den Brownleys angekommen.“

„Ah, wenn das so ist … Ich schicke Ihnen gerne eines meiner Mädchen, Euer Gnaden, wenn Sie das wünschen. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, noch für einen kurzen Moment am Feuer Platz zu nehmen? Ihr Raum steht bald bereit.“

Als Melisande der Wirtin durch die belebte Gaststube folgte, fiel ihr Blick plötzlich auf einen großen, schlanken Mann in einem blauen Gehrock. Er stand am Kamin, und sie konnte erkennen, wie sich die Muskeln unter seinem Hemd bewegten, als er einen Becher an seine sinnlichen Lippen hob. Der Schein des Feuers ließ sein schwarzes Haar seidig schimmern und fiel auf sein makellos schönes Gesicht. Melisande kannte dieses Gesicht – schließlich hatte sie es erst vor einigen Tagen auf dem Ball der Smythes gesehen und es seitdem nicht mehr vergessen können.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie blieb stehen, um noch einmal genauer hinzusehen. Das konnte doch nicht sein – bestimmt täuschte sie sich. Vermutlich spielte das gedämpfte Licht ihren Augen einen Streich. Doch auf den zweiten Blick gab es keinen Zweifel mehr, dass es sich tatsächlich um Lord Grayson Sanbourne handelte, der hier mitten im Nirgendwo in einem Inn ein Bier trank, obwohl er eigentlich in London damit beschäftigt sein müsste, Frauenherzen zu erobern.

Sie erinnerte sich noch genau, wie sie neben ihm auf der mondbeschienen Terrasse gestanden hatte. Wieder meinte sie zu spüren, wie er sie zärtlich berührte, als sie sich schweigend angesehen hatten und erinnerte sich an die Wärme seines Mantels, die ihren Körper durchströmt hatte. Sie schloss die Augen Für einen Augenblick schienen die Gespräche und das Lachen der Gäste zu verstummen, und Melisande war wieder mit Grayson allein im Garten der Smythes. Dieser Moment war wesentlich inniger gewesen als alles, was Melisande je in einem Schlafgemach erlebt hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie überrascht fest, dass sie sich immer noch in dem überfüllten Inn befand und nicht auf der Terrasse. Mittlerweile hatte auch Grayson sie entdeckt und sah sie unverwandt an.

Impulsiv erwog sie, die Flucht zu ergreifen und sich vor dem Mann mit diesen magischen blauen Augen zu verstecken, damit er sie nicht mehr in seinen Bann ziehen konnte. Obwohl er völlig ruhig da stand, durchdrang sein Blick den Schutzwall, den Melisande so sorgfältig um ihr Herz errichtet hatte. Es kam ihr so vor, als blickte er hinter die Fassade von Glanz und Gelächter, mit der sie die anderen Menschen zu täuschen pflegte. Er schien nur sie zu sehen, das verängstigte Mädchen, das sie einst gewesen war, und das sie so sorgfältig aus ihrem Leben zu bannen versucht hatte, als sie zur Duchess wurde. Die Vorstellung, dass Grayson all das durchschaute, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Doch dann schalt sie sich eine Närrin. Bestimmt war dieser Blick sorgfältig einstudiert, um die Frauen für sich zu gewinnen und sie glauben zu lassen, dass es für ihn nur sie und keine andere gab. Seinem Ruf zufolge sollte er darin ja recht talentiert sein, und Melisande war sicher, dass die Hälfte aller Londoner Debütantinnen mittlerweile Graysons Charme erlegen waren. Sie hingegen konnte es sich nicht leisten, sich ebenfalls von ihm verzaubern zu lassen – nicht, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte. Allerdings konnte sie in diesem Moment weder davonlaufen, noch sich vor ihm verstecken.

Er richtete sich auf und verbeugte sich knapp. Wenn sie jetzt die Flucht ergriff, dann würde er sie für schüchtern halten – und das wollte sie um jeden Preis vermeiden. Um niemandem Macht über sie zu verleihen, hütete sie sich davor, irgendjemandem ihre wahre Seite zu zeigen. Wenn doch Grayson bloß nicht so entsetzlich gut aussehen würde … So jung und so aufrichtig …

Rasch setzte Melisande ihr strahlendstes Lächeln auf und eilte auf ihn zu. „Lord Grayson“, sagte sie heiter. „Nein, was für ein Zufall, Ihnen ausgerechnet hier zu begegnen. Vermutlich suchen auch Sie Schutz vor dem garstigen Wetter?“

„Duchess“, erwiderte er mit seiner sinnlichen, tiefen Stimme, und ein wohliger Schauer erfasste Melisande, als er nach ihrer Hand griff und sich darüber beugte. Seine Finger berührten die ihren einen winzigen Augenblick zu lang, und sie spürte seinen warmen, festen Händedruck durch den Stoff ihres Handschuhs.

Beinahe gelang es ihr nicht, ihr scheinbar unbeschwertes Lächeln aufrecht zu erhalten. Rasch drehte sie sich um und entzog ihm die Hand. Ihre Wangen wurden warm, aber das lag sicherlich an der Hitze des Feuers, in das sie sah. Sie spürte förmlich, wie Grayson sie beobachtete.

„Ich war auf dem Weg zum Haus von Lord und Lady Brownley“, erklärte er. „Sie möglicherweise auch?“

„Ja – doch dann habe ich meine Pläne leider ändern müssen.“ Wegen des Sturms, dachte sie, und hoffentlich nicht wegen der Begegnung mit Grayson.

Der Lord sah sich in der Gaststube um und lächelte leicht. „Wie sagt man so schön? Die besten Pläne sind dazu da, um geändert zu werden.“

Melisande lachte. „Das macht mir eigentlich gar nicht so viel aus. Das hier ist wesentlich erfreulicher, als in einer Schneewehe festzustecken. Und ich liebe es, die Feste zu feiern, wie sie fallen.“

„Ja, das stimmt wohl“, erwiderte er nachdenklich, als spräche er eher zu sich selbst. „Und alle haben viel mehr Freude am Feiern, wenn Sie hier sind.“

„Das hoffe ich“, antwortete sie etwas verwundert über seine Antwort.

Grayson nickte. Vom anderen Ende des Raumes eilte die Wirtin wieder auf sie zu.

„Euer Gnaden“, sagte die Frau und machte einen Knicks. „Das Zimmer ist jetzt bereit für Sie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

„Danke“, entgegnete Melisande und sah zu Grayson, der sie lächelnd beobachtete. Doch schien er sich nicht lustig zu machen oder mit ihr zu flirten. Seltsamerweise hatte sie den Eindruck, als fände er Gefallen daran, sie anzusehen – so, wie sie ihn gerne betrachtete.

Dann tat sie etwas, was sie selbst völlig überraschte – sie ließ ihre letzte Chance, seiner betörenden Anwesenheit den Rücken zu kehren, verstreichen. „Vielleicht mögen Sie mir beim Essen Gesellschaft leisten, Lord Grayson?“, fragte sie. „Mrs. James ist so freundlich gewesen, mir ihren privaten Salon zur Verfügung zu stellen. Dort sollte es ein wenig ruhiger sein als hier.“

Autor

Deborah Hale
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