Historical Exklusiv Band 70

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2 Romane von Michelle Willingham

IHR STOLZER SKLAVE von WILLINGHAM, MICHELLE
Er ist ihr Sklave - aber seinen Stolz wird ihm die schöne Irin niemals nehmen! Das hat sich Kieran geschworen. Auch wenn man ihn, den Künstler, gezwungen hat, ein Porträt von ihr zu schnitzen. Doch dann sitzt Iseult ihm Modell, erfüllt die Luft mit ihrem blumigen Duft wie ein Frühlingshauch, und ihre Blicke begegnen sich. Dieser Moment verändert alles für Kieran: Noch nie hat er eine so verlockende Frau gesehen ...

IRISCHE HOCHZEIT von WILLINGHAM, MICHELLE
Irland, 1170: Niemals darf sich irisches Blut mit dem der normannischen Feinde vermischen! Und so schwört der unterlegene König Patrick MacEgan, dass er die Ehe mit Isabel de Godred, Tochter seines Gegners, nicht vollziehen wird - ein Schwur, der dem stolzen Kelten zum Verhängnis wird. Denn mit ihrer Schönheit, ihrem guten Herzen und scharfen Verstand entfacht seine junge Gattin in ihm das Feuer des Verlangens.


  • Erscheinungstag 10.04.2018
  • Bandnummer 70
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733988
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Willingham

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 70

1. KAPITEL

Irland, Anno Domini 1102

Er wird sterben, nicht wahr?“ Iseult MacFergus sah auf den zerschundenen Körper des Sklaven hinunter. Grausame, nicht verheilte Striemen, die von Peitschenhieben herrührten, bedeckten den Rücken des Mannes. Seine Haut war bleich, und die Knochen stachen hervor, als hätte er seit Monaten nicht richtig gegessen. Alles in ihr empörte sich bei dem Gedanken an die Qualen, die er erlitten haben musste.

Davin O’Falvey reichte ihr eine Schüssel mit kaltem Wasser. „Ich weiß es nicht. Gut möglich, dass ich eine Menge Silbermünzen verschwendet habe.“

Iseult senkte den Blick und wusch das Blut ab. „Wir brauchen keinen Sklaven in unserem Haushalt, Davin. Du hättest ihn nicht kaufen sollen.“ Langsam wurde es unter den Stämmen unüblich, Sklaven zu halten. Ihre Familie hatte sich nie welche leisten können, und es gab ihr ein unbehagliches Gefühl, wenn sie an ihren eigenen niederen Rang dachte.

„Wenn ich ihn nicht gekauft hätte, ein anderer hätte es getan.“ Er trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Er litt, meine Liebe. Auf der Sklavenversteigerung schlugen sie ihn, bis er nicht mehr stehen konnte.“

Sie legte die Hand auf seine. Ihr Verlobter war kein Mann, der einen Menschen leiden ließ, jedenfalls nicht, wenn er eingreifen konnte. Das war einer der Gründe, warum er ihr liebster Freund war. Und er war der Mann, den sie heiraten wollte.

Ein hohles Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Davin verdiente eine bessere Frau als sie. Sie hatte ihr Bestes getan, um sich wieder einen guten Ruf zu verschaffen, aber der Klatsch und Tratsch hatte auch nach drei Jahren immer noch kein Ende gefunden. Sie wusste nicht, warum Davin um sie anhielt, aber ihre Familie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Es geschah nicht jeden Tag, dass die Tochter eines Schmiedes den Sohn eines Stammesführers heiraten konnte.

„Lass die Heilerin sich um ihn kümmern“, drängte Davin. Seine Stimme klang erregt. Iseult merkte, was er mit seinen Worten sagen wollte, sie waren eine verborgene Einladung. „Geh mit mir spazieren, Iseult. Seit einer Woche habe ich dich nicht gesehen. Ich vermisste dich so.“

Sie erstarrte. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln. Geh mit ihm, drängte ihr Verstand. Obwohl Davin ihr nie ihre Verfehlung vorwarf, fühlte sie sich seiner Liebe nicht würdig.

Nachdem er die Heilerin herbeigerufen hatte, nahm er sie bei der Hand und führte sie nach draußen. Das Mondlicht lag auf seinem Gesicht. Mit den hellen Haaren und den durchdringenden blauen Augen war er der hübscheste Mann, den Iseult je gesehen hatte. Er zog ihre Hand an seine bärtige Wange. Sie wusste, dass er sie jetzt küssen würde. Jäh erwachte die Angst in ihr. Sie nahm seine Umarmung hin und wünschte, sie könnte für ihn die gleiche Leidenschaft empfinden wie er für sie.

Du musst Geduld haben, redete sie sich ein. Doch selbst als sie sich seinem Kuss hingab, hatte sie das Gefühl, neben sich zu stehen und nur Beobachterin, keine Beteiligte zu sein.

Er hielt sie an sich gepresst und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich weiß, du möchtest nicht, dass wir einander vor Beltaine lieben. Aber ich wäre doch ein Narr, wenn ich nicht versuchen würde, dich zu überreden.“

Sie löste sich von ihm und senkte den Blick. „Ich kann nicht.“

Selbst jetzt glühte ihr Gesicht vor Scham. Der Gedanke, bei einem Mann zu liegen, ganz gleich welchem Mann, weckte nur traurige Erinnerungen.

Davins Miene versteinerte, aber er bedrängte sie nicht länger. „Ich würde nie etwas von dir fordern, was du nicht selbst willst.“

Das war es, weswegen sie sich noch schuldiger fühlte. Sie wollte nicht bei ihm liegen, aber was für eine Frau machte das aus ihr? Vor Jahren hatte sie einem Moment der Leidenschaft nachgegeben und den Preis dafür gezahlt. Doch jetzt, da ein Mann sie liebte und sie heiraten wollte, schien sie die bösen Erinnerungen nicht vergessen zu können.

Davin legte ihr die Hand auf die Schulter und küsste sie auf die Schläfe. „Ich werde warten, bis du bereit bist.“

Hand in Hand ging er mit ihr zu ihrer Wohnstatt im Innern der Wallanlage. Als sie die Hütte erreichten, blieb Iseult einen Augenblick neben dem hölzernen Türrahmen stehen, als wäre er ein Schild.

„Was wirst du mit dem Sklaven anfangen?“

„Das weiß ich noch nicht. Möglicherweise kann er bei der Ernte helfen oder die Pferde pflegen. Wenn er aufwacht, werde ich mit ihm sprechen.“

„Ich sehe dich morgen früh“, sagte Davin. In seiner Stimme schwang Bedauern mit. Wieder küsste er sie auf den Mund. „Denk darüber nach, was du tun kannst, um unseren Sklaven am Leben zu erhalten.“

Iseult nickte und bückte sich, um in die Hütte zu gehen. Einen Moment lang blieb sie im Eingang stehen und sammelte ihre Gedanken. Warum nur konnte sie nicht diese Glut empfinden, von der die anderen Frauen sprachen? Davins Küsse und seine Zuneigung weckten nichts als Leere in ihr.

Was stimmte nicht mit ihr? Von allen Männern verdiente er es am meisten, geliebt zu werden. Er behandelte sie wie einen ihm teuren Schatz, bot ihr alles, was sie sich wünschte. Aber genau das gab ihr das Gefühl, seiner nicht würdig zu sein.

Mit schwerem Herzen ging sie zu den anderen hinein. Muirne und ihre Familie waren damit beschäftigt, das Abendmahl aufzutragen. Obwohl die O’Falveys nicht mit Iseult verwandt waren, hatten sie ihr bereitwillig die Tür zu ihrer Hütte geöffnet und sie gastfreundlich aufgenommen. Ihretwegen hatte sie nun einen Ort, wo sie wohnen konnte, während sie sich an ihren neuen Stamm gewöhnte.

Und dank der O’Falveys brauchte sie nicht mit Davins Mutter zusammenleben. Die Frau des Stammesführers machte keinen Hehl daraus, dass sie Iseult nicht leiden konnte.

„Wer ist der Mann, den Davin mitbrachte?“, fragte Muirne, eine stämmige Frau mit rabenschwarzem Haar. Sie hatte sieben Kinder geboren und Iseult unter ihre Fittiche genommen, als wäre sie ein weiteres ihrer Kinder. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Du hast nicht zu Nacht gegessen. Komm, und setz dich zu uns.“ Sie deutete zu dem niedrigen Tisch hin, wo die anderen Pflegekinder saßen und ihr Abendessen verschlangen, wobei sie einander andauernd neckten.

„Er ist ein Sklave“, antwortete Iseult. „Halb tot, soweit ich weiß.“

„Nun, nicht gerade ein guter Kauf.“ Muirne verdrehte die Augen und reichte ihr einen Teller mit gesalzenen Makrelen und gekochten Mohrrüben. „Aber für dich ist Davin das schon.“ Dabei lächelte sie, als spräche sie von einem Heiligen.

„Mutter, kann ich noch etwas von dem Fisch haben?“, fragte einer der Jungen.

„Ich auch“, fiel ein anderer ein. Iseult war von Glendon und Bartley bezaubert. Doch ihr Anblick ließ sie ihren eigenen schmerzlichen Verlust noch tiefer empfinden. Iseults Sohn wäre jetzt zwei Jahre alt.

Sie stocherte in ihrem Essen herum. Mit einem Mal war ihr der Appetit vergangen.

„Wieso hast du Davin noch nicht geheiratet?“, fragte Muirne und legte ihr eine weitere Scheibe Brot auf den Teller. „Ich verstehe nicht, wieso du bis Beltaine warten willst.“

„Davin bat mich, zu warten. Er wünscht sich einen besonderen Segen für unsere Ehe.“ Als Muirne ihr noch mehr Essen aufhäufen wollte, hielt Iseult die Hand über ihren Teller. „Ich habe genug, danke.“

„Ich werde es verspeisen“, erbot sich Glendon. Iseult ließ den Fisch auf seinen Teller gleiten, und der Junge verschlang ihn hungrig. Muirne murmelte leise vor sich hin, dass sie zu dünn sei.

Iseult versuchte die Kritik zu überhören. „Ich will den Rest mitnehmen und nachschauen, ob der Sklave hungrig ist.“

„Mit einem wie ihm solltest du nichts zu schaffen haben“, warnte Muirne. „Er ist ein fudir. Und die Leute werden reden.“

Iseult zauderte. Ja, das würden sie. Es wäre am klügsten, zu bleiben und nicht mehr an den Sklaven zu denken. „Aber ich möchte einen Spaziergang machen. Ich werde nicht lange fort sein.“

Muirne warf ihr einen wissenden Blick zu. „Tue nichts, was du einmal bereuen könntest.“

Iseult versuchte, ein unbekümmertes Lächeln aufzusetzen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. „Ich bin bald zurück.“

Draußen beleuchtete der Mond einen Kreis von zwölf strohgedeckten Steinhütten. An der Seite stand ein Holzrahmen, über den ein Rehfell gespannt war. Die Kochfeuer unter freiem Himmel waren niedergebrannt. Der vertraute Geruch von Torf hing in der Luft, und der Wind des Vorfrühlings drang schneidend durch ihren Kittel und ihr léine. Sie legte sich ihr brat über Kopf und Schultern und suchte unter dem Umschlagtuch nach Wärme. Obwohl sie erst seit letztem Winter bei diesem Stamm lebte, betrachtete sie die Ansiedlung als ihr Heim.

Schließlich blieb sie vor der Krankenhütte stehen. Warum war sie hierhergekommen? Die Heilerin Deena würde den Sklaven bereits versorgt und ihm auch etwas zu essen gegeben haben. Ihre Anwesenheit würde nur stören. Sie wollte sich gerade abwenden, als die Tür sich öffnete.

„Oh“, keuchte Deena und griff sich ans Herz. Schon fast eine Generation lang kümmerte sich die Heilerin um Davins Stamm, aber ihr Haar besaß immer noch seinen schwarzen Schimmer. Feine Linien zogen sich um ihren lächelnden Mund. „Du hast mich erschreckt. Ich wollte gerade etwas Wasser holen.“

„Wie geht es dem Sklaven?“, fragte Iseult.

Deena schüttelte den Kopf. „Nicht gut, fürchte ich. Er will weder trinken noch essen. Das ist ein ganz Eigensinniger. Wenn er unbedingt sterben will, so ist das seine Sache, aber eigentlich wäre es mit lieber, wenn es nicht in meiner Krankenhütte geschähe.“

„Soll ich mit ihm sprechen?“

„Wenn du magst. Nicht, dass es irgendetwas ändern würde.“ Deena stieß einen verächtlichen Seufzer aus. „Dann mal los.“

Iseult trat über die Schwelle in den verdunkelten Raum. In der Feuerstelle glühten Kohlen, und es roch intensiv nach Wintergrün und Kamille. Der Sklave lag mit geschlossenen Augen auf seinem Lager. Das ungekämmte schwarze Haar fiel ihm bis auf die Schultern, seine Wangen waren rau und unrasiert. Er ähnelte einem aus der Unterwelt heraufgekrochenen Dämon, einem dunklen Gott wie Crom Dubh einer war.

Doch er war ein Sklave, und als solcher musste er durch Irland gereist sein. Vielleicht hatte er ihren Sohn Aidan gesehen oder Neuigkeiten über ihn in Erfahrung gebracht. Iseult versuchte die Welle der Hoffnung zu unterdrücken, die in ihr aufstieg.

Sei nicht närrisch, ermahnte sie sich. In einem so weiten Land war es höchst unwahrscheinlich, dass er etwas über einen kleinen Jungen wusste.

„Willst du etwas essen?“, fragte sie, als sie sich neben seine Strohmatte kniete.

Er öffnete die Augen nicht und rührte sich auch sonst nicht. Iseult streckte die Hand aus, um seine Schulter zu berühren.

Da schoss seine Hand vor und umklammerte ihr Handgelenk. Dunkelbraune Augen blitzten sie warnend an. Der Schmerz ließ sie aufschreien.

„Raus“, sagte er. Der schneidende Klang seiner Stimme erschreckte sie. Dieser Mann hatte nichts von der demütigen Haltung eines Sklaven an sich.

Heilige Mutter Maria, was für eine Sorte Mann hatte Davin da gekauft? Iseult sprang auf die Füße und entriss ihre Hand seinem Griff. „Wer bist du?“

„Kieran O’Brannon. Und ich möchte allein gelassen werden.“ Er drehte sich auf die Seite. Beim Anblick seines geschundenen Rückens überlief Iseult ein Schauder. Die Stimme der Vernunft riet ihr zu gehen. Und zwar sofort, bevor er noch einmal wild um sich schlug.

„Ich bin Iseult MacFergus“, sagte sie ruhig. „Und ich bringe dir Essen.“

„Ich will es nicht.“

Mit fester Stimme fügte Iseult hinzu: „Wenn du nicht isst, wirst du sterben.“

„Lieber sterbe ich, als so zu leben.“

Iseult spürte, dass er von einer kochenden Wut erfüllt war, nicht von Kummer. Das machte ihr Angst. Sie wusste nicht, was er sagen oder tun würde. Wie ein wildes Tier war er bereit, jeden anzugreifen, der ihm gegenüber Mitleid zeigte.

Ohne sich darum zu kümmern, dass das Brot mit Schmutz in Berührung kam, stellte sie das Essen neben ihn auf den Boden. „Wenn du sterben willst, dann mach schnell. Solltest du dich entscheiden zu leben, dann wisse, dass dir hier niemand etwas tun wird.“

Bevor er noch etwas erwidern konnte, floh sie aus der Hütte. Von einem Mann wie diesem würde sie keine Antwort über den Verbleib ihres Sohnes erhalten. Je eher Davin diesen Sklaven wieder loswurde, desto besser. Das war jedenfalls ihre Meinung.

Kieran O’Brannon hätte am liebsten laut gelacht. Einer von Gottes Engeln war ihm erschienen, wie passend! Nachdem er die letzte Zeit in der Hölle verbracht hatte, war ihm die Ironie des Geschehens nicht entgangen.

Ihr Haar besaß die Farbe des Sonnenuntergangs, Gold mit etwas Rot darin. Ihr blaues léine und ihr Oberkleid ließen einen schlanken Körper und lange Beine erkennen. Früher einmal hätte er vielleicht versucht, mit einer Frau wie Iseult MacFergus anzubändeln.

Aber Frauen war nicht zu trauen, besonders schönen Frauen nicht. Seiner Erfahrung nach fand man in ihren Herzen umso mehr Verrat, je hübscher sie waren.

Er starrte auf das heruntergefallene Brot. Obwohl sein Körper nach Nahrung schrie, verweigerte sein Verstand sie ihm. Es kümmerte ihn nicht länger, was aus ihm wurde. Wenn er den Tod ermuntern konnte, früher zu kommen, dann war das gut so.

Kurz darauf kehrte die Heilerin Deena zurück. Sie setzte sich zu ihm. In ihrem Mörser hatte sie ein widerlich riechendes Gebräu. Das schwarze Haar hing ihr in einem langen Zopf über den Rücken und war mit einem Leinentuch bedeckt.

„Warum willst du sterben, mein Junge?“, fragte sie.

Sie erinnerte ihn an seine Großmutter, eine Frau, die sich keine Narrheiten gefallen ließ und immer sagte, was sie dachte. Als er nicht antwortete, bohrte sie weiter. „Nun denn, ich weiß, dass du reden kannst, denn du hast Iseult fast zu Tode erschreckt. Du musst wissen, dass das bei mir nicht klappt. Ich kann wirklich jemand sein, mit dem man rechnen muss. Davon, dass ich mich jetzt die nächsten paar Wochen um dein Essen und Trinken kümmern werde, will ich gar nicht erst reden.“

Der Kopf schmerzte ihm von ihrem Geschnatter. Unaufhörlich redete sie, während sie weiß Gott was in ihrem Mörser zusammenmischte.

Schließlich antwortete er ihr, wenn auch nur aus dem einzigen Grund, sie endlich zum Schweigen zu bringen. „Warum sollte ich leben wollen?“

Sie zuckte die Achseln. Ein schwaches Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. Sie hatte gewonnen – und wusste es auch.

„Du bist ein ganz Gescheiter, mein Junge, oder? Irgendwo hast du eine Familie. Und du wirst leben, weil deine Verwandtschaft es so will.“

Hatte sie ihn so leicht durchschaut? War sie nicht nur eine Heilerin, sondern auch eine Wahrsagerin? Die ungewollte Erinnerung an seinen jüngeren Bruder schoss ihm durch den Kopf. Egan, wie er um Hilfe flehte. Wie eine eisige Klinge schlitzte sie seine Schuld auf und ließ ihn bluten.

Seine Verwandtschaft würde ihn lieber tot sehen.

Aber als die Heilerin erneut zu reden anfing, verbarg er seine Gefühle und hob das heruntergefallene Brot auf.

Du verdienst es nicht. Du verdienst zu sterben wie der Rest seines Stammes.

Er verdrängte die Stimme und aß. Es schmeckte so trocken, wie es aussah, aber der brutale Hunger in ihm verlangte nach mehr.

Deena reichte ihm einen Tonbecher, und Kieran nahm ihn mit zitternden Händen. Er war so durstig. Er konnte sich noch nicht einmal mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal gegessen oder getrunken hatte. Als er das bittere Gebräu kostete, musste er wegen des scheußlichen Geschmacks fast würgen.

Wieder kicherte Deena. „Es wird dich schlafen lassen, Junge. Du musst bald wieder auf die Beine kommen.“

Wenn es ihm Vergessen schenkte, war er bereit, alles zu trinken. Ohne Widerrede leerte er das Gefäß.

Die Heilerin schmierte ihm eine Kräutermixtur auf den Rücken. Wie versprochen milderte die kühlende Wirkung der Medizin die Schmerzen seiner Wunden. Die Peitschenhiebe waren nicht so tief wie andere, die er erlitten hatte. Er hieß die Schmerzen als körperlichen Akt der Reue willkommen.

„Du solltest dich Iseult MacFergus gegenüber besser benehmen“, ermahnte ihn Deena. „Sie ist dem Mann zur Frau versprochen, der dein Besitzer ist. Davin O’Falvey wird denjenigen, der seine Verlobte schlecht behandelt, nicht gerade mit freundlichen Blicken betrachten.“

„Dann werde ich kein Wort mehr mit ihr wechseln.“ Kieran knirschte mit den Zähnen, als sie seine von den Peitschenhieben herrührenden Wunden mit einem Leinentuch bedeckte. Er wusste, warum sie sich so um ihn kümmerte. Nicht aus Mitleid etwa. Ein geschwächter Sklave besaß keinen Wert.

Die Vorstellung, in Knechtschaft zu sein, verletzte seinen Stolz. Nie war er irgendeines Mannes Sklave gewesen, und stärker denn je wuchs in ihm das instinktive Verlangen, sich zu wehren. Verlockende Gedanken an Flucht stiegen in ihm auf und appellierten an seinen stolzen Sinn. Geheilt oder nicht, er könnte einen Fluchtweg aus diesem Ringwall finden.

Und was dann?

Er schloss die Augen und wünschte, er wüsste es. Es gab keinen Ort, wohin er hätte zurückkehren können, keinen Flecken, wo er hingehen konnte. Vielleicht verdiente er wegen seines Versagens ein so leiderfülltes Leben.

Die Heilerin reichte ihm noch ein Stück Brot, das er, ohne lange nachzudenken, aufaß. Sein Magen gierte nach mehr. Aber bei der unverhofften Nahrung krampfte er sich zusammen.

„Das ist jetzt genug“, warnte ihn die Heilerin. „Wenn du zu viel isst, kommt es nur wieder heraus, so dünn wie du bist.“

Statt des Gebräus hielt sie ihm nun einen Becher Wasser hin. Es schmeckte süß wie geschmolzener Schnee. Ganz anders als all das schlammige Wasser, das er während der letzten Monate hatte hinunterwürgen müssen. Mit Genuss stillte er seinen Durst.

Die Heilerin half ihm, sich wieder auf den Bauch zu legen, damit er sich ausruhte. Die Kräuter hatten begonnen, den Schmerz zu betäuben, und ließen Kieran jetzt in den Schlaf sinken. Er schloss die Augen. Sein Geist fühlte sich genauso zerschlagen und verletzt an wie sein Körper. Erneut stieg dunkle Todessehnsucht in ihm auf. Das endgültige Ende würde die Geister zum Schweigen bringen, die ihn verfolgten.

Er selbst hatte diesen Weg gewählt und sich in die Sklaverei verkauft. Er hatte geglaubt, so seinen Bruder retten zu können und Egan nach Hause zu holen. Stattdessen hatte er dem Feind in die Hand gespielt. Und verloren.

Das würde ihm sein Vater nie vergeben. Gebe Gott, dass er seiner Familie nie mehr unter die Augen treten musste.

2. KAPITEL

Iseult legte eine Decke über die schwarze Stute und sprang auf das Tier. Für den Morgen und den frühen Nachmittag hatte sie sich eine Tasche voll Proviant gepackt. Stumm flüsterte sie ein Gebet. Bitte, Gott, lass mich ihn finden. Lass es heute anders sein.

Seit fast einem Jahr suchte sie nach ihrem Sohn Aidan. Und wenn sie ihn auch immer noch nicht gefunden hatte, konnte sie die Suche doch nicht aufgeben.

„Iseult!“, rief Davin. Er schritt auf sie zu und nahm die Zügel des Pferdes in die Hand. „Wohin willst du?“

Bei der scharfen Frage zuckte sie zusammen. „Ich glaube, die Antwort darauf kennst du.“

Davin verbarg seinen Ärger und wandte den Blick ab. Selbst wenn er es nicht laut sagte, so hielt er ihre Suche doch für zwecklos. Die Chance, ein kleines Kind nach einem Jahr noch zu finden, war bestenfalls gering. Aber Iseult konnte die Suche nach Aidan nicht aufgeben. Noch nicht.

„Ich weiß, dass du nicht mitkommen willst“, meinte sie. „Ich werde es auch nicht von dir verlangen.“

„Es ist gefährlich für eine Frau, so allein unterwegs zu sein.“ Er verzog besorgt das bärtige Gesicht.

Iseult griff nach dem Dolch an ihrer Seite. „Ich bin bewaffnet, Davin. Und ich besuche nur die benachbarten Stämme.“

Er ergriff ihre Hand. „Ich werde dich begleiten.“

„Wirklich, du musst nicht …“

„Es ist dir wichtig.“ Er sah sie ruhig an, als wäre ihre Suche nichts Außergewöhnliches. „Und vielleicht findest du eines Tages die Antwort, nach der du suchst.“

Doch Iseult hörte, was er nicht aussprach: Vielleicht gibst du eines Tages auf.

Er mochte recht haben. Aber sie wollte einfach nicht glauben, dass Aidan tot war. In ihrem Herzen rührte sich immer noch eine schwache Hoffnung.

Niemals konnte sie das Kind vergessen, das mit seinen winzigen Fäustchen ihr langes Haar gepackt und die Strähnen an seinen Mund gezogen hatte. Ebenso nicht den entsetzlichen Augenblick, als sie sich zu ihm umdrehte und entdecken musste, dass es fort war.

Davin schloss sich ihr an und ritt schweigend neben ihr, während sie die Stute über den sandigen Boden hinauf zum Benoskee Mountain lenkte. Wolken jagten hoch über dem felsigen Gipfel und warfen ihre Schatten auf die Hänge des Berges. Das tiefe Azurblau des Sees markierte das Land des Sullivan-Stammes.

Iseult ritt oft in dieses Gebiet hinüber und fragte, ob Boten mit irgendwelchen Nachrichten bei ihnen haltgemacht hätten. Im vergangenen Jahr hatte sie jeden der benachbarten Stämme und Clans besucht. Ihre Hände umklammerten die Mähne des Pferdes, als könnte sie so an ihrer Hoffnung festhalten.

Vielleicht würde sie heute finden, was sie suchte. Iseult wappnete sich gegen die mitleidigen Blicke, die ihr bevorstanden. Man mochte sie für närrisch halten, aber es ging um ihr Kind. Sie würde nie aufgeben können.

Davin hielt an, um die Pferde zu tränken. Iseult sah die Ungeduld in seinem Gesicht. Er würde dieses Kreuz, das sie mit sich herumschleppte, nie verstehen, denn Aidan war nicht sein Sohn.

In diesem Augenblick schien das Schicksal einzugreifen, denn ein einzelner Reiter näherte sich ihnen in schnellem Tempo. Der Mann stieg gar nicht erst vom Pferd ab, sondern wandte sich gleich an Davin. „Du wirst zu Hause in Lismanagh gebraucht. Dein Sklave macht Ärger.“

„Welche Art von Ärger?“ Auf Davins Gesicht war deutlich zu erkennen, dass er über die Unterbrechung ungehalten war.

„Er kämpft mit den anderen. Wir haben ihn gefesselt, aber da er dir gehört …“ Der Bote beendete den Satz nicht.

„Ich komme.“ Entschlossen wendete Davin sein Pferd.

Als er Iseult einen Blick zuwarf, schüttelte die den Kopf. „Reite nur mit ihm. Ich werde schon zurechtkommen.“

„Ich will, dass du mit mir zurückkehrst. Ich mag dich nicht hierlassen.“ Seine Stimme ließ eine gewisse Schärfe erkennen, ähnlich der eines verärgerten Vaters.

Iseult blickte ihn wütend an. Sie hatte nicht gewollt, dass er sie begleitete, und jetzt behandelte er sie, als könnte sie nicht für sich selbst sorgen. „Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Und ich will lieber nach meinem Sohn suchen, als mich mit einem respektlosen, arroganten Sklaven herumzuplagen.“

Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. „Was meinst du mit ‚respektlos‘?“

Iseult biss sich auf die Zunge und wünschte, sie hätte nichts gesagt. „Ich ging zu Deena, um ihr zu helfen. Der Sklave erwachte, aber ich mochte ihn nicht.“

„Bedrohte er dich?“ Der stählerne Klang von Davins Stimme zeigte, dass er alles andere als erfreut war.

Iseult zuckte die Achseln. „Er forderte mich auf zu gehen, das war alles.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als handle es sich um einen bedeutungslosen Vorfall. „Geh jetzt. Heute Nachmittag bin ich wieder bei dir.“

Als er erneut zögerte, lenkte sie ihr Pferd neben Davins Reittier und küsste ihn zärtlich. „Geh.“

Ihr Tun hatte den gewünschten Effekt, und er beruhigte sich. „Sei vorsichtig. Wenn ich dich beim Mittagsmahl nicht sehe, schicke ich Männer aus, dich zu suchen.“

Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie wieder, dieses Mal mit mehr Nachdruck. Iseult ließ es geschehen, doch ihre Gedanken waren beim Stamm der Sullivan. In Kürze würde sie wissen, ob ihre Suche umsonst gewesen war.

„Ich sehe dich später“, versprach sie.

Kieran zerrte an seinen Stricken. Es kümmerte ihn nicht, dass sie sich dabei in sein Fleisch eingruben. Man hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt, zusammengeschnürt wie Geflügel, das gebraten werden sollte.

Es war sein eigener Fehler gewesen. Er hatte geglaubt, er könnte sich davonschleichen, ohne dass es jemand bemerkte – und dabei ganz vergessen, dass das lange Hungern ihm die Kraft geraubt hatte. Als die Männer ihn entdeckten, hatte er sie, so gut er konnte, abgewehrt, einige von ihnen auch verwundet, doch letztendlich hatte ihm seine ganze Gegenwehr nichts gebracht. Seine Kräfte waren auf die eines Jungen zusammengeschrumpft. Jetzt war er voller Blut, und seine Lippen waren unter den Schlägen der Männer aufgeplatzt. Von den neuerlichen Peitschenhieben brannte sein Rücken gleich einem teuflischen Feuer.

Ob sie ihn jetzt töteten? Kieran machte sich darauf gefasst. Er senkte den Blick und starrte auf die feuchte Erde. Der Geruch nach Stroh und Rauch war wie der bei ihm zu Hause im Süden von Éireann. Es war so weit weg von seiner Heimat, fast eine ganze Welt lag dazwischen. Aber er war auch weit weg von denen, die ihn mit Schuld überhäufen würden.

Kieran war bereit, die ganze Schuld auf sich zu nehmen. Es war sein Fehler gewesen, dass Egan hatte sterben müssen. Wenn er an die Stelle seines jüngeren Bruders hätte treten können, er wäre tausend Tode gestorben. Erst dreizehn Jahre war sein Bruder alt gewesen – und hatte nie die Chance gehabt, zum Manne heranzureifen.

Kieran sah das Aufblitzen einer Klinge, aber er rührte sich nicht. Ein großer, bärtiger Mann stand vor ihm. Er trug eine dunkelgrüne Tunika, die mit einem goldenen Faden umsäumt war. Während er mit einer Hand das Messer schwang, befahl er den anderen mit hörbarer Autorität in der Stimme, sich zu entfernen. Nach seiner kostbaren Kleidung zu schließen, konnte er ihr Stammesführer sein.

„Ich bin Davin O’Falvey“, richtete der Mann das Wort an ihn.

Sein Herr also. Bei dem besitzergreifenden Ton hätte Kieran am liebsten geknurrt. Noch nie war er irgendeines Mannes Sklave gewesen, und ihn erfüllte bitterer Groll wegen seines Schicksals. „Du bist der Mann, der mich kaufte.“

„Der bin ich. Und den Geschichten nach, die man mir erzählte, möchtest du vermutlich, dass ich dir mit dieser Klinge die Kehle aufschlitze.“

Kieran hob einladend das Kinn. „Dann tu es doch.“

Davin drehte das Messer im Sonnenlicht und ließ die Metallschneide aufblitzen. „Ich könnte es. Aber dann hättest du, was du wolltest. Und ich hätte das Silber verloren, das ich für dich ausgegeben habe.“ Davin streckte die Hand aus und half ihm auf die Füße. Er schnitt die Fesseln an seinen Füßen durch, ließ seine Hände aber zusammengebunden. „Wie ist dein Name?“

„Kieran vom Stamme der O’Brannon.“

„Ich habe von deinen Leuten gehört. Sie leben weit weg von hier, nicht wahr?“

Kieran antwortete nicht. Das musste er auch nicht, denn O’Falvey wusste es bereits. Er betrachtete seinen Feind genauer. Der flaith strahlte eine ruhige Selbstsicherheit aus und zeigte keine Spur von Beklommenheit. Davin betrachtete ihn, als versuchte er, eine Entscheidung zu treffen.

„Du willst deine Freiheit. Das kann ich verstehen, und vielleicht kann ich sie dir versprechen, als Gegenleistung für deine Dienste.“

Kieran antwortete nicht. Nichts würde ihn dazu bringen, freiwillig die Sklaverei zu ertragen. Eher würde er sterben, denn als Sklave eines anderen Mannes zu leben.

Davin griff in eine Falte seines Mantels und hielt eine hölzerne Figur hoch, das geschnitzte Abbild von Kierans Bruder Egan. „Vielleicht möchtest du auch dieses zurückgewinnen.“

Die Schnitzerei. Fluchend versuchte Kieran trotz seiner gefesselten Hände nach ihm zu schlagen. Aber Davin wich zur Seite aus und schickte ihn dann mit einem Fußtritt zu Boden. Kieran schmeckte Blut und Schmutz. Aber es kümmerte ihn nicht, und er versuchte noch einmal anzugreifen.

Bei allen Göttern, dieses Stück Holz war alles, was ihm noch von Egan geblieben war. Es war nur ein Stück Eibe, aber er hatte es vor Jahren seinem Bruder geschenkt. Dass er es jetzt in der Hand seines Herrn erblickte, entzündete die gleiche Wut in ihm, wie er sie gegenüber den Sklavenhändlern empfunden hatte.

Davins Schlag erwischte ihn und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Kieran krümmte sich und rang nach Atem. Blut sickerte aus den Wunden auf seinem Rücken, aber er unterdrückte den Schmerz.

„Hast du das geschnitzt?“, fragte Davin ruhig und ließ die Finger über die Figur gleiten. Kieran starrte den Mann nur böse an. Heftige Wut stieg in ihm auf. Es war ein Fehler gewesen, Davin zu zeigen, dass die Figur ihm wichtig war. Jetzt zwang er sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, während er sich aus der knienden Stellung erhob.

„Du bist geschickt“, stellte Davin fest. „Ich denke, ich weiß einen Weg, wie du dir deine Freiheit verdienen kannst. Und das hier.“ Er steckte die Figur wieder in die Falte seines Mantels. „Komm.“ Davin packte den Strick, der Kierans Hände fesselte, und Kieran folgte ihm mühsam.

Er glaubte keinen Moment lang daran, dass Davin ihn freilassen würde. Die Glieder taten ihm weh, und sein Mund war von salzigem Blutgeschmack erfüllt. Mehr als einmal stolperte er. Vor Schwäche zitterten ihm die Knie.

Davin führte ihn in eine abgedunkelte Hütte, in der Kieran den schalen Geruch nach Bier und altem Stroh wahrnahm. Nahe der Tür stand eine große Eichentruhe, die ihm bis an die Oberschenkel reichte. Ihre Länge betrug etwas mehr, als er mit ausgebreiteten Armen hätte andeuten können.

Die komplizierte Schnitzerei war alt, das Holz hart und abgelagert. Auch wenn sein geübtes Auge einige Fehler entdeckte, Kerben, die gegen die Maserung gesetzt waren, konnte die Truhe als ein Meisterwerk bezeichnet werden. Und sie war noch nicht fertig.

„Das ist eine Truhe, die vom Vater meiner Braut in Auftrag gegeben wurde. Sie sollte schon letzten Winter fertig werden, als Teil ihrer Mitgift.“

„Wer schnitzte sie?“

„Das tat Seamus“, sagte Davin mit leiser Stimme und zeigte auf die leere Strohmatratze. „Aber er wurde krank und starb vor einer Woche.“ Er senkte respektvoll den Kopf und machte das Kreuzzeichen.

Kieran strich mit der Hand über das Holz, als wäre es ein vertrauter Freund. Er war versucht, sich in die Tage zurückzuversenken, als er stundenlang die Zeit und alles andere außer dem Holz vergaß. Das Holz fehlte ihm.

„Eine Aufgabe wie diese wäre eine einfache Sache und für dich ein würdiger Zeitvertreib …“, Davin hielt inne, „… außer du bedienst lieber am Tisch meines Vaters oder arbeitest auf den Feldern.“

Kieran hatte weder vor, das eine noch das andere zu tun. „Hast du keine Angst vor dem, was ich anstellen könnte, wenn du mir eine Krummaxt oder ein Messer gibst?“

Davin starrte ihn einen Augenblick lang an, als überlegte er, ob die Drohung echt war. „Ich weiß nicht, wer du bist oder was für Geheimnisse in deiner Vergangenheit liegen. Aber vielleicht warst du einmal ein Mann von Ehre. Und wenn dem so ist, wirst du keinem ein Leid zufügen.“

Ein Mann von Ehre. Sein Vater hatte gewollt, dass er zu einem solchen Mann wurde, zu einem zukünftigen Häuptling, einem Mann, der die Bürden des Stammes auf seine Schultern lud. Vielleicht hatte er selbst das irgendwann sogar einmal vorgehabt. Aber dieser Teil von ihm war für immer verschwunden, seitdem er Egan hatte sterben sehen.

Trotz seiner gefesselten Hände strich Kieran mit dem Daumen über eine feine Erhebung am Rand der Oberfläche.

„Wenn deine Schnitzerei gut ist, schenke ich dir die Freiheit“, sagte Davin. „Ich gebe dir mein Wort.“ In seinen Augen blitzte eine dunkle Warnung auf. „Jedenfalls wenn du gehorchst und dich nach meinen Befehlen richtest.“

Leere Versprechungen hatten nichts zu bedeuten. Aber das Holz lockte. Er konnte sich die fertige Truhe vorstellen: ein Muster aus Ähren als Sinnbild der Fruchtbarkeit; Wasser und Feuer, um die alten Götter zu symbolisieren, und das Antlitz der Jungfrau Maria, um der Braut Trost zu bieten. Man würde Talg benötigen, um ein Reißen zu verhindern. Und schärfere Werkzeuge zum Schnitzen, weil das Holz an Feuchtigkeit verloren hatte.

Es war Monate her, seitdem er ein Messer in Händen gehalten hatte. Er suchte nach einem Mittel, um zu vergessen. Das hier würde ihm noch einmal eine Chance geben. Einen Augenblick lang erlaubte er sich, es sich vorzustellen.

Die Stricke um seine Gelenke scheuerten an den nicht verheilten Wunden. Er schloss die Augen, während in ihm Erinnerungen an seinen Bruder Egan aufstiegen.

Stimmen verhöhnten ihn, die Trostlosigkeit zerriss ihn fast. Nach allem, was geschehen war, konnte es ihm nicht erlaubt sein, Freude bei der Arbeit mit dem Holz zu finden.

„Wie lautet deine Antwort?“, fragte Davin.

Kieran hob das Gesicht zu seinem Herrn auf. „Nein.“

Der Hochmut des Sklaven musste gebrochen werden. Davin hatte befohlen, ihn am Pfosten des Geiselsteins anzubinden und draußen zu lassen. Ein leichter Frühlingsregen hatte begonnen. Vielleicht würde seine unangenehme Lage den Mann zwingen, seine Meinung zu ändern.

Noch nie hatte Davin solch eine Fertigkeit bei Holzschnitzereien gesehen. Jeder andere Mann würde eine solche Aufgabe willkommen heißen, denn sie war weit einfacher als die Knochenarbeit, welche die meisten Sklaven vollbringen mussten. Er zweifelte nicht daran, dass Kieran die Figur des kleinen Jungen gefertigt hatte. Der Gesichtsausdruck des Sklaven, als er das Eichenholz berührte, zeigte deutlich, dass er ein Fachmann war.

Vielleicht sogar von Adel.

Kieran konnte, wie die meisten Krieger, Schmerzen ertragen. Und wenn es auch grausam war, ihn den Elementen auszusetzen, es musste sein. Davins Stammesangehörige erwarteten, dass der Sklave für seinen Fluchtversuch bestraft wurde.

Eine Bewegung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah, dass Iseult zurückkehrte. Zum Schutz gegen den Regen hatte sie die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Bei ihrem Anblick wurde Davin leicht ums Herz. Nach Beltaine würde sie ihm gehören. Zu wissen, dass er mit solch einer Frau zusammenlebte und jeden Tag ihre Schönheit sehen würde, erfüllte ihn mit Befriedigung.

Sie hielt ihr Pferd nahe dem Geiselstein an und nahm die Kapuze ab, um besser einen Blick auf den Sklaven werfen zu können. Davins Hand schloss sich fester um die mit Fell bespannte Tür, bereit, Iseult von diesem Mann fortzubringen.

Iseult sprach den Sklaven nicht an. Sein schwarzes Haar war feucht vom Regen, seine Wangen waren nass und blutbefleckt. Er saß mit dem Rücken gegen den hölzernen Pfosten gelehnt, die Hände lässig auf die Knie gestützt.

„Genug gesehen?“ Seine dunkle Stimme verunsicherte sie und gab ihr ein unbehagliches Gefühl. Er war starr vor Zorn und äußerst angespannt.

Sie wollte ihn fragen, was er getan hatte, um solch eine Strafe zu verdienen, aber er hätte ihr doch nicht die Wahrheit gesagt. Einen Mann wie ihn sollte man nie einsperren. Seine Augen beobachteten den Ringwall, als würde er nach einem Fluchtweg suchen.

Am liebsten hätte sie ihm den Rücken zugewandt und ihn, ohne lange nachzudenken, verlassen. Aber sie wollte sich nicht wie ein Feigling benehmen.

„Warum hat er dich bestraft?“, fragte sie ihn.

Er biss die Zähne zusammen. Der Regen strömte ihm über das Gesicht und zeichnete seine eingefallenen Wangen nach. „Weil ich zu flüchten versuchte.“

„Du wurdest nicht misshandelt. Warum wolltest du also fort?“ Davin hatte ihm das Leben gerettet. War er ihm denn nicht dankbar dafür?

„Eine Frau wie du wird das nie verstehen.“

Iseult erstarrte bei dieser Anschuldigung. Was meinte er damit, eine Frau wie sie? Glaubte er, sie wisse nichts von Leid? „Du kennst mich überhaupt nicht.“

Sie beobachtend, erhob er sich langsam. Iseult sah den Schmerz in seinem Gesicht, aber er klagte nicht. „Du solltest nicht hier sein und mit mir reden“, sagte er. „Dein Verlobter beobachtet uns.“

„Ich tue nichts Schlimmes.“

Er trat einen Schritt auf sie zu. Seine Stricke strafften sich. Ein wilder Ausdruck umspielte seine Lippen. „Aber ich habe Schlimmes getan.“

Ihre Vorstellung beschwor Bilder von Mord oder anderen bösen Dingen herauf. Auch wenn Kieran abgemagert war, so strahlte er doch etwas Unbarmherziges aus. Als würde er alles tun, um zu überleben.

„Wurdest du nie vor Männern wie mir gewarnt?“ Sein unverwandter Blick traf sie bis ins Innerste und zehrte an ihren Nerven. Der kühle Regen rann über ihre Haut und kroch wie eine Liebkosung in den Ausschnitt ihres Gewandes. Iseult erschauerte und zog den Mantel enger um sich. Nicht, dass er sie wirklich schützte.

Kierans Gesicht wurde abweisend. Er presste die Lippen zusammen. „Geht zurück zu Eurem eigenen Herrn, Lady Iseult.“

3. KAPITEL

Der zweite Fluchtversuch schlug fehl. Dieses Mal hatte Kieran es bis jenseits der Tore, fast schon bis zum Wald geschafft, bevor er zusammenbrach. Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte. Ob Stunden oder Minuten, es war alles gleich.

Umgeben vom würzigen Duft des Regens und des Grases hatte er seinen Tod herbeigesehnt. Ein Tier, das ihm das Gesicht leckte, hatte ihn ins Bewusstsein zurückgeholt. Es war ein Wolfshund von der Größe eines neugeborenen Fohlens gewesen, und er hatte gejault und gefiept, um die anderen auf ihn aufmerksam zu machen.

Es war mitten in der Nacht, als sie ihn zurück zu Deenas Hütte zerrten. Seine Haut war ganz runzelig vom Regen und sein Körper taub von der Kälte.

Genau wie zuvor behandelte Deena die Spuren der Peitschenhiebe auf seinem Rücken. Über die brennenden Wunden an seinen Handgelenken, die von den Stricken herrührten, strich sie eine ölige Salbe. Doch statt seine geschundene Haut zu beruhigen, verursachte sie ein Brennen.

„Du solltest dir keine Mühe geben“, sagte er. „Ich habe keine Angst davor zu sterben.“

Die Heilerin musterte ihn, während sie ihre Arbeit tat. Sanft fuhr sie fort, jede seiner Wunden zu behandeln.

„Einst hatte ich einen Sohn“, sagte Deena ruhig und hielt ihm einen Becher mit bitterem Tee hin. Auch wenn er ihn nahm, so trank er ihn doch nicht. Eine Medizin, die Schmerzen stillte, interessierte ihn nicht. Außer das Gebräu brachte ihm vielleicht den letzten Schlaf.

„Ein starker junger Mann, ungefähr in deinem Alter.“ Bei der Erinnerung an ihn lächelte sie, und die feinen Linien um ihre Augen verstärkten sich.

Als würde er ihr keine Aufmerksamkeit schenken, hielt Kieran den Blick auf den einfachen Holzbecher gesenkt. Doch er war sich ihrer Worte wohlbewusst.

„Die bösen Geister, welche die Krankheiten hervorrufen, streckten ihn nieder. Es geschah in einer Frühlingsnacht wie dieser.“ Sie nahm den Becher und hob ihn an seinen Mund. Dabei berührte sie seine Wange. Aber er trank noch immer nicht.

„Ich tat alles, was in meiner Macht lag, um ihn zu retten. Ich gebrauchte jedes Kraut, betete zu jedem Gott, der im Himmel war oder den meine Ahnen gekannt hatten. Aber es war nicht genug.“

Ihre runzlige Hand lag warm auf seiner Haut. Es war die Berührung einer Mutter. „Lange Zeit fühlte ich mich schuldig. Ich wollte sterben, gerade so wie du jetzt.“

Ihre andere Hand wanderte zu seiner Schulter. „Der Schmerz vergeht nicht. Jeden einzelnen Tag musst du ihn aushalten.“

„Ich will nicht, dass mir der Schmerz genommen wird“, erwiderte er heftig. „Ich will mich erinnern. Und ich will noch den Letzten von ihnen tot sehen für das, was sie getan haben.“

„Ich weiß nicht, was du erduldet hast, Junge. Ich will nicht danach fragen. Aber was dir auch immer an Schlechtem widerfahren ist, es braucht mehr Mut zu leben als zu sterben.“ Sie neigte den Becher und ließ die Flüssigkeit in seinen Mund tröpfeln. Zuerst musste Kieran beinahe würgen. Sie nahm den Becher fort, während er hustete.

„Vielleicht ist das deine Buße. Am Leben zu bleiben.“ Wieder hielt sie ihm den Becher an die Lippen.

Dieses Mal akzeptierte er das Gebräu und trank ruhig. Als der Becher leer war, nahm Deena ihn fort und ging zu einer kleinen Truhe. Daraus entnahm sie einen Dolch und legte ihn neben Kieran.

„Den lasse ich dir hier. Und ich gehe in meine eigene Wohnstatt, um meinen Schlaf zu beenden, wie es die meisten mitten in der Nacht tun sollten.“ Deenas Stimme wurde hart. „Wenn du wirklich sterben willst, dann habe ich dir das Werkzeug dafür gegeben.“

Im Begriff zu gehen, blieb sie an der Tür noch einmal stehen. „Wenn du bei Sonnenaufgang noch am Leben bist, dann schlage dir alle Gedanken an Flucht aus dem Kopf. Das hier ist jetzt dein Zuhause. Dies hier ist der Weg, den du gehen sollst. Vielleicht hat Gott dich hierhergeführt, um dich die Demut zu lehren. Du musst dein Schicksal annehmen.“

Kieran schlief tiefer denn je zuvor. Es war, als könnte sein Körper nicht gesunden, bevor er nicht jede verlorene Stunde Schlaf nachgeholt hatte. Als die Tür sich öffnete, blendete ihn die Sonne. Er rieb sich die Augen und sah den Dolch immer noch neben sich liegen.

Seine Buße, hatte sie gesagt. Und obwohl ihm bei dem Gedanken an die Sklaverei unsichtbare Stricke die Kehle zuschnürten, wusste er, dass sie recht hatte. Er hatte bei seinem Bruder versagt. Er verdiente es, sein Geburtsrecht und seine Familie zu verlieren. Er verdiente es, versklavt zu sein. Er musste seine Strafe annehmen.

Die Tür schwang auf, und sein Herr, Davin O’Falvey, betrat die Hütte. Er blickte finster drein.

„Du hast meinen Männern gestern Abend große Unannehmlichkeiten bereitet. Ich weiß nicht, wie es dir gelang, dich von den Stricken zu befreien, aber ein weiteres Mal werde ich es nicht dazu kommen lassen. Ich werde dich an die Händler zurückverkaufen, und sie können dann mit dir machen, was sie wollen.“ Er musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Außer du hast deine Meinung, was das Schnitzen betrifft, geändert.“

Zweifellos meinte Davin, was er sagte. Die Nordmänner handelten viel mit Sklaven und verschickten sie über das Meer nach Byzanz oder in ferne Länder. Auch wenn sein Leben nie mehr dasselbe sein würde wie früher, konnte er so doch wenigstens in seiner Heimat bleiben.

Alles, was er dazu tun musste, war, sich bereit zu erklären, die Brauttruhe zu vollenden.

Wie es schien, hatte er keine andere Chance, oder? Er musste sein Schicksal ertragen und jede Arbeit verrichten, die man ihm auftrug.

Gegen die Schmerzen ankämpfend, setzte er sich langsam auf. „Ich werde noch heute mit der Arbeit an der Truhe beginnen.“

Davins Schultern senkten sich etwas. Es war das kaum sichtbare Zeichen seiner Erleichterung. „Nicht gleich. Bevor du die Brauttruhe anrührst, musst du mir dein Können beweisen.“

Sein Können beweisen? Seit er ein Messer halten konnte, hatte er Schnitzereien aus Holz gefertigt. Es gab nichts, das er nicht aus einem Stück Holz zum Leben erwecken konnte. Das ist deine Strafe, ermahnte er sich und schluckte seinen Ärger und seinen Zorn hinunter.

„Ich möchte, dass du das Abbild meiner Braut schnitzt. Wenn ich es ihrer Schönheit für würdig befinde, werde ich dir erlauben, die Truhe zu vollenden.“

Er hätte es wissen müssen. Die Frau hasste seinen Anblick. Er hatte keine Lust, seine Zeit mit Iseult MacFergus zu verbringen. Doch wenn er einem geschnitzten Porträt ihr Wesen einhauchen wollte, blieb ihm keine andere Wahl.

„Wenn ich ihr Porträt schnitze, werdet Ihr die Truhe nicht rechtzeitig als Brautgeschenk zur Hochzeit erhalten.“ Es war ein letzter, vergeblicher Versuch, die Meinung seines Herrn zu ändern.

„Ich möchte die Figur trotzdem gern haben.“ Davin öffnete die Tür und zeigte auf eine der Hütten. Das Morgenlicht fiel in das Innere des Ringwalls, und die blendende Helle brannte Kieran in den Augen.

„Die kleinste Hütte gehörte unserem Holzschnitzer Seamus“, sagte Davin. „Drinnen wirst du die Werkzeuge finden, die du brauchst.“

„Und das Holz?“

„Ist dort.“ Davin beugte sich hinunter und hob den Dolch auf, den Deena zurückgelassen hatte. „Nach deiner Haft wirst du mit dem Schnitzen beginnen.“

Haft? Kieran ballte die Fäuste, als sich die volle Last seiner Versklavung auf seine Schultern legte. Natürlich. Er würde bestraft werden, weil er wieder geflohen war.

„Du wirst drei Tage lang abgesondert von den anderen in Seamus’ Hütte unter Bewachung stehen. Wenn du machst, was man dir sagt, werden die Wächter am dritten Tag gehen, und du erhältst die Erlaubnis, mit dem Schnitzen zu beginnen.“ Davin warf den Dolch in die Luft und fing ihn am Griff wieder auf. „Für diese Barmherzigkeit solltest du dich bei Iseult bedanken. Ich hätte dich die drei Tage im Freien gefangen gehalten.“

„Von einer Frau brauche ich kein Mitleid“, war die wütende Antwort. „Es gibt keine Strafe, die ich nicht ertragen könnte.“

Davin beugte sich zu ihm hinunter. Die Klinge des Dolchs blitzte auf. „Was sie betrifft, so werde ich keine respektlosen Worte dulden. Sie bat mich, dir gegenüber barmherzig zu sein, und um ihretwillen bin ich es.“ Er brachte die Klinge dicht an Kierans Haut. Es war eine stumme Drohung. „Ich schicke jetzt die Wachen. Sie werden dich zur Hütte bringen.“ Ohne ein weiteres Wort schritt er ins Sonnenlicht hinaus.

Kieran rollte sich auf den Rücken und starrte die Decke aus Stroh und Holz an. Er wollte seine Tage nicht damit verschwenden, das Abbild einer Frau zu schnitzen. Und es zählte auch nicht, dass sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte. Um sie sich zu imaginieren, musste sie noch nicht einmal anwesend sein. Schon jetzt konnte er die Linien ihrer Wangen vor sich sehen und den traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht.

Er schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung an die letzte weibliche Skulptur zu verdrängen, die er geschaffen hatte. Fast hätte er Branna geheiratet, doch am Ende gehörte ihr Herz einem anderen Mann.

Eine tückische Arbeit, in der Tat.

„Ich komme mit dir“, sagte Davin.

Sein Angebot brachte Iseult keine Erleichterung. Allein die Vorstellung, von dem Sklaven betrachtet zu werden und es zuzulassen, dass er sie in Holz verewigte, beunruhigte sie.

„Am liebsten würde ich gar nicht zu ihm hingehen.“ Sie wandte sich einem Korb mit Kleidung zu, die ausgebessert werden musste – Muirne hatte ihn dort hingestellt –, und griff nach einer Nadel aus Knochen. Die Näherei war etwas, womit sie ihre Hände beschäftigen konnte. „Es vermittelt mir ein Gefühl von Eitelkeit. Wozu brauchen wir ein Abbild von mir?“

„Ich möchte eines besitzen.“ Er stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich möchte etwas von dir haben, falls wir einmal getrennt sind.“

„Du wirst mich jeden Tag sehen.“ Sie wollte es ihm ausreden. Dieser Sklave hatte etwas an sich, das war erschreckend und faszinierend zugleich. Kein anderer Mann hatte sie je derart aufgerüttelt.

Als sie ihn an jenem Tag draußen im Regen fand, gefesselt, hatte er sich trotz der jammervollen Umstände geweigert, sich in seinem Stolz brechen zu lassen. Er war ein Kämpfer bis in sein Innerstes. Irgendwie hatte er sich befreit, hatte sich im verzweifelten Ringen um seine Freiheit durch den Schlamm geschleppt.

Ob sie wohl das Gleiche getan hätte?

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie hätte es nicht für sich getan. Doch wenn sie jemals Nachricht von ihrem Sohn erhalten würde, dann, ja dann würde sie niemals aufhören zu suchen, ganz gleich, was geschehen mochte.

Sie wusste, dass Davin keine andere Wahl gehabt hatte, als den Sklaven zu bestrafen. Aber sie wusste, wenn sie den Mann, angebunden und der Witterung ausgesetzt, ein weiteres Mal so am Geiselstein sehen würde, käme er ihr sicher nur noch unbezähmbarer vor, wie ein wildes Tier, das bereit war, jeden anzugreifen, der ihm wehtat.

Sie wollte Kieran nicht noch einmal sehen. Nicht so. Deshalb hatte sie Davin gebeten, ihn in einer Hütte einzusperren. Als ob er durch das Einsperren verschwinden würde. Was für kindische Gedanken. Früher oder später musste sie ihm gegenübertreten. Doch wenn sie dem Sklaven ihre Furcht zeigte, würde er das nur ausnutzen.

„Hat er dir etwas getan?“, fragte Davin.

Schon zuvor hatte er sie das gefragt. Und die Wahrheit war, Kieran hatte ihr nichts getan.

„Nein. Es waren nur Worte. Er hatte ziemlich starke Schmerzen.“

Iseult zuckte mit den Achseln, als wäre es nicht wichtig. Sie sprang auf die Füße und ergriff Davins Hände. Seine umschlossen die ihren und gaben ihr das Gefühl von Sicherheit. „Ist sie dir wirklich so wichtig, diese Schnitzerei?“

„Das ist sie. Und zudem ist sie Teil eines Geschenks, das ich dir machen möchte. Er wird deine Brauttruhe vollenden.“

Sie wollte ihm sagen, dass die Truhe doch nur ein hölzerner Kasten ohne jede Bedeutung sei. Aber er hatte Seamus beauftragt, ein Kunstwerk daraus zu machen, ein Kleinod. Obwohl Davin selbst nicht würde sagen können, warum dem so war, konnte Iseult erkennen, dass die Truhe ihm sehr viel bedeutete.

Sie stieß einen Seufzer aus. „Dann will ich gehen.“ Sie strich ihm mit der Hand über die Wange und fügte hinzu: „Und ich werde einen Wächter mitnehmen. Du musst mich nicht begleiten. Ich weiß doch, dass deine Verpflichtungen deinem Vater gegenüber wichtiger sind.“ Als Sohn eines Anführers hatte Davin bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Doch nicht nur deswegen ließ sich Iseult zu dieser Bemerkung hinreißen; sie wollte auch nicht, dass der Sklave glaubte, sie habe Angst vor ihm.

Sie würde nicht zulassen, dass ein arroganter Mann Macht über sie hatte. Iseult straffte die Schultern und bereitete sich auf das vor, was kommen würde.

Drei Tage später betrat Iseult die Holzschnitzerhütte, als wäre das Treffen mit dem Sklaven nur eine lästige Angelegenheit und nicht etwas, vor dem sie sich fürchtete. Sei zuversichtlich, ermahnte sie sich. Habe keine Angst vor ihm.

„Du da!“ Sie deutete auf den Mann vor ihr. „Was für einen Zauber hast du über Davin geworfen?“

Einen Wetzstein und eine Eisenklinge in Händen, drehte sich Kieran zu ihr um. „Nicht den geringsten.“ Obwohl es nur ein Schnitzmesser war, schlug Iseults Herz ein wenig schneller. Die Art, wie er es hielt, schüchterte sie ein. Er zog es über den Wetzstein, bis es scharf war.

Iseult sah ihn zweifelnd an und ließ den Beutel mit Vorräten fallen, ehe sie sich auf einen Baumstumpf niedersetzte. Sie hatte einen von Davins Leuten vor den Eingang der Hütte postiert. Der Mann war nicht wenig verwundert gewesen, als sie ihm zu verstehen gab, dass er sie zu bewachen hatte. Aber so fühlte sie sich besser.

„Vermutlich weißt du, warum ich hier bin. Wegen der Schnitzerei, meine ich.“ Die Worte strömten ihr über die Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte. Sie hörte sich eher wie ein daherplapperndes junges Mädchen an und nicht wie eine gestandene Frau. Natürlich wusste er, warum sie da war.

„Du möchtest ein aus Holz geschnitztes Bildnis von dir.“ Er sagte es leichthin.

Wie konnte er das annehmen? Die Schnitzerei war ganz und gar nicht ihre Idee gewesen. Ein auf diese Weise gefertigtes Porträt war das Letzte, was sie sich wünschte.

Doch dann sah sie das Funkeln in seinen Augen und fragte sich, ob Kieran sie bewusst provozieren wollte. Die dunklen Haare hingen ihm ungekämmt über die Schultern, und seine dämonischen Augen waren so schwarz, wie es auch nur seine Seele sein konnte. Seine Tunika hing lose an seinem Körper, noch immer blutbefleckt von den Wunden auf seinem Rücken.

„Du wirst nicht lange bleiben müssen“, sagte er. In seiner Stimme schwang eine Spur von Zorn mit, gerade so, als hasste er es, herumkommandiert zu werden. Er ließ das Messer sinken und wickelte es sorgfältig in Leder ein. Dann griff er nach dem Hohlbeitel.

Iseult sah sich in Seamus’ Hütte um. Ein- oder zweimal war sie hier gewesen, sie war groß genug für zwei Personen. An der einen Wand lag eine Strohmatte, an der anderen stand eine Werkbank. Die ganze Hütte war nicht breiter als dreizehn Fuß im Durchmesser und aus Lehm und Flechtwerk hergestellt. Iseult erinnerte sich, dass das Dach oft undicht war. „Du bleibst hier?“

„Für den Moment. Bis er es anders befiehlt.“ Wieder spürte sie die Rebellion in seiner Stimme.

Iseult betrachtete die Werkbank. Es schien, dass Kieran den Nachmittag damit verbracht hatte, alle Werkzeuge vorzubereiten. Zusammen mit Holzhämmern und Meißeln war eine Reihe von Messern und Hohleisen auf dem Tisch ausgelegt. Die Luft roch nach Holzspänen, und in der Feuerstelle glimmten Scheite.

Iseult schnupperte misstrauisch und wandte sich dann zu ihm um. „Was hast du heute Abend als Nachtmahl gegessen?“

Kieran antwortete nicht und hob stattdessen ein Stück Eibe hoch. Er saß ihr auf einem Baumstumpf gegenüber. Prüfend glitten seine Hände über das Holz. Er war so sehr damit beschäftigt, dass er ihre Frage überhört hatte.

Doch sie kannte die Antwort bereits. Überhaupt nichts hatte er gegessen. Schätzte sie ihn richtig ein, war das hier ein Mann, der nicht um Hilfe bat. Sie wusste nicht, was er während seiner Haft zu essen und zu trinken bekommen hatte, aber viel konnte es nicht gewesen sein.

Es machte ihr ein schlechtes Gewissen, jemanden leiden zu sehen. Selbst diese Person hier, so ungehobelt sie auch war, verdiente es nicht zu hungern. Wenn sie ihm aber jetzt anbot, ein Essen zuzubereiten, würde er es niemals anrühren.

Nein. Besser, sie gab sich den Anschein, wütend auf ihn zu sein. Dann würde er essen und wenn auch aus keinem anderen Grund, als sie damit zu reizen.

„Bei der Liebe der heiligen Brigid, wie willst du je diese Arbeit vollenden, wenn du nichts isst?“ Entrüstet schnappte sich Iseult einen der großen Eisenkessel von der Feuerstelle und ging nach draußen. Sie füllte ihn mit Wasser und schleppte ihn wieder hinein.

Der Sklave stellte sich ihr in den Weg. Seine Augen betrachteten sie einen Moment lang, und ihre intensive Schwärze hielt Iseult gefangen. Blaue Flecken und Schnittwunden überzogen seine Wangen, und am Kinn hatte er eine dunkle Schwellung. Hinter der ungekämmten Erscheinung verbarg sich ein erschreckend gut aussehender Mann. Er besaß nicht das edle Aussehen Davins. Seine Züge waren härter, und sie nahmen einen Betrachter mehr gefangen.

„Ich nehme nichts, das mir nicht gehört.“ Seine Hände legten sich um den eisernen Griff des Kessels. Dabei streifte er ihre, als er ihr das Gefäß abnahm. Um ein Haar wäre Iseult bei der Berührung zurückgeschreckt.

Was, um Himmels willen, war nur los mit ihr? Sie bekam heiße Wangen. Während er den Kessel aufs Feuer setzte, beschäftigte sie sich rasch damit, das mitgebrachte Gemüse aus den Vorräten zu putzen. So musste sie ihn nicht anschauen.

„Ich versprach Davin, eine Stunde lang zu bleiben. Das heißt aber nicht, dass ich nur so dasitze und nichts tue. Du musst jetzt schnitzen. Wenn ich mit dem Kochen fertig bin, gehe ich.“

Sie holte aus ihrem Sack ein in ein Tuch eingewickeltes Stück Hammelfleisch, schnitt das Fleisch klein und legte es in das Wasser. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, und sie strich sie beiseite.

All ihr Zorn schien sie zu verlassen. Es war ein weiterer vergeudeter Tag gewesen, ein Tag ohne Nachricht von ihrem Sohn. Am liebsten hätte sie sich auf ihrer Lagerstatt zusammengerollt und nur noch geweint. Stattdessen musste sie die Gesellschaft dieses Mannes ertragen.

„Schmeichelt es dir denn gar nicht, dass dein Verlobter diese Schnitzerei haben möchte?“, fragte Kieran.

Hinter ihr war ein leises, kratzendes Geräusch zu vernehmen.

„Nein. Ich habe Besseres zu tun.“ Sie wäre jetzt lieber bei Muirne und den Kindern und würde den Jungen Geschichten erzählen. Jede Arbeit wäre gut, alles, was sie beschäftigte und davon abhielt, an Aidan zu denken.

Als sie damit fertig war, sämtliche Zutaten für den Eintopf in den Kessel zu werfen, wandte sie sich um. Kieran hatte das Holz nicht angerührt. Stattdessen benutzte er ein Stück Kohle, um damit eine Skizze auf ein dünnes Brett zu zeichnen.

„Was machst du da?“

„Wie du schon sagtest, hast du Besseres zu tun. Ich halte dein Bild auf diesem Brett fest und werde es erst später schnitzen.“ Seine Hände bewegten sich schnell, und Iseult trat näher, um zu sehen, was er gemalt hatte.

Er zog das Brett fort und verbarg das Bild vor ihrem Blick. „Noch nicht.“ Das war alles, was er sagte.

„Vielleicht hast du mich mit zwei Nasen und drei Kinnen gemalt“, meinte sie.

Ganz kurz zeigte sich ein amüsiertes Lächeln um seine Mundwinkel. „Nein. Aber ich dachte daran, Hörner und eine gespaltene Zunge zu zeichnen.“

Ernüchtert rührte Iseult den Eintopf um. Sie gehörte ganz und gar nicht zu dieser Art Frauen. Davin hatte sie sanftmütig genannt.

Doch in Gegenwart dieses Mannes wurde sie zur Furie.

Statt nach einer scharfen Erwiderung zu suchen, starrte sie in den Kessel und stellte sich vor, dass sie den Eintopf mit Bilsenkraut würzen konnte. In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie sämtliche Gewürze vergessen hatte. Und außerdem hatte sie das Gemüse zu früh hinzugefügt.

Während die Zeit verging, würden die Erbsen matschig und das Fleisch zäh. Iseult biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass sie eine miserable Köchin war. Ein Teil von ihr dachte, dass es Kieran ganz recht geschah, während der andere sich über den Mangel an Können schämte. Was für eine Frau würde sie nur für Davin abgeben!

Endlich schöpfte sie etwas von dem Eintopf in eine hölzerne Schale und fand einen Löffel, den Kieran benutzen konnte. Kieran beäugte das jämmerlich zermatschte Gemüse und das zu Tode gekochte Fleisch.

„Iss“, befahl sie ihm. „Wenn ich mir schon solche Mühe mache, will ich nicht, dass du vor Schwäche umfällst.“

Es fiel ihr immer schwerer, ihre überlegene Haltung beizubehalten. Was sie da zusammengekocht hatte, war einfach grauenvoll. Aber er aß in Ruhe den Eintopf und machte keine Bemerkung über das Fehlen jeglicher Würze.

„Was wirst du als Nächstes tun?“, fragte sie, als er sein Mahl beendete und die Schale beiseiteschob.

„Ich werde dein Gesicht auf das Holz übertragen und dann mit diesem Messer die ersten Linien nachziehen.“ Er hielt eine kurze Klinge in die Höhe. Iseult erinnerte dies an einen kampfbereiten Mann. Mit den Schnittwunden und den Prellungen in seinem Gesicht konnte Iseult sich gut vorstellen, wie er, Kampfschreie ausstoßend, über ein Schlachtfeld ritt.

Nachdem Kieran das Messer beiseitegelegt hatte, nahm er wieder das Stück Holzkohle und das Brett zur Hand. Sein Blick glitt über ihr Gesicht und ihren Körper. Er zeichnete langsamer und betrachtete sie, als könnte er tief in ihr Innerstes sehen.

Das Herz schlug Iseult bis zum Hals, und sie überlegte, den Wächter hereinzurufen. Mit diesem Sklaven allein zu sein ließ sie vorsichtig werden.

Jäh wechselte Kieran den Rhythmus seines Zeichnens. Seine Hände bewegten sich auf einmal schneller, er machte rasche Striche, als würde er ihre Umrisse, ohne auch nur nachzudenken, einfangen. Iseult bemerkte auf seinen Handrücken mehrere Narben, sie konnten von Verletzungen stammen, die man ihm in einer Schlacht zugefügt haben mochte.

„Früher warst du kein Sklave, nicht wahr?“, vermutete sie.

Er zuckte die Achseln und warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder seiner Zeichnung widmete.

„Für einen Sklaven bist du zu selbstbewusst“, fuhr sie fort, „und für einen Holzschnitzer zu eingebildet.“ Sie bezweifelte, dass er ein König war. Möglicherweise war er ein Krieger oder der Sohn eines Häuptlings.

„Es ist nicht wichtig, was ich einst war“, sagte er. Sein finsterer Gesichtsausdruck warnte sie davor, noch mehr Fragen zu stellen. „Wichtig ist nur, was ich jetzt bin.“

In seinen Augen blitzte Groll auf. Iseult griff nach der Schale und dem Löffel. Ohne dass es ihr bewusst war, studierte sie sein mageres Gesicht, das schroffe Kinn, den fest zusammengepressten Mund.

Er brachte sie aus der Fassung, und doch konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren. Sie zitterte am ganzen Körper, nachdem er ihr mit seelenlosen Augen geantwortet hatte. Rasch wechselte Iseult das Thema. „Vermisst du deine Familie?“

„Ich denke nicht mehr an sie.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme war eine weitere Warnung. „Sie haben ihr Leben – und ich das meine.“

Iseult schauderte bei der Freudlosigkeit eines solchen Daseins. Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken zu Aidan. Seit man ihn ihr gestohlen hatte, herrschte eine Leere in ihrem Innern, die durch nichts gefüllt werden konnte. Sie schlang die Arme um sich, als könnte sie so die Traurigkeit verjagen.

„Wie kam es, dass du als Sklave endetest?“

Kieran hörte zu zeichnen auf und stellte das Brett beiseite. „Für heute Abend sind wir fertig.“

Er ging an ihr vorbei und hob das Fell an, das den Eingang verdeckte. Es war die wortlose Aufforderung zu gehen. Iseult blieb an der Tür stehen. In einem Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Er sah sie an, als hätte sie ihm die Luft aus den Lungen geraubt. Ihr wurde ganz warm, und während sie ihn anschaute war es, als hätte sie sich zur Sklavin und er sich zum Eroberer gewandelt.

Ohne noch einmal zurückzuschauen, stolperte sie in die Nacht hinaus.

4. KAPITEL

Kieran!“, flehte sein Bruder. Die Männer zerrten Egan zum Rand der hölzernen Palisade und rissen seinen Kopf zurück. Mit einem kurzen Seitenblick auf Kieran zogen sie die Klinge über Egans Kehle.

Sein Bruder stieß keinen einzigen Laut aus. Ein Schrei entrang sich Kierans Kehle, als der Körper des Jungen zu Boden sank. Die Plünderer blickten nicht zurück, sondern stiegen über Egan hinweg, als wäre er nichts als ein lästiges Ärgernis.

Kieran erwachte aus dem Traum. Seine Hände zitterten. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, und er barg das Gesicht in den Händen. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht erinnern, wo er war. Das frühe Morgenlicht sickerte durch die Ritzen der aus Fellen bestehenden Tür. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und stand taumelnd auf.

Er ging nach draußen. Als könnte er so den Albtraum vertreiben, atmete er mehrmals tief durch. Seit einigen Monaten lebte er nun schon mit dieser Erinnerung, und er bezweifelte, dass sie ihn je verlassen würde.

In der kühlen Stille des Morgens sah er andere Sklaven und Mitglieder des fudir auf den Feldern arbeiten. Er hätte unter ihnen sein sollen. Was er jetzt brauchte, war harte Arbeit und nicht die Chance, etwas tun zu können, das er liebte.

Er konnte Holz fast in etwas Lebendiges verwandeln. Wie ein Gott schnitzte und formte er seine Schöpfungen. Es war nicht recht, dass er sich jetzt für diese Tätigkeit interessierte, selbst wenn sie eine schöne Frau betraf.

Am Horizont zeichnete sich im Osten purpur- und rosafarben der Sonnenaufgang ab. Kieran ging zu einer Tränke für Tiere, tauchte die Hände ins Wasser und spritzte es sich über das Gesicht. Auch wenn Davin Wort gehalten und die Wächter vor seiner Tür abgezogen hatte, spürte Kieran doch, wie die anderen ihn beobachteten.

Einer von ihnen trat einige Schritte vor. Den Kopf rasiert und mit einem langen, roten Bart stolzierte der Mann hochmütig auf ihn zu. „He, du da, Sklave!“, rief er. „Bring uns Wasser!“ Der Mann schenkte seinen Kumpanen ein selbstgefälliges Grinsen, während Kieran zornig den Trogrand umklammerte.

In der Vergangenheit hätte kein Mann es gewagt, ihm Weisungen zu geben. Aber diese Stammesmitglieder hier erwarteten von ihm, dass er auf ihre Befehle hin sprang wie ein Hund. Langsam hob er die Lider und schenkte den Männern einen warnenden Blick.

Er war es nicht gewohnt, zu gehorchen.

Das ist deine Buße, mahnte ihn sein Verstand. Tu, was sie verlangen.

Nein. Diese Männer waren nicht seine Herren. Sie wollten nur ihre Macht an ihm ausprobieren und ihn erniedrigen. Auch wenn er jede Verrichtung, die Davin ihm auftrug, annahm, diese Männer hier würde er nicht über sich triumphieren lassen.

Gegen besseres Wissen drehte Kieran ihnen den Rücken zu und ging zu seiner Hütte zurück. Sicher würden sie jetzt zu Davin rennen und sich bei ihm über den Sklaven beklagen. Es würde Folgen haben, aber das war ihm gleich. Er mochte es auf sich nehmen, die Sklaverei eine Zeit lang zu ertragen, aber er war nicht bereit, sich jedem Mann zu beugen.

Kieran setzte sich bei offener Tür an seine Arbeit, sodass das Tageslicht in die Hütte eindringen konnte. Die Schnitzwerkzeuge lagen in Leder eingewickelt genau auf dieselbe Weise auf dem Tisch, wie er sie hingelegt hatte. Seine Zeichnung von Iseult wartete darauf, dass er sich ihr widmete – ebenso wollte er das Stück Ebenholz bearbeiten.

Er befreite die Schnitzwerkzeuge von dem schützenden Leder. Mit dem Daumen fuhr er über die Schneide eines Messers und prüfte dessen Schärfe.

Da verdunkelte die Gestalt des rotbärtigen Mannes den Eingang der Hütte. Er hatte die Fäuste geballt. „Ich befahl dir, mir Wasser zu bringen, Sklave.“

„Ach ja?“ Kieran machte sich auf einen Kampf gefasst, und seine Hand umschloss das Heft einer Klinge. Da der Mann seine Größe hatte, war er ein ebenbürtiger Gegner. „Ich bin nicht dein Sklave, oder?“

„Davin wird von deinem Ungehorsam erfahren“, erklärte der Mann. „Und ich habe nicht übel Lust, dich dafür zu betrafen.“

Versuche es nur.

Den Körper in geduckter Verteidigungshaltung, hob Kieran das Messer. Er mochte seine frühere Kraft verloren haben, aber noch immer wusste er, wie man eine Klinge führte. „Willst du das tun? Jetzt?“, lud er ihn ein und ließ das Messer durch die Luft zischen. „Nun denn, zeig, was du kannst.“

Ein Grollen entrang sich der Kehle des Mannes. Er griff Kieran an und zielte dabei auf dessen Handgelenk. Kieran drehte sich zur Seite und verletzte den Mann mit einem feinen Schnitt am Unterarm. Es war nichts Ernstes, aber doch eine Beleidigung für den anderen.

Kraft schoss durch seinen Körper, und er genoss die Gelegenheit, seine früheren Fertigkeiten zu nutzen. Vor langer Zeit war er einer der besten Kämpfer seines Stammes gewesen. Seine Muskeln erinnerten sich, wie sie sich zu bewegen hatten, auch wenn sein Körper innerlich vor Schmerz schrie. Sein Gegner packte den großen eisernen Kessel und schüttete dessen Inhalt über ihn aus.

Kieran duckte sich unter den Schwall von Gemüse und Fleisch. Es fing an, ihm Spaß zu machen. „Bist wohl hungrig, was?“ Mit dem Fuß stieß er ein großes Stück verkochtes Hammelfleisch zu dem Mann hin. „Nimm dir, was du möchtest, und hau dann ab.“

„Zuerst lasse ich dich Dreck fressen.“ Bevor Kieran sich wehren konnte, packte ihn der Mann am Handgelenk und schlug auf die offenen Wunden auf dem Rücken ein. Der Schmerz überwältigte ihn, und er musste das Messer fallen lassen. Er zielte mit einem Fußtritt nach des Mannes Unterleib und krümmte sich zusammen, um einem Schlag auszuweichen.

„Es reicht jetzt“, unterbrach sie die Stimme eines Mannes. Davin trat in die Hütte und stellte sich zwischen sie. An den rotbärtigen Mann gewandt, befahl er: „Cearul, lass ihn los.“

Mürrisch und verdrossen gehorchte der Angreifer. Kieran rieb sich das Handgelenk und war wütend darüber, dass Davin sich einmischte. Er hätte den Kampf zu Ende austragen können.

„Er widersetzte sich unseren Befehlen, Davin“, behauptete Cearul. „Er sollte uns Wasser bringen.“

„Ich gab Kieran eine wichtigere Aufgabe“, erwiderte Davin. „Wenn er die beendet hat, kann er sich vielleicht um andere Notwendigkeiten kümmern. Für den Augenblick würde ich dir vorschlagen, zu deinen eigenen Pflichten zurückzukehren. Ihr seid mit dem Anpflanzen noch nicht fertig, glaube ich.“

Cearul wurde rot, und obwohl er Kieran wütend anstarrte, nickte er. Kurz darauf ging er.

„Ich möchte sehen, was du gestern Abend angefertigt hast“, meinte Davin. Jede Spur von Liebenswürdigkeit war verschwunden.

„Du hättest den Kampf nicht beenden müssen.“

„Ich möchte nicht, dass du irgendeinen meiner Männer tötest. Für dich mag es ein Kampf gewesen sein, aber für sie nicht.“ Davin verschränkte die Arme und durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick.

Kieran zwang sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Meine Zeichnung ist dort.“ Er deutete auf das Brett, das er auf dem Tisch gelassen hatte. „Heute Abend beginne ich mit dem Schnitzen.“

Davin nahm das Brett in die Hand. Dabei ließ er sich nicht anmerken, was er dachte. „Ich werde Iseult heute Abend wieder zu dir schicken. Und in einer Woche möchte ich die fertige Schnitzerei sehen.“

Kieran überlegte, dass das zu realisieren sei, wenn er jede Minute an dem Bildnis arbeitete. Doch die fein ausgearbeiteten Details, wie er sie sich wünschte, würden eine gewissenhafte Arbeit erfordern. Er brauchte feinere Werkzeuge als diese hier, Schnitzbeitel mit steileren Winkeln.

„Zwei Wochen wäre vernünftiger“, versuchte er zu handeln. „Und diese Werkzeuge hier sind nicht von bester Qualität.“

„Eine Woche“, wiederholte Davin. „Wenn du ein guter Schnitzer bist, kannst du es sogar ohne Werkzeug hinbekommen.“ Er ging wieder zur Tür. „Ich werde den anderen befehlen, dich in Ruhe zu lassen. Aber ich rate dir, die Hütte nicht ohne Begleitung zu verlassen. Und wenn ich herausfinde, dass du Iseult beleidigst oder bedrohst, wirst du dich dafür vor mir zu verantworten haben.“ Er ging und ließ dabei die Tür offen.

Davins Warnung war keine leere Drohung. Kieran vermutete, dass der Mann keine Hemmungen haben würde, ihn zu töten, wenn er Iseult in Gefahr brachte. Einen Mann, der seine Verlobte schützte, konnte er respektieren. Hätte damals irgendeiner Branna in Bedrängnis gebracht, er hätte nicht anders gehandelt.

Als er an sie dachte, überkam ihn Bitterkeit. Er erinnerte sich gut daran, wie es war, sie in den Armen zu halten mit ihrem kastanienbraunen Haar und den lachenden dunklen Augen. Und jetzt umarmte Branna ihren neuen Ehemann auf die gleiche Weise, wie sie ihn einst begehrte.

Er verdrängte die Vorstellung und starrte auf die Zeichnung, die er am Abend zuvor angefertigt hatte. Er hatte Iseults Züge in dem Augenblick festgehalten, als sie gerade mit wehmütigem Ausdruck und voller Verlangen an jemanden dachte. Auch hatte er ihren aufblitzenden Zorn und die vor Hass sprühenden Augen gemalt. Diese Frau faszinierte ihn mit ihrer Schönheit und ihrem Geist.

Er sammelte das heruntergefallene Fleisch und Gemüse auf und fragte sich, wieso Iseult sich die Mühe gemacht hatte, ihm ein Mahl zu bereiten. So etwas hatte seit Langem keiner für ihn getan. Sie mochte ihn nicht; das konnte er in ihren Augen lesen.

Kieran griff nach dem Eibenholz und fing an, die Umrisse ihres Gesichts aufzuzeichnen. Augenblicklich verlor er sich ganz in seiner Arbeit. Mit einem eisernen Hohleisen bearbeitete er den Hintergrund. Der Duft von Holzspänen vermischte sich mit der Morgenluft, und er fand darin Trost. Die Werkzeuge stießen in das weiche Grünholz und holten die Feinheiten hervor.

Als er schließlich aufblickte, war schon die Hälfte des Vormittags vorüber. Er sah, dass jemand draußen vor der Tür einen Beutel mit Vorräten zurückgelassen hatte. Er fand Brot darin, brach sich ein Stück ab und genoss den Geschmack des frisch gebackenen Teigs. Er sah, wie Iseult eine Stute durch das Tor in den Ringwall führte. Ihr Gesicht war blass und ihre Wangen nass, als hätte sie geweint. Unwillkürlich spürte er das Verlangen, herauszufinden, was geschehen war.

Das geht dich nichts an, warnte ihn sein Verstand. Aber er hatte noch nie eine Frau gesehen, die kurz vor der Hochzeit stand und dabei so unglücklich aussah.

Iseult zerdrückte einen Klumpen Lehm, und dabei spritzte Wasser überall auf das braune léine, das sie trug. Sie kümmerte sich nicht darum. Die Tränen strömten ihr über die Wangen, während sie die Finger in den Lehm grub, als könnten sie so die unbekannten Männer erwürgen, die ihr den Sohn genommen hatten.

„Ich muss mit dir sprechen.“

Sie hob den Blick und sah Davin vor sich stehen. Sein ernster Gesichtsausdruck konnte nur schlimme Nachricht bedeuten. „Was ist?“

„Noch mehr Überfälle. Vater schickte Männer aus, um zu erkunden, was geschehen ist. Es können wieder die Nordmänner sein.“

Iseult ließ den Lehmklumpen fallen und griff nach einem Tuch, um sich die Hände abzutrocknen. Vermutlich müsste sie jetzt Angst haben. Doch das, was sie über die Lochlannachs gehört hatte, schien übertriebenen Märchen zu gleichen, ausgeschmückt, damit sie eine gute Geschichte ergaben. „Woher weißt du, dass sie es sind?“

„Wir kennen doch ihre Schiffe“, erinnerte er sie. „Und aus diesem Grund möchte ich nicht, dass du noch einmal den Ringwall verlässt. Nicht bevor wir wissen, was da geschieht.“

Hierbleiben? Iseult lehnte den Gedanken ab. Nachdem ihre gestrige Suche fehlgeschlagen war, würde sie weiter umherreiten müssen. „Ich werde beginnen, im Landesinnern zu suchen“, sagte sie. „Auf der Halbinsel hat keiner Aidan gesehen. Es ist an der Zeit, es woanders zu versuchen.“

In einer Reise, die sie von der Küste wegführte, sah Iseult keine Gefahr. Sie mochte einige Tage dauern, aber sie konnte Proviant mitnehmen. Und sie konnte wieder mit verschiedenen Stämmen sprechen, diesmal mit neuen Stämmen.

Davin schüttelte den Kopf. „Nur wenn wir beschlossen haben, dass die Gegend sicher ist. Warte noch einige Wochen, dann werde ich auch mit dir gehen. Nach unserer Hochzeit.“

Iseult wollte sich auf das Versprechen nicht einlassen. „Es ist nun schon ein Jahr her, Davin. Wenn ich zu lange warte, werde ich Aidan gar nicht mehr erkennen. Ich kann mich jetzt schon kaum mehr an sein Gesicht erinnern.“ Der vertraute Schmerz über den Verlust war eine stete Qual, vermischt mit den eigenen Schuldgefühlen, ihn nicht besser beschützt zu haben.

„Ich weiß, dass du ihn nie vergessen wirst“, sagte Davin und strich ihr übers Haar. „Aber vielleicht ist es an der Zeit, loszulassen.“

„Du verlangst von mir, dass ich meinen Sohn aufgeben soll?“ Der Gedanke traf sie wie ein Messer, das sich ihr ins Herz bohrte. Wie konnte er so etwas auch nur denken?

„Es schmerzt dich, und ich will dich nicht länger leiden sehen.“ Er legte ihr die Arme um die Taille und streichelte ihren Rücken.

Iseult gab ihm keine Antwort. Mit einem Seufzer ließ er sie los. „Einer der Ringwälle nahe der Küste wurde angegriffen. Ich muss aufbrechen. Wir müssen sichergehen, dass die Eindringlinge nicht in unsere Nähe gelangen.“

„Wie du willst“, sagte sie. Großer Zorn war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Sie spürte sein Zögern, denn es ging hier um das Kind eines anderen Mannes, auch wenn Davin das niemals laut sagen würde.

„Dann also bis später.“ Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen. Innerlich war sie jedoch fest entschlossen, weiterzusuchen. Sie würde warten, bis Davin fort war, und dann nach Osten reiten, näher an Trà Li heran. Der Gedanke, allein zu reiten, gefiel ihr zwar nicht, aber keiner der anderen würde ihr helfen. Wie Davin waren auch sie der Meinung, Iseult sollte aufgeben.

„Komm und nimm heute zusammen mit meiner Familie das Abendmahl ein“, drängte Davin.

Iseult fürchtete den Gedanken, am Tisch des Häuptlings sitzen zu müssen. Wann immer es möglich war, vermied sie es. Aber sie durfte die Familie auch nicht durch eine Ablehnung beleidigen.

„Du solltest dich jetzt aufmachen und zu Kieran gehen“, sagte Davin und küsste sie. „Vergewissere dich, ob er begonnen hat, dein Bildnis zu schnitzen.“

„Woher weißt du, ob er überhaupt Talent hat? Ich habe ihn noch nicht dabei beobachten können, wie er mit einem Messer ein Stück Holz bearbeitet.“ Es missfiel ihr, ein Objekt zu sein, das man prüfender Blicke unterzog, besonders dann, wenn sie von diesem Sklaven kamen. Er war unberechenbar, wild und überhaupt nicht demütig.

„Du solltest das hier sehen.“ Davin griff in eine Falte seines Mantels und zog die geschnitzte Holzfigur eines Jungen hervor. Iseult hielt sie in der Hand und war betroffen von dem ausdrucksvollen Gesicht.

Die Miene der kleinen Gestalt drückte das Staunen eines Heranwachsenden aus, verbunden mit einer Spur von Übermut. Während sie mit dem Daumen über die Skulptur strich, verstand sie, was Davin darin gesehen hatte. Diese Schnitzerei hier war von einem Meister gefertigt worden. „War das sein Bruder?“, fragte sie.

„Das ist gut möglich. Er will sie wiederhaben, und ich habe es ihm im Gegenzug für dein Abbild versprochen. Wenn er die Brauttruhe zu meiner Zufriedenheit fertigstellt, schenke ich ihm die Freiheit.“

Sie gab ihm die geschnitzte Figur zurück. Wie konnte ein Mann mit so viel Hass im Herzen so etwas Schönes schaffen? In Gedanken versunken, nahm sie kaum wahr, dass Davin davonging.

Eine Stunde später stand sie vor der Tür des Holzschnitzers.

Kieran spürte Iseults Gegenwart, noch bevor er von seiner Arbeit aufsah. Wie ein Frühlingshauch umgab sie ein leichter Blumenduft. Die Nähe dieser Frau ließ ihn gereizt reagieren.

Aber sie war mit seinem Herrn verlobt und deshalb unerreichbar für ihn. Zumindest bot das einen Grund, ihre unwillkommene Wirkung auf ihn zu ignorieren.

„Davin trug mir auf, nachzusehen, ob du mit dem Schnitzen begonnen hast“, sagte sie, während sie über die Türschwelle schritt, ohne zu warten, dass er sie dazu aufforderte.

Das war ihr gutes Recht. Er war ein Sklave, und schon bald, nach ihrer Heirat mit Davin, würde sie seine Herrin sein. Als sie jetzt in seine Privatsphäre eindrang, begann seine Haut zu prickeln. Er zog es vor, allein zu arbeiten.

Kieran ließ den Hohlmeißel sinken und warf einen Blick auf sie. Beim Allmächtigen, sie war wirklich ein erlesenes Geschöpf. Noch der schwächste Schein des Feuers ließ ihr helles, goldblondes Haar schimmern. Es reichte ihr bis zur Taille und wurde von einem einzigen Kamm aus dem Gesicht gehalten. Ein Klecks Lehm klebte an ihrer Wange, und an ihren Handgelenken konnte er noch Spuren des Tons sehen, die sie versucht hatte abzureiben.

In Gedanken stellte er sich vor, wie ihre schlanken Finger dieses Material zu verschlungenen Schnüren formten. Eine unerwartete Hitzewelle stieg in ihm auf bei der Vorstellung, wie diese Finger über den Körper eines Mannes strichen. Er wusste nicht, wieso ihm dieser Gedanke gekommen war, aber sein Körper reagierte auf ihre Nähe.

„Ja, ich habe mit der Arbeit angefangen.“ Er bedeckte die Schnitzerei mit einem Tuch und reckte seine Hände. Die ersten Umrisse waren gut, aber noch hatte er nicht ihr Wesen eingefangen. „War das alles, was du wolltest?“

Vielleicht würde sie jetzt wieder gehen. Aber nein. Sie setzte sich auf einen der Baumstümpfe. Die Hände über dem Knie gekreuzt, fügte sie hinzu: „Ich mag nicht hier sein. Aber ich vermute, du musst deine Zeichnung beenden.“

Ihre Ehrlichkeit störte ihn nicht. Er zog Gespräche vor, die geradeheraus waren, und auch Frauen, die ihre Meinung sagten. „Ich kann von mir ebenfalls nicht behaupten, dass ich gern hier bin.“

Sie betrachtete ihn und überlegte, ob er gerade den Versuch gemacht hatte, spaßig zu sein. Dann gab sie den Gedanken auf und fragte: „Hast du daran gedacht, etwas zu essen? Oder war dir das zu lästig?“

„Ich habe von dem Proviant genommen, den Davin mir schickte.“ Es war Essen der schlechtesten Sorte gewesen, das Brot hart und trocken, anders als das, das er mittags bekommen hatte. Trotzdem hatte er alles aufgegessen.

Er nahm das Brett zur Hand, das er am Tag zuvor schon benutzt hatte, und er begann, ihre Augen zu zeichnen. Sie waren von einem tiefen Meeresblau, nur voller Traurigkeit. Es waren gequälte Augen. „Ich sah dich heute Morgen weinen.“

„Das ist nichts, was dich angeht.“

Wie wahr. Obwohl Frauen oft weinten, waren Tränen etwas, das er nicht gern sah. Seine Schwestern hatten das oft zu ihrem Vorteil ausgenutzt und sie fließen lassen, wann immer sie etwas haben wollten. Sie wussten, dass er dann ihren Wünschen nachgeben würde.

Iseult weinen zu sehen war etwas anderes. Er spürte, dass ihr Kummer über all das hinausging, was Davin wieder würde in Ordnung bringen können. Vielleicht weinte sie auch um seinetwillen.

„Wir alle haben unsere Geheimnisse“, erwiderte er. „Behalte deines ruhig für dich, wenn du willst.“

Er wechselte zu einer anderen Stelle auf dem Brett und zeichnete jetzt ihren Mund. Er war wohlgeformt, aber eher durchschnittlich. Nie hatte er ein Lächeln auf ihm gesehen, noch nicht einmal in Gegenwart ihres Verlobten.

Iseult richtete sich auf und schien sich jetzt noch unbehaglicher zu fühlen als gestern. „Wird es sehr lange dauern?“

Er ließ die Holzkohle sinken. „Du kannst jederzeit gehen, wann immer du willst.“

„Anders als du, ich weiß.“ Sie verschränkte die Arme. „Glaub nicht, ich hätte nicht daran gedacht. Aber je schneller ich das hier hinter mich bringe, desto weniger Zeit muss ich in deiner Hütte verbringen.“

Seine Aufmerksamkeit war wieder auf ihren Mund gerichtet, und er umfasste fest das Kohlestück. Während er zeichnete und die Minuten vergingen, wurden ihre Lippen weicher.

Er hatte sich geirrt. Es war kein gewöhnlicher Mund. Wenn sie sich entspannte, war dieser Mund voll und sinnlich, und jeder Mann würde diese Frau küssen wollen. Ob sie wohl genauso gut schmeckte, wie sie roch?

Das Stück Kohle rutschte ihm aus den Fingern. Hör auf, über sie nachzudenken.

Gedankenverloren stützte Iseult das Kinn in die Hand und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Herdfeuer. Ihm gefiel die Art, wie sie sich nicht genötigt fühlte, die Stille mit Geplapper zu füllen. Erst nach einer Weile sprach sie wieder.

„Hast wirklich du diese Figur des Jungen geschnitzt? Oder war das eine Lüge?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Um deine Freiheit zu erlangen, hättest du Davin vermutlich alles erzählt.“

„Ich lüge nicht.“ Er warf die Kohle beiseite und griff nach einem anderen Stück. Er musste nicht mit ihr über sein Können streiten. Das Holz selbst würde den Beweis erbringen.

Er hörte, wie eine Flüssigkeit eingeschenkt wurde. Iseult durchquerte den Raum und brachte ihm einen Becher Met. Sie stellte sich neben ihn, und er hatte keine Zeit mehr, die Zeichnung vor ihr zu verbergen.

Den Kopf zur Seite geneigt, betrachtete sie seine Arbeit, während sie einen Schluck aus ihrem Holzbecher nahm. „Du hast gar nicht mein Gesicht gemalt.“

Er hatte drei verschiedene Ausdrucksformen ihrer Augen gezeichnet. An einer anderen Stelle des Brettes hatte er ihren Mund gemalt. Er selbst war mit seinen Zeichnungen noch nicht zufrieden, denn sie hatten Iseults Wesen bislang nicht eingefangen.

„Nein. Es ist nicht nötig, das ganze Gesicht zu zeichnen“. Er nahm den Becher entgegen und stellte ihn neben sich.

„Warum nicht?“

Weil er es sich bereits eingeprägt hatte. Weil man eine Frau von ihrer Schönheit nicht leicht vergessen würde.

Er trank den Met und genoss seine Süße. „Weil ich gut bin in dem, was ich mache.“ Er stellte den Becher ein weiteres Mal zur Seite und griff wieder nach der Kohle. Dieses Mal konzentrierte er sich auf die Linie ihrer Wange, die Feinheit ihres Ohrs.

Iseult beugte sich vor und sah ihm zu, und wieder litt er Tantalusqualen wegen ihres Duftes. Er war süß, mit einer Spur Wildheit.

„Ich möchte sehen, was du bis jetzt geschnitzt hast.“ Ihre ruhig vorgetragene Bitte berührte ihn wie ein zärtliches Streicheln. Er wusste, dass sie sich nichts dabei dachte, wenn sie in dieser Weise mit ihm redete, aber ihre große Nähe ließ ihn so reagieren.

Críost, er war nicht tot. Sie würde jeden Mann dazu bringen, sie zu begehren. Ihre Augen blickten ihn zweifelnd an.

„Nein.“ Er zeigte selten einer Person seine Arbeit, jedenfalls nicht, bevor sie vollendet war. Sie würde weder die Muster und Spuren des Meißels noch die Feinheiten verstehen, bevor das Werk fertig war. „Es sind nur Umrisse vor einem herausgemeißelten Hintergrund.“

„Ich glaube nicht, dass du die Figur geschnitzt hast.“

Sie war ihm jetzt so nah. Er konnte die Hand ausstrecken und sie berühren, seine Finger durch ihr seidenes Haar gleiten lassen und herausfinden, ob es so weich war, wie er vermutete.

„Und mir ist es gleich, was du glaubst.“ Er mäßigte seinen Ton nicht. Sie versuchte ihn zu provozieren, damit er ihr zeigte, was er geschnitzt hatte. Nein, in diese Falle würde er nicht tappen.

„Wenn du so begierig darauf bist, dich zu bewundern, brauchst du nur noch ein paar Tage zu warten.“

Sie verzog den Mund. „Du bist unerträglich.“

In diesem Moment warf er das Brett beiseite. Es fiel klappernd gegen die Hüttenwand. Iseult erschrak über die plötzliche Bewegung. Unerträglich war er? Sie hatte ja keine Ahnung.

Er packte sie am Handgelenk und zog sie heran, bis sie dicht vor ihm stand. „Das stimmt, a mhuirnín. Und du tust gut daran, mir fernzubleiben.“

Er gab seinem Verlangen nach und zog ihren Kopf zurück, sodass sie ihn ansehen musste. Und dabei stellte er fest, dass ihr Haar wirklich so weich war, wie er es sich vorgestellt hatte.

Iseult starrte ihn erschrocken an. Ihr Mund zog Kierans ganze Aufmerksamkeit auf sich. Nur ein wenig noch, und er würde wissen, wie diese verbotene Frucht schmeckte.

Er wartete darauf, dass sie nach ihm schlagen oder den Wächter, den sie mitgebracht hatte, zu Hilfe rufen würde. Aber sie sagte kein Wort, sondern stand nur da und sah ihn an. Allein das leichte Zittern ihrer Hände verriet, was sie wirklich fühlte.

Kieran ließ sie los, Iseult taumelte fort von ihm. Dann drängte sie sich an ihm vorbei und eilte zur Tür.

Erst als sie fort war, merkte Kieran, dass auch er zitterte.

5. KAPITEL

Während des abendlichen Mahls sprach Iseult kaum ein Wort. Immer noch war sie völlig durcheinander wegen der plötzlichen Reaktion des Sklaven. Als er die Hand an ihre Wange legte, hatte eine ungewollte Glut ihre Haut in Flammen gesetzt. Er hatte es als Warnung gemeint und nicht als begehrliche Geste. Warum war ihr dann das Atmen so schwer geworden? Vielleicht war es einfach eine Demütigung gewesen. Sie konnte dafür sorgen, dass Kieran ausgepeitscht wurde, weil er sie angefasst hatte. Sie musste es nur Davin erzählen.

Aber sie wollte nicht der Grund dafür sein, dass ein anderer litt. Der Sklave hatte ihr wirklich nichts Böses angetan. Er hatte sie nur in Verlegenheit gebracht.

Sie griff nach ihrem Becher, aber der war leer. Besser, sie bat Davins Mutter Neasa nicht, ihr noch ein wenig Wein einzuschenken. Auch wenn Iseult Gast an ihrem Tisch war, machte Neasa kein Geheimnis daraus, dass ihr die bevorstehende Heirat missfiel. Sie war eine schöne, ältere Frau. Ihr glänzendes schwarzes Haar zeigte noch keine Anzeichen von Grau, und trotz der drei Kinder, die sie geboren hatte, besaß sie die Figur eines jungen Mädchens. Lächelnd sah sie zu ihrem Sohn auf und nickte einem Sklaven zu, damit er Davins Becher wieder füllte.

Davin goss die Hälfte seines Weins in Iseults leeren Becher. Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick. Sich zu ihr beugend, flüsterte Davin: „Du siehst heute Abend entzückend aus.“

Iseult errötete, aber sie murmelte: „Ich danke dir.“ Mit den Augen flehte sie ihn stumm an: „Lass mich gehen. Ich will nach Hause.“

Doch er schien die Botschaft nicht zu bemerken.

„Wirst du morgen jagen, Davin?“, fragte Neasa.

„Ja, das werde ich. Ich habe vor, einige Männer mitzunehmen. Ich wünsche mir ein schönes Fest für meine zukünftige Frau.“ Er schenkte Iseult ein stolzes Lächeln, und sie nickte zustimmend. Der Gedanke an ihre Heirat ließ eine Welle der Unruhe in ihr aufsteigen. Iseult nahm an, dass wohl jede Braut so empfand.

„Bis Beltaine kann noch viel geschehen“, widersprach seine Mutter. „Es ist gar nicht notwendig, sich so früh zu verheiraten.“

Iseults Hand schloss sich fester um ihren Becher, während sie ihn leerte. Wenn es nach Neasa ging, würden sie überhaupt nicht heiraten. Es schmerzte, dass nichts, was sie tat, ihren Ansprüchen genügte. Nie hörte diese Frau auf, Iseult daran zu erinnern, dass sie die Tochter eines Schmieds war und nicht würdig, Davin zu heiraten.

„Es dauert schon länger, als mir lieb ist“, erwiderte Davin. „Vielleicht heirate ich sie morgen bei Sonnenuntergang.“ Neckend packte er Iseults Zopf. Sie antwortete ihm mit einem Lächeln, aber innerlich war sie wachsam. Als sie das letzte Mal an eine Ehe gedacht hatte, endete es mit einer Demütigung. Es war schwer, einem Mann wieder Vertrauen zu schenken.

Ihr wurde eiskalt bei der Erinnerung, wie sie allein mit dem Priester auf einen Geliebten gewartet hatte, der nie kam. Sie war mit seinem Kind schwanger gewesen, und er hatte es gewusst. Wie alle anderen auch.

Scham erfüllte sie, als sie sich daran erinnerte, wie ihre Freunde und ihre Familie sie angestarrt hatten. Statt sie zu heiraten, war Murtagh lieber in ein Kloster gegangen. Und hatte das, zusammen mit dem in ihrem Bauch wachsenden Kind, nicht Nahrung für genug Tratsch an langen Winterabenden geboten?

Neasa hatte es jedenfalls nicht vergessen, so viel war klar. Sie glaubte, das Iseult es nicht wert war, einen Edlen zu heiraten. Doch Davin hatte um sie angehalten, sie behandelt, als wäre sie eine Prinzessin und keine Gemeine. Der Mann liebte sie, auch wenn Iseult nicht verstand, warum.

„Davin, eines Tages, schon bald, wirst du Häuptling sein“, ermahnte Neasa ihren Sohn. „Du trägst dann eine große Verantwortung. Iseult muss noch viel lernen, bevor sie dir eine anständige Frau sein kann.“

„Ich werde nur Anführer werden, wenn das Volk mich wählt“, berichtigte er sie. Auch wenn er es in ruhigem Ton sagte, sah Iseult doch das Verlangen auf seinem Gesicht. Er wollte den Stamm führen, und alle wussten, dass kein anderer außer ihm zur Wahl stand.

In diesem Augenblick wurden sie von Davins Vater Alastar unterbrochen. „Neasa, es besteht keine Notwendigkeit, von mir zu sprechen, als sei ich schon tot. Ich bin Häuptling – und werde es auch noch einige Zeit bleiben.“ Alastar stand auf und reckte sich. „Komm, Davin. Ich möchte deine Pläne für Beltaine hören.“

Iseult sah sehnsüchtig zur Tür hin, aber sie war nicht eingeladen worden, mit den Männern zu gehen. Schweigend unterstützte sie Neasa dabei, die Schüsseln fortzuräumen.

„Kann ich dir sonst noch helfen?“, fragte sie, als sie fertig waren.

„Ja.“ Neasa setzte den Krug mit Met ab und sah sie an. „Du könntest dich weigern, meinen Sohn zu heiraten. Aber ich weiß, dass du das nicht tun wirst. Du bist zu sehr darauf aus, einen Mann seines Standes zu heiraten.“

In Iseult flammte der Zorn auf. Die Frau stellte sie hin, als wäre sie gierig, als würde sie Davin nur wegen seines Geldes heiraten. „Davin ist ein guter Mann. Ich habe vor, ihn zu respektieren und zu umsorgen.“ Sie biss sich auf die Lippen, um zu verhindern, dass sie noch mehr sagte.

„Er verdient eine Frau, die weiß, wie man sich die Keuschheit erhält. Du hast ein Kind geboren.“

„Ein Kind, das mir gestohlen wurde“, widersprach Iseult. „Dein Sohn steht zumindest vor dir. Ich weiß nicht, ob meiner lebt oder tot ist.“

Der quälende Schmerz zerriss ihr fast das Herz, und ihre Augen schwammen in Tränen.

Als sie ihren Sohn Aidan verloren hatte, war Davins stille Anwesenheit Balsam für ihre blutende Seele gewesen. Er hatte sie in ihrem Kummer getröstet, sie mit so viel Zärtlichkeit, so viel Liebe behandelt.

„Du verstehst die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind“, sagte Neasa, wobei ihre Stimme messerscharf klang. „Und du weißt, dass ich das Beste für mein Kind möchte.“ Sie wischte sich die Hände an einem Tuch ab und fügte hinzu: „Du kannst vielleicht nicht verstehen, was es bedeutet, unser Volk anzuführen.“

Neasa irrte sich. Auch wenn Iseult keine von ihnen war, so fürchtete sie sich doch nicht vor der Verantwortung, die auf sie zukam. All ihre Gedanken drehten sich darum, wie sie sich um Davin kümmern und zusammen mit ihm ein Heim aufbauen konnte.

„Ich bin vielleicht nicht die Tochter eines Häuptlings“, erklärte sie, „aber ich will mein Möglichstes tun, um Davin glücklich zu machen.“

Neasa schüttelte den Kopf. „Das genügt nicht.“

Iseult hatte genug Kritik von dieser Frau gehört. Ruhig ging sie zur Tür und öffnete sie. „Es wird genügen müssen.“

Sie trat in die kühle Dunkelheit hinaus. Weder Davin noch Alastar waren in der Nähe. Iseult vermutete, dass sie einen Spaziergang machten. Obwohl die Höflichkeit ihr eigentlich vorschrieb, ihrem Verlobten noch eine gute Nacht zu wünschen, ging sie weiter in Richtung von Muirnes Hütte.

Was würde sie tun, wenn man von ihr erwartete, mit Davins Familie zusammenzuleben? Sie mussten sich unbedingt eine eigene Hütte bauen, sie würde sonst verrückt werden. Denn Davins Mutter tat bestimmt alles in ihrer Macht Stehende, um ihre Ehe zu zerstören.

Iseult ging schneller. Mit jedem Schritt machte sie ihrer Wut Luft. Manchmal wünschte sie, Davin wäre nicht der Sohn eines Häuptlings. Sie wünschte sich ein einfaches Leben, eines, das sie in Ruhe gestalten konnten. Vielleicht mit Kindern, die sie umgaben, und mit Aidan, der dann gesund und sicher wieder zu Hause war.

Über ihr verbarg sich der Mond hinter den Wolken. Iseult ging an Muirnes Haus vorbei. Sie musste jetzt allein sein und brauchte einen Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie passierte die Tore des Ringwalls und ging, bis sie das flackernde Licht der Fackeln nur noch von Weitem sah.

Als sie sich in das feuchte Frühlingsgras sinken ließ, beruhigte sie sich langsam. Der fruchtbare Duft der Erde brachte ihr Frieden.

„Du solltest nicht allein hier draußen sein“, sagte eine Stimme. Sie drehte sich nach ihr um und erblickte Kieran. Er trat näher. Das Licht hinter ihm tauchte sein Profil ins Dunkel. Das schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht. Ungebändigt und wild umwehten die Locken seine Wangen. Er kreuzte die Arme vor der Brust und betrachtete schweigend Iseult.

Mit einem Mal fühlte sie sich unbehaglich und zog die Knie an die Brust. Kein Wächter war in Sicht. Hier draußen vor dem Ringwall würde niemand sie sehen können.

„Ich möchte allein sein. Und es geht mir gut, wie du siehst.“

Wieder blieb er stumm. Seine Arroganz erinnerte sie daran, dass Begriffe wie Demut und Knechtschaft für diesen Mann keine Bedeutung besaßen. Anders als Davins übrige Sklaven zog er sich weder zurück, noch hielt er sein Gesicht abgewandt.

Unangenehm berührt stand sie auf. „Du wirst nicht entkommen wollen, oder?“

„Nein.“

„Hast du vor, eine weitere Flucht zu versuchen?“ Es hätte sie nicht erstaunt, wenn es so gewesen wäre. Sie wollte sehen, wie er floh, wollte dieses beunruhigende Gefühl loswerden, das sie jedes Mal in seiner Nähe befiel.

„Noch nicht.“ Er spielte auf Zeit und täuschte Gehorsam vor. Sah Davin denn nicht, wer dieser Mann wirklich war?

Kieran kam näher. Dabei bewegte er sich, als ob dieses Land sein Eigen wäre. Als ob sie sein Eigen wäre.

Das ließ wieder den Zorn in ihr wach werden. Wenn sie einen Spaziergang machen wollte, dann würde sie das tun. Sie brauchte keine Begleitung.

Sie setzte ihren Weg fort, bis sie nahe dem Wald war. Eine größere Entfernung zum Ringwall wagte sie nicht.

Kieran folgte ihr wie ein Schatten und hielt dabei einen angemessenen Abstand. Aber Iseult wusste, ganz gleich wie weit sie auch gehen würde, er würde sie nicht allein lassen. Er drehte den Kopf, als würde er die Umgebung nach Gefahren absuchen.

Doch die einzige Bedrohung, die sie spürte, ging von ihm aus.

„Ich brauche keinen Wächter.“

„Doch, das tust du.“ Tief und befehlend klang seine Stimme in der Stille der Nacht.

„Es gehört nicht zu deinen Aufgaben, mich zu beaufsichtigen.“

Vor den Fackeln im Hintergrund verschmolzen seine Umrisse beinahe mit der Dunkelheit. Auch wenn er immer noch ausgezehrt wirkte, seine Stärke war nicht zu leugnen. Und hinter seinem undurchdringlichen Blick lag eine Leere, die beinahe ihre eigene spiegelte.

„Vielleicht nicht.“ Seine Augen verweilten auf ihrem Gesicht, als müsste er es sich für immer ins Gedächtnis einprägen.

Das Bedürfnis, ihm zu entfliehen, war so stark, dass Iseult sich umdrehte und zum Ringwall zurückkehrte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, so sehr spürte sie seine Gegenwart. Obwohl sie sich nicht zu ihm umwandte, fühlte sie seine Nähe.

Als sie dann wieder hinter dem Palisadenzaun in Sicherheit waren, blickte sie sich um. Sie fühlte sich vor ihm, als wäre sie nackt, als könnte er ihr bis in die Seele schauen und dort ihre Verletzlichkeit sehen.

„Gute Nacht.“ Kieran wandte sich abrupt zum Gehen. Iseult brachte es immer noch nicht über sich, die Tür zu öffnen. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, und ihre Haut glühte. Obwohl es keinen Grund gab, sich vor ihm zu fürchten, kam sie nicht dagegen an, etwas Ähnliches zu fühlen. Sklave oder nicht, er schüchterte sie ein.

Und Davin erwartete auch noch, dass sie jeden Tag allein mit diesem Mann verbrachte! Das konnte sie nicht.

Nur noch ein paar Tage, ermahnte sie ihr Verstand. Es würde letztlich nicht so viel Zeit benötigen, die Schnitzerei fertigzustellen. Und wenn es getan war, würde sie ihn nie wiedersehen.

Davin O’Falvey wachte im Morgengrauen auf und betrachtete den leeren Platz neben ihm im Bett. Sein Gemach im Haus seines Vaters war verschwenderisch reich ausgestattet. Nur die weichsten Stoffe bedeckten sein Bett, und polierte Schildkrötenpanzer zierten die Wände. Er besaß alles, was ein Mann sich wünschen konnte: Gold, feine Gewänder und das Versprechen, einmal Häuptling zu werden. Und doch bedeutete ihm der ganze Reichtum nichts, wenn Iseult ihn nicht mit ihm teilte.

Er liebte sie sehr und konnte sich keine größere Freude vorstellen, als neben ihr aufzuwachen. Nie hatte er eine schönere und vollkommenere Frau gesehen. Auch wenn seine Mutter über ihren niederen Stand schimpfte, das zählte alles nichts. In wenigen Wochen würde sie ihm gehören.

Davin zog sich passende Kleidung für die Jagd an und wählte Bogen und Pfeile. Er wollte für Iseult sorgen, ihr zeigen, wie viel ihm an ihr lag. Und vielleicht würde sie eines Tages seine Liebe erwidern.

Oh, er wusste, dass sie nicht die gleichen Gefühle für ihn hegte. Noch nicht. Gott musste ihm helfen, jedes Mal, wenn er an den Mann dachte, der einst bei ihr gelegen hatte. Am liebten wollte er Murtagh O’Neill die Eingeweide herausreißen. Weil er sie angerührt hatte. Und weil er ihr das Herz brach.

Draußen befahl er, ihm ein Pferd zu bringen. Als der Knecht mit Davins Wallach Lir zurückkam, blieb Davin stehen, um das Gesicht des Sklaven zu betrachten. Anders als Kieran verhielt sich der Mann devot und senkte unterwürfig den Kopf. Davin konnte sich noch nicht einmal an seinen Namen erinnern.

Bei Kieran O’Brannon war das etwas ganz anderes. Kieran ertrug seine Wunden mit der Selbstverständlichkeit eines Kriegers.

Was war das für ein Mann? Davin lebte schon so lange mit Dienern und Sklaven, dass er sie kaum noch wahrnahm. Aber Kieran O’Brannon zog auf eine Art Aufmerksamkeit auf sich, die vermuten ließ, dass er kaum als Unfreier auf die Welt gekommen war. Das ließ Davin nur noch neugieriger auf des Mannes Vergangenheit werden.

Kierans Können, was das Schnitzen betraf, war erstaunlich. Das war die Arbeit eines Meisters und übertraf bei Weitem Seamus’ Fertigkeiten. Wie war es dazu gekommen, dass aus einem Mann mit solchem Talent ein Sklave wurde? Davin konnte es nicht verstehen.

Vor Seamus’ Hütte hielt er an und schaute hinein. Kieran saß auf der Bank und trieb mit dem Hammer einen Meißel ins Holz. Er war voll und ganz auf seine Arbeit konzentriert, und erst als Davins Schatten auf ihn fiel, blickte er auf.

„Ich bin noch nicht fertig.“

„Das merke ich. Ich möchte gern sehen, was du bis jetzt geschnitzt hast.“

Zögernd legte Kieran den Meißel beiseite. Davin trat näher, legte den Bogen aus der Hand und griff nach der Schnitzerei. Das Gesicht seiner Geliebten tauchte langsam aus dem Holz hervor. Iseults traurige Augen, das lange Haar, das sich an ihre Wange schmiegte … alles war vorhanden. Außer ihrem Lächeln.

Davin reichte das Stück Holz zurück. „Es ist eine schöne Arbeit.“ Er trat zur Seite, sodass das Sonnenlicht wieder in die Hütte fallen konnte. „Meine Männer gehen heute Morgen auf die Jagd. Ich möchte, dass du uns begleitest.“

„Ich muss das hier zu Ende bringen“, widersprach Kieran. Er nahm eine Schale, die geschmolzenes Tierfett enthielt, zur Hand und einen Lederlappen. Mit geübten Bewegungen rieb er das Holz mit dem Fett ein und brachte so seine natürliche Maserung zum Vorschein. Das Fett würde verhindern, dass die Schnitzerei Risse bekam.

„Das war keine Bitte.“ Davin nahm seinen Bogen wieder auf. „Ich werde dich mit Waffen ausstatten. Triff uns in einer Stunde am Tor.“

Es kümmerte ihn nicht, ob sein Sklave mitkommen wollte oder nicht. Er hegte einen Verdacht, was die Herkunft des Mannes betraf, und hoffte, heute Antworten auf seine Fragen zu erhalten.

Iseult lehnte sich gegen den Wind und ritt hart nach Osten. Sie hatte ihre Freundin Niamh überreden können, sie zu begleiten. Beide kannten sich erst seit dem letzten Winter, und Niamh war Iseult eine enge Vertraute geworden. Auch wenn Niamh sich über ihre braunen Haare und grauen Augen beklagte und der Meinung war, dass kein Mann sie jemals hübsch finden würde, war Iseult der Ansicht, ihre Freundin habe ein nettes Lächeln. Zudem war sie abenteuerlustig und besaß das Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, ähnlich wie sie selbst.

Autor

Michelle Willingham
Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde. Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...
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