Historical Herzensbrecher Band 8

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SÜNDIGE STUNDEN MIT DEM WIKINGER von MICHELLE WILLINGHAM

Verzweifelt zieht die schöne Elena den verwundeten Krieger, der sie vor irischen Entführern gerettet hat, an sich und presst ihre Lippen auf seine. Als sein Kuss leidenschaftlicher wird, schiebt sie ihn von sich. Er ist der Freund ihres Mannes, und sie fühlt sich an ihre arrangierte Ehe gebunden. Doch während sie Ragnar pflegt, wird die Versuchung, dem Verlangen nachzugeben, immer stärker …

DIE WILDE SCHÖNHEIT UND DER WIKINGER von JOANNA FULFORD

Lara tobt: Ihr Vater hat sie einem Wikinger versprochen. Finn ist zwar faszinierend, aber Lara will keine Ehe ohne Liebe. Doch in der Hochzeitsnacht sagt er ihr, dass er darauf warten wird, bis sie zur Liebe bereit ist. Und entfacht Laras Neugier - wie wäre es, in seinen Armen zu liegen? Als sie verschleppt wird, begreift sie, dass nur einer sie und ihr Herz retten kann: Finn ...


  • Erscheinungstag 07.08.2020
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749484
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Willingham, Joanna Fulford

HISTORICAL HERZENSBRECHER BAND 8

1. KAPITEL

Irland, im Jahr 875

Nichts ist schlimmer, als die Ehefrau deines besten Freundes zu lieben, dachte Ragnar.

Er packte die Ruder fester und zog sie kraftvoll durch die Wellen. Er hätte nicht mit den beiden nach Éire kommen dürfen. Aber als Styr ihn gefragt hatte, musste er wohl einen schwachen Moment gehabt haben und hatte zugesagt. Obwohl er seine Besessenheit von Elena so tief wie möglich in sich vergrub, war doch der Gedanke daran, für immer durch viele Hundert Meilen von ihr getrennt zu sein, schlimmer als der, sie tagtäglich mit ihrem Ehemann zu sehen.

Nie hatte er einem von ihnen seine Gefühle gestanden. Darum wusste niemand, welche Qualen er empfand, wenn er Styr zusammen mit der Frau, die er liebte, in dessen Hütte verschwinden sah.

Dennoch konnte er sich einfach nicht dazu durchringen, sich von ihr fernzuhalten.

Während Ragnar ruderte, behielt er Elena stets im Blick. Ihr blondes Haar war von roten Strähnen durchzogen, wie Flammen auf goldenem Grund. Sie war schön wie eine Göttin – die er von ferne verehrte.

Sie betrachtete ihn als einen Freund, aber mehr nicht. Das war nicht überraschend. Eine Frau wie Elena verdiente einen starken Ehemann, einen hochgeborenen Krieger. Schon vor vielen Jahren war ihre Ehe mit Styr beschlossen worden, und Ragnar gehörte nicht zu den Männern, die einem Freund die Frau stehlen. Schon gar nicht dem besten Freund.

Elena hatte ihre Wahl getroffen, und Styr schien alles zu tun, um sie glücklich zu machen. Deshalb hatte Ragnar sich nie eingemischt.

Im Laufe der Jahre hatte er versucht, eine andere Frau für sich zu finden. Er war ein starker Krieger, und so manche junge Schönheit hatte schon ein Auge auf ihn geworfen. Aber keine von ihnen hätte sich je mit Elena messen können. Vielleicht würde das auch nie einer gelingen.

Nachdenklich betrachtete er sie, wie sie auf die grauen Wellen hinausstarrte. Etwas hatte sich in letzter Zeit verändert. Sie und Styr sprachen kaum noch miteinander. Ihre Kinderlosigkeit nagte an ihr, ließ sie in Kummer versinken. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blass. Doch nichts, was er ihr hätte sagen können, würde ihr gebrochenes Herz heilen.

Das Drachenboot näherte sich dem Ufer. Hier war das Wasser flacher, als sie erwartet hatten.

„Wir gehen hier an Land“, bestimmte Styr. Er warf den anderen einen Blick zu und kam dann zu Ragnar. Einen Moment lang stand er nur da und sah auf die Küste hinaus. „Bleibst du hier bei Elena?“, fragte er dann. „Ich will nicht, dass sie in einen Kampf gerät, sollte es Ärger geben.“

„Ich werde auf sie achtgeben“, versprach Ragnar. Sein Schwert würde er im Blut eines jeden Feindes baden, der es wagte, Elena zu nahe zu kommen. Obwohl sie nicht zu ihm gehörte, stand sie unter seinem Schutz, und er würde sein Leben für sie geben.

Styr legte ihm eine Hand auf die Schulter und seufzte schwer. „Ich bin froh, dass du bei uns bist“, gab er zu. „Eine solche Reise kann man nur mit der Hilfe guter Freunde überstehen.“

„Keiner der Männer hat in den letzten drei Tagen ein Auge zugetan“, stimmte Ragnar zu. „Wir können alle eine gute Mahlzeit und etwas Ruhe gebrauchen.“ Ihr Schiff war in einen Sturm geraten und von den Wellen hin und her geworfen worden, als wollten die Götter ein Opfer fordern. Sie alle hatten gegen die harten Winde gekämpft und dem Unwetter getrotzt. Der Sieg über die Elemente hatte sie ihren Schlaf gekostet. Sein Körper und Geist waren so erschöpft, dass Ragnar kaum einen anderen Gedanken fassen konnte als den, an Land zu gehen und auf dem Sand zusammenzubrechen.

„Zu schade, dass du keine Frau hast, die dir das Bett wärmt“, stellte Styr achselzuckend fest.

Ragnar bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Ich habe gehört, es soll in Éire hübsche Mädchen geben. Wer weiß, vielleicht finde ich ja eins.“

In den letzten Jahren hatte er ein paar Frauen gehabt, aber keine hatte einem Vergleich mit Elena standhalten können. So sehr er es auch versuchte, Elena aus seinen Gedanken zu verbannen, war er doch so manche Nacht schweißgebadet aufgewacht, hart und erregt von den Bildern, die er im Traum gesehen hatte, von der Frau, die er liebte.

Bei Thor, er musste aufhören, daran zu denken. Elena gehört zu Styr, und ich brauche mir nicht die geringste Hoffnung zu machen, dass sich das je ändern wird, rief Ragnar sich zur Ordnung. Wenn sie erst einmal das Kind ihres Ehemanns trug, würde sie mit ihm glücklich werden.

Er packte sein Schwert und griff nach dem Schild.

Styr nahm seinen eigenen Schild zur Hand. „Wirklich, ich bin froh, dass du da bist. Wir können gute Kämpfer gebrauchen.“ Er unterstrich die Worte, indem er ihm leicht in den Oberarm boxte.

Zur Antwort ergriff Ragnar seinen Freund am Handgelenk und hielt es fest. „Ich habe dich ein oder zwei Mal besiegt.“

„Nur weil ich es zugelassen habe.“ Aber das Lächeln, das Styr ihm schenkte, war finster. Ragnar empfand für ihn wie für einen Bruder. Damals hatte er ihm das Kämpfen beigebracht, da sein eigener Vater sich nicht die Zeit dafür genommen hatte. Heimlich hatten sie zusammen geübt, bis Ragnar das Schwert ebenso gut schwingen konnte wie Styr. Tatsächlich sogar etwas besser, auch wenn Styr das niemals zugeben würde.

Leise sagte Ragnar: „Ich werde dir immer den Rücken freihalten.“

Und das würde er auch. Trotz seiner verräterischen Gefühle würde er seinen besten Freund niemals hintergehen.

Nachdem sie vor Anker gegangen waren, wateten die Männer durch das hüfthohe Wasser. Elena blieb auf dem Boot, wirkte unsicher, ob sie ihnen folgen sollte.

„Am besten bleibst du noch ein wenig an Bord“, sagte Ragnar, der bei ihr geblieben war. „Wir sehen nach, ob es sicher ist.“

Sie schien besorgt, schüttelte aber den Kopf. „Nein, ich möchte mitkommen. Wenn die Bewohner des nächsten Dorfes mich sehen, denken sie vielleicht nicht, dass wir sie angreifen wollen.“

Das war ein gutes Argument, denn Angreifer hätten wohl kaum eine Frau bei sich. Trotzdem war Ragnar entschlossen, sie hinter den anderen zu halten.

Er half ihr vom Schiff, wobei er darauf achtete, ihren schlanken Leib nicht zu lange zu berühren. Sie trug ein cremefarbenes Gewand unter einem rosafarbenen Oberkleid, das an den Schultern von goldenen Broschen zusammengehalten wurde. Ihr Haar wehte im Wind. Als sie den Fuß in das eiskalte Wasser setzte, zuckte sie zusammen.

„Wir werden so schnell wie möglich ein Feuer entfachen“, versprach Ragnar, als sie den Strand erreichten. „Warte hier, bis wir uns umgesehen haben. Wenn Gefahr droht, geh aufs Schiff.“

Elena nickte widerwillig.

Er begab sich zu Styr und den anderen Männern, die sich dem Dorf genähert hatten, sie alle betrachteten die strohgedeckten Hütten. Aufgrund der unnatürlichen Stille erschauerte Ragnar unwillkürlich. Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Nur der Geruch von Feuern lag noch in der Luft, und als sie das Dorf betraten, entdeckten sie Anzeichen dafür, dass die Anwohner hastig die Flucht ergriffen hatte. Suppe brodelte in einem Topf über dem Feuer. Dampf stieg in die kalte Luft auf – aber niemand stand davor und rührte um. Ein Umhang lag auf dem Boden, als hätte derjenige, der es verloren hatte, nicht einmal stehen bleiben wollen, um ihn aufzusammeln.

Plötzlich verschwamm ihm alles vor den Augen, und Ragnar taumelte. Der Schlafmangel und die Anstrengung während des Sturms forderten nun ihren Tribut. So gut er konnte, kämpfte er gegen den Schwindel an.

Irgendetwas stimmte mit dieser Siedlung nicht. Nirgends waren Menschen oder Tiere zu sehen. Mit jedem Schritt verdichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, der Boden unter ihm schien zu schwanken. Ragnar blieb für einen Moment stehen, um sich zu sammeln und tief durchzuatmen. Er durfte sich nicht von der Erschöpfung überwältigen lassen.

Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah, drehte er sich um und erblickte Elena, die ihm gefolgt war. „Du solltest zurück auf das Schiff gehen. Bleib dort, bis wir wissen, was los ist.“ Falls die Iren ihre Absichten falsch deuteten und angriffen, wollte er sie in Sicherheit wissen.

Doch Elena schüttelte den Kopf. „Wenn ich dort allein bleibe, bin ich ungeschützt.“ Ragnar wollte widersprechen, aber sie beharrte: „Ich gehe nicht aufs Boot. Ich brauche festen Boden unter den Füßen.“

Ragnar gab nach. „Dann halte dich hinter mir.“ Bevor sie einen weiteren Schritt machten, betrachtete er sie. Ihre meergrünen Augen hielten ihn gefangen, ihre zarte milchweiße Haut lockte ihn, sie zu berühren. So viele Nächte hatte er davon geträumt, mit den Fingern durch ihr flammendes Haar zu fahren, ihre weichen Lippen mit einem Kuss in Besitz zu nehmen.

„Stimmt etwas nicht?“ Sie errötete unter seinem Blick, als könnte sie seine Gedanken erraten.

Er zwang sich, nach vorn zu schauen. „Nein, alles in Ordnung.“ Aufmerksam suchte Ragnar die Umgebung nach Bewegungen ab. In einiger Entfernung sah er zwischen den Hütten einen Schatten huschen. Die Stille zerrte an ihm; ihm war, als ob ein noch unbekannter Angreifer auf sie lauerte.

Das Schwert in der einen Hand, den Schild in der anderen, ging Ragnar ein paar Schritte in Richtung der Schatten, die er gesehen hatte. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass Elena besser auf dem Schiff geblieben wäre. Stattdessen stand sie hinter ihm, die Hände gefaltet.

„Geh zurück zum Strand“, ermahnte er sie. „Sieh dich um, und ruf uns, sobald dir etwas auffällt.“ Sie nickte, doch Ragnar zögerte. Sein Gefühl warnte ihn davor, sie alleinzulassen – und dennoch musste er dem unsichtbaren Angreifer zuvorkommen, wenn er sie beschützen wollte. „Kommst du zurecht?“

„Ja.“ Aber ihre Stimme klang verunsichert. Sie griff nach dem Heft des Dolches an ihrem Gürtel, als sie sich zum Gehen wandte.

Behutsam näherte sich Ragnar der Stelle, wo er die Schatten gesehen hatte, während die anderen Styr folgten. Dabei ließen sie die Schultern hängen, als würden sie von der Last der vorangegangenen Tage niedergedrückt. Sie alle würden kämpfen, wenn es notwendig war, aber die Erschöpfung steckte ihnen in den Knochen.

Er ging weiter und konzentrierte sich nur auf die Bedrohung. Plötzlich durchschnitt Elenas Schrei die Stille. Ragnar fuhr herum, hob sein Schwert – und sah sie am Strand von vier Männern umringt.

Bei den Göttern, wo waren sie so plötzlich hergekommen?

Dunkler Zorn ergriff ihn, brachte sein Blut zum Kochen und vertrieb die Müdigkeit. Das Schwert erhoben, rannte er zu Elena zurück. Er griff einen der jungen Männer an, doch der blockte seinen Hieb mit seinem Schild ab. Ragnar spürte, wie die schiere Entschlossenheit ihm neue Kraft einflößte. Er wehrte einen Angriff von zweien der Männer gleichzeitig mit seiner Waffe ab.

Er ließ sich vom Kampfesrausch mitreißen. Schwerter schlugen gegen Schilde im altvertrauten Klang. Vor dem Bedürfnis, Elena zu schützen, trat alles andere in den Hintergrund.

Hinter ihm schlich sich ein weiterer Feind heran; er sah es an Elenas erschrockenem Blick. Die Überzahl machte ihm nichts aus. Solange er lebte, würde ihr niemand etwas tun. Mit einem kräftigen Schlag seines Schildes schickte er einen der Männer zu Boden, einen anderen erwischte er mit einem gewaltigen Schwerthieb.

Einer der Feinde packte Elena von hinten, verdrehte ihr das Handgelenk, bis sie den Dolch in den Sand fallen ließ, und zog sie mit sich. Ragnar kämpfte mit aller Kraft gegen die Iren an, um zu ihr zu gelangen.

Gebe Thor, dass es ihm rechtzeitig gelang.

Das Blut rauschte durch seine Adern. Ragnar stieß einen Schlachtruf aus, fegte die Feinde mit seinem Schwert zur Seite. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Styr ebenfalls loslief.

Zwei Männer versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden, aber Styr und er kamen von unterschiedlichen Seiten auf sie zu. Als sein Angreifer sich nach vorne warf, ließ Ragnar sich in den Sand fallen und rollte sich zur Seite. Ein Schwert fuhr an genau der Stelle durch die Luft, wo er Augenblicke zuvor gestanden hatte.

Weitere Iren stießen vor. Während Ragnar weiterkämpfte, sah er, wie der junge Mann, der Elena im Griff hatte, ihr ein Messer an die Kehle hielt. In den Augen des Jungen lag Verzweiflung, er wirkte, als hätte er noch nie an einer Schlacht teilgenommen, geschweige denn jemanden getötet. Das machte ihn nur umso gefährlicher.

Mit neuer Wut kämpfte sich Ragnar vor, und auch Styr eilte auf seine Ehefrau zu. Bevor dieser jedoch Elenas Geiselnehmer niederstrecken konnte, änderte sich alles.

Eine Frau tauchte auf und schrie aus Leibeskräften. In den Händen hielt sie einen stabilen Holzstab.

Ragnar kümmerte sich nicht um sie, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Elena. Der junge Mann bei ihr ist abgelenkt, stellte Ragnar fest. Vielleicht gelang es ihm, sie zu befreien. Zoll für Zoll näherte er sich ihm und wartete auf den richtigen Augenblick.

Der Junge wirkte verunsichert. Vielleicht überlegte er, ob er Elena loslassen sollte. Doch ihm schien klar zu sein, dass Styr ihm, sobald er das tat, mit seiner Streitaxt den Schädel spalten würde.

Ich hingegen könnte ihn unbemerkt von der Seite angreifen, überlegte Ragnar. Wenn sein Schlag saß, hatte er Elena befreit, bevor irgendjemand auch nur bemerkte, was geschah.

Noch ein wenig näher …

Er hob das Schwert, bereit, zuzuschlagen. Ehe er sich rühren konnte, hieb die irische Frau Styr ihren Stab über den Kopf und traf ihn am Ohr. Sein Freund ging zu Boden.

Bei Thor. Ohne nachzudenken, stürmte Ragnar vor, gerade in dem Augenblick, als ein anderer Angreifer zum tödlichen Schlag ansetzte.

„Styr!“, rief Elena entsetzt. Ragnar konnte den Hieb gerade noch abwehren. Elena streckte die Hände nach ihrem Ehemann aus, während die andere Frau etwas in einer fremden Sprache rief, das wie eine Entschuldigung klang.

Der Junge zerrte Elena zum Meer. Immer tiefer watete er, sodass sie schließlich bis zur Hüfte im Wasser stand. Er könnte sie ertränken, wenn er wollte.

Endlich kamen ihnen die anderen Wikinger zu Hilfe. Jeder Kämpfer war nötig, um Elena und Styr zu beschützen. Seine Freunde eilten mit gezogenen Waffen und erhobenen Schilden heran. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass die dunkelhaarige Frau Styr Arme und Beine mit Lederriemen fesselte. Ein alter Mann half ihr, ihn wegzuschaffen.

„Ragnar“, bat Elena, „rette ihn.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und in ihren meergrünen Augen lag Todesangst.

Er war hin- und hergerissen von dem Wunsch, seinem Freund zu helfen – und dem, Elena zu retten. Bei allen Göttern; warum war er gezwungen, eine solche Entscheidung zu treffen?

„Was sollen wir tun?“, fragte sein Freund Onund.

Letzten Endes gab es darauf nur eine Antwort. Ragnar musste der Frau beistehen, die er liebte, selbst wenn er deswegen den Mann aufgeben musste, der für ihn wie ein Bruder war.

„Falls ihr irgendetwas passiert, wird Styr uns alle verantwortlich machen.“ Ragnar hob das Schwert und lief aufs Meer zu.

2. KAPITEL

Fassungslos sah Elena, wie Ragnar Schwert und Schild in den Sand legte. Was tat er da? Er war stärker als all seine Gegner und könnte sie ohne Zweifel unschädlich machen. Warum ergab er sich?

Es sei denn, er hatte einen anderen Plan, den sie nicht kannte.

Ragnar kam näher, wobei das Wasser seine Stiefel umspülte. Er trug eine lederne Rüstung und einen Eisenhelm, unter dem sein braunes Haar ihm auf die Schultern herabfiel. Die dunkelgrünen Augen funkelten, und sein Gesicht zeigte den entschlossenen Ausdruck eines Kriegers, der vorhatte, seine Feinde zu erschlagen.

Und das würde er gewiss auch tun. Elena hatte ihn zusammen mit ihrem Ehemann trainieren sehen und dabei seine Fähigkeiten beobachtet. Sie kannte keinen stärkeren Kämpfer als Ragnar Olafsson, und er bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, mit der kein anderer mithalten konnte.

„Lass sie los!“, rief Ragnar dem jungen Mann zu, der sie gefangen hielt. „Wir gehen auf unser Schiff zurück.“

Er sprach zu dem Iren in der Sprache der Nordmänner, als könnte dieser sie verstehen. Seine Stimme war ruhig, und er hielt die Hände erhoben als Zeichen, dass er sich ergab. Doch in seiner Körperhaltung lag eine stumme Drohung.

Ragnar würde niemals mit einem Feind verhandeln. Ihr Herz schlug schneller, als die übrigen Iren sie einzukreisen begannen.

Was hatte Ragnar vor? Wollte er sich für sie opfern? Nein, er war nicht der Typ, der zum Märtyrer wurde.

Wütend starrte Onund ihn an. „Vielleicht willst du ja aufgeben, Ragnar, aber wir sind nicht dazu bereit. Wir sind in der Überzahl!“, knurrte er und reckte drohend sein Schwert.

Ein Ausdruck der Verärgerung huschte über Ragnars Gesicht, und endlich verstand Elena, was sein Plan war. Die Iren hatten sie überrascht und dadurch in die Enge getrieben, und die gleiche Taktik wollte Ragnar nun gegen sie wenden. Wenn er sie überzeugen konnte, dass sie sich ergaben, gewannen die anderen Wikingerkrieger Zeit, sich für einen Gegenschlag zu sammeln. Verstand Onund das nicht?

„Wenn wir sie angreifen, schneiden sie ihr die Kehle durch. Und Styr werden sie auch töten.“ Ragnar fügte leise etwas hinzu, das Elena nicht mehr hören konnte, da der junge Ire sie noch tiefer ins Wasser zog. Inzwischen hatten sie das Schiff fast erreicht, und sie wusste nicht, was Ragnar als Nächstes tun würde.

Nicht ein einziges Mal hatte er sie aus den Augen gelassen. In seinem Blick erkannte sie seine Entschlossenheit, sie zu befreien. Ihr kam wieder in den Sinn, wie er sie vorhin angeschaut hatte. Es hatte sie verwirrt, war doch sein Blick voller Verlangen gewesen. Als wollte er sie … für sich.

Bei der Erinnerung pochte ihr Herz schneller, denn auf diese Weise hatte er sie noch nie angesehen. Sein Blick hatte sie durchdrungen und ihr Innerstes berührt. Sie begriff nicht, wieso ihr Körper so reagierte, wieso ihre Haut mehr prickelte als nur vom eiskalten Wasser.

Ein erschreckender Gedanke kam ihr. Ragnar wollte doch nicht etwa, dass Styr starb? Ihr Gemahl war nun ein Gefangener der Iren, und sie mussten ihn irgendwie retten. Aber was, wenn Ragnar das gar nicht vorhatte? Wenn er Styr einfach aufgeben wollte?

Niemals würde sie ihm einen solchen Verrat zutrauen, konnte aber auch diese unbestimmte Angst nicht einfach abschütteln.

Schließlich folgten die anderen zögernd seinem Beispiel, legten die Waffen nieder und wateten weiter ins Meer, einer nach dem anderen, während die Iren ihnen folgten.

„Einige von euch sollten bei Styr bleiben“, rief sie, doch sobald sie gesprochen hatte, drückte der Mann, der sie festhielt, ihren Kopf unter Wasser. Alle Luft entwich aus ihren Lungen. Er riss sie wieder hoch, und das triefnasse Haar fiel ihr ins Gesicht und nahm ihr die Sicht. Mit barscher Stimme bellte er Anweisungen, die sie nicht verstand. Und ehe sie begriff, wie ihr geschah, hatte er sie zurück auf das Drachenboot gehoben und war ihr an Bord gefolgt. Sie war nicht einmal in der Lage, sich zu wehren, so sehr hatte die Kälte sie durchdrungen und jeden Muskel betäubt.

Alles verschwamm ihr vor den Augen, und sie nahm kaum noch wahr, dass er ihr immer noch ein Messer an die Kehle hielt, ihre Handgelenke ergriff und mit einem Seil fesselte. Schließlich band er sie im Bug des Schiffes an.

Kurz darauf kletterten ihre Landsleute auf das Boot, gefolgt von vier Iren. Sie versuchten nicht einmal, sich zu wehren, sondern ließen sich einfach gefangen nehmen. Vermutlich warteten sie auf den richtigen Moment, um einen Überraschungsangriff zu starten.

Nun gab es niemanden, der Styr noch helfen konnte. Mutlos sah sie zur Küste hinüber. Ihren Ehemann hatte man bereits weggebracht, und sie wusste nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. In den letzten Monaten hatten sie sich auseinandergelebt, sicher, aber sie wusste, dass es ihre eigene Schuld war, da sie ihn häufig abgewiesen hatte. Ein guter Mann, ein Krieger wie er hatte etwas Besseres verdient als eine unfruchtbare Ehefrau wie sie.

Selbstmitleid nagte wieder einmal an ihr, und sie drängte es zurück. Solche Gedanken halfen ihr in dieser Lage auch nichts. Sie musste jetzt allen Mut zusammennehmen und tun, was immer nötig war, um zu überleben. Das war ihre einzige Hoffnung.

Nun stieg Ragnar an Bord. Während man ihn fesselte, hielt er den Blick unablässig auf sie gerichtet. Elena ahnte zwar nicht, was genau er vorhatte, aber die Botschaft war eindeutig. Er hatte in jedem Fall die Absicht, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.

Die Iren setzten sich an die Ruder. Da sie jedoch nur vier waren, kamen sie nicht besonders schnell voran. Ihr Geiselnehmer, der Brendan gerufen wurde, übernahm das Segel und ließ das Schiff vom Wind aufs offene Meer hinaustreiben.

Erst als Ragnar wenige Fuß von ihr entfernt aufs Deck gestoßen wurde, wagte Elena, ihm zuzuflüstern: „Was wird aus Styr? Du hast ihn allein zurückgelassen. Er könnte bereits tot sein.“ Bei diesen Worten überlief sie ein kalter Schauer, und heiße Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Wenn man seinen Tod gewollt hätte, hätte man ihn nie gefangen genommen“, erklärte Ragnar. „Sie werden versuchen, ihn als Geisel zu nutzen. Aber wir kehren zurück, bevor ihm etwas zustoßen kann.“

Elena wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Wer weiß, vielleicht folterten sie Styr oder töteten ihn aus Rache. „Was, wenn du unrecht hast?“

„Ich hab recht. Vertrau mir.“

Sie sah ihm in die Augen, flehte ihn stumm an, so schnell wie möglich die Iren an Bord unschädlich zu machen. „Du darfst ihn nicht im Stich lassen.“

Seine Miene verriet ihr, dass er ihr wegen ihrer Vorwürfe grollte. „Ich habe ihm geschworen, dich mit meinem Leben zu beschützen. Und das habe ich auch getan.“ Er lehnte sich näher zu ihr, seine dunkelgrünen Augen forderten ihre Aufmerksamkeit. „Heute Nacht werden wir das Schiff wieder übernehmen.“

„Dir sind die Hände gebunden.“

„Sind sie das?“ Er klang so gleichgültig, dass sie sich fragte, ob sie unrecht daran getan hatte, an ihm zu zweifeln. Sie musterte ihn. Sein langes braunes Haar durchzogen goldblonde Strähnen. Seine Miene war unnachgiebig wie die eines Eroberers. In seinem Blick lag wieder dieser eine Ausdruck, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Er drang durch ihre Furcht, durchdrang sie bis ins Mark, nahm sie ganz gefangen.

Vertrau mir, hatte er verlangt. Sie wollte ihm glauben, denn er war ihre größte Hoffnung, zu der Siedlung der Iren und ihrem Ehemann zurückzukehren. Und wieder betrachtete er sie auf diese Weise, die ihr Herz schneller schlagen ließ und bewirkte, dass sie sich noch unbehaglicher fühlte.

Kurz darauf wurde er von einem der Iren grob gepackt und brutal zurück auf die Planken geschleudert. Elena konnte den Blick nicht von ihm nehmen; seine letzten Worte hallten noch in ihr nach. War es ihm tatsächlich gelungen, seine Fesseln zu lösen? Falls ja, hatte er das sehr gut verbergen können.

Der Wind nahm zu, der Himmel verdüsterte sich. Allmählich bekam sie Hunger, aber niemand reichte ihr etwas zu essen oder zu trinken. Als die Iren zuvor das Schiff erkundet hatten, waren sie schnell auf Styrs Vorräte gestoßen. Wie die Wilden verschlangen sie nun die Lebensmittel, jeden einzelnen Bissen Trockenfleisch und eingelegten Fisch, ohne ihren Gefangenen auch nur einen Krümel anzubieten. Lediglich der Sack Getreide blieb unangetastet. Elena betrachtete die Iren und merkte auf einmal, wie dürr sie waren. Ihre Gesichter waren eingefallen, als hätten sie hungern müssen.

Wieder einmal fragte sie sich, ob es klug gewesen war, sich zu ergeben. Diese abgemagerten Männer hätten mit der Kraft der nordischen Krieger kaum mithalten können. Aber in den Augen der Iren sah sie, dass es ihnen nur noch ums nackte Überleben ging, als hätten sie alle Menschlichkeit verloren. Wie Tiere stritten sie sich um die besten Stücke Fleisch.

Ihr Ärger über Ragnars Entscheidung ließ nach. Männern, für die nur noch ihr eigenes Leben zählte, war alles zuzutrauen. Sie würden ohne zu zögern töten.

Ihr Anführer Brendan hatte kaum das Mannesalter erreicht. Doch die Entschlossenheit war ihm ins Gesicht geschrieben. Was auch immer er mit ihnen vorhatte, er würde sich nicht davon abbringen lassen.

Obwohl man sie schon vor Stunden aufs Schiff gezogen hatte, wurde ihr einfach nicht wärmer. Ihr Körper fühlte sich eiskalt an, und das immer noch feuchte Haar lag klamm auf ihren Schultern. Dazu kam noch ihre Angst, und Durst quälte sie.

„Könnte ich etwas Wasser haben?“, fragte sie Brendan, wohl wissend, dass er sie nicht verstehen konnte. Sie nickte hinüber zu seinen Wein trinkenden Männern, um zu verdeutlichen, was sie meinte.

Er presste den Mund zu einem dünnen Strich zusammen, ignorierte die Frage und kümmerte sich stattdessen um das Hauptsegel. Elena betrachtete ihre Freunde und Landsleute, um herauszufinden, ob Ragnar recht hatte. War es ihnen gelungen, sich von den Fesseln zu befreien? Sie saßen reglos da, jeder mit den Armen hinter dem Rücken. Keiner von ihnen sah sie an.

Vielleicht …

Ragnar richtete das Wort an die Männer. „Wenn der Mond aufgeht.“ Seine ruhige Stimme verriet seine Selbstsicherheit.

Elena hielt den Atem an und schaute zu den Iren hinüber. Hatten sie es verstanden? Die meisten waren immer noch damit beschäftigt, das Essen hinunterzuschlingen, aber Brendan runzelte die Stirn. Wortlos zog er seinen Dolch, kam auf sie zu und setzte sich neben sie. Sie fühlte die scharfe Klinge an ihrer Kehle und sah, wie der junge Mann in einer stummen Herausforderung zu Ragnar hinüberblickte.

Noch bevor die Nacht vorüber war, werde ich den Iren aufschlitzen dafür, dass er es gewagt hatte, Elena zu berühren.

Mit seinem verborgenen Messer hatte Ragnar seine Fesseln zerschnitten und es dann, einem nach dem anderen, an seine Männer weitergereicht. Nun war die Klinge wieder in seiner Hand, und er wartete auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.

Seit Stunden segelten sie nun schon, und die Iren waren eingeschlafen – alle bis auf den, der Elena gefangen hielt. Er schien zu spüren, dass in dem Moment, in dem er sie losließ, sein Leben verwirkt wäre.

Die Sonne war bereits unter den Horizont gesunken, und der Mond ging langsam auf. Ragnar ermahnte seine Männer mit einem stummen Blick, sich bereitzuhalten. Dann sah er wieder zu Elena, wartete auf den geeigneten Moment, sie zu ergreifen. Sie wirkte angespannt, und an ihrer Kehle entdeckte er einen winzigen Blutstropfen.

Die Faust um den Griff seines Messers geballt, schwor er innerlich Rache an dem Mann, der sie festhielt. Ihre Schultern waren gestrafft, ihr ganzer Körper schien wie erstarrt, als wage sie nicht, sich zu rühren.

Sie brauchten eine Ablenkung, eine Möglichkeit, Brendans Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Vielleicht sollten sie ihrerseits eine Geisel nehmen oder einfach einen Überraschungsangriff starten. In Gedanken spielte Ragnar Dutzende Möglichkeiten durch. Jede wäre machbar, aber riskant.

Bei den Göttern, warum musste ausgerechnet Elena die Geisel sein? Jede andere Frau hätte er einfach an sich ziehen und dem Angreifer die Kehle aufschlitzen können. Aber bei Elena war ihm die Gefahr zu groß. Sie bedeutete ihm alles, und er durfte auf keinen Fall ihr Leben riskieren.

Ragnar sah, wie sie zum Mond hinaufblickte, der gerade hinter einer Wolke hervorkam, und bei dem Anblick bleich wurde. Er wollte etwas sagen, ihr versichern, dass alles gut werden würde.

Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten, trotz der Gefahr. „Elena.“ Hab keine Angst. Ich werde dich befreien.

Der Ire sagte etwas, das wie eine Warnung klang, aber am Ende brach seine Stimme, wodurch die Drohung wenig überzeugend wirkte. Ragnar fragte sich, warum die Iren einen bartlosen Jüngling zu ihrem Anführer gemacht hatten.

„Das Schiff nähert sich wieder der Küste“, sagte Ragnar.

„Ich … kann nicht besonders gut schwimmen.“ Er bemerkte die Angst in Elenas Stimme. Der Wind blies inzwischen sehr stark und drängte das Schiff Richtung Osten. In geringer Entfernung entdeckte Ragnar eine kleine Insel, kaum mehr als ein großer Fels. Die könnten sie erreichen, wenn sie es versuchten.

„Ich werde nicht zulassen, dass du ertrinkst“, versprach er.

Sie schien darüber nachzudenken, seinen Worten zu vertrauen. Auch wenn sie zu Styr gehörte, wünschte er sich in diesem Moment nichts mehr, als sie in den Arm zu nehmen, ihr den Trost zu spenden, den sie brauchte.

Und da, als wären die Götter ihm zu Hilfe geeilt, entdeckte er die perfekte Ablenkung.

Brendan Ó Brannon hatte in seinem ganzen Leben noch nie so viel Angst gehabt. Während er der Lochlannach-Frau das Messer an die Kehle hielt, wünschte er sich, er hätte nie die Küste seiner Heimat verlassen. Er hatte geglaubt, seine Schwester Caragh beschützen zu müssen. Sein Plan war gewesen, die Angreifer an Bord zu zwingen, ihr Schiff einige Meilen weit weg zu bringen und dann mit seinen Freunden in der Nacht, wenn die Feinde schliefen, das Boot zu verlassen und ans Ufer zu schwimmen.

Aber die Wikinger waren wachsam. Keinen Moment ließen sie ihn oder die Frau, die er gefangen hielt, aus den Augen. Er ahnte, dass sie etwas vorhatten. Würden sie sich von ihren Fesseln befreien können? Dann wäre es um sein Leben geschehen.

Düstere Leere ergriff ihn bei dem Gedanken, dass er weder seine Schwester noch seine jüngeren Brüder je wiedersehen würde. Nur weil er gedacht hatte, den Helden spielen zu müssen. Was verstand er denn davon, sich gegen die wilden Lochlannach zu verteidigen? Nicht das Geringste. Er zählte doch erst siebzehn Jahre, war gerade erst zum Mann geworden. Er hatte übereilt gehandelt, und schlimmer noch, er hatte Caragh allein gelassen. Nun kümmerte sich niemand mehr um sie, und er bezweifelte, dass sie ohne ihn überleben könnte.

Besonders ein Mann bereitete ihm Sorge. Er starrte ihn unentwegt an, als warte er nur auf eine Gelegenheit, ihm an die Gurgel zu gehen.

Stumm betete Brendan, dass er irgendwie heil aus dem Ganzen herauskommen würde. Er überlegte, ob er die Frau einfach loslassen und sich ins Meer stürzen sollte. So weit sie auch von der Küste entfernt waren, seine Aussichten, die Sache zu überleben, wäre größer.

Aber er hielt sie fest, denn das war das Einzige, was ihn und seine Freunde derzeit am Leben hielt. Schon bald würden sie die Südspitze der Ostküste von Éireann erreichen.

Der Mond verschwand heute Nacht immer wieder zwischen den Wolken, die Sicht war schlecht. Brendan war so erschöpft, dass er nur mit Mühe verhindern konnte, dass seine Hände zitterten.

Ein Ruf eines seiner Freunde kündigte ein anderes Schiff an. Ohne die Klinge vom Hals der Frau zu nehmen, wandte Brendan sich um. Tatsächlich, ein großes Drachenboot näherte sich ihrer Position.

Und es kam nicht aus Irland.

Sein Mund wurde trocken, ihm brach der kalte Schweiß aus. Es waren die Gallaibh, die Dänen, die ebenso unerschrocken wie die Norweger waren. Sein Großvater hatte ihm oft Geschichten von den blutdurstigen Kriegern erzählt, die alles umbrachten, was sich bewegte.

Gott steh ihnen allen bei. Es wäre ein Wunder, wenn sie diese Nacht überlebten.

„Schiff abdrehen!“, kommandierte Brendan. Vielleicht konnten sie entkommen, wenn sie näher zur Küste gelangten. Aber seine Freunde kannten sich mit dem Boot der Lochlannach nicht aus und wussten nicht, wie man es steuerte. Statt dass sie Richtung Küste fuhren, schien sie eine unsichtbare Macht immer weiter zu den Dänen hinüberzuziehen.

Angst durchfuhr ihn, als er sah, wie Bogenschützen auf sie zielten. Verzweifelt sah er wieder aufs Wasser hinaus und fragte sich, ob er den Mut aufbrachte, einfach hineinzuspringen. Zu ertrinken war besser, als von Dutzenden Pfeilen durchbohrt zu werden.

Er wandte den Blick zu seiner Geisel. Die Frau war kaum älter als seine Schwester. Brendan atmete tief durch und wünschte sich, er hätte sie nie als Gefangene genommen. Sie verdiente es nicht, den Dänen in die Hände zu fallen, die sie erst vergewaltigen und dann töten würden. Heute hatte er unzählige Fehler gemacht, aber noch blieben ihm einige wertvolle Augenblicke.

Schnell durchschnitt er erst die Stricke, mit denen sie im Bug festgebunden war, dann ihre Fesseln. Überrascht sah sie ihn an und rieb sich die Handgelenke. Dann stolperte sie wortlos näher zu ihren Landsleuten.

Seine Gefährten wies Brendan an: „Wir müssen springen. Wenn wir ihnen in die Hände fallen, töten sie uns alle.“

„Sobald wir das Schiff verlassen, ertrinken wir“, wandte einer seiner Männer ein.

Brendans Herz hämmerte, und Schweißtropfen rannen ihm den Nacken hinab. „Wenn wir es erst mal bis zur Küste geschafft haben, können wir zu Fuß nach Gall Tír zurückkehren.“

Falls sie es zur Küste schafften. Die Dänen waren bereits gefährlich nahe, und er konnte sie in ihrer unverständlichen Sprache rufen hören.

„Das ist zu weit!“, widersprach sein Freund.

„Wir haben keine Wahl. Wenn wir hierbleiben, sterben wir heute Nacht.“ Er konnte nur hoffen, dass die Lochlannach untätig bleiben und sie ungehindert ins Wasser springen lassen würden. Aber wenn Brendan den finsteren Blick des Anführers der Wikinger betrachtete, war er sich da alles andere als sicher. Sein Magen verkrampfte sich beim Gedanken an das, was ihnen blühte.

Ohne Vorwarnung standen die Lochlannach auf und kamen auf ihn zu. Offensichtlich war es ihnen schon vor einiger Zeit gelungen, sich von ihren Fesseln zu befreien, und sie hatten nur auf die Gelegenheit zum Angriff gewartet.

Die dänischen Schützen spannten ihre Bogen, und die erste Salve ihrer Pfeile traf das Schiff. Brendan ließ sich flach aufs Deck fallen hörte den Schmerzensschrei eines seiner Gefährten. Er sah seinen sterbenden Kameraden zu Boden sinken und presste sich noch fester gegen die Planken.

Die Norweger riefen etwas, und überall um sich herum hörte er, wie Männer über Bord sprangen. Und er hörte die Schreie derjenigen, die von Bogenschützen getroffen wurden, bevor sie im Meer versanken.

Die Frau lag, wie er, an die Deckplanken geschmiegt, während der Wikinger sie mit seinem Körper beschützte. Brendan sah, wie der Wikinger zusammenzuckte, als ein Pfeil sein Bein durchbohrte. Die Frau schrie auf, und einen Augenblick später verließ sie ihre Deckung und sprang ebenfalls vom Schiff. Der Mann folgte ihr, auch wenn Brendan bezweifelte, dass er mit seiner Verletzung das Ufer erreichen würde.

Angst stieg in ihm auf. Er schloss die Augen und bereitete sich auf den Tod vor. Um ihn herum kamen die Dänen immer näher.

Bitte, mach es kurz und schmerzlos, betete er. Und gib, dass meine Schwester in Sicherheit ist.

Elena hämmerte das Herz in der Brust. Die Luft blieb ihr weg, als das kalte Wasser sie wie ein Schlag traf. Blitzschnell hatte sich ihr Kleid vollgesogen und zog sie nach unten. Nur mit großer Anstrengung konnte sie Arme und Beine bewegen und sich gerade so eben oben halten.

Jetzt, da sie sich nicht mehr auf dem Schiff befand, schien ihr die Felseninsel unendlich weit entfernt. Schwer atmend kämpfte sie mit Händen und Füßen darum, nicht unterzugehen. Hinter sich hörte sie die Rufe der Männer und das Geräusch von klirrenden Schwertern.

Ihr Gesicht tauchte unter, und sie schluckte Salzwasser, prustete und versuchte erneut, Land zu erreichen. In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas erkennen und bezweifelte, dass sie es bis zu der kleinen Insel schaffen würde.

Die Angst durchdrang sie bis ins Mark. Du bist nicht stark genug, um das Land zu erreichen. Du wirst ertrinken.

Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, aber noch wedelte sie weiter mit den Armen. Plötzlich hörte sie hinter sich ein lautes Platschen. Ein starker Arm umfasste sie. Als sie aufsah, entdeckte sie Ragnar, der sie hielt und sie beide mit unglaublicher Kraft vorwärtszog. Dankbar, dass auch er entkommen war, schlang sie einen Arm um seinen Nacken.

„Schwimm!“, hörte sie ihn sagen. „Schau nicht zurück.“

Immer noch war sie wie gelähmt vor Angst, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Gesicht sank erneut unter Wasser, aber Ragnar zog sie wieder nach oben. Er drängte sie weiterzuschwimmen, und nahm den Arm nicht von ihrer Hüfte. So schwammen sie nebeneinander her, während sie hinter sich die Rufe der Dänen hörten, die ihr Schiff übernahmen.

Freya, beschütze mich, betete Elena, als sie sich Richtung Land vorwärtskämpften. Der Mond kroch hinter einer Wolke hervor und spiegelte sich im Wasser. Der Anblick des Lichts verlieh ihr neuen Mut.

Sie musste überleben. Trotz ihrer Todesangst würde sie kämpfen.

3. KAPITEL

Ihre Arme fühlten sich an wie Blei, und ihr Körper im eisigen Wasser zitterte. Doch mit Ragnar an ihrer Seite schöpfte sie neue Kraft. Er sprach ihr Mut zu, obwohl auch seine Bewegungen langsamer wurden.

Als sie endlich Boden unter den Füßen spürte, seufzte Elena erleichtert auf. Sie war völlig erschöpft und zitterte am ganzen Leib, aber sie hatten die Insel erreicht.

Ragnar schwankte stark, während sie zum Ufer wateten. Zunächst verstand Elena nicht, warum ihm das Gehen solche Schwierigkeiten bereitete, bis das Mondlicht auf ihn fiel und sie den Pfeil sah, der in seinem rechten Oberschenkel steckte.

Sie keuchte auf. „Du bist verletzt!“ Sofort stützte sie ihn, und gemeinsam stolperten sie auf den Sand.

Er antwortete nicht, und Elena geriet beinahe in Panik. Wie schwer war er verwundet? In ihr stieg die Angst auf, dass sie ohne ihn nicht überleben konnte.

Gleich darauf schob sie diese Gedanken beiseite. Er war nicht tot, und wenn sie sich um seine Wunde kümmerte, würde er überleben.

Sie verbannte alle Gedanken, die ihr nicht helfen würden, aus ihrem Kopf. Jetzt musste sie den Pfeil herausziehen, sein Bein verbinden und für Schutz sorgen. Von ihrem Unterkleid konnte sie für den Verband einen Streifen abreißen.

„Ragnar, sieh mich an.“

Er tat es, aber in seinen Augen lag so viel Schmerz, dass sie schon das Schlimmste befürchtete. Seine Beinkleider und die Tunika waren mit Meerwasser getränkt, die Metallplättchen auf seinem ledernen Brustharnisch glitzerten feucht im Mondlicht. Zunächst musste sie die Verletzung untersuchen.

„Ich helfe dir zu den Felsen dort hinüber“, sagte sie. „Schaffst du es dahin?“

Er nickte nur, als koste es ihn zu große Anstrengung, zu sprechen. Aus der Pfeilwunde strömte Blut über sein Bein, aber zumindest spritzte es nicht heraus. Behutsam half sie ihm, sich zu setzen, den Brustharnisch aus dickem Leder und die Tunika darunter abzulegen. Dann schnitt sie mit seinem Messer lange Streifen von ihrem Unterkleid. Es wäre schmerzhaft für ihn, die Wunde mit Salzwasser zu reinigen, deshalb sah sie sich nach anderen Möglichkeiten um. Stellenweise wuchs Moos, und sie grub zwischen den Steinen, um genug zusammenzubekommen, dass sie daraus eine Bandage als Barriere zur feuchten Wolle fertigen konnte.

„Wir brauchen ein Feuer.“ Ragnar griff vor Kälte zitternd nach seiner nassen Tunika. „Vielleicht kannst du … eins entfachen.“

„Gleich“, versprach sie. „Erst werde ich den Pfeil herausziehen.“

„Dann könnte ich verbluten“, sagte er ruhig.

„Ich kann ihn ja schlecht stecken lassen.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und kniete sich vor ihn. „Du hast mich beschützt. Darum werde ich jetzt tun, was ich kann, um dir zu helfen.“

Für einen winzigen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf ein wildes Verlangen in seinen Augen, bevor er den Kopf abwandte. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Vielleicht hatte sie es sich ja auch nur eingebildet.

Sie atmete tief durch und griff nach dem Pfeil. Sicher würde es ihm noch mehr wehtun, wenn sie vorher ankündigte, wann sie ihn herausziehen würde. Zwar hatte sie noch nie einen Pfeil aus einem Mann herausziehen müssen, aber er schien nicht sonderlich tief eingedrungen. Sie konnte die Spitze mit den Widerhaken unter der Haut sehen und fragte sich, was besser war: ihn herauszureißen oder die Spitze auf der anderen Seite durch die Haut zu bohren. Beides wäre schmerzhaft, doch sie hielt es für leichter, ihn durchzustoßen.

„Ich will dir keine Schmerzen bereiten“, sagte sie ruhig. „Aber es muss …“, mit einem kräftigen Stoß bohrte sie den Pfeil quer durch die Haut, „… leider sein.“ Vorsichtig brach sie die Spitze ab und konnte nun den Schaft herausziehen. Ragnar stöhnte vor Schmerz auf. Schnell bedeckte sie die Wunden mit Moos und verband sie fest mit den Stoffstreifen.

„Ich dachte, du warnst mich vielleicht vorher.“ Er kämpfte sichtlich gegen die Qualen an.

„Wenn man Schmerzen erwartet und sich verkrampft, wird es nur schlimmer“, stellte sie fest.

„Ach? Hat sich dir vielleicht schon mal ein Pfeil ins Fleisch gebohrt?“ Er klang schroff.

„Er steckte nicht allzu tief. Es blutet nicht so stark, wie ich befürchtet hatte.“ Gott sei Dank. Wenn der Pfeil tiefer eingedrungen wäre, hätte sie sicher nicht die Kraft gehabt, ihn durch seine harten Muskeln zu stoßen.

Sobald sie Ragnar versorgt hatte, ließ sie ihn gegen den Felsen gelehnt sitzen. Er zitterte am ganzen Leib.

Er hatte recht, sie brauchten ein Feuer. Also musste sie unbedingt einen Feuerstein finden. Leider war es zu dunkel, um die Steine richtig erkennen zu können.

Wieder drohte die Angst sie zu überwältigen. Die eisige Luft und die Dunkelheit raubten ihr den letzten Mut. Sie brauchten heute Nacht einen Unterschlupf und Wärme; ihr Überleben hing davon ab.

Elena zwang sich, sich auf eine Sache nach der anderen zu konzentrieren. Ein Feuer war jetzt am allerwichtigsten. Sie hielt immer noch Ragnars Messer in der Hand. „Ich versuche, zwischen den Felsen einen Feuerstein zu finden“, erklärte sie ihm.

„Warte.“ Er zeigte auf den Stein, den er in einem Beutel aus Segeltuch an einem Lederriemen um den Hals trug. „Das hier ist einer.“

Als sie sich niederkniete, um den Knoten zu lösen, strichen ihre Finger über seinen Nacken.

„Du bist nicht verletzt, oder?“ Seine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, vibrierte zwischen ihnen, und eine unerklärliche Wärme durchströmte Elena. Ihr wurde bewusst, dass sie ihm die Arme um den Hals gelegt hatte, fast wie in einer Umarmung.

„Nein.“ Mehr um sich selbst zu beruhigen, fügte sie hinzu: „Sprich jetzt nicht. Ruh dich einfach aus, während ich mich um ein Feuer kümmere.“

Da der Knoten zu fest saß, zog sie ihm den Riemen einfach über den Kopf und nahm den Feuerstein und sein Messer mit, um sich auf die Suche nach Holz zu machen. Ragnars männlicher Duft war anders als der ihres Ehemanns, dennoch war er ihr als guter Freund vertraut. Wie oft hatte sie sich im Laufe der Jahre schon auf ihn verlassen können? Ihr ganzes Leben lang waren sie Freunde gewesen. Und wenn sie schon mit jemandem gestrandet sein musste, dann war sie dankbar, dass er derjenige war.

Mit neuem Mut widmete sie sich der gewohnten Aufgabe, Treibholz und trockenes Seegras als Zunder zu sammeln. Morgen früh, so viel war gewiss, mussten sie aufs Festland gelangen, um Nahrung zu beschaffen. Ohne Trinkwasser und einen Unterstand würden sie hier nicht überleben. Allerdings war es fraglich, ob Ragnar wieder genug Kraft haben würde, um schwimmen zu können.

Denk jetzt nicht daran, ermahnte sie sich selbst. Wenn die Nacht vorüber war, wäre es immer noch früh genug, sich darüber Sorgen zu machen.

Sie stapelte Holz und Zunder und schlug mit der Messerklinge so lange gegen den Feuerstein, bis ein Funke übersprang und das Seegras entzündete. Behutsam schürte sie die Flammen, bis sie eine angenehme Wärme verbreiteten.

Nass, wie ihre Kleidung war, tat ihr die Wärme gut, als sie sich so dicht wie möglich an das Feuer setzte. Auf dem Wasser entdeckte sie im Mondlicht nirgends Anzeichen eines Schiffs, nur die Wellen, die sich am Ufer ihrer kleinen Insel brachen. „Was glaubst du, was mit den anderen passiert ist? Ob sie noch am Leben sind?“

„Ich habe gehört, wie die Dänen davon gesprochen haben, sie als Sklaven zu verkaufen.“ Ragnar verzog das Gesicht und brachte sich in eine bequemere Position. „Vorausgesetzt, dass sie sie nicht alle umgebracht haben.“

Elena rieb sich die Oberarme und versuchte, die Vorstellung zu verdrängen. Der Gedanke, dass sie die einzigen Überlebenden der weiten, anstrengenden Reise nach Irland sein könnten, war unvorstellbar. Wieder stieg die Angst in ihr auf, bevor sie sie zurückdrängen konnte.

„Dir ist kalt, nicht wahr?“ Die Wunde in seinem Bein hatte sie zwar verbunden, aber seine Kleidung war ebenso durchnässt wie ihre. „Soll ich dir helfen, näher zum Feuer zu rücken?“

Ragnar schüttelte den Kopf. „Es geht schon.“ Er schloss die Augen. „Morgen früh schwimmen wir aufs Festland.“

„Glaubst du, du kannst es schaffen?“ Sie war sich nicht sicher, ob er stark genug wäre, da er kaum laufen konnte. Sie selbst konnte sich beim Schwimmen gerade so eben über Wasser halten. Und obwohl Ragnar stärker war als die meisten Männer, die sie kannte, würde das Salzwasser in seiner Wunde ihm unerträgliche Qualen bereiten.

„Ich habe keine Wahl, oder?“ Obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, spürte sie seinen Schmerz und wünschte, sie könnte etwas tun, um ihn zu lindern.

Sie ergriff seine Hand. „Wir werden das hier überleben, Ragnar. Und ich schulde dir Dank, dass du mich vor den Dänen gerettet hast.“

Er antwortete lediglich mit einem Händedruck, während er weiter in die Ferne sah. Dennoch verstand sie. Er hatte geschworen, sie zu beschützen, und nichts konnte ihn dazu bringen, diesen Eid zu brechen.

„Setzt du dich ein wenig neben mich?“, fragte er schließlich.

Bei dieser Bitte verkrampfte sich Elena. Es war gefährlich, diesem Mann zu nahe zu kommen. Obwohl er ein so guter Freund war, hielt die Erinnerung an seine Blicke sie zurück. Sie stand auf und entfernte sich ein paar Schritte, sie brauchte Raum.

Ihr fiel eine Ausflucht ein. „Ich suche lieber noch mehr Holz.“

„Es wird schon alles gut werden“, versuchte er sie zu beruhigen.

Sie wollte ihm das so gerne glauben. Aber sie waren irgendwo im Nirgendwo gelandet, und ihr Ehemann war in den Händen der Iren. Der Rest ihrer Gefährten war gefangen genommen worden. Sie wurden als Sklaven verkauft oder waren tot. Während sie Zweige und kleine Stücke Treibholz aufsammelte, schaute Elena noch einmal zum Mond hinauf.

Ein ungutes Gefühl überkam sie, aber sie verdrängte es. Jetzt galt es erst einmal, sich ums Überleben zu kümmern. Verbissen sammelte sie weiter Holz, gab sich ganz dieser Aufgabe hin, um darüber ihre Angst zu vergessen. Die Nacht war noch kälter geworden, als sie schließlich mit einem Arm voller Zweige zum Feuer zurückkehrte.

„Glaubst du, Styr ist noch am Leben?“, fragte sie Ragnar, während sie es aufschichtete.

„Daran habe ich keinen Zweifel.“ Er lehnte sich gegen einen Felsen und verzog das Gesicht, weil er dabei sein Bein bewegte.

Obwohl sie sich eigentlich besser fühlen sollte, wurde ihr immer trostloser zumute, je länger sie am Feuer saß. Binnen weniger Stunden hatte sie alles verloren – ihren Ehemann, ihre Leute, das Schiff und sogar ein Dach über dem Kopf. Tränen traten ihr in die Augen und rannen die Wangen hinab, ohne dass sie sie zurückhalten konnte.

„Komm her, Elena.“

Sie achtete nicht auf Ragnar, da sie sich jetzt einfach ausweinen musste. Das hatte sie verdient, nach allem, was passiert war.

„Willst du wirklich einen verwundeten Mann dazu zwingen, sich über den Sand zu dir zu schleppen?“ Obwohl die Worte scherzhaft klangen, hörte sie dennoch die Entschlossenheit darin und wusste, er würde genau das tun.

„Mir geht es gut.“ Aber sie gehorchte und setzte sich zu ihm. Sobald er den Arm um sie legte, flossen die Tränen erst richtig. Seiner Freundlichkeit hatte sie nichts entgegenzusetzen. Sie wusste nicht, wie sie die Trümmer ihres Lebens aufsammeln und für einen Neuanfang wieder zusammensetzen sollte. Ihr Ehemann und ihre Landsleute könnten tot sein. Sie hatten kein Schiff mehr und waren in einem fremden Land gestrandet, weit weg der Heimat.

Ragnar sprach kein Wort, hielt sie nur fest. Seine Gegenwart tat ihr gut. Sie war nicht allein, trotz allem. Zumindest das war ein Trost.

Seine Haut war vom Feuer gewärmt. Sie schmiegte eine Wange an ihn und schloss die Augen. „Schlaf jetzt“, forderte er sie auf. „Ich werde einfach hier liegen und die Stunden zählen, bis es aufhört wehzutun.“

Auch wenn er versuchte, es herunterzuspielen, wusste sie doch, dass er nicht unerheblich leiden musste. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um deinen Schmerz zu lindern.“

Ein rätselhaftes Lächeln spielte um seinen Mund. „Ohne dich wäre er noch viel schlimmer.“ Er seufzte tief. „Morgen früh sehen wir, wie wir am besten zum Festland gelangen.“

Elena legte sich neben das Feuer, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Mit ihrer schweren, immer noch feuchten Kleidung konnte sie nicht richtig trocken werden. Sie löste die Broschen an ihren Schultern und legte das feuchte Übergewand ab. Nur das helle Unterkleid behielt sie an. Sie breitete das Gewand auf den Steinen aus, bezweifelte aber, dass es bis zum nächsten Morgen trocknen würde. Nun, vielleicht konnte sie zumindest besser schlafen, wenn sie nicht in feuchten Wollstoff gehüllt war.

Auf der anderen Seite des Feuers, Ragnar gegenüber, rollte sie sich im Sand zusammen. Er sah ebenso erschöpft aus wie sie, seine grünen Augen blickten ernst. „Du hast nichts zu befürchten, wenn du neben mir schläfst.“

Sie zögerte, denn sie hatte noch nie bei einem anderen Mann als Styr geschlafen. Andererseits hatten sie hier keinerlei Schutz vor Wind und Wetter. Einzeln zu schlafen, wäre für sie beide unbequemer.

Aber sollte sie es wirklich wagen, sich zu ihm zu legen? Ihr Zögern war wohl offensichtlich, denn er zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen die Felsen, als wäre es nicht wichtig.

Elena seufzte. Sie sah ein, dass sie sich albern benahm. Neben Ragnar zu schlafen, war keine große Sache. Niemals würde er ihre Ehe gefährden, erst recht nicht, da ihr Ehemann sein bester Freund war. Ihre Vorbehalte waren unberechtigt.

Stumm erhob sie sich aus dem Sand.

Das Morgengrauen kam viel zu früh. Ragnar hatte kaum geschlafen, aber die ganze Zeit Elenas warmen Körper an seinem gespürt. Seine Wunde schmerzte, doch er rührte sich nicht, um sie nicht zu wecken.

Ihr Haar war immer noch feucht und fiel ihr in verworrenen rotgoldenen Strähnen über die Schultern. Der Anblick gab ihr etwas Wildes. Ihr Kleid schmiegte sich derart an ihren schlanken, weiblich gerundeten Leib, dass Ragnar sündige Gedanken zurückdrängen musste.

Sie ist nicht dein.

Schließlich schlug sie die Augen auf, gähnte und setzte sich auf. „Hast du geschlafen?“ Sie sah zu seinem Bein hinab. „Tut es sehr weh?“

Das tat es, aber das dumpfe Pochen half ihm. Neben Elena zu liegen, war ihm wie ein Traum vorgekommen, und die Verletzung hatte ihn daran erinnert, dass zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer stand. Dennoch, wäre er in dieser Nacht gestorben, er hätte sich seine letzten Stunden nicht schöner vorstellen können.

Seine Wunde brannte, aber er zwang sich zu einer Antwort. „Es geht so. Heute müssen wir das Festland erreichen.“

Sie kniete sich vor ihn hin und entfernte den Verband. Beim Anblick der verletzten Stelle wurde sie blass. „Es sieht nicht gut aus.“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich lebe.“ Noch, dachte er, sprach es aber nicht aus. Wenn ihn ein Fieber packte, konnte ihn das schneller töten als die Pfeilwunde.

„Du brauchst einen besseren Heiler als mich.“ Elena stand auf, atmete tief durch und sah sich um. „Aber es ist für uns beide zu weit, um zum Festland zu schwimmen.“ Jetzt schaute sie zu den windschiefen Bäumen hinüber. „Vielleicht könnten wir ein Floß bauen.“

„Du hast nicht die Kraft, um einen Baum zu fällen. Und außerdem haben wir keine Axt“, stellte er fest. Elena wirkte jetzt schon völlig erschöpft, und in ihren Augen stand wieder blanke Angst.

„Vielleicht nicht, aber ich könnte Äste sammeln und zusammenbinden. Daran können wir uns festhalten und so hinüberschwimmen.“

„Zusammenbinden, womit? Gras?“

Zur Antwort hob sie ihren Rock bis zu den Knien an. „Ich schneide noch mehr von meinem Kleid ab.“

Der Anblick ihrer schlanken Beine reichte aus, ein heißes Verlangen in ihm aufsteigen zu lassen. „Wenn du meinst, dass es klappt“, brachte er hervor. Nie hatte er mehr als ihre Knöchel gesehen, aber jetzt hatte sie sehr wohlgeformte Waden entblößt. Den Rest ihrer langen Beine konnte er sich nur vorstellen, denn sie war eine hochgewachsene Frau.

Und die Ehefrau eines anderen Mannes.

Die Ehefrau seines besten Freundes.

Ragnar stützte sich auf und stemmte sich langsam hoch. Der Himmel war von goldenen und rosafarbenen Schleiern überzogen, und aus der fernen Küste des Festlands stieg Nebel auf. Sein Magen knurrte, und er hoffte, dass sie bald einen Fisch fingen.

Aber er wäre Elena dabei nicht von Nutzen. Nicht in seinem Zustand. Sein Bein auch nur im Geringsten zu belasten, war die reinste Qual. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte er zur anderen Seite der kleinen Insel. Die wenigen niedrig gewachsenen Bäume dort zwischen den Felsen waren kaum der Rede wert. Es gab keine Nahrung, kein Trinkwasser, ihre einzige Hoffnung bestand darin, das Festland zu erreichen.

Er sah auf das graue salzige Wasser hinaus und wusste genau, dass es in seinen Wunden wie Feuer brennen würde. Der Schmerz war schlimm genug gewesen, als der Pfeil noch dringesteckt hatte, aber seit Elena ihn herausgezogen hatte, lag noch ein größerer Teil seines Fleischs offen. Ihr Vorschlag, herabgefallene Äste zusammenzubinden, war allerdings klug.

Elena trat zwischen den Bäumen hervor, wobei sie mehrere große Äste hinter sich herzog, jeder so dick wie ihr Unterarm. Die Haare hatte sie sich hochgebunden, indem sie sie zu einem Knoten gewickelt und mit einem kleinen Stock fixiert hatte. Mit dem Messer schnitt sie weitere Stoffstreifen von ihren Röcken ab. Während sie die Äste zusammenband, zeigte ihm sein verräterisches inneres Auge Bilder von ihren bloßen Beinen, umschlungen mit seinen, wie er auf ihr lag …

Ragnar schloss die Augen, wütend über sich selbst, dass er derart ehrlose Dinge über sie auch nur denken konnte.

„Lass mich dir helfen“, sagte er. Die Beschäftigung brauchte er jetzt, um sich abzulenken. Alles, wenn er nur nicht mehr ihre entblößte Haut sah.

Er humpelte auf den Holzstapel zu, setzte sich davor, schlang die Stoffstreifen zwischen den Ästen hindurch und knotete sie fest zusammen. An der anderen Seite tat Elena es ihm gleich, bis sie schließlich fertig waren.

In der Morgensonne leuchtete ihre helle Haut, und obwohl sie müde aussah, wirkte sie entschlossen. Prüfend betrachtete sie ihr Werk. „Es wird dein Gewicht nicht tragen können.“

Er zuckte mit den Schultern. „Dafür gibt es hier nicht genug Holz. Aber wir können uns daran festhalten, das wird reichen.“

Noch einmal sah sie das kleine provisorische Floß an, dann hinauf zu den wenigen Bäumen, in deren Schatten sie standen. „Ich wünschte, du hättest eine Streitaxt. Damit könnten wir weitere Bäume und Äste schlagen.“

„Ich bevorzuge das Schwert.“ Er mochte es, wie diese Waffe ausbalanciert war, und die flüssigen Bewegungen, wenn man damit einen Gegner angriff. „Die Axt ist Styrs Waffe.“ Sobald er den Namen aussprach, verspürte Elena Traurigkeit.

„Ich würde wirklich gerne glauben, dass er am Leben ist“, murmelte sie. „Dass er mich irgendwie holen kommt.“

„Wenn nicht, bringe ich dich persönlich zu ihm.“ Ragnars Worte stimmten sie kaum zuversichtlicher, denn Styrs Schicksal war ungewiss. Vielleicht war er noch ein Gefangener; vielleicht war er tot.

„Du kannst nicht zu ihm zurück, nicht mit deinem verletzten Bein. Es ist zu weit.“ Elena seufzte und begann, ihr behelfsmäßiges Floß über den Sand zu schleifen.

Sie war noch nicht weit gekommen, da humpelte Ragnar ihr nach und ergriff sie am Arm. „Ich bin vielleicht verwundet, Elena, aber nicht tot. Und die Wunde wird verheilen.“ Er wollte nicht, dass sie ihn für hilflos hielt. Mit den Fingern fuhr er an ihrem Arm herunter und ergriff ihre Hand. Die Berührung hinterließ eine Gänsehaut. „Du wirst hier nicht stranden. Das schwöre ich bei Thors Blut.“

Sie drückte seine Hand. Als sich ihre Blicke begegneten, zögerte sie kurz, und ihre Wangen glühten rosig. „Ich freue mich, dass du bei mir bist.“

Nichts wünschte er sich so sehnlich, wie sie an sich zu ziehen, die Lippen zu schmecken, sie hungrig zu küssen, wie es ihm schon so lange im Kopf herumspukte. Aber sie wandte sich nur ihrem abgelegten Überkleid zu, zog es sich über den Kopf und schloss die Broschen an der Schulter. Ihre Bewegungen wirkten fast unschuldig, wie die eines jungen Mädchens, aber ihr Körper war der einer Frau, die bereits mit einem Mann das Lager geteilt hatte.

Wortlos zog er das Floß ins Meer und unterdrückte ein Aufkeuchen, als das Salzwasser gegen seine verbundene Wunde leckte. Der Schmerz war eine scharfe Erinnerung daran, dass er sich von Styrs Ehefrau fernhalten musste.

Elena kam zu ihm und klammerte sich ebenfalls an die zusammengebundenen Äste. Gemeinsam wateten sie tiefer ins Wasser, machten sich auf den weiten, gefährlichen Weg zur Küste. Ragnar schwamm mit seinem gesunden Bein, dankbar, dass die Flut einsetzte und sie sich mit der Strömung bewegten. Aber bei den Göttern, das Salzwasser an seiner offenen Wunde war fast mehr, als er ertragen konnte.

„Du siehst aus, als hättest du schreckliche Schmerzen“, stellte auch Elena fest, die mit dem linken Arm Schwimmbewegungen machte und sich mit dem anderen an dem kleinen Floß festhielt.

„Es ist, als schnitten glühende Messer in meine Haut“, gab er zu und bemühte sich um einen unbefangenen Tonfall. „Nicht besonders angenehm.“

Mitfühlend sah sie ihn an. „Wenn wir das Festland erreichen, wird es besser, versprochen.“

Falls sie nicht vorher ertranken. Fest biss Ragnar die Zähne zusammen und zwang sich durchzuhalten.

Die Wellen spülten sie weiter, und er konzentrierte sich auf den Strand vor ihnen. Im kalten Wasser wurde er am ganzen Körper taub und bemerkte kaum, wie ihm die Augen zufielen, wie das nasse Holz seinen Fingern entglitt …

„Ragnar!“, schrie Elena und riss ihn in die Gegenwart zurück. „Verlass mich jetzt nicht. Gib nicht auf! Du darfst nicht loslassen.“ Sie hangelte sich an den Ästen entlang dichter zu ihm, legte einen Arm um ihn. „Wir haben es bald geschafft.“

Das wusste er. Sein Körper wehrte sich gegen das eisige Meerwasser, während sein Geist darum kämpfte, ihr beizustehen. Die Kälte drang ihm bis auf die Knochen, lähmte ihn.

„Ich brauche dich“, flüsterte sie. „Bitte.“

Allein ihre Stimme trieb ihn vorwärts. Sie ermutigte ihn, beschwor ihn, nicht aufzugeben. Und als sie nach seiner Schätzung schon mehrere Hundert Yard geschwommen waren, fühlte er endlich, wie seine Füße Grund berührten. Er musste die Zähne fest aufeinanderbeißen, damit sie nicht klapperten. Elena blieb an seiner Seite und hielt ihn weiter fest. Sie stützte ihn, während er durch das flache Wasser stolperte.

Als er den Strand erreichte, verschwamm ihm alles vor den Augen, und in seinen Ohren rauschte es. Er verfluchte sich selbst für die Schwäche, rang darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Elena brauchte ihn, und er würde für sie da sein.

„Hör zu“, beschwor sie ihn. „Wir haben es geschafft. Jetzt sind wir in Sicherheit, aber wir können nicht hier am Strand bleiben. Nur noch ein kleines Stück.“

Immer noch hatte sie den Arm um ihn gelegt, gestattete ihm, sich auf sie zu stützen, um ihm weiterzuhelfen. Als ihr Bein versehentlich seine Wunde streifte, konnte er jedoch ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht unterdrücken.

Sie bat ihn um Entschuldigung. „Nur noch ein paar Schritte.“ Die Welt drehte sich um ihn herum, aber Elena hatte ihn umfasst, hielt ihn auf den Beinen.

„Ich werde nicht sterben“, erklärte er, doch seine Stimme klang matt und lallend.

„Das werde ich nicht zulassen.“ Sie half ihm, sich hinzusetzen, mit dem Rücken zu einem Hang. Ragnar lehnte sich zurück und legte den Kopf gegen das trockene Gras, schaute hinauf in den bewölkten Himmel.

„Du fühlst dich viel zu kalt an. Ich muss dich aufwärmen.“ Sie setzte sich neben ihn und schlang beide Arme um ihn. Obwohl auch sie durchnässt und durchfroren war, durchdrang ihre Gegenwart doch irgendwie den Schmerz und milderte ihn.

Er wollte ihr sagen, wie viel sie ihm bedeutete, endlich alles gestehen, was er schon so lange mit sich herumtrug, aber die Ehre verbot es ihm. Und so hatte er die Wärme ihrer Umarmung genossen in dem Wissen, dass er sich niemals mehr erhoffen durfte.

Ragnar war wütend auf sich selbst, dass er Styr sich selbst überlassen hatte, doch er hatte keine andere Wahl gehabt. Vielleicht hatten die Iren seinen Freund schon getötet, denn als Gefangener war er für sie wertlos, und er würde niemals einem Mann als Sklave dienen.

Er schaute hinüber zu Elena, die wieder damit beschäftigt war, Zunder für ein Feuer zu sammeln. Ihre abgeschnittenen Röcke reichten ihr nur noch bis zu den Knien, das rotgoldene Haar war immer noch zu einem Knoten hochgesteckt. Immer in Bewegung, stapelte sie Holz und schob trockenes Seegras dazwischen. Während er sie beobachtete, konnte er nicht aufhören zu zittern.

So kalt. Er spürte seine Finger und Zehen nicht mehr, und alle Muskeln fühlten sich steif an.

„Wie blass du bist.“ Elena bemühte sich, so schnell wie möglich einen Funken zu schlagen. „Keine Sorge, gleich wird dir wieder warm, sobald ich das Feuer in Gang gebracht habe.“ Doch auch ihre Hände zitterten, als mache die eisige Kälte ihr ebenfalls schwer zu schaffen. Sie brauchte scheinbar endlos viele Versuche, bis ein Funke endlich übersprang.

Die schweren Lider fielen ihm zu, und er gab der Versuchung nach, in eine Ohnmacht abzugleiten. Schlaf, das brauchte er jetzt.

Einen Augenblick später legte Elena die Arme um ihn und hielt ihn bei den Schultern. „Ragnar!“ Sie schüttelte ihn und ließ nicht locker, bis er die Augen aufschlug.

Er schaffte es, sie anzusehen, wenn er sie auch nur verschwommen wahrnahm.

„Bleib bei mir!“ Tränen traten ihr in die Augen. „Du darfst mich hier nicht allein lassen.“

„Nur … ausruhen …“ Schlaf würde den Schmerz erträglicher machen. Die Dunkelheit verlockte ihn loszulassen, sich ins Nichts fallen zu lassen.

„Deine Lippen sind blau“, stellte sie fest. „Wenn du jetzt einschläfst, wachst du vielleicht nie wieder auf.“

Er antwortete nicht, denn sein Körper war bleischwer. Das letzte Bisschen Bewusstsein verließ ihn. Ein Teil von ihm verstand die Worte noch, aber er hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen.

„Wag es nicht, jetzt zu sterben!“, schluchzte sie und schüttelte ihn erneut. „Allein kann ich hier nicht überleben. Hörst du? Wenn du stirbst, sterbe ich auch!“

Mit letzter Kraft versuchte er, ein „Nein“ hervorzubringen, ihr zu sagen, dass sie keinesfalls sterben würde. Aber bevor er etwas sagen konnte, verschloss sie ihm den Mund mit einem glühenden Kuss.

4. KAPITEL

Elena hätte nicht sagen können, warum sie Ragnar geküsst hatte. Hätte sie es nicht getan, hätte sie ihn ohrfeigen müssen. Irgendetwas, das ihm einen ausreichenden Schreck versetzte, dass er wach blieb. Wie sie gehofft hatte, blickten seine Augen wachsam, als sie sich von seinem Mund löste, und sein ganzer Körper war angespannt.

„Warum hast du das getan?“

Es war nur ein kurzer Kuss gewesen, ihre Lippen hatten seine nur einen Augenblick berührt. Dennoch starrte er sie so wütend an, dass sie sich aufrichtete und einige Schritte zurücktrat.

„Du hast nicht reagiert. Ich habe befürchtet, wenn du jetzt die Augen schließt, wachst du nie wieder auf.“ Ihr Gesicht brannte regelrecht, und sie bedauerte, was sie getan hatte. Noch nie hatte sie ihn derart wütend gesehen.

„Küss mich nie wieder!“, sagte er scharf.

„Es tut mir leid.“ Eine derart heftige Wirkung hatte sie nicht erwartet. „Damit wollte ich nur deine Aufmerksamkeit erregen, damit du wach bleibst.“

„Das nächste Mal, wenn du meine Aufmerksamkeit willst, benutz die Faust. Nicht den Mund.“ Er verzog das Gesicht und setzte sich etwas näher ans Feuer. „Styr ist mein Freund und dein Ehemann. Das solltest du nie vergessen.“

„Ich habe es nicht vergessen.“ Immer noch brannten ihre Wangen vor Scham. Hätte sie es doch nie getan! Eilig kümmerte sie sich um das Feuer. „Es war ohne Bedeutung, Ragnar, ehrlich.“

Aber nichts, das sie sagte, vertrieb den Ärger und das Unbehagen aus seinem Gesicht. Mit solchen Folgen hätte sie wirklich nicht gerechnet. Seine übertriebene Reaktion beunruhigte sie.

„Es wird nie, nie wieder passieren“, schwor sie.

„Sieh zu, dass du dieses Versprechen hältst.“ Seine Stimme klang kalt, beinahe grausam.

Elena zog sich zurück. Offenbar reichten Worte nicht aus, damit er ihr verzieh. Warum verstand er nicht, dass es nur ein plötzlicher Impuls gewesen war, um ihn wachzuhalten? Stattdessen benahm er sich so, als hätte sie versucht, ihn zu verführen.

Verbotene Fantasien stiegen auf einmal in ihr auf: wie dieser Mann sie besaß. Wie sein Mund sich ihrem öffnete. Wie sie gemeinsam in den Sand sanken.

Sie schloss die Augen, um diese Bilder und die damit verbundene heiße Erregung zu verdrängen. Nein, solch einer Torheit durfte sie nicht verfallen!

Schließlich sagte Ragnar: „Wir benötigen Nahrung und einen Unterschlupf. Schau, ob du in der Umgebung etwas finden kannst. Aber bleib in der Nähe, falls du mich brauchst.“

Elena wies ihn nicht darauf hin, dass er mit seiner Verletzung im Falle eines Kampfes keine große Hilfe wäre. Stattdessen ergriff sie die willkommene Gelegenheit, der peinlichen Lage zu entkommen und sich nützlich zu machen. Die Augen mit einer Hand gegen die Sonne abgeschirmt, sah sie sich nach einer Möglichkeit um, einen Unterstand zu fertigen.

Nicht allzu weit entfernt entdeckte sie eine große Eiche mit breiter Krone. Das Blätterdach würde sie vor Regen schützen, aber dem Wind wären sie immer noch ausgesetzt. Während sie darüber nachdachte, sammelte sie so viele herabgefallene Äste, wie sie finden konnte, und stapelte sie der Länge nach sortiert ordentlich auf. Einige waren lang genug, dass man daraus einen behelfsmäßigen Windschutz fertigen könnte, aber keinen allzu großen. Glücklicherweise wäre diese Maßnahme nur vorübergehend, da sie dadurch gezwungen wäre, auf engem Raum wieder dicht neben Ragnar zu schlafen.

Noch immer stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Sie hatte so einen dummen Fehler gemacht, indem sie gedacht hatte, ihn mit dem Kuss wieder zu Bewusstsein zu bringen. Bei der bloßen Erinnerung zuckte sie zusammen.

Styr hätte den Kuss erwidert, hätte selbst die Kontrolle über ihre Zärtlichkeiten übernommen. Ragnars Mund war kalt und hart geblieben. Aber obwohl der Kuss keine Bedeutung gehabt hatte, hatte ihr Körper doch gegen ihren Willen darauf reagiert. Elena atmete tief durch und versuchte, nicht darauf zu achten, dass ihre Brüste unter dem Leinenstoff ihres Hemdes auf einmal seltsam empfindlich waren. Styr war der einzige Mann, der sie je berührt hatte. Der Einzige, der sie je berühren würde.

Doch in letzter Zeit war ihr Liebesspiel seltener geworden, leidenschaftslos, eine reine Pflicht, der sie sich beide nur noch unterwarfen, um ein Kind zu zeugen. Manchmal war sie mit den Gedanken dabei ganz woanders. Früher war die Liebe mit Styr angenehm gewesen, und es hatte ihr nichts ausgemacht, wenn er sie nahm. Aber in letzter Zeit hatte sie sich nur noch so sehr darum gesorgt, ob sie endlich sein Kind empfangen hatte, dass sie ganz vergessen hatte, es zu genießen.

Irgendwann hatte sie ihm dann gesagt, dass sie es nicht länger versuchen würde. Die bittere Erinnerung nagte an ihr, denn sie hatte zugelassen, dass die immer größer werdende Trauer sich in Wut verwandelte. Sie wollte nicht mehr mit ihrem Gemahl das Bett teilen, denn das erinnerte sie jedes Mal nur daran, dass sie als Ehefrau versagt hatte.

Am besten dachte sie nicht mehr an den Kuss, als wäre das Ganze nie passiert. Ragnars abwehrende Reaktion hatte ihr nur gezeigt, dass sie nichts zu befürchten hatte, wenn sie neben ihm schlief. Ihr war ein wenig leichter zumute, als sie sich weiter in der Gegend umsah. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits den Unterstand, den sie bauen würde, der den Regen und das unwirtliche irische Wetter abhielt.

Unterwegs entdeckte sie ein paar Wurzeln, von denen sie wusste, dass sie essbar waren. Etwas weiter vom Strand entfernt entdeckte sie die silbrig spiegelnde Oberfläche eines Teichs.

Wasser. Erleichtert seufzte sie auf und gestattete sich zum ersten Mal die Hoffnung, dass sie hier einige Zeit überleben konnten. Ohne Zeit zu verlieren, lief sie hin und trank. Dann suchte sie sich ein möglichst großes Blatt und rollte es zu einem Kegel zusammen, um es mit Wasser für Ragnar zu füllen. Es war nicht viel, aber ein Anfang, bis sie einen größeren Behälter fand. Es gab so viel zu tun, dass sie nicht länger an den Kuss dachte.

Als sie zu Ragnar zurückkehrte, sah sie, dass er auf der Seite lag und die Augen geschlossen hatte. Das Gesicht war schmerzverzerrt, und die Bandage an seinem Bein getränkt von Blut.

Sofort ergriffen sie Schuldgefühle. Sie hätte ihn nicht so lange allein lassen dürfen. Das mit Wasser gefüllte Blatt fiel ihr aus der Hand, als sie an seine Seite eilte.

„Ragnar!“ Vorsichtig schüttelte sie ihn, um ihn aufzuwecken. Er regte sich nicht. Behutsam löste sie den Stoff und entfernte den Verband. Beim Anblick der heftig geröteten Haut sank ihr der Mut. Ihre Heilkunst reichte für die Schwere der Verletzung bei Weitem nicht aus, und natürlich wusste sie nicht, an wen sie sich hier in der Fremde wenden könnte.

„Ich bin keine Heilerin“, murmelte sie und streichelte ihm über die Wange. „Aber du darfst nicht aufgeben. Nicht jetzt.“

Die Wunde war geschwollen, und Elena suchte fieberhaft in ihrer Erinnerung nach einem Heilkraut, das in solchen Fällen half. Ragnar war immer noch bewusstlos, und sie konnte nichts dagegen tun.

Kein Mensch war zu sehen, niemand, der ihr helfen könnte, der vielleicht wusste, wie man eine solche Wunde behandelte. Aber wenn sie nichts tat, würde er sterben.

Sie musste irgendwie zur Ruhe kommen, um nachzudenken. Wenn sie die verletzte Stelle genauer untersuchte, fand sie bestimmt eine Lösung.

Elena atmete tief durch, dann noch einmal, und sah sich das Bein genauer an. Die Haut fühlte sich heiß an und spannte wie ein zum Bersten gefüllter Wasserschlauch.

Ich muss die Wunde dränieren, überlegte sie. Wenn sie etwas von dem Druck abließ, half das möglicherweise.

Also zog sie das Messer aus der Scheide. Langsam verließ sie ihre Entschlossenheit wieder. Der Gedanke, ihn noch mehr zu verletzen, bis er blutete, ließ sie schaudern.

Unhörbar flehte sie alle Götter an, während sie das Messer mit einem Tuch reinigte und an die Wunde legte. Sobald sie die gerötete Haut berührte, ballte Ragnar die Hände zu Fäusten und riss die Augen auf. „Nicht“, brachte er hervor.

„Ich will deine Schmerzen lindern“, sagte sie beruhigend. „Dazu muss ich die Schwellung öffnen.“

Seine Augen flackerten wild, und er biss fest die Zähne aufeinander, während sie die Wunde wieder aufschnitt. Sobald die Klinge die Haut durchdrungen hatte, quoll ein Gemisch aus Blut und Eiter hervor, und Elena musste die aufkommende Übelkeit niederringen. Aber je mehr herauskam, desto mehr schien die Schwellung zurückzugehen. Sie wusste nicht, wie lange sie die Wunde ausbluten lassen musste, um alle schädlichen Flüssigkeiten herauszubekommen. Irgendwann drückte sie die Wundränder wieder zusammen und verband das Bein erneut.

Jetzt konnte sie nicht mehr tun, als zu hoffen. Sie versuchte, es ihm so bequem wie möglich zu machen, aber insgeheim wusste sie, dass sie einen Schutz vor Wind und Wetter brauchten, wenn sie nicht beide sterben wollten. Das hieß, dass sie von seiner Seite weichen musste, um einen zu errichten.

Erst als sie sicher war, dass Ragnar eingeschlafen war, wagte Elena sich wieder zu entfernen. Es gefiel ihr nicht, ihn alleinzulassen, doch ihrer beider Leben hing davon ab.

„Ragnar.“

Ihre Stimme riss ihn aus dem Schmerz, der ihn wie ein niemals enden wollender Strom umgab. Es dämmerte, und die untergehende Sonne ließ Elenas Haar aufleuchten wie eine Aureole.

Bei den Göttern, eine schönere Frau hatte er noch nie gesehen. Aber er hatte gelernt, seine Gefühle zu verbergen, sie niemals spüren zu lassen, was er für sie empfand. Niemals würde er den verräterischen Gelüsten, die er verspürte, nachgeben.

Sie legte ihm eine Hand an die Wange, und er sagte kein Wort, sondern genoss nur die tröstende Wärme, die davon ausging.

„Bald wird es regnen“, flüsterte sie. „Ich habe uns einen kleinen Unterstand für die Nacht gebaut. Kannst du laufen, wenn du dich auf mich stützt?“

Fast hätte er darüber gelacht, aber nach einem Blick auf den Himmel wurde ihm klar, dass er sich entweder mit ihr dorthinschleppen musste oder im Sand liegen bleiben würde, während eisiger Regen auf ihn niederprasselte. Die Wolken hingen tief, und von der Küste her kam Nebel auf.

Sie beugte sich zu ihm herab und legte beide Arme um ihn, half ihm, sich aufzusetzen. So nahe war sie ihm, dass er den Rotton in ihrem Haar und ihre meergrünen Augen deutlich sehen konnte. So viel Angst lag in diesen Augen, dass er sie ihr mit Worten allein nicht würde nehmen können. Keine Worte konnten den Tod aufhalten, wenn dieser die Hand nach ihm ausstreckte.

Ragnar beugte sein gesundes Bein und verzog das Gesicht, als sie ihn hochzog. Sobald er stand, sah er weiße Punkte vor den Augen und drohte, wieder umzukippen. „Elena, ich weiß nicht, wie weit ich komme.“

„Du bist stark, du schaffst es“, beharrte sie. „Ich habe uns etwas zu essen gesammelt und ein Feuer gemacht.“ Sie trug sein Gewicht, so gut sie es vermochte. Der Weg schien endlos. Irgendwann fragte er: „Warum hast du es so weit weg gebaut?“

„Ich brauchte einen Baum mit tief hängenden Ästen, um das Dach daran zu befestigen“, erklärte sie.

Er hörte kaum noch, was sie sagte, da ihn der Schmerz wieder überwältigte. Aber als sie näherkamen, meinte er, den Geruch von Gebratenem wahrzunehmen. Sicher bildete er sich das nur ein? Doch da war er, der Geruch von Geflügel, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. „Hast du etwas erjagt?“ Er spähte zum Feuer hinüber.

Ihr zufriedenes Lächeln bestätigte seine Vermutung. „Ich habe ein paar Schlingen ausgelegt, ja. Sobald wir beide etwas gegessen haben, werden wir besser schlafen.“

Zwar bezweifelte er, dass eine Mahlzeit den Schmerz lindern könnte, aber er wollte nicht kleinreden, was sie heute für sie beide geleistet hatte. Plötzlich hatte er ein Pfeifen auf den Ohren, und Elena fing ihn gerade rechtzeitig, bevor er fallen konnte.

„Wir sind fast da.“

Den Göttern sei Dank. Er erblickte den Unterstand, den sie aus herabgefallenen Ästen um einen Baumstamm herum gebaut hatte. Auf den ersten Blick erschien er sehr einfach, nur ein Haufen großer Äste und Blätter. Aber als sie ihm half, sich niederzulassen, erkannte er, dass er geräumiger war, als er aussah. Außer dem runden Dach hatte Elena sogar noch drei Wände aus dicken Ästen als Gerüst und kleineren Zweigen, die dazwischen verflochten waren, als Schutz gegen den kalten Wind errichtet.

„Wann hast du bloß die Zeit hierfür gefunden?“, fragte er verwundert.

Sie errötete und zuckte mit den Schultern. „Ich bin immer wieder zurückgegangen, um nach dir zu sehen, aber du hast tief geschlafen. Da dachte ich, ich könnte meine Zeit hier sinnvoller verwenden.“

Stärkerer Wind kam auf, und er rutschte zurück, bis er ganz in dem Unterschlupf saß. Elena schürte das Feuer und drehte das Fleisch, bis der Vogel ganz durchgebraten war.

In seinem ganzen Leben hatte er noch nichts so Gutes gerochen. Sie schnitt ihm ein Stück ab, blies darauf und reichte es ihm. Er kostete, und es schmeckte himmlisch.

„Styr ist ein glücklicher Mann.“ Wie sie gearbeitet haben musste, um in so kurzer Zeit etwas derart Aufwendiges wie diesen Unterschlupf zu schaffen! „Ich glaube, er bemerkt nicht einmal die Hälfte von dem, was du für ihn tust.“

Ein überraschter Ausdruck trat in ihre Augen, als hätte sie nie erwartet, so etwas von ihm zu hören. Vielleicht war es der Gedanke, dass er bald sterben könnte, der ihn so offen reden ließ.

„Ich bin seine Ehefrau. Da möchte ich ihm ein angenehmes Zuhause bereiten.“ Sie nahm sich eine Keule und biss hinein, sah ihn aber nicht mehr an.

Ragnar wusste, dass es in den letzten paar Monaten in Elenas und Styrs Ehe Probleme gegeben hatte. Styr hatte ihn ins Vertrauen gezogen und ihm mitgeteilt, wie sehr Elena darunter litt, dass sie kein Kind bekam. Das hatte ihn in eine unangenehme Lage gebracht. Damals hatte er zugeredet, mit Elena zu sprechen, nun aber war er hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dass die beiden sich bald versöhnten – und dem Wunsch, ihre Ehe möge enden.

Was war er doch für ein selbstsüchtiger Bastard. Was sollte es ihm schon helfen, wenn Elena und Styr getrennte Wege gingen? Sie würde sich niemals ihm zuwenden. Sie kannte seine dunklen Geheimnisse, die wilde Jugendzeit, die er durchlebt hatte – und die Gewalt, die noch immer tief in ihm lauerte. Er wusste, mit jemandem wie ihm würde sie sich nicht einlassen wollen.

Der Wind nahm noch mehr zu, und Elena zog einen besonders großen Ast mit vielen Zweigen und Blättern hervor, der ihm noch nicht aufgefallen war. Sie schob ihn an die vierte Seite des Unterschlupfs, sodass er als eine Art Tür diente. Binnen weniger Sekunden prasselte der Regen auf ihr Dach nieder.

Aber kein Tropfen drang herein. Er schaute nach oben; sie hatte die Blätter so dicht übereinandergeschichtet, dass sie völlig vor dem Unwetter geschützt waren. „Das hast du sehr gut gemacht, Elena. Jetzt bist du sicher müde von der Arbeit.“

Sie nickte. „Ein wenig. Wie geht es deinem Bein?“

„Es tut weh, aber es ist nicht mehr so geschwollen, wie es vor dem Schnitt gewesen war.“ Die Wunde brannte, doch der Schmerz war erträglich.

„Ich werde nach Knoblauchzehen und Kräutern suchen, um das vergiftete Blut herauszuziehen“, versprach sie. „Sobald es aufhört zu regnen.“

„Morgen früh reicht völlig aus.“ Er aß auf, und ein unangenehmes Schweigen entstand. Sie wich seinem Blick aus, und er begriff, dass ihr der Kuss immer noch peinlich war.

„Tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe.“ Er lehnte sich gegen die Wand und war sich nur allzu bewusst, wie nah Elena ihm war. „Ich weiß, dass du dir bei dem Kuss nichts gedacht hast.“

Sie seufzte auf. „Vielen Dank. Es ging mir wirklich nur darum, dass du bei Bewusstsein bleibst.“

Er betrachtete sie. Obwohl der Regen das Feuer vor ihrem Unterschlupf gelöscht hatte, erhaschte er, nahe, wie sie ihm war, in den Schatten einen Blick auf ihr wunderschönes Gesicht. Wenn er doch nur die Wahrheit gestehen könnte: dass die Weichheit ihrer Lippen ihn stärker umgehauen hatte, als jeder Faustschlag es vermocht hätte. Sie hatte nach Unschuld geschmeckt, nach Träumen, die sich niemals erfüllen könnten.

„Wir werden einen Weg zurück finden“, sagte er. „Sobald mein Bein geheilt ist, bringe ich dich zurück zu Styr.“

Sie nickte, und als die Regenmassen noch stärker wurden, rückte sie näher zu ihm. „Ich mache mir Sorgen um ihn. Auch wenn wir in letzter Zeit Meinungsverschiedenheiten hatten, möchte ich doch nicht, dass ihm etwas zustößt.“

Sie schmiegte sich an Ragnar, und er legte die Arme um sie. Auch wenn sie keinen Ton von sich gab, fühlte er, dass ihre Wangen feucht waren, und wusste, dass sie lautlos weinte.

„Wir finden ihn, Elena. Das verspreche ich.“

Sie schniefte. „Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich Angst habe. Wegen … wegen des Monds.“

Da er keine Ahnung hatte, was sie meinte, wartete er darauf, dass sie weitersprach.

„Als wir Norwegen verlassen haben, war es Vollmond. Jetzt hat er sich zum zweiten Mal gerundet.“

Sie richtete sich auf. Inzwischen war es so dunkel, dass er ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Ich … ich hatte meine … Regel nicht mehr, seit wir Norwegen verlassen haben.“ Ein Hauch von Zuversicht lag in ihrer Stimme. „Ich glaube, ich bin endlich guter Hoffnung.“

Die Nacht war die reinste Qual gewesen. Visionen und finstere Träume hatten ihn heimgesucht, in seinem Körper hatte ein Fieber gewütet. Er hatte kaum etwas wahrgenommen, nur Elena, die ihm kühles Wasser reichte.

Er wollte nicht wahrhaben, dass er sterben könnte, und er wollte nicht einfach hier liegen und auf sein Schicksal warten. Er hatte geschworen, Elena zu Styr zurückzubringen.

„Wir können hier nicht bleiben.“ Seine Stimme ähnelte mehr einem Knurren.

„Uns bleibt keine Wahl.“ Sie kniete sich neben ihn, als wüsste sie, wie wohl ihm ihre Gegenwart tat. „Du musst dich ausruhen und gesund werden.“ Er hörte die Angst in ihren Worten, doch er wollte immer noch nicht über einen möglichen Tod nachdenken.

„Um zu Styr zu gelangen, musst du immer nach Südwesten gehen, an der Küste entlang. Wenn die Morgensonne zu deiner Linken ist, dann …“

„Ich lasse dich nicht allein.“

„Wenn ich nicht gesund werde, musst du gehen.“ Das Letzte, was er wollte, war, dass sie mit ihm litt und hier im Niemandsland verhungerte. Sein Magen knurrte jetzt schon vor Hunger.

„Du wirst nicht sterben“, sagte sie wieder. „Deine Wunden sehen schon viel besser aus. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du halb verhungert bist, so lange, wie du geschlafen hast.“ Sie zog den Ast vom Eingang ihres Unterschlupfs. Die Sonne blendete ihn, und er schaute auf sein Bein hinunter.

Obwohl es immer noch schmerzte, war es nicht annähernd so geschwollen, wie er erwartet hatte. Elena hatte eine Kompresse aus Knoblauch und Kräutern aufgelegt, und er fragte sich, wie oft sie ihn, während er geschlafen hatte, gewechselt hatte. Sein ganzer Körper roch nach Knoblauch. Ein Wunder, dass sie es überhaupt in seiner Nähe aushielt.

Sie brachte ihm ein paar Möweneier, die sie ins Feuer gelegt hatte. Selten hatte ihm etwas besser geschmeckt. Hatte sie selbst auch welche gegessen oder alle für ihn aufbewahrt? „Ist es wirklich erst einen Tag her, dass wir an dieser Küste angekommen sind?“

Elena schüttelte den Kopf. „Wir sind seit drei Tagen hier. Du hast immer wieder das Bewusstsein verloren, und ich wusste nicht, ob du aus der Ohnmacht erwachen würdest. Ich habe versucht, dir Wasser und rohe Eier einzuflößen, so gut es ging, aber … es war schwierig.“

Drei Tage? Unglaublich, dass die Zeit so schnell verstrichen war. Und doch sprachen alle Anzeichen dafür. Seine Wunden hatten begonnen, sich zu schließen, und die Haut fühlte sich nicht mehr so heiß an.

„Es war Glück, dass ich den Knoblauch gefunden habe“, fuhr Elena fort. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass er gut für die Wundheilung ist, und sie hatte recht.“

„Ich stinke fürchterlich“, gab er zu. Aber wenn es ihn am Leben erhalten hatte, war es das wert. Nun stellte sich die Frage, ob er wieder in der Lage war zu laufen.

Bedächtig kroch Ragnar aus ihrem Unterschlupf und kam mit Elenas Hilfe auf die Beine. Wenn er das verletzte Bein nicht zu sehr belastete, ging es.

Elena sah müde aus von den Anstrengungen der vergangenen Tage, aber schön wie eh und je. Ihr rotgoldenes Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, und dadurch kamen ihre helle Haut und das herzförmige Gesicht umso besser zur Geltung. In ihren grünen Augen las er Erleichterung. „Noch ein paar Tage, und du kannst neue Schlachten ausfechten“, behauptete sie. „Obwohl du die Narben immer behalten wirst.“

„Jeder Krieger behält Narben zurück.“ Sie waren eine sichtbare Erinnerung daran, dass sie den Tod – und ihre Feinde – besiegt hatten. „Aber ich verdanke dir mein Leben.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du hast meines gerettet, an Bord des Schiffes. Du bist mir nichts schuldig.“

„Doch. Ich habe es Styr geschworen“, erinnerte er sie. Einen Schwur, sie zu beschützen. Sie waren zwar noch am Leben, aber er musste sie zurückbringen zu der Siedlung, wo man Styr überwältigt hatte.

„Du wirst wieder ganz gesund werden, und dann finden wir ihn, wie du gesagt hast.“ Elena wirkte zuversichtlich.

Sein Blick wanderte zu ihrem flachen Bauch, als ihm wieder einfiel, was sie ihm über ihre Schwangerschaft erzählt hatte. Sie bemerkte, wo er hinsah, und errötete ein wenig. Sie legte sich eine Hand auf den Bauch. „Merkwürdig, dass mir noch gar nicht übel war.“

„Nicht jede Frau hat in den ersten Wochen solche Probleme“, sagte er. „Meinen Schwestern wurde auch nie übel.“

Ihre Stimmung besserte sich, und er sah wieder Hoffnung in ihrer Miene. So viele Jahre hatte sie sich schon nach einem Kind gesehnt.

Die Götter mögen ihm beistehen, er war eifersüchtig auf Styr. Ragnar wünschte, Elena wäre seine Ehefrau, wäre schwanger mit seinem Kind. Er wollte jeden Morgen neben ihr aufwachen, über ihren Bauch streicheln, um zu spüren, wie das Kleine darin strampelte.

Er zwang sich weiterzugehen, das dumpfe Pochen in seinem Bein nicht zu beachten. Die größte Gefahr war vorüber; er würde leben. Aber mit jedem Tag, der verging, wollte er Elena mehr. Er war wie besessen von ihr, alle anderen Frauen verblassten gegen sie.

Warum, ihr Götter, muss sie nur zu meinem besten Freund gehören? Wäre sie die Frau eines anderen, irgendeines anderen, würde er sie besitzen, ohne sich um die Folgen zu scheren. Er sehnte sich verzweifelt nach ihr. Als er sich umdrehte, sah er den seligen Ausdruck auf ihrem Gesicht, weil sie endlich das Kind haben würde, das sie sich wünschte.

Ein ehrenhafter Mann würde sich mit ihr freuen. Sie kehrte zu ihrem Ehemann zurück, und das Kind würde den Bruch kitten, der zwischen ihnen entstanden war. Sie musste nicht länger stumm leiden; ihr sehnlichster Wunsch war erfüllt.

Ragnar blieb stehen und sah auf das Wasser vor ihnen hinunter. Das Gras war nass vom Regen, aber allmählich trocknete es in der Sonne. Er wusste nicht genau, wie sie zurück zu der Ansiedlung gelangen sollten, aber ihre größte Hoffnung bestand vermutlich darin, sich immer an der Küste zu halten. Wenn sie dabei ein Boot sahen, konnten sie darum bitten, dass man sie mitnahm.

„Mute dir nicht zu viel zu“, ermahnte ihn Elena. „Du musst erst wieder zu Kräften kommen.“

Nein, er musste vor allen Dingen Abstand von ihr gewinnen. Den Kopf freibekommen, damit er nicht den Trieben nachgab, die ihn zu überwältigen drohten.

Ragnar ergriff einen am Boden liegenden Ast, der zur Verteidigung dienen konnte, und benutzte ihn als Krücke, während er weiterging. Ein leises Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Sofort blieb er stehen, lauschte und wandte sich um.

Elena sah ihn an. „Hast du etwas gehört?“

Er nickte und deutete in Richtung Land. „Es kam von da drüben.“ Auf seinen Stock gestützt, ging er weiter, in Richtung des Geräuschs. Es klang, als nähere sich eine größere Gruppe Menschen.

Auf Elenas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Den Göttern sei Dank. Bestimmt haben sie Nahrung und Vorräte. Ich glaube, wir sind gerettet!“

Aber als die Geräusche lauter wurden, erkannte Ragnar, was er da hörte. Diese Leute wanderten nicht, sie flohen. Dutzende von Männern, Frauen und Kindern rannten über die Wiesen, verfolgt von Reitern.

Berittene Krieger, die Waffen gezogen, bereit, die Leute niederzustrecken.

5. KAPITEL

Ihr Herz schlug wie wild, und Ragnar schob Elena in Richtung der fliehenden Frauen. „Lauf!“, befahl er.

Sie gehorchte unwillkürlich, bis sie sah, dass er selbst stehen blieb und die Reiter ansah. Obwohl er nur den dicken Ast hatte, hielt er ihn wie ein Schwert hoch erhoben und wartete darauf, dass die Männer näher kamen.

Seine ruhige Haltung verriet nicht, welcher Sturm gleich stattfinden würde. Elena hatte Ragnar bereits kämpfen sehen und wusste, dass er ein ganz anderer Mann wurde, wenn der Rausch einer Schlacht ihn überkam. Sein Schwert wurde dann ein Teil von ihm, schlug erbarmungslos jeden nieder, der ihn oder die Seinen bedrohte.

Wenige überlebten, und er kannte keine Gnade.

Diesmal jedoch war er verwundet. In seinem Gesicht sah sie die grimmige Entschlossenheit und wusste, er würde eher sich selbst opfern als zulassen, dass irgendjemand ihr etwas antat. Aber sogar er mit seiner Stärke und Kampferfahrung wäre nicht in der Lage, alle Berittenen zu besiegen. Vermutlich wollte er sie nur beschäftigen, damit alle anderen Zeit gewannen, um zu fliehen.

Sie blieb sofort stehen und hielt auch einen der Iren an. „Er braucht Hilfe“, flehte sie. „Er kann sie nicht allein aufhalten.“

Der Mann starrte sie an, bis ihr bewusst wurde, dass er sie nicht verstand. Aber er warf Ragnar einen Blick zu, überrascht, dass ein Verwundeter mit einem Ast sich ihrem Feind entgegenstellte.

Einer der Reiter hob sein Schwert, um Ragnar niederzustrecken. Der stand nur ruhig da und erwartete den Hieb.

Freya, schütze ihn.

Elena wusste, was nun geschehen würde – sie hatte es Hunderte Male erlebt. Er würde sich nicht von der Stelle bewegen, und dieser selbstmörderische Wahn würde seine Gegner dazu bringen, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen. Kein vernünftiger Mann stand einfach nur da, wenn Pferde auf ihn zurasten.

Obwohl sie ihm vertraute, konnte Elena den Gedanken nicht ertragen, dass Ragnar etwas zustieß. Er war schon so lange ihr Freund, war immer für sie da gewesen. Sie ballte die Hände, damit sie nicht in den Kampf eingriff. Als sie einen Schritt zurücktrat, war der Reiter für einen Moment abgelenkt.

Das reichte Ragnar, um ihm sein Schwert mit dem Ast aus der Hand zu schlagen und ihn vom Pferd zu stoßen. Das Tier wieherte und bäumte sich auf. Ragnar bückte sich blitzschnell, ergriff das Schwert seines Gegners und dann die Zügel. Noch bevor sich der feindliche Krieger aufrappeln konnte, saß er im Sattel und stieß einen norwegischen Kriegsruf aus. Mit einem gewaltigen Hieb schickte er den Mann erneut zu Boden.

Es kostete Elena ihre ganze Selbstbeherrschung, bei den Iren zu bleiben und nicht zu ihm zu laufen. Sie wusste, sie würde ihn ablenken, und das könnte für ihn gefährlich werden.

Das Schwert weiterhin zum Kampf bereit, trieb er sein Pferd vorwärts.

„Du bist Norweger“, hörte sie einen der Reiter in ihrer Sprache sagen.

„Das bin ich. Mein Name ist Ragnar Olafsson, gebürtig aus Hordafylke. Wir sind vor ein paar Tagen nach Éire gekommen.“ Seine Stimme klang gleichmütig, aber Elena hörte den unnachgiebigen Unterton. Er würde nicht zurückweichen und die Krieger ihren Angriff fortführen lassen.

„Ich bin Alfarr Gelinsson“, antwortete deren Anführer und betrachtete Ragnar von oben bis unten. „Warum verteidigst du diese Leute? Sie sind nicht von deinem Volk.“

Autor

Michelle Willingham
<p>Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde. Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...
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