Historical Lords & Ladies Band 61

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FLUCHT INS GLÜCK von ALLEN, LOUISE
Nur einer lässt Joannas Herz höher schlagen - der attraktive Colonel Giles Gregory. Aber alle Bemühungen, seine Leidenschaft für sie zu wecken, scheinen vergeblich: Auf einem Ball sieht sie ihn in einer verfänglichen Situation mit einer hübschen Dame. Verzweifelt glaubt Joanna, nie mehr ihr Glück zu finden. Bis ausgerechnet Giles sie aus einer misslichen Lage rettet - und stürmisch küsst. Hat er doch Gefühle für sie?

EIN FRAUENHELD ENTDECKT DIE LIEBE von KAYE, MARGUERITE
Seit die süße Serena auf Knightswood Hall das Testament ihres Vaters sucht, ist das langweilige Landleben für Nicholas Lytton vorbei: Der Kuss, den er der begehrenswerten Dame raubt, schmeckt nach dem Beginn einer wunderbar sinnlichen Sommerromanze. Mehr als eine Affäre hat Nicholas dabei nicht im Sinn. Doch als Serena plötzlich in Lebensgefahr schwebt, kann Nicholas sie nur beschützen, indem er sie zur Frau nimmt …


  • Erscheinungstag 28.04.2017
  • Bandnummer 0061
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768447
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Allen, Marguerite Kaye

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 61

1. KAPITEL

Der Vorfall, der sowohl dazu führte, dass Colonel Gregory von seinem Vater enterbt wurde, als auch Miss Joanna Fulgrave veranlasste, von daheim wegzulaufen, ereignete sich auf dem Ball der Duchess of Bridlington.

Dieses gesellschaftliche Ereignis war eine äußerst prunkvolle Angelegenheit, da Ihre Gnaden es zum Höhepunkt der sich dem Ende zuneigenden Saison auserkoren hatte. Alle Veranstaltungen, die bis zum Zeitpunkt der Abreise der Angehörigen der Oberschicht aus London noch stattfinden würden, sollten im Vergleich dazu armselig wirken.

Joanna Fulgrave bewegte sich mit anmutig gerafften Röcken auf die zum Empfang aufgereihten Familienmitglieder zu, begleitet von ihrer Mutter, die die geschwungene Treppe mit derselben Eleganz bewältigte. Die beiden Damen hatten dabei ausreichend Gelegenheit, Lächeln und Verneigungen mit Freunden und Bekannten zu tauschen, die demselben Ziel zustrebten.

Wie immer verfolgten die Mütter aufmerksam Joannas Auftritt und ermahnten dabei ihre Töchter halblaut, sich ein Beispiel an Miss Fulgraves untadeligem Benehmen zu nehmen, sowie an ihrer höchst korrekten Erscheinung und an ihren perfekten und zugleich charmanten Manieren.

Hätte Joanna diese beneidenswerten Tugenden nicht mit einer natürlichen Freundlichkeit vereint, wären ihr die so gemahnten jungen Damen schon längst von Herzen gram gewesen. So aber verziehen sie ihr die gelobten Vorzüge, während die Tatsache, dass Miss Fulgrave am Ende ihrer zweiten Ballsaison immer noch keinen Verlobten vorweisen konnte, Balsam für die Seelen ihrer Mütter war.

Dieser Misserfolg lastete hingegen schwer auf dem Gemüt von Mrs. Fulgrave. Niemand, dessen war sie sich sicher, hatte eine reizendere und pflichtbewusstere Tochter als sie, und in den vergangenen Monaten hatte sie sage und schreibe sieben auserlesenen Gentlemen gestattet, Joanna den Hof zu machen. Alle sieben waren jedoch höflich, aber entschieden von ihr abgewiesen worden, und in jedem einzelnen Fall war sie entweder nicht in der Lage oder nicht willens gewesen, ihren geplagten Eltern eine andere Erklärung zu geben als die Vermutung, die Herren seien nicht passend genug.

Erst an diesem Morgen wieder hatte sich Joanna geweigert, den Sohn der besten Schulfreundin ihrer Mutter zu empfangen, einen jungen Mann von so hervorragender Herkunft und mit einem so beträchtlichen Vermögen, dass Joanna schließlich die Grenzen der elterlichen Toleranz aufgezeigt wurden.

„Was soll das heißen, du willst Rufus nicht?“, hatte die Mutter ärgerlich gerufen. „Und was soll ich Elizabeth sagen, wenn sie erfährt, dass du ihrem Sohn einen Korb gegeben hast?“

„Ich kenne ihn doch kaum, und du kennst ihn auch nicht besser. Schließlich hast du selbst gesagt, dass du seine Mutter mehr als zehn Jahre nicht gesehen hast.“

„Du hast Rufus bereits kennen gelernt, als du sechs Jahre alt warst.“

„Ja, ja, ich weiß. Er hat mich an den Zöpfen gezogen und mir den Ball weggenommen.“

„Rufus Carstairs war damals gerade zehn. Inzwischen ist er der Earl of Clifton. Willst du etwa Seine Lordschaft wegen solcher kindischen Streitereien abweisen?“

Joanna hatte sich auf die Lippe gebissen, während sie mit gesenktem Blick nach einer annehmbaren Erklärung suchte. Den wirklichen Grund für ihre Ablehnung konnte sie den Eltern nicht sagen, denn er hatte mit Rufus Carstairs nicht das Geringste zu tun. Selbst die Hand eines Herzogs oder eines indischen Nabobs würde sie zurückweisen.

„Nun? Ich warte.“

„Ich mag ihn nicht, Mama, wirklich. Es ist etwas in seinem Blick, wenn er mich anschaut …“ Joanna sah die durchdringenden hellblauen Augen vor sich, die sie mit tiefem Misstrauen erfüllten. „So als hätte ich keine Kleider an“, fügte sie rasch hinzu.

„Joanna! Ich kann nur hoffen, dass du in deiner natürlichen Unschuld die feurige Leidenschaft eines verliebten jungen Mannes als etwas ausgelegt hast, wovon du keine Ahnung haben kannst.“ Mrs. Fulgrave hatte tief Luft holen müssen, um ihre Fassung wieder zu erlangen. „Er hat doch nichts gesagt oder getan, dessentwegen du erröten müsstest! Nein, es ist wieder nur eine deiner Launen, und dein Papa und ich sind nun am Ende unserer Geduld.“

Während die Kolonne der Gäste für einen Augenblick ins Stocken geriet, hörte Joanna im Geist die gereizte Stimme ihrer Mutter. „Du kannst nicht damit rechnen, einen schmeichelhafteren Antrag zu bekommen. Und wenn du glaubst, dass dein Vater es sich leisten kann, deine Ballroben und deine Tanzvergnügen bis in alle Ewigkeit zu finanzieren, während du mit der Zuneigung ehrbarer junger Männer spielst, so irrst du dich gewaltig.“

„Ich spiele nicht mit Lord Cliftons Zuneigung“, hatte Joanna protestiert. „Er kann mich doch gar nicht lieben! Wir kennen uns kaum.“ Aber die Mama hatte nur die Schulter gezuckt und den Glücksumstand gepriesen, dass der Earl an dem bevorstehenden Ball nicht teilnehmen würde und Joanna dadurch genügend Zeit hatte, zur Vernunft zu kommen.

Wieder kam die Gästeschar auf der Treppe zum Stehen, und Mrs. Fulgrave nutzte die Gelegenheit, um die äußere Erscheinung ihrer Tochter noch einmal in Augenschein zu nehmen. Das lange schwarze Haar war am Hinterkopf mit perlengeschmückten Nadeln befestigt. Unter elegant geschwungenen Brauen blitzten große nussbraune Augen, die bei Gefühlsaufwallungen einen grünen Schimmer bekamen. Ihre schlanke, mehr als mittelgroße Figur, der wohlgeformte Busen und die schneeweißen Schultern kamen in der Robe, die eine hervorragende Schneiderin eigens für diesen Abend angefertigt hatte, ausgezeichnet zur Geltung. Der hauchdünne Überwurf über dem nilgrünen Kleid war am Saum reich mit Wachsperlen bestickt. Das auf eine äußerst kunstvolle Art gefältelte Oberteil hatte einen tiefen v-förmigen Ausschnitt am Rücken, der makellose weiße Haut freigab. Das Ganze wurde komplettiert durch eine Perlenkette mit den dazu passenden Ohrringen und Armreifen, die der Vater ihr vor kurzem zu ihrem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

Höchst elegant und zugleich dezent, wie es sich für eine unverheiratete junge Dame gehört, dachte Mrs. Fulgrave. Was für eine Countess würde Joanna abgeben, wenn sie sich nur endlich der besseren Einsicht fügen würde. Es war wirklich kein Wunder, dass Lord Clifton so eingenommen von ihr war, obwohl er bei jeder jungen Dame der Gesellschaft offene Ohren für seine Werbung gefunden hätte.

Während die Mutter ihren Gedanken nachhing, war Joanna damit beschäftigt, so unauffällig wie möglich die Reihen der Gäste nach einem ganz bestimmten Mann abzusuchen. Seit zwei Jahren hoffte sie jedes Mal auf seine Anwesenheit, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob er sich überhaupt in der Stadt aufhielt.

Der Mann, nach dem sie Ausschau hielt, war Colonel Giles Gregory, ihr zukünftiger Ehemann. Um seinetwillen hatte sie nahezu drei Jahre damit verbracht, sich zu einer vollendeten Offiziersfrau zu entwickeln, denn sie war fest überzeugt, dass Giles eines Tages zum General befördert werden würde. Und irgendwann, dessen war sie sich sicher, könnte er sogar wie der Duke of Wellington Diplomat und ein berühmter Staatsmann werden.

Mit siebzehn Jahren hatte sie sich in Giles Gregory verliebt. Gerade von der Schule gekommen, zeigte sie damals zum Ärger ihrer ängstlichen Mutter eine deutliche Neigung, sich in jegliche Verlegenheit zu bringen, die sich ihr bot – ganz im Gegensatz zu ihrer ruhigen, fügsamen Schwester Grace, die sich bereits während ihrer ersten Saison mit Sir Frederick Willington verlobt hatte.

Doch dann kehrte ihre Kusine Hebe aus Malta zurück, und die Familie wurde unversehens in deren unglaubliche Liebesgeschichte mit dem Earl of Tasborough verwickelt, der, obwohl noch im Trauerjahr um seinen Vater, darauf bestand, seine Hebe innerhalb von drei Wochen zum Traualtar zu führen. So war man gezwungen, die Hochzeitsvorbereitungen in aller Eile durchzuführen, und Major Gregory, ein Freund des Earl, fand sich plötzlich in der Rolle des Brautführers und eines Mittelsmannes zu der Familie Fulgrave wieder.

Bei seinen Besuchen im Hause der Fulgraves unterhielt der imposante Offizier ihren kleinen, auf alles Soldatische versessenen Bruder William mit allerlei Geschichten, ohne dabei von Joanna besondere Notiz zu nehmen, die schweigend, aber aufmerksam zuhörte. Sehr schnell war ihr aufgefallen, dass Giles nie von sich selbst, sondern immer nur von seinen Freunden oder von seinen Soldaten sprach. Die Erkenntnis, dass die Männer ihrem Major offensichtlich jederzeit in die Hölle und zurück folgen würden, wenn er sie darum bat, brachte sie dabei auf geradezu hinterhältige Weise dazu, sich immer heftiger in ihn zu verlieben.

Natürlich war sie jetzt noch zu jung, und Giles würde nie auf den Gedanken kommen, ihr den Hof zu machen. Aber im Herbst begann ihre erste Ballsaison, und dann würde sie anfangen zu lernen, die perfekte Ehefrau zu werden, die Giles verdiente. Sie vertraute blind darauf, dass er diese Tatsache erkennen würde, sobald sie sich wieder begegneten.

Fast über Nacht wurde Mrs. Fulgraves jüngste Tochter gefügig, aufmerksam und wohlerzogen. Vom sorgfältigen Zupfen ihrer dichten Brauen bis zur Beherrschung der Tiefe des Knickses entsprechend der Bedeutung der jeweiligen Person widmete sie sich hingebungsvoll ihrer neuen Aufgabe, und ihre Eltern waren viel zu erfreut über die Veränderung, um nach der Ursache dieses Wunders zu forschen, sodass sie von unliebsamen Fragen verschont blieb.

Monat für Monat hielt der Dienst Giles, inzwischen zum Colonel befördert, im Ausland fest. Doch Joanna gab ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht auf. Indes studierte sie täglich angstvoll die Ankündigungen in der „Times“, in der bangen Hoffnung, die eine, die ihr Leben zerstört hätte, sei nicht dabei. Dass Giles verwundet werden oder gar fallen könnte, kam ihr nicht in den Sinn, denn ein solch grausames Schicksal, das seinen Weg zu Ruhm und Größe unterband, würde ihm nie widerfahren. Nein, was sie fürchtete, war die Ankündigung seiner Verlobung mit einer jungen Dame der Gesellschaft. Doch bis jetzt hatte sie eine derartige Mitteilung zum Glück noch nicht lesen müssen.

Die beiden Damen waren mittlerweile am oberen Ende der Treppe angelangt, und Joanna überlegte sich, was sie der Duchess bei der Begrüßung wohl Passendes sagen könnte. Für eine Offiziersfrau war es wichtig, für jede Person die richtigen Worte zu finden. Dabei fiel ihr ein, dass die Duchess es liebte, neue Moden zu kreieren, wovon die ungewöhnliche Pflanzendekoration der Räume Zeugnis ablegte.

Ihre Gnaden empfing die Damen Fulgrave mit betonter Liebenswürdigkeit, denn sie mochte hübsche junge Mädchen wie Joanna, die ihren Gesellschaften zum Erfolg verhalfen. „Ein schreckliches Gedränge, nicht wahr, meine Liebe“, sagte sie lächelnd zu Joanna.

„Ganz und gar nicht, Euer Gnaden.“ Joanna erwiderte das Lächeln, während sie in einen vorbildlichen Knicks versank. „Ich war vielmehr erfreut über die Gelegenheit, die herrliche Dekoration zu bewundern. Diese Palmen und die Ananasstauden sind wundervoll und so originell. Ich habe noch nie etwas dergleichen gesehen.“

„Sie sind ein liebes Kind.“ Die Duchess tätschelte ihr hoch erfreut die Wange und nickte den beiden Damen huldvoll zu, während diese sich in den Ballsaal begaben. Der riesige, säulengetragene Raum mit den deckenhohen Spiegeln war bereits von Stimmengewirr und Lachen erfüllt und von den gedämpften Tönen des Orchesters, das vor dem Tanz einige Salonstücke zu Gehör brachte.

Wie immer begann Joanna sofort, die männlichen Gäste zu mustern, und bei jedem roten Uniformrock drohte ihr Herzschlag auszusetzen. Unauffällig trat sie einen Schritt näher an eine Gruppe von Offizieren heran, die von einem Mann mit breiten Schultern und honigfarbenem Haar überragt wurde. Die tiefrote Schärpe schmückte eine Brust voller glänzender Medaillen.

Giles! Der Name kam ungewollt über Joannas Lippen, wenn auch nur als ein tonloses Flüstern. Er war da! Drei Jahre des Wartens, der harten Arbeit und des unerschütterlichen Glaubens waren zu Ende. Aufgeregt umklammerte sie die leere Tanzkarte, die mit einem Seidenband an ihrem Handgelenk befestigt war.

Jetzt löste sich Giles aus der Gruppe, schlenderte durch den Saal und begrüßte hier und da Freunde. Langsam, aber zielstrebig bahnte Joanna sich den Weg zu ihm. Ihr Herz klopfte heftig, und aus ihren Wangen war alle Farbe gewichen. Giles war ihr Schicksal, daran gab es keinen Zweifel.

Mit höflicher Entschiedenheit wies sie die Bitten anderer junger Männer um einen Tanz ab. Ihre Karte musste für Giles frei bleiben. Aber vielleicht würden sie gar nicht tanzen, sondern sich irgendwo hinsetzen und miteinander reden. Ob er sie wohl sofort erkennen würde?

Sie hatte ihr Ziel schon fast erreicht und konnte nun auch sein Gesicht genauer erkennen. In die sonnengebräunte Haut hatten Lachfältchen weiße Linien um die Augen gezogen. Er wirkte noch kräftiger, noch beeindruckender, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nur noch zehn Schritte trennten sie …

Plötzlich hob Giles den Kopf und sah sich suchend um. Dann ging er zu einem bogenförmigen Durchgang, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und verschwand dahinter.

Ungeduldig drängte sich Joanna durch die Menge, die hier am Ende des Saales besonders dicht war, und als sie endlich ebenfalls den Durchgang erreicht hatte, stellte sie erstaunt fest, dass das kleine Vestibül, zu dem er führte, völlig leer war. Unschlüssig blieb sie stehen. Giles war doch hierher gegangen! Sie hatte es genau gesehen. Da endlich ertönte seine Stimme, tief und mit einem Anflug lässigen Amüsements. Joanna lief ein erregender Schauer über den Rücken. Gebannt folgte sie der Stimme zu einem Nebenzimmer, und dort stand Giles und lächelte eine elegante junge Dame an, die er in den Armen hielt.

„Du redest also bestimmt mit Papa, Giles, Liebling? Versprich es mir!“, sagte die junge Dame beschwörend.

„Gewiss, Suzy, mein Engel. Gleich morgen gehe ich zu ihm“, erwiderte Giles in einem warmen, zärtlichen Ton.

„Oh, Giles, man muss dich einfach lieben!“

Entsetzt starrte Joanna auf das Paar in dem halbdunklen Raum. Die Dame in Giles’ Armen war Lady Suzanne Hall, die reichste, schönste und begehrenswerteste Debütantin der Saison. Sie war die Nichte der Duchess of Bridlington und die älteste Tochter des Marquis of Olney und geradezu schwindelerregend vermögend. Aber selbst ohne einen Penny hätte die entzückende kleine Blondine alle Männer magnetisch angezogen.

Warum will sie ausgerechnet Giles! schrie Joanna im Innern. Er gehört doch mir.

„Ach, wie schön, dass du wieder da bist“, seufzte Suzy und schlang die Arme um seinen Nacken. „Hast du mich genauso vermisst wie ich dich?“

„Genauso und noch mehr. Du weißt doch, was du mir bedeutest.“ Giles neigte den Kopf und küsste Suzy zärtlich.

Die Welt wurde dunkel um Joanna. Sie klammerte sich an den Vorhang und schloss die Augen. Aber das Bild des eng umschlungenen Paares konnte sie damit nicht auslöschen. Blindlings lief sie in den Saal zurück und sank auf einen der zierlichen vergoldeten Stühle. Zum Glück hatte niemand etwas bemerkt.

Mechanisch verzog sie die Lippen zu einem Lächeln und versuchte, sich klar zu machen, was geschehen war. Giles war hier, und er beabsichtigte offensichtlich, um die Hand von Lady Suzanne anzuhalten. Diese Erkenntnis hatte sie getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war wie gelähmt, fühlte aber seltsamer Weise keinen Schmerz. Das nannte man wohl einen Schock, und ein Schock konnte tödlicher sein als eine Wunde. So oder ähnlich wurde es jedenfalls in einem der militärwissenschaftlichen Bücher beschrieben, die sie Giles zuliebe gelesen hatte.

Plötzlich rauschte eine Dame in einer hellblauen Robe an ihr vorüber. Lady Suzanne winkte einem jungen Mann zu und rief: „Freddie! Dieser Walzer ist für dich reserviert.“

Jetzt gelang es Joanna nicht länger, das krampfhafte Lächeln auf ihren Lippen zu halten. Ihre Hände begannen zu zittern. Kreidebleich starrte sie der Davoneilenden nach.

„Madam, sind Sie unpässlich?“ Ganz nah war die geliebte Stimme. Joanna fuhr zusammen und ließ ihren Fächer zu Boden fallen. Sofort kniete Colonel Gregory nieder und reichte ihr das zarte Gebilde aus vergoldeten Federn. „Hier, bitte.“

Joanna stammelte ein Dankeswort. Dann trafen sich ihre Blicke, und Giles rief: „Aber Sie sind doch Miss Joanna Fulgrave, nicht wahr?“ Sie nickte stumm. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Ihr Schweigen nahm Giles als Zustimmung. Er zog sich einen Stuhl heran.

„Sie wirken sehr ermattet, Miss Fulgrave. Soll ich Ihnen eine Erfrischung holen? Vielleicht ein Glas Wein?“

„Nein, danke, Colonel, ich brauche nichts. Ich fühle mich wohl“, flüsterte Joanna.

„Erlauben Sie, dass ich widerspreche. Sie sind kreidebleich.“

„Ich … ich hatte eine unerwartete und unwillkommene Begegnung. Das ist alles.“ Joannas Stimme klang jetzt etwas fester, und das gab ihr den Mut hinzuzufügen: „Es war ein leichter Schock, Colonel, und wird gleich besser sein.“ Bitte, geh jetzt, bevor ich an deiner Brust zu schluchzen beginne, dachte sie verzweifelt.

Giles war empört aufgesprungen. „Hat es etwa einer der Herren gewagt, Sie zu beleidigen?“, fragte er halblaut.

„Oh, nein, nein, nichts dergleichen“, versicherte Joanna und zwang sich, zu ihm aufzublicken. In seinen grauen Augen lag entschlossener Ernst und ein wenig Ungläubigkeit.

„Ich werde Ihnen etwas zu trinken holen, Miss Fulgrave. Bleiben Sie hier sitzen. Ich bin sofort zurück.“

Erschöpft lehnte Joanna sich zurück und versuchte, über das Erlebte nachzudenken. Aber es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Am liebsten wäre sie weggelaufen, wenn nur die Beine ihr gehorcht hätten.

„Hier. Trinken Sie das.“ Unerwartet schnell war Giles mit zwei Gläsern zurückgekehrt. „Ich hätte Ihnen lieber einen Cognac gebracht, aber die Lakaien servieren zur Zeit nur Champagner. Sicherlich wird er Ihnen auch gut tun.“ Er setzte sich neben Joanna und rückte so nahe heran, dass er sie vor Blicken aus dem Saal abschirmen konnte.

Das ungewohnte Getränk prickelte Joanna in der Kehle, sodass sie husten musste. Dessen ungeachtet nahm sie rasch noch einen zweiten Schluck.

„Das erfrischt, nicht wahr? Nun lassen Sie uns von anderen Dingen reden. Ihre Eltern sind wohlauf, wie ich hoffe? Und Ihre Schwester ist bestimmt inzwischen verheiratet. Was macht William? Ist er immer noch so begeistert von der Armee?“

„Nein, nicht mehr“, erwiderte Joanna mit dem Anflug eines Lächelns. „Er hat jetzt sein Interesse für die Naturwissenschaften entdeckt und versetzt unsere Mama mit seinen Experimenten in Angst und Schrecken.“ Plötzlich schien der vertraute junge Offizier von vor drei Jahren wieder da zu sein. Joanna spürte, wie sich ihre Spannung löste, und leerte das Glas in einem Zug.

Giles nahm ihr den Sektkelch aus der Hand und gab ihr den zweiten, den er nicht angerührt hatte.

„Haben Sie kürzlich etwas von Lord Tasborough gehört?“ Joanna fühlte sich seltsam beschwingt. Ihre Betäubung war dem Gefühl von Unwirklichkeit gewichen. Saß sie tatsächlich hier und unterhielt sich mit Giles, als seien nicht drei Jahre und ein paar schreckliche Minuten inzwischen vergangen?

„Kürzlich? Nein, es ist schon mehr als eine Woche her. Warum fragen Sie? Ist etwas mit Hebe?“

„Nun, sie ist … sie ist wieder in …“

„… in guter Hoffnung“, vollendete Giles. „Ja, das weiß ich. Alex teilte mir schon vor einiger Zeit seine Freude über die Aussicht mit, dass der kleine Hugh einen Spielgefährten bekommen wird. Ich hoffe, die Familie demnächst aufsuchen zu können.“

Die offene Erwähnung von Hebes Schwangerschaft hatte Joanna ein wenig verwirrt. In ihrer Verlegenheit trank sie das zweite Glas fast völlig aus. Die Mama tat immer so, als gebe es diesen Zustand nicht. Joanna hatte das immer als ziemlich lächerlich empfunden, zumal es ja kaum zu übersehen war.

„Sie sind auf Urlaub hier, Colonel, nicht wahr?“, nahm sie das Gespräch wieder auf.

„Ja, es ist lange her, dass ich das letzte Mal in England war.“

„Ich weiß. Fast ein Jahr, und auch dann nur für eine oder zwei Wochen“, erwiderte Joanna und bemerkte zu spät, dass sie damit ihre erstaunliche Informiertheit verriet. „Ich glaube, Lord Tasborough hat etwas dergleichen erwähnt“, fügte sie rasch hinzu.

„Die Gesundheit meines Vaters bereitet mir einige Sorgen. Ich …“ Giles zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Ich muss ein paar wichtige Entscheidungen treffen, und eine davon wird mein Leben von Grund auf verändern.“

Seine Hochzeit, dachte Joanna kummervoll. Eine Ehe würde in der Tat eine gewaltige Veränderung für einen Mann von dreißig Jahren bedeuten.

„Darf ich Ihnen das Glas abnehmen?“

Überrascht stellte Joanna fest, dass auch das zweite Glas leer war. Du lieber Himmel, was die Leute für ein Theater wegen des Champagners machten! Mama hatte immer vor den Gefahren dieses Getränkes gewarnt, und nun hatte sie zwei Gläser davon getrunken und fühlte sich in der Tat viel besser. Sie reichte Giles den Kelch und bemerkte dabei, dass er sie aufmerksam betrachtete.

„Sie scheinen sich ein bisschen erholt zu haben, Miss Fulgrave. Hätten Sie Lust zu tanzen? Ich glaube, als Nächstes ist ein Walzer an der Reihe.“

Joanna holte tief Luft. Mama sah es nicht gern, wenn ihre Tochter auf großen Bällen Walzer tanzte, und erlaubte es nur im kleineren Kreise. Aber die Versuchung, zum ersten und vielleicht letzten Mal in Giles’ Armen zu liegen, war zu groß.

„Oh, ja, bitte, Colonel Gregory. Ich würde sehr gern tanzen.“

2. KAPITEL

Joanna ließ sich von Giles auf das Tanzparkett führen und bemühte sich dabei, nicht darüber nachzudenken, wie das Leben weitergehen würde, wenn der Tanz zu Ende war. Nur der Augenblick zählte, nur der Walzer in seinen Armen. Die Welt musste still stehen.

Die Musik setzte ein, und sie begannen zu tanzen. Bereits nach den ersten Schritten schien es Joanna, als seien sie schon eine Ewigkeit aneinander gewöhnt. Giles führte sie mit einer Eleganz über das Parkett, die ihr fast den Atem benahm.

„Sie tanzen sehr gut, Miss Fulgrave“, sagte er und betrachtete seine Partnerin eingehend. Die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt, und die bezaubernden Augen blitzten wieder. Das muntere Schulmädchen von einst hatte sich offensichtlich in eine anmutige junge Dame verwandelt.

„Danke, Colonel, aber das Lob gebührt Ihnen. Hatten Sie in der Armee oft Gelegenheit zum Tanzen?“ Joanna nahm die Möglichkeit, eine Unterhaltung zu führen, dankbar wahr, denn dabei konnte sie Giles unbefangen mustern und sich jede Einzelheit seines geliebten Gesichts einprägen – und dazu dieser Duft seines Eau de Toilette …

„Zum Tanzen? Ja, überraschender Weise tatsächlich, vor allem in unserem Winterlager in Portugal.“

„Der Duke of Wellington hatte nichts gegen solche Vergnügungen?“ Joanna erhaschte im Vorübertanzen einen verwunderten Blick ihrer Mutter und vergaß ihn sofort. Es war wundervoll. Die Musik würde nie aufhören, und Giles würde sie niemals verlassen.

„Das ist richtig. Er fand selbst großen Gefallen daran und stach alle seine Offiziere bei den Damen aus.“

„Aber er ist doch wirklich auch ein ausgezeichneter Stratege, nicht wahr?“

Giles streifte Joanna mit einem verwunderten Blick. „Allerdings. Aber diese Frage hätte ich eher von Master William erwartet als von einer jungen Dame.“

„Nun, ich interessiere mich für vieles“, erwiderte sie leichthin und wünschte sich, sie könnte ihn nach seinem Leben in der Armee fragen. Aber das wäre zu persönlich gewesen.

Mit einem schwungvollen Akkord der Streicher endete der Tanz. Giles löste sich mit einem liebenswürdigen Lächeln von Joanna. Die beiden klatschten höflich und verließen dann die Tanzfläche. Joanna schien es, als spüre sie immer noch seine Hände auf ihrem Körper.

„Ich danke Ihnen für den Tanz, Miss Fulgrave.“ Giles Gregory verbeugte sich ritterlich und blickte Joanna aufmunternd an. Dann war er in der Menge verschwunden. Joanna starrte ihm nach, solange sie noch einen Schimmer seines hellbraunen Haarschopfes entdecken konnte. Langsam begann sie zu begreifen, dass das Ende des Tanzes auch das Ende ihres Lebenszweckes der letzten drei Jahre gewesen war und sich ihre Zukunftspläne in Nebel aufgelöst hatten.

„Miss Fulgrave!“, rief Freddie Sutton schon von weitem. „Miss Fulgrave, darf ich hoffen, dass auf Ihrer Tanzkarte noch ein Walzer für mich frei ist?“

Mit einem gut einstudierten Lächeln wandte sich Joanna zu ihm um. „Ich würde sehr gerne den nächsten Walzer mit Ihnen tanzen, Lord Sutton. Aber im Augenblick brauche ich nichts nötiger als ein Glas Champagner.“

Zum wachsenden Missfallen ihrer Mutter, zum tadelnden Kopfschütteln aller älteren Damen und zur eifersüchtigen Bewunderung ihrer Freundinnen ließ Joanna von nun an keinen Walzer aus und auch nur wenige der anderen Tänze, trank noch mehr Champagner und erlaubte Lord Maxton, einem bekannten Schürzenjäger und Glücksritter, sie zum Souper zu führen. Um allem die Krone aufzusetzen, wurde sie noch von der Countess of Wigham allein mit Mr. Paul Hadrell auf der Terrasse überrascht.

„Ich habe meinen Augen nicht getraut“, berichtete wenig später die energische Matrone der entsetzten Mrs. Fulgrave und bemühte sich keineswegs, ihre Befriedigung darüber zu verbergen, dass sie das Muster von Manieren und Etikette in einer solchen Situation erblickt hatte. „Ich brauche Ihnen sicher nicht zu erklären, dass Mr. Hadrell der letzte Mann ist, mit dem ich eine meiner Töchter entdecken möchte.“

Hals über Kopf eilte Mrs. Fulgrave zur Terrassentür, und tatsächlich stand Joanna im blassen Mondlicht an die Balustrade gelehnt und lachte über einen Scherz von Mr. Hadrell, der sich viel zu nah neben ihr auf die Brüstung stützte.

„Joanna!“ Bei dem empörten Ausruf der Mutter rückte Joanna graziös und ohne das geringste Anzeichen von Schuldbewusstsein ein wenig zur Seite, wohingegen sich Mr. Hadrell nach einer kurzen Verbeugung vor den beiden Damen mit lässigen Schritten entfernte.

„Joanna!“, wiederholte Mrs. Fulgrave aufgebracht. „Was hat das zu bedeuten? Du tanzt, du flirtest, und zu allem Überfluss finde ich dich hier draußen mit diesem Mann! Aber das Schlimmste ist, dass ausgerechnet Lady Wigham mich darauf aufmerksam gemacht hat.“

Joanna hob gleichmütig die Schultern. „Ich habe mich gelangweilt.“

„Gelangweilt! Fängst du etwa an zu kränkeln? Erst deine Aufsässigkeit heute Morgen und nun …“

„Schon möglich, dass ich krank werde. Aber dafür gibt es keine Medizin“, erwiderte Joanna, denn sie fühlte sich in der Tat plötzlich unwohl. Der Schmerz tief in ihrem Innern um den Verlust des geliebten Mannes wurde auf einmal überlagert von einem Hämmern hinter der Stirn.

Die Mutter ergriff energisch ihren Arm und zog sie zur Tür. „Wir gehen augenblicklich nach Hause.“

„Das ist unmöglich, Mama. Ich habe den nächsten Walzer schon versprochen …“

„Keinen Walzer mehr“, sagte Mrs. Fulgrave mit grimmiger Miene. „Nach Hause, mein Fräulein Tochter, und sofort ins Bett.“

Am anderen Morgen erwachte Joanna mit heftigen Kopfschmerzen und dem Gefühl einer unerträglichen Leere in ihrem Herzen. Verzweifelt rieb sie sich Stirn und Schläfen. Hatte sie tatsächlich so viel Champagner getrunken, dass sie sich derart krank davon fühlte? Nur undeutlich konnte sie sich an das Ende des Abends erinnern. Die Mutter hatte ihren frühen Aufbruch mit einem plötzlichen Anfall von Migräne wegen der Hitze im Saal entschuldigt, Joanna auf der Heimfahrt gehörig ausgescholten und sofort auf ihr Zimmer geschickt.

Joanna verspürte quälenden Durst. Die Kehle war wie ausgetrocknet. Warum kam Mary nur nicht mit der Morgenschokolade? Als schließlich die Tür geöffnet wurde, trat jedoch nicht die erwartete Kammerzofe, sondern die Mutter über die Schwelle.

„Nun, bist du endlich aufgewacht? Ich bringe dir heißen Tee. Das ist heute besser für dich als Schokolade.“ Sie drückte Joanna die Tasse in die Hand und schob dann mit einem energischen Ruck die Vorhänge zurück.

Joanna nippte dankbar an dem Tee, der auch ihren revoltierenden Magen beruhigte. „Hast du Papa etwas erzählt?“, erkundigte sie sich besorgt.

„Nein“, erwiderte die Mutter, „dein Papa ist zur Zeit sehr beschäftigt, und ich wollte deiner Weigerung, Rufus zu empfangen, nicht noch ein weiteres Ärgernis hinzufügen – es sei denn, du hast eine ausreichende Erklärung für dein Benehmen am gestrigen Abend.“

„Der Champagner, Mama“, sagte Joanna zögernd. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie stark er ist. Er schmeckte so harmlos.“

„Aha, das war es also! Habe ich dir nicht tausendmal gesagt, dass du nichts anderes trinken sollst als Limonade?“

„Ja, Mama, ich weiß, Mama. Es tut mir auch leid.“

„Ich habe schon daran gedacht“, fuhr die Mutter fort, „dir bis zum Ende der Saison alle weiteren Vergnügungen zu untersagen, aber dann würde das Gerede wahrscheinlich noch größer sein. Außerdem hält sich Lord Clifton noch zwei Wochen in London auf. Glücklicherweise sind nur noch kleinere Gesellschaften geplant.“ Sie ging zur Tür und wandte sich auf der Schwelle noch einmal um. „Ich muss schon sagen, das Ganze war eine große Enttäuschung für mich. Hoffentlich handelt es sich nur um eine momentane Verirrung. Dem Earl werde ich sagen, dass du unpässlich bist und ihn einen oder zwei Tage nicht empfangen kannst.“ Nach dieser unheilvollen Ankündigung schloss sie resolut die Tür hinter sich.

Joanna blickte ihr einen Augenblick verzweifelt nach und brach dann in lautes Schluchzen aus. Alles war so hoffnungslos! Sie war zwanzig Jahre alt und auf dem besten Wege, unvermählt zu bleiben, denn sie könnte es nie und nimmer ertragen, mit einem anderen Mann als Giles die Ehe zu schließen. Das Beste wäre, sich gleich an das sittsame Benehmen einer alten Jungfer zu gewöhnen.

Dieser fromme Vorsatz hielt jedoch nur zwei Tage vor, genauer gesagt bis zur Abendgesellschaft von Mrs. Jameson und Joannas nächstem Zusammentreffen mit dem Earl of Clifton.

An jenem Abend wurde Joanna zunächst von dem Gedanken, dass die meisten Gäste sie auf dem Ball der Duchess beobachtet hatten und nun vielleicht hinter ihrem Rücken über sie redeten, stark verunsichert. Ihr Zustand verschlimmerte sich noch, als sie Lady Suzanne inmitten einer Gruppe kichernder junger Damen entdeckte. Vorsichtig pirschte sie sich näher heran, um hören zu können, wovon die Rede war.

„Colonel Gregory? Oh, das war sehr geschickt von dir! Und was hat dein Papa dazu gesagt?“

„Was konnte er schon sagen gegen Giles? Der liebe Giles kann doch so überzeugend sein.“

„Ach, du Glückliche! Ich habe ihn auf dem Ball der Duchess gesehen. Er sah fantastisch aus!“

Niedergeschlagen entfernte sich Joanna wieder, denn sie brauchte nichts weiter zu hören. Giles hatte also um die Hand von Suzanne Hall angehalten, und Lord Olney hatte eingewilligt. Trotzig nahm sie sich ein Glas Champagner von dem Tablett eines Lakaien und trank es aus, bevor sie bemerkte, dass der Earl of Clifton den Raum betreten hatte. Hastig versuchte sie, sich hinter einem Wandschirm zu verbergen, doch Rufus hatte sie bereits entdeckt und kam quer durch den Saal auf sie zu.

„Mylord.“ Sie knickste höflich.

„Warum so formell, Miss Fulgrave?“ Rufus nahm ihre Hand, um sie zu küssen, aber Joanna entzog sie ihm rasch.

„Mylord!“

„Ach, geh, Joanna.“ Rufus schob seine Hand unter ihren Ellbogen und schlenderte mit ihr durch den Saal. „Wie kannst du bei einem alten Freund so auf Förmlichkeiten beharren!“

„Als Freunde konnte man uns eigentlich nie bezeichnen, Mylord“, versetzte Joanna. „Sie hielten mich für einen Satansbraten, und ich fand, Sie seien ein Rabauke.“

„Aber jetzt bist du eine reizende junge Dame, und ich bin dein feurigster Bewunderer.“

„Bitte, Lord Clifton, ich bin nicht in der Stimmung zum Flirten.“ Liebend gern hätte sich Joanna aus seinem Griff befreit.

„Wann erlaubst du mir endlich, mit dir zu reden, Joanna?“

„Aber sie reden doch gerade mit mir, Mylord.“

„Das meine ich nicht. Und du weißt das auch.“

Joanna streifte ihren Begleiter mit einem prüfenden Blick. Seine blauen Augen glitzerten gefährlich, und sie bekam auf einmal Angst vor ihm. „Ja, ich weiß. Aber es ist noch zu früh dafür. Wir müssen uns ja erst wieder kennen lernen.“

Rufus lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Welch mädchenhafte Sittsamkeit! Ich weiß, was ich will, und was ich will, bekomme ich auch. Rivalen muss ich ja wohl nicht aus dem Felde schlagen? Ich habe gehört, dass Miss Joanna Fulgrave sehr wählerisch ist und alle Anträge abweist.“

„Dann überrascht es mich, dass Sie sich ebenfalls dieser Gefahr aussetzen wollen“, erwiderte Joanna spöttisch.

„Ich sagte bereits, dass ich immer bekomme, was ich will. Und ich will dich, Joanna. Du wirst entzückend aussehen als Schlossherrin von Clifton Hall. Ich werde euch schon in den nächsten Tagen die Aufwartung machen. Jetzt aber erwartet man mich am Kartentisch. Bis bald, meine Liebe.“

Joanna warf ihm einen wütenden Blick nach. Am liebsten hätte sie das Glas an die Wand geworfen oder irgendetwas anderes Unerhörtes gemacht. Tief in ihrem Innern erwachte auf einmal das rebellische, abenteuerlustige Mädchen wieder, das sie gewesen war, bevor Giles Gregory ihren Weg gekreuzt hatte. Trotzig reckte sie die Schultern.

Als Joanna am nächsten Tag mit ihrer Zofe im Hyde Park spazieren ging, näherte sich ihr eine schnittige zweirädrige Kutsche. Die Zügel der beiden kastanienbraunen Pferde hielt Lady Suzanne in ihren kleinen Händen. Auf ihrem Blondhaar saß ein fescher Dreispitz, und das dunkelblaue Straßenkleid stand ihr vorzüglich. Zu ihrem größten Verdruss stellte Joanna fest, dass die junge Dame von Giles Gregory begleitet wurde, der völlig überflüssiger Weise auch noch seine Hand über ihre Hände an den Zügel gelegt hatte. Die beiden lachten vergnügt, und Lady Suzanne strahlte vor Glück.

Der Wagen rollte in schnellem Tempo über den befestigten Weg und kam unmittelbar vor Joanna zum Stehen. „Gut gemacht, Mädchen“, sagte Giles. „Ich wusste ja, dass du es kannst. Guten Tag, Miss Fulgrave. Ich hoffe, dass alle in Ihrer Familie wohlauf sind“, fügte er mit bedeutungsvoller Miene hinzu.

„Danke der Nachfrage, Colonel. Wir erfreuen uns bester Gesundheit.“

Giles nickte zufrieden. „Ausgezeichnet! Kennen sich die Damen schon?“

„Oh, ja“, erwiderte Suzanne lachend, „zumindest vom Sehen, zum Beispiel kürzlich auf dem Ball bei meiner Tante, nicht wahr, Miss Fulgrave?“ Die ganze Gesellschaft hat Sie an diesem Abend beobachtet, schien ihr Blick zu sagen. Offensichtlich gefiel es ihr nicht, dass eine andere Frau die Aufmerksamkeit ihres Colonel auf sich zog.

Krampfhaft umklammerte Joanna den Griff ihres Sonnenschirmes. „In der Tat. Ich habe Sie auch gesehen. Sie hatten ein entzückendes Kleid an. Auf Wiedersehen, Lady Suzanne, Colonel. Viel Vergnügen bei der Ausfahrt.“ Sie nickte den beiden zu und zwang sich dabei zu einem Lächeln. Dann wandte sie sich um und ging schnellen Schrittes nach Hause.

Nichts auf der Welt hatte jetzt noch Bedeutung für sie. Von heute an musste sie jede Gelegenheit zur Ablenkung nutzen, damit sie nicht mehr ohne Unterlass an Giles dachte.

Daheim wunderte sich die Mutter über die Schweigsamkeit ihrer Tochter. Aber schon nach wenigen Tagen konnte sie nicht umhin festzustellen, dass dies offensichtlich der geringste Anlass zur Sorge war.

Nach zwei Wochen enthielt die Liste von Joannas Verfehlungen solche empörenden Dinge wie Würfelspielen mit drei Gentlemen in einem Hinterzimmer während einer Abendgesellschaft, Eis essen ohne Begleitung in einem Café mit Lord Sutton, wofür sie zuvor ihre Zofe „verloren“ hatte, und ein wilder Galopp auf dem Reitweg im Hyde Park.

Das alles veranlasste Mrs. Fulgrave schließlich dazu, ihrer Tochter jedwede Vergnügung bis zur Abreise der Familie nach Brighton in zwei Wochen zu verbieten. „Ich verstehe das wirklich nicht“, erklärte sie sorgenvoll. „In deinem Alter war die liebe Grace bereits verheiratet und leitete einen großen Haushalt, während du dich benimmst wie ein siebzehnjähriger Fratz. Lord Clifton wird noch die Geduld verlieren und seinen Antrag zurückziehen.“

Später allein in ihrem Zimmer stellte Joanna fest, dass alle diese Zerstreuungen nicht dazu geeignet waren, ihre Gedanken von Giles abzulenken. Heute jedoch würde sie sich von einem ganz bestimmten Vorhaben dennoch nicht abbringen lassen. Eine alte Freundin, Mrs. Marcus, früher Kate Hampton, hatte sie eingeladen, zusammen mit ihrem Freundeskreis den Maskenball in Vauxhall Gardens zu besuchen.

Und so schlich sie sich eine Stunde später, in einen blauen Domino gekleidet, die seidene Halbmaske in der Hand, zur Hintertür hinaus und wurde an der nächsten Straßenecke von der Kutsche der Familie Marcus erwartet. Niemand wird mich vermissen oder gar das Ziel meines nächtlichen Ausfluges ahnen, frohlockte sie, während sie es sich auf dem gepolsterten Sitz bequem machte.

3. KAPITEL

Vauxhall Gardens erschien Joanna wie ein Traum. Tausende Lichter funkelten in den Zweigen und tauchten Pavillons und Verkaufsstände in ein zauberhaftes Licht. Jede Wegbiegung bescherte einen neuen Anblick. Musik erfüllte die Luft, ebenso wie das Lachen und Plaudern der zahlreichen Gäste.

Mrs. Marcus hatte eine große Gruppe von Freunden eingeladen. Nachdem sie gemeinsam einen Imbiss an einem der Verkaufsstände eingenommen hatten, begaben sich alle zu der Tanzfläche. Joanna betrachtete das Treiben um sich her mit kühler, leicht amüsierten Neugier und ließ sich dann von einem der jungen Herren zum Tanz auffordern.

Leider erwies sich ihr Tänzer als ein unbeholfener Anfänger oder einfach als ein Tollpatsch. Als er ihr zum dritten Mal auf den Saum des Domino getreten war und ihn dabei fast von ihrer Schulter gezogen hätte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als an die Seite zu treten, um den Schaden wieder zu beheben. Da sich das Band am Halsausschnitt verknotet hatte, musste Joanna sogar die Maske abnehmen, denn sie war ihr bei dem Entwirren hinderlich.

„Können wir nun weitertanzen?“, erkundigte sich der junge Mann hoffnungsvoll, als Joanna abschließend ihre äußere Erscheinung musterte.

„Damit der Domino vollends ruiniert wird?“, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme. „Daraus wird nichts, junger Mann“, erklärte Lord Clifton mit Nachdruck. „Wir benötigen Sie nicht mehr, Sir.“ Dann wandte er sich mit einer leichten Verneigung an Joanna. „Darf ich Sie nach Hause begleiten, Miss Fulgrave?“

Nur mit Mühe bewahrte Joanna die Fassung. Trotz seiner Maske hatte sie den Earl sofort erkannt. „Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mich zu meiner Gastgeberin dort drüben zu bringen, Mylord?“, sagte sie so verbindlich wie möglich.

„Zu der Dame im rosa Domino? Oh, nein. Ich bin sicher, Ihre Mama würde diese Begleiterin nicht gutheißen.“ Rufus ergriff ihren Arm und zog sie mit sich fort. „Sie sollten so rasch wie möglich ins Bett, wo Ihre Frau Mama sie sicherlich auch vermutet, habe ich recht?“

Joanna errötete und blieb ärgerlich stehen. „Ich muss mich doch wenigstens von ihr verabschieden.“

„Also gut.“ Rufus machte kehrt. „Aber fange nicht an zu schmollen, Joanna. Denke lieber daran, welche Enttäuschung es für mich gewesen ist, meine zukünftige Braut in einer solchen Gesellschaft zu finden.“

„Ich bin nicht Ihre zukünftige Braut und …“ Joanna blieben die Worte im Halse stecken, als plötzlich eine stattliche Gestalt vor ihnen auftauchte, eine zierliche blaugekleidete Dame am Arm. Giles!

„Joanna! Sind Sie in Schwierigkeiten?“

Entsetzt stellte Joanna fest, dass sie ihre Maske noch nicht wieder angelegt hatte und jedermann sie erkennen konnte. „Nein, danke, Colonel. Das Gedränge hat mich nur etwas nervös gemacht. Im Übrigen wollte ich gerade gehen. Guten Abend.“ Hastig eilte sie zu Mrs. Marcus.

„Ich wette, das war Lord Clifton“, sagte die junge Dame neben Giles. „Diese Augen erkenne ich auch hinter einer Maske. Mir scheint, dass sich die perfekte Miss Fulgrave gar nicht mehr so untadelig verhält, nicht wahr?“

„Nun, auch nicht schlimmer als du, Suzy, kleine Hexe.“ Giles blickte lächelnd zu ihr hinab. „Deshalb lass uns jetzt lieber nach Hause gehen, sonst kürzt dir dein Papa noch das Nadelgeld.“

„Aber nicht, wenn ich ihm sage, dass du mich beschützt hast.“ Lachend ließ sich Lady Suzanne zum Ausgang führen.

Joanna drückte sich in die äußerste Ecke von Lord Cliftons Kutsche aus Angst, Rufus könne versuchen, sie zu küssen. Doch zu ihrer Erleichterung machte er keinerlei Anstalten in dieser Richtung, sondern wirkte eher nachdenklich.

„Ich hoffe, ich habe Sie heute Abend nicht Ihren eigenen Begleitern entführt“, sagte sie höflich, um eine unverbindliche Unterhaltung in Gang zu bringen.

„Wie? Nein, nein. Ich überlege nur gerade, was wir deinen Eltern sagen sollen, damit sie nicht zu ärgerlich sind.“

„Aber wir müssen ihnen doch gar nichts sagen. Ich gehe durch die Hintertür ins Haus, und niemand merkt etwas.“

„Jetzt schockierst du mich aber wirklich, Joanna! Wir können sie doch nicht so hinters Licht führen. Außerdem bist du mit mir allein in einer geschlossenen Kutsche gewesen.“

„Sie meinen … Sie denken …“

„Nun, ich denke, dass deine Eltern meine Werbung nun noch dringlicher unterstützen werden.“

Sprachlos starrte Joanna ihn an, bis ihr endlich die Stimme wieder gehorchte. „Ich werde Sie nicht heiraten, Lord Clifton, und wenn Sie der einzige Mann auf Erden wären.“

„Das kann man wohl kaum als eine originelle Ansicht bezeichnen, meine Liebe. Aber wir sind angekommen. Aha, man scheint deine Abwesenheit bereits bemerkt zu haben.“

In der Tat waren einige Fenster im Erdgeschoss hell erleuchtet. Wie betäubt ließ sich Joanna ins Haus führen, wo die Mutter sie bereits in der Halle erwartete.

„Bleibe im Salon, bis wir zu dir kommen“, befahl sie, bevor sie mit dem Earl im Empfangszimmer verschwand.

Es schien Joanna, als habe sie stundenlang in dem kühlen Raum gesessen, bis die Eltern sich endlich einfanden. Die ganze Zeit waren ihre Gedanken nur um die Tatsache gekreist, dass Giles sie zusammen mit Rufus Carstairs gesehen hatte.

„Nun, Joanna“, sagte der Vater mit kaum verhohlenem Triumph, „du hast großes Glück, dass dir schlimme Folgen deines nächtlichen Ausfluges erspart bleiben. Gegen alle Vernunft ist Lord Clifton immer noch bereit, dich zur Frau zu nehmen. Wir sind übereingekommen, dass er dir bis zum Ende der Woche Zeit gibt, um dich von deiner Vergnügungstour zu erholen. Danach wird er dir einen offiziellen Antrag machen, und du wirst ihn annehmen.“

„Nein!“ Joanna sprang entsetzt auf. „Nein! Ich werde ihn niemals heiraten!“

„Wenn das so ist, dann will ich dich auch nicht mehr sehen“, rief der Vater außer sich. „Du fährst zu deiner Großtante Clara nach Bath. Sie braucht Gesellschaft, und Bath ist ein passenderer Ort für dich als das mondäne Brighton.“

„Zu Großtante Clara? Aber sie geht doch nie aus dem Haus.“

„Allerdings“, entgegnete die Mutter erbost. „Deshalb wird sie sich über deine Anwesenheit sehr freuen. Du kannst ihr vorlesen, bei ihren Stickarbeiten helfen und ihre Gäste unterhalten. Wir werden dem Earl sagen, dass ihr Gesundheitszustand uns dazu gezwungen hat, und können nur hoffen, dass er in ein paar Monaten, wenn du wieder zu Verstand gekommen bist, immer noch an dir interessiert ist.“

Joanna presste die Lippen zusammen. Das Schreckgespenst einer Verbannung nach Bath erstand vor ihrem inneren Auge, in ein Haus, in dem Alter und Krankheit herrschten, ohne die geringste Zerstreuung, die ihre Gedanken von Giles ablenken konnte. Und nur die Aussicht auf eine Ehe mit Rufus Carstairs würde am Ende dieser Qual stehen, denn der Earl würde seine Pläne nicht aufgeben. Dazu war er nicht der Mensch.

„Schicke mich nicht fort, Mama“, bat sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich würde mich so elend fühlen.“

„Das hättest du dir früher überlegen müssen“, sagte der Vater und griff nach dem kupfernen Leuchter. „Deine Mutter wird morgen an Tante Clara schreiben. Vielleicht wirst du dort erkennen, dass ein häusliches Leben an der Seite eines zärtlichen Ehemannes mehr wert ist als die flüchtigen Vergnügungen, in die du dich gestürzt hast.“

Niedergeschlagen ging Joanna in ihr Zimmer. Was konnte sie tun? Was sollte aus ihr werden? Eine immer hilfsbereite Verwandte? Eine altjüngferliche Tante? Sie hatte doch selbst Kinder haben wollen – Kinder von Giles.

Entschlossen riss sie sich von dem Fenster los, durch das sie blicklos ins Dunkel gestarrt hatte. Sie würde sich nicht unterdrücken lassen, auch wenn ihr Lebenstraum zerbrochen war. Hatte sie nicht die Frau eines Soldaten werden wollen? Nun musste sie den Mut zeigen, dessen sie sich innerlich immer gerühmt hatte, und ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Als Erstes musste sie einen Ort finden, an dem sie in Ruhe über ihre Zukunft nachdenken konnte. Aber wohin sollte sie sich wenden? Tasborough Hall kam nicht infrage, denn Hebe stand kurz vor ihrer Niederkunft. Ein Onkel in Exeter würde sicherlich den Skandal scheuen. Aber wie wäre es mit der Schwester?

Nachdenklich schrieb Joanna in ihr Notizbuch „Grace, Lincoln“, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie Schwester und Schwager ihr überraschendes Erscheinen aufnehmen würden. Ihre beste Freundin aus der Schulzeit war Georgiana Schofield, jetzt Lady Brandon in Wisbech. Sie hatte schon mehrfach geschrieben, dass sie sich nach der Gesellschaft ihrer lieben Joanna sehnte.

„Wenn ich mich auf den Weg nach Lincoln mache“, murmelte Joanna, „werde ich bestimmt irgendwo eine Möglichkeit finden, nach Wisbech abzubiegen, und jeder würde denken, ich bin bei Grace. Wenn sie es dann herausbekommen, bin ich längst spurlos verschwunden.“ Mutter würde sie nicht bei Georgiana vermuten. Sie kannte wahrscheinlich nicht einmal ihren jetzigen Namen.

Aber da war ja auch noch Tante Caroline, Vaters jüngere Schwester, deren Name wegen einer skandalösen Beziehung niemals erwähnt werden durfte. Sie würde sicherlich den Entschluss der Nichte verstehen und ihr Rat und Hilfe zuteil werden lassen. Aber wo wohnte sie eigentlich? Irgendwo im Osten Englands.

Plötzlich fiel Joanna ein, dass die Mutter durchgesetzt hatte, der in Ungnade gefallenen Schwägerin jedes Jahr wenigstens eine Weihnachtskarte schreiben zu dürfen. Demzufolge müsste die Anschrift in Mutters Adressbuch zu finden sein. Rasch erhob sich Joanna, tupfte sich zur Beruhigung etwas Lavendelwasser auf die Schläfen und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.

4. KAPITEL

Drei Tage nach Joannas folgenschwerem Ausflug in den Vergnügungspark von Vauxhall Gardens lenkte Giles Gregory seine beiden grauen Wallache in die Half Moon Street. Als er die schwarz polierte Eingangstür des Stadthauses der Familie Tasborough erblickte, spürte er, wie sich seine trübe Gemütsverfassung nach dem kurzen, schmerzlichen Besuch bei seinen Eltern wieder aufheiterte. Unglücklich und verletzt, hatte er die Heimfahrt angetreten, und nur der Gedanke an Hebes warmherzigen gesunden Menschenverstand und Alexanders kameradschaftliche Rauheit hatte seinen Weg erhellt.

Jetzt sprang er vor dem Haus vom Bock und warf dem herbeieilenden Stallknecht die Zügel zu. Mit zwei langen Schritten erklomm er die Stufen zum Eingang. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür von Starling, dem langjährigen Butler, geöffnet, der seine Freude über den unerwarteten Gast nicht verbarg.

„Colonel Gregory! Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen, wenn ich so frei sein darf, das zu sagen. Seine Lordschaft ist nicht im Hause, aber Ihre Ladyschaft befindet sich im Blauen Zimmer. Sie empfängt eigentlich niemanden mehr. Für Sie ist sie jedoch sicherlich zu sprechen.“

„Danke, Starling.“ Giles gab dem Butler Hut und Handschuhe, stieg die Treppe empor, klopfte an und öffnete eine der Türen. „Ist es gestattet einzutreten?“

„Giles!“ Hebe lag, an einen Berg Kissen gelehnt, auf dem Diwan und strahlte vor Freude. Dieses herzliche Willkommen wärmte Giles das Herz.

Lächelnd ging er zum Diwan und küsste Hebe die Hand. „Lieber Himmel, Lady Tasborough, wann kommt denn das Kind? Ich bin leider in der Geburtshilfe nicht sehr geübt“, sagte er neckend.

Hebe kicherte vergnügt. „Es dauert noch sechs Wochen. Du brauchst also keine Angst zu haben.“

„Noch sechs Wochen? Bist du sicher, dass es keine Zwillinge werden?“

„Zwillinge?“ Hebe blickte ihn mit großen Augen an. „Doch sicher nicht? In unseren Familien hat es noch nie Zwillinge gegeben …“

„Es sollte nur ein Scherz sein. Und wie geht es dir?“

„Den Umständen angemessen. Ich fühle mich wohl, wenn ich mir auch vorkomme wie ein aufgeblasener Ballon. Kannst du ein paar Tage bei uns bleiben? Ach bitte, wir würden uns so freuen.“

„Wird es dir nicht zu viel werden?“

„Bestimmt nicht. Außerdem kannst du Alex ein bisschen ablenken. Seine Fürsorglichkeit übersteigt jedes normale Maß.“ Hebe hob ergeben die Schultern und fügte hinzu: „Komm, setze dich zu mir und erzähle, was los ist, Giles.“

„Was sollte denn los sein?“

„Nun, du wirkst, als hätte man dir einen Tritt versetzt – bildlich gesprochen.“ Hebe legte ihm die Hand auf den Arm.

„Kluges Mädchen. Genauso fühle ich mich auch.“ Sanft strich er über ihren Handrücken. „Nun, vor zwei Tagen bin ich nach Hause gefahren, weil Mutter sich Sorgen wegen Vaters Gesundheit machte. Er hat einen Anfall gehabt, und nun humpelt er, und seine linke Gesichtshälfte ist gelähmt.“

„Wie alt ist der General?“

„Erst sechzig. Aber er hatte ein hartes Leben, war sechsmal verwundet und dazu kommt das Gelbfieber. Nun ist er müde geworden, will es aber nicht zugeben. Deshalb wollte ich mir selbst ein Bild verschaffen und gegebenenfalls den Abschied von der Armee nehmen. Ich könnte ihn dann von vielem entlasten, was ihn zu sehr beansprucht.“

Hebe nickte. „Ich verstehe. Und wie hat dein Vater reagiert?“

„Auf sehr schlimme Weise. Er wollte wissen, warum ich die Nerven verloren habe und wie ein Feigling den Abschied nehmen will.“

Entsetzt legte Hebe die Hand auf den Mund.

„Er hat es nicht so gemeint“, fuhr Giles fort. „Ich glaube, er weiß, warum ich diesen Plan hatte, und rebelliert gegen seine eigene Schwäche und nicht gegen die meine.“

„Das macht es aber auch nicht besser“, flüsterte Hebe und strich ihm tröstend über das Haar.

„Nein, und deshalb hat er noch ein anderes Vergehen ausfindig gemacht, das er mir vorwerfen kann und seinen Zorn rechtfertigen soll.“

„Und das wäre?“

„Er hielt mir vor, dass ich mit Lady Suzanne Hall flirte, ohne ihr einen Antrag zu machen, und erklärte, dass er nicht gewillt sei, sich anzuhören, ich spielte mit ihrer Zuneigung.“

„Beabsichtigst du, sie zu heiraten?“, entgegnete Hebe streng.

„Keineswegs. Ich kenne sie seit der Kindheit, und sie war immer wie eine kleine Schwester für mich. Im Übrigen bedauere ich jeden, der sie einmal zur Frau nimmt. Sie ist das schrecklichste kleine Biest, das mir je begegnet ist.“

„Du liebst sie also nicht?“

„Nur wie eine Schwester, das sagte ich schon. Und ihre Eltern wissen das auch. Sie sehen es deshalb gerne, wenn ich ihren Ritter spiele. Das hält Mitgiftjäger fern, und sie kann nach Herzenslust die gnädige Frau mimen. Leider hat irgendjemand meinem Vater zugetragen, dass man uns ständig zusammen in ihrem Zweispänner umherfahren sieht. Das liegt jedoch daran, dass ich Suzy das Kutschieren beibringe und ihrem Vater versprechen musste, dabei auf sie aufzupassen.“

„Nun, da ist sie bei dir in den besten Händen.“

„Aber mein Vater zog die falschen Schlussfolgerungen daraus und erklärte, es sei endlich an der Zeit für mich zu heiraten.“

„Ach, du Armer“, sagte Hebe mitleidig. „Da hat man dir ja ordentlich den Kopf gewaschen. Oh, da kommt Alex!“

Die Tür wurde geöffnet, und Lord Tasborough trat ein. Als er den Gast bemerkte, lachte er erfreut. „Giles! Nein, nein, bleib sitzen. Ich komme zu dir.“ Er schlug dem Freund kräftig auf die Schulter. „Bleibst du bei uns? Und was hast du mit meiner Frau zu flirten?“

„Er flirtet nicht mit mir“, empörte sich Hebe. „Aber er denkt, ich bekomme Zwillinge.“

„Wirklich?“ Alex fuhr hoch. „Ist das dein Ernst?“

„Nun, bei Hebes Umfang könnten es auch Drillinge werden.“ Rasch duckte sich Giles dann vor dem Boxhieb seines Freundes zur Seite.

„Oh, hört auf!“, rief Hebe. „Ich will wahrhaftig lieber zwei kleine Jungen betreuen als euch Männer. Giles bleibt eine Zeit lang bei uns, Alex. Lass dir von ihm berichten, wie unerfreulich sein Besuch zu Hause gewesen ist.“

Giles wiederholte seine Geschichte, und als er geendet hatte, fragte Alex: „Wie wütend ist der General denn wirklich?“

„Wütend genug, um mich zu enterben. Aber das wird ihm nicht viel nützen. Es gibt ein unveräußerliches Erbgut, und außerdem verfüge ich auch noch über die Gelder, die meine Großmutter mir hinterlassen hat. Im Übrigen glaube ich, dass es ihm gar nicht ernst damit ist.“

Hebe runzelte nachdenklich die Stirn. „Und was willst du nun machen?“

„Mama hat mir geraten, in London ein scheinbar ausschweifendes Leben zu führen. Dann wird mein Vater mich nach Hause rufen und mir für eine Weile ruhiges Landleben verordnen.“

„Wie schlau von deiner Mutter!“ Hebe klatschte vergnügt in die Hände.

„Deine Mutter scheint in Strategie und Taktik besser bewandert zu sein als der General“, warf Alex ein und erhob sich. Dabei streifte er einen Brief zu Boden, den Hebe offensichtlich zuvor gelesen hatte.

„Ach, du meine Güte!“, rief Hebe. „Über die Ankunft unseres lieben Giles habe ich ja das Billett von Tante Emily völlig vergessen. Sie hat es heute Morgen durch einen Lakaien geschickt und teilt uns darin mit, dass Joanna zur Strafe für ihr ungehöriges Benehmen nach Bath geschickt wird.“

„Die untadelige Joanna?“, fragte Alex ungläubig. „Was hat sie denn angestellt? Wollte sie sich von einem Anbeter entführen lassen?“

„Ach, die Sache ist ziemlich rätselhaft. Begonnen hat es damit, dass sie auf dem Ball der Duchess of Bridlington zu viel Champagner getrunken und heftig geflirtet hat. Danach nahm sie jede Möglichkeit wahr, ihren guten Ruf zu ruinieren, und lehnte zu allem Überfluss den Antrag eines Gentleman aus den allerhöchsten Kreisen ab, dessen Name die Tante diskret verschweigt.“

„Auf dem Ball der Duchess of Bridlington? Oh, Gott!“ Giles ließ sich in einen Sessel fallen, während seine Freunde ihn überrascht anblickten. „Seht mich nicht so an! Ich habe sie nicht verführt. Aber wahrscheinlich war der Champagner, den ich ihr gebracht habe, der erste, den sie in ihrem Leben getrunken hat. Sie hatte nämlich offensichtlich eine Art Schock.“

„Einen Schock?“ Hebe schüttelte den Kopf. „Hatte jemand sie beleidigt?“

„Nein, das nicht. Vermutlich hängt es mit einem Mann zusammen. Der Champagner hat sie wieder ein bisschen auf die Beine gebracht. Wir haben danach sogar getanzt …“ Giles sah plötzlich die großen haselnussbraunen Augen vor sich, die vertrauensvoll auf ihn gerichtet waren, und wünschte sich, er könne den Burschen zur Rede stellen, der Joanna wehgetan hatte.

Die drei tauschten noch eine Weile ihre Meinungen über diese merkwürdige Angelegenheit aus. Dann verließen die Männer Hebe, die etwas Ruhe brauchte. Giles ging in das Gästezimmer, das inzwischen für ihn hergerichtet worden war, und machte es sich in einem Schaukelstuhl bequem. Um seine Gedanken von dem Erlebnis im Elternhaus abzulenken, beschäftigte er sich wieder mit Miss Fulgrave. Zu seiner Überraschung machte ihm das Freude, und nicht nur wegen ihrer beeindruckenden Wandlung in eine reizvolle junge Dame, sondern weil in ihren wundervollen Augen etwas gelegen hatte, das ihn direkt anzusprechen schien.

Eine Stunde später ließ Hebe die beiden Männer wieder rufen, um mit ihnen zu beraten, was man für Tante Emily oder für Joanna tun könne. Sie hatten jedoch kaum Platz genommen, als der Türklopfer ertönte.

Erstaunt blickten alle zur Zimmertür, in der wenig später der Butler erschien und Mrs. Fulgrave ankündigte. Völlig aufgelöst stürzte Emily in den Raum. „Oh, Hebe, meine Liebe! Alex! Oh …“, rief sie atemlos und brach unvermittelt in Tränen aus.

Es wurden wenigstens fünf Minuten und eine große Menge Riechsalz gebraucht, damit die Besucherin ihre Fassung wiedergewinnen konnte. Dann endlich konnte Hebe die Frage wagen, was denn eigentlich geschehen sei. Mrs. Fulgrave knüllte das feuchte Taschentuch in der Hand zusammen, blickte die Nichte hilfeflehend an und keuchte: „Joanna ist weggelaufen.“

Nach und nach holten Hebe und Alex die ganze Geschichte aus ihr heraus. Joanna war am Abend zuvor ruhig auf ihr Zimmer gegangen, und bis zum nächsten Mittag hatten die Eltern sie nicht vermisst, zumal der von ihr abgelehnte Bewerber am Nachmittag erwartet wurde und sie deshalb annahmen, sie habe sich aus diesem Grund noch nicht blicken lassen. Als sie jedoch nicht zum Essen gekommen war, wollte die Mutter nachsehen, ob sie vielleicht unpässlich sei. Sie fand das Zimmer verlassen und nur eine kurze Mitteilung darin, sie sei irgendwohin gegangen, wo sie nachdenken könne.

Nachdem die Eltern in den nächsten Stunden die Dienerschaft mit vorsichtig formulierten Anfragen zu allen ihren Bekannten geschickt hatten, die jedoch ohne Ergebnis blieben, waren sie am Ende ihrer Weisheit angelangt. Der liebe Alex war nun der einzige Retter in der Not.

Bei diesen Worten warf Alex einen kurzen Blick auf Hebes bleiches, entsetztes Gesicht und sagte dann entschieden: „Es tut mir leid, Tante Emily, aber ich kann Hebe jetzt nicht allein lassen.“

„Natürlich … ich weiß … das kannst du nicht“, erwiderte Mrs. Fulgrave verzweifelt. „Ich hätte an Hebes Zustand denken müssen. Dann müssen wir eben doch einen Detektiv beauftragen, aber …“

„Ich werde sie finden.“ Zur Überraschung aller Anwesenden hatte Giles diesen erlösenden Vorschlag gemacht.

„Oh, Giles, ich danke dir!“ Hebe streckte ihm beide Hände entgegen. „Im ersten Schreck habe ich gar nicht an dich gedacht. Könnte es einen glücklicheren Zufall geben als seine Anwesenheit, Tante Emily?“

In Anbetracht des Skandals in der Familie kamen Giles allerdings Zweifel, dass Mrs. Fulgrave es als einen Glücksumstand betrachten könnte, wenn ein Fremder darin eingeweiht würde. Deshalb beeilte er sich zu versichern: „Sie können meiner Diskretion gewiss sein, Madam.“ Zu seinem Entsetzen warf sich die würdige Dame sofort schluchzend an seine Brust.

„Madam, ich bitte Sie“, sagte er ratlos und bereute sein Angebot bitter. Aber zum Teufel, was hätte ich denn tun sollen, dachte er. Hebe hätte sich andernfalls schreckliche Sorgen gemacht, die Fulgraves hatten ihn immer freundlich aufgenommen, und irgendwie weckte der Gedanke an das Mädchen mit den traurigen braunen Augen die Erinnerung an seine eigene Verletztheit.

5. KAPITEL

Zwei Tage nach dem Erscheinen von Mrs. Fulgrave bei der Familie Tasborough saß ihre auf Abwegen befindliche Tochter im Bett des besten Zimmers vom „Weißen Hirsch“ in Stilton und stellte erleichtert fest, dass sie wohl doch nicht sterben würde. Die Fleischpastete, die sie unvorsichtigerweise in Biggleswade gegessen hatte, war ihr allerdings sehr schlecht bekommen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das Unternehmen erstaunlich einfach gewesen. Joanna hatte einen Koffer mit sorgfältig ausgewählter Garderobe gepackt und ihr schlichtestes Straßenkleid angezogen. Das Haar wurde glatt zurückgestrichen und am Hinterkopf zu einem festen Knoten geschlungen. Ihre Ringe und sonstigen Schmuckstücke legte sie sorgfältig in die Kommode, und als sie sich danach im Spiegel betrachtete, gab sie das gewünschte gouvernantenhafte Bild ab. Gouvernanten durften allein mit der Postkutsche reisen, ohne Aufsehen zu erregen.

Und so erschien um sechs Uhr am Morgen eine schüchterne junge Gouvernante an der Poststation und erkundigte sich höflich nach der nächsten Abfahrt einer Kutsche nach Lincoln. Als Joanna dann ihren Platz eingenommen hatte, war sie außerordentlich zufrieden mit sich. Die einzige Sorge blieb die Frage, wie sie von Peterborough nach Wisbech und zu Georgy kommen konnte, doch das würde sich sicherlich erweisen, sobald sie Peterborough erreicht hatte.

Immer wieder tastete sie nach der wohlgefüllten Börse, die sie unter dem Mantel an einem Gürtel befestigt hatte. Darin befand sich das Taschengeld für ein Vierteljahr und der größte Teil des Geburtstagsgeldes ihrer freigebigen Großmutter. Um die Bezahlung der Reisekosten musste sie sich also keine Sorgen machen.

Dann aber hatte sie diese verflixte Pastete gegessen, und in Stilton fühlte sie sich bereits so elend, dass sie vor dem „Weißen Hirsch“ aus der Kutsche taumelte und gerade noch so viel Kraft hatte, um den Postillon zu bitten, ihren Koffer herunterzuholen. Zum Glück besaß die Wirtin ein mütterliches Herz und nahm sich der kreidebleichen jungen Frau an, die ihr berichtete, sie sei auf dem Heimweg zu ihrem Arbeitgeber in Lincoln und unterwegs krank geworden.

Die Nacht und den darauffolgenden Tag fühlte sie sich sterbenskrank. Aber gerade als die Wirtin nun doch einen Arzt holen wollte, erwachte Joanna am Morgen in einem etwas besseren Zustand und konnte sogar ein wenig Haferbrei essen.

Und nun saß sie im Bett und überdachte ihre Lage, denn die unvorhergesehene Unterbrechung ihrer Reise hatte sie ein wenig zur Besinnung kommen lassen. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit nicht an einen real existierenden Menschen, sondern immer nur an den Gegenstand ihrer Träume, ihrer unschuldigen, ahnungslosen Fantasie, gedacht hatte, und sie fragte sich, ob sie sich nicht ein falsches Bild von dem Mann, den sie liebte, gemacht hatte.

Inzwischen fand Giles Gregory ein überraschendes Vergnügen an der Jagd nach dem verschwundenen Mädchen. Er fragte sich allerdings, ob er sich tatsächlich als Erstes nach Lincoln begeben sollte. Mrs. Fulgrave und auch Hebe hatten es für das Wahrscheinlichste gehalten, dass Joanna bei ihrer älteren Schwester Zuflucht gesucht hatte.

„Es gibt aber auch noch eine Schulfreundin, Lady Brandon in Wisbech.“ Mit dieser Auskunft bewies Mrs. Fulgrave weitaus mehr Kenntnis über die Bekannten ihrer Tochter, als diese für möglich gehalten hatte. „Und dann ist da noch …“ Sie hielt inne und blickte verlegen zur Seite.

„Wer, Tante Emily?“, wollte Hebe wissen. „Wir müssen alles Mögliche in Betracht ziehen.“

„Meine Schwägerin Caroline in Norwich.“

„Diesen Namen habe ich noch nie gehört.“

„Ich weiß, meine Liebe, und du musst mir auch versprechen, ihn niemals Mr. Fulgrave gegenüber zu erwähnen. Seine jüngere Schwester hat nämlich viele Jahre …“ Mrs. Fulgrave errötete und räusperte sich. „Also sie hat viele Jahre mit einem verheirateten Mann zusammengelebt. Er konnte sich nicht scheiden lassen, weil seine Frau mit einem anderen durchgebrannt war. Caroline hat sich davon nicht abhalten lassen und ist bei ihm geblieben. Mr. Fulgrave wird ihr das nie verzeihen, doch ich habe ihr wenigstens zu Weihnachten immer einen Gruß geschickt. Joanna kann indes eigentlich gar nichts von ihr wissen.“

„Sind Sie da ganz sicher?“, erkundigte sich Giles. „Wo bewahren Sie denn ihre Adresse auf?“

„In meinem Notizbüchlein.“ Mrs. Fulgrave zog den kleinen Band aus ihrem Ridikül und schlug die entsprechende Seite auf. Giles nahm die Eintragung in Augenschein. Von dem Blatt schlug ihm ein leichter Lavendelduft entgegen.

„Lieben Sie Lavendel, Madam?“

„Oh, nein, ich mag diesen Geruch überhaupt nicht. Warum fragen Sie?“

„Ach, nur so. Ich vermute aber, Joanna kennt die Adresse.“

Mrs. Fulgrave wollte das nicht so recht glauben, und so einigte man sich darauf, zunächst anzunehmen, Joanna sei zu ihrer Schwester gereist.

An der Poststation erwies sich diese Vermutung zunächst auch als zutreffend, denn ein Billettverkäufer konnte sich sogar an Joanna erinnern. „Meinen Sie vielleicht die junge Gouvernante, Sir? Eine sehr hübsche junge Dame, wirklich, und so ernsthaft und gesetzt, wenn ich mir erlauben darf, das zu erwähnen.“

„Und wohin hat sie eine Fahrkarte gelöst?“, fragte Giles ungeduldig.

„Nach Lincoln, Sir. Allerdings sagte sie zuerst Peterborough und verbesserte sich dann rasch in Lincoln.“

„An welcher Station kann man nach Wisbech umsteigen?“

„In Peterborough, Sir.“

„Wo hält die Kutsche überall auf dem Weg nach Lincoln?“

„Soll ich Ihnen eine Liste anfertigen, Sir? Mit allen Haltestellen oder nur mit den Umsteigestationen?“

„Mit allen Haltestellen“, erwiderte Giles und legte eine Goldmünze auf das Pult.

Eine halbe Stunde später rollte seine zweirädrige Kutsche mit den beiden Grauen auf der Großen Nordroute in Richtung Stevenage. Joanna hatte einen ganzen Tag Vorsprung, und er konnte nicht von vornherein davon ausgehen, dass sie nach Peterborough gereist war, sondern musste sich an jeder Haltestelle nach ihr erkundigen. Aber schließlich hatte er seinerzeit im Krieg die beiden französischen Offiziere auch aufgespürt. Da würde ihm so ein junges Ding nicht durch die Finger schlüpfen.

Nur ungern verließ Joanna am nächsten Morgen den „Weißen Hirsch“, denn bei der mütterlichen Wirtin des Gasthofes hatte sie sich geborgen gefühlt. Doch nun musste sie sich wieder auf den Weg zu Georgy machen. Neugierig betrachtete sie die Gruppe ihrer Mitreisenden, die aus einer stämmigen Bauersfrau mit einem Weidenkorb, einem mageren jungen Mann, der sofort einschlief, und einem Mann mittleren Alters in dem Habit eines Geistlichen bestand.

Der Letztere zog höflich seinen Hut, als sich der Wagen in Bewegung setzte, und sagte: „Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich hörte, dass Sie nach Peterborough wollen. Ich könnte Ihnen dort behilflich sein. Mein Name ist Thoroughgood, Reverend Thaddeus Thoroughgood, und ich steige dort ebenfalls häufig um. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Ihnen zur Seite stehen.“

Joanna bedankte sich zurückhaltend, denn sie wusste, dass sich eine Unterhaltung mit einem Fremden in einer Postkutsche, selbst wenn es sich um einen würdigen Kirchenmann handelte, für eine junge Dame nicht schickte.

Kurz vor Peterborough hielt die Kutsche noch einmal an. Hier stieg die Bauersfrau mit großem Geächze aus, blieb mit dem Korb in der Tür hängen und veranlasste dadurch den Reverend, aufzuspringen und ihr zu Hilfe zu kommen. Dabei rutschte der Mann aus und fiel auf Joanna, wovon wiederum der junge Mann erwachte und erschrocken hochfuhr. Alles in allem war es eine etwas tumultartige Unterbrechung der Reise, die jedoch bald in Peterborough ein Ende fand. Der Geistliche half Joanna vor dem Gasthof „Zu Krone und Anker“ aus dem Wagen und reichte ihr den Koffer.

„So, nun gehe ich meinen Einspänner holen und fahre dann zu meiner Schwester“, berichtete der Kirchenmann redselig. „Sie brauchen nur durch diese Tür zu gehen, und Sie finden dort eine angenehme Gaststube und die liebenswürdige Wirtin, die Ihnen sagen wird, wann die Kutsche nach Lynn kommt. Sie haben doch genug Geld, nicht wahr, meine liebe junge Dame?“

„Ja, ja, natürlich“, erwiderte Joanna und griff an ihren Gürtel. Entsetzt schrie sie auf. „Meine Börse! Meine Börse ist verschwunden!“

„Guter Gott!“ Mr. Thoroughgood rang die Hände. „Der junge Mann neben Ihnen muss ein Taschendieb gewesen sein. Mrs. Wilkins! Mrs. Wilkins!“

Die Wirtin kam eilig herbeigelaufen und wischte sich dabei die Hände an der Schürze ab. „Guten Tag, Reverend. Ihr Einspänner steht schon bereit. Aber was ist denn geschehen?“

„Mein Geld wurde mir gestohlen“, jammerte Joanna. „Der Herr hier denkt, es war ein Taschendieb in der Kutsche.“

„Das ist ja schrecklich, Miss.“ Die Frau betrachtete Joanna mitleidig. „Warum erwischt man diese Gauner nur nicht? Es ist schon das dritte Mal, nicht wahr, Reverend? Wir sollten es dem Friedensrichter melden.“

„Davon bekomme ich mein Geld auch nicht wieder“, rief Joanna verzweifelt. „Was soll ich nur tun? Ich muss doch nach Wisbech.“

Der Geistliche räusperte sich gründlich, ehe er zögernd sagte: „Normalerweise würde ich einen solchen Vorschlag nicht machen. Aber ich habe eine offene Kutsche, und es ist helles Tageslicht. Möchten Sie vielleicht mit mir zu meiner Schwester fahren? Sie können unter ihrem Schutz übernachten, und morgen früh überlegen wir, was am besten zu tun ist. Vielleicht findet sich sogar ein Nachbar, der in dieselbe Richtung fährt.“

„Nun, das ist wirklich eine gute Idee.“ Die Wirtin nickte zustimmend.

Joanna biss sich unschlüssig auf die Lippe. Mr. Thoroughgood schien im Gasthof gut bekannt zu sein und sein Gig öfters dort abzustellen. Zudem war die Schwester eines Geistlichen zweifellos eine respektable Person. Das Ganze hatte auch noch den Vorteil, dass sie selbst für einen Tag von der Hauptstraße verschwunden war, falls man nach ihr suchte.

„Also gut, ich danke Ihnen, Sir“, erwiderte sie förmlich. „Falls es Ihrer Schwester nicht zu viel wird, nehme ich Ihren Vorschlag gerne an.“

Der leichte zweirädrige Wagen wurde von einem kleinen schwarzen Pferd gezogen, und Joanna genoss die flotte Fahrt vorbei an Zäunen und Hecken. Dabei fand sie auch ihren guten Mut wieder. Georgy, die über ein großzügiges Nadelgeld verfügte, würde ihr bestimmt einen ausreichenden Betrag und eine Kutsche schicken, sobald sie von dem Missgeschick der Freundin erfuhr.

Nach einer Weile sagte sie: „Ich sollte mich jetzt auch vorstellen. Mein Name ist J…Jane Wilson. Ich bin Gouvernante und auf dem Weg zu meiner neuen Arbeitgeberin Lady Brandon in Wisbech.“

„Nun, dann müssen wir Sie so schnell wie möglich auf den Weg bringen“, erwiderte der Geistliche und bog erneut in einen anderen Pfad ein. Joanna wunderte sich über die ungewöhnlich vielen Abzweigungen, die den Eindruck erweckten, als führen sie im Kreis herum. „Lady Brandon wird schon auf Sie warten, und Ihre Familie will ja auch wissen, ob Sie gut angekommen sind.“

Joanna erschrak. Es würde in der Tat merkwürdig aussehen, wenn sie nur an Lady Brandon eine Nachricht sandte. Deshalb sagte sie hastig: „Ich habe keine Familie und auch keine nahen Verwandten. Eine Gouvernante führt ein sehr einsames Leben.“

„Dann richten Sie Ihre Seele zum Trost auf Gott“, erwiderte der Reverend feierlich. „Sie tun ein gottgefälliges Werk, wenn Sie junge Menschen zu wahren Christen erziehen.“

„Oh, ja, gewiss.“ In dem Bemühen, das Gespräch von diesem verfänglichen Thema abzuwenden, erkundigte sich Joanna: „Sind wir jetzt in Ihrer Gemeinde?“

„Ich habe keine Gemeinde, sondern bringe das Licht der Christenheit durch Briefe und Traktate unter die Menschen, Miss Wilson. Das ist auch eine sehr befriedigende Tätigkeit. Doch wir sind nun angelangt.“

Der Wagen bog in die Einfahrt zu einem bescheidenen Haus aus gelben Backsteinen ein, das von einem grasbewachsenen Grundstück mit wild wuchernden Büschen umgeben war. Es machte einen ungepflegten Eindruck, aber ein Kirchenmann mit bescheidenen Einkünften konnte wohl nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten legen. Merkwürdigerweise erschien aber auch kein Stallknecht, um dem Hausherrn die Zügel abzunehmen.

Stattdessen öffnete sich die Tür, und eine hochgewachsene Frau trat über die Schwelle. „Lucille, meine Liebe!“, rief der Reverend, nahm Joannas Koffer in die eine Hand, fasste mit der anderen deren Arm und zog sie mit sich. „Ich bringe eine junge Dame mit, die in der Postkutsche das Opfer eines Taschendiebes geworden ist. Sie ist auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitgeberin und hat weder Familie noch Verwandte.“

Die Frau hielt schweigend die Tür auf, und Joanna betrachtete überrascht die ungewöhnliche Erscheinung. Sie war mit einer etwas düsteren Eleganz in ein dunkelblaues Kleid von ausgezeichnetem Schnitt gekleidet und sah sehr gut aus, obwohl sie anscheinend die fünfzig bereits überschritten hatte. Ein seltsamer Hauch von Gefährlichkeit schien von ihr auszugehen.

Als Joanna an ihr vorüberging, musterte Miss Thoroughgood sie von Kopf bis Fuß und sah dann ihren Bruder mit anerkennend gehobenen Brauen an. „Das ist Miss Wilson, Lucille“, erklärte der Reverend stolz. „Miss Wilson, das ist meine Schwester.“

Joanna knickste. „Ich muss mich für mein Eindringen entschuldigen, Madam. Der Reverend war so liebenswürdig, mir Obdach zu bieten, bis meine neue Arbeitgeberin mir Geld und einen Wagen zur Weiterfahrt schickt.“

„Oh, wir freuen uns, Sie beherbergen zu können, Miss Wilson. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“ Die Stimme der Hausherrin war kühl, aber nicht unangenehm. Nur ein befremdlicher Unterton von Belustigung verunsicherte Joanna.

„Ich danke Ihnen, Madam.“ Sie folgte Miss Thoroughgood durch die Diele und die Treppe empor. Oben angekommen, öffnete die Hausherrin eine Tür und ließ ihren Gast eintreten. Zu spät bemerkte Joanna, dass der Raum leer war bis auf ein Bett und einen Waschständer. Doch zurück konnte sie nicht mehr, denn die Geschwister verstellten den Ausgang und betrachteten sie abschätzend. Und als sie sich umwandte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass das schmale Fenster mit einem eisernen Gitter versehen war.

6. KAPITEL

Ich gratuliere dir, Thaddeus“, sagte Miss Thoroughgood. „Da hast du einen guten Fang gemacht. Eine richtige junge Dame.“

„Und noch dazu eine keusche junge Dame.“ Der vermeintliche Kirchenmann entledigte sich des steifen Kragens seiner Amtstracht mit einem verächtlichen Schnaufen. „Ich habe doch recht damit, nicht wahr, Miss Wilson?“

Das flammende Rot auf Joannas Wangen reichte ihm als Antwort, und ein Ausdruck der Zufriedenheit legte sich auf seine undurchsichtige Miene, die Joanna noch kurz zuvor als beruhigend sanftmütig empfunden hatte.

„Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor“, sagte sie so entschieden wie möglich und machte dabei einen Schritt zur Tür. „Ich werde sofort wieder gehen.“

„Oh, nein, meine Liebe“, erwiderte Miss Thoroughgood. „Sie werden diesen Raum erst verlassen, wenn wir Sie nach London schicken können.“ Und zu ihrem Bruder gewandt, fragte sie: „Wann holt Thomas denn die nächste Lieferung ab?“

Autor

Marguerite Kaye
<p>Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...
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Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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