Historical Lords & Ladies Band 67

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DER EARL UND SEIN VERFÜHRERISCHER ENGEL von WILLINGHAM, MICHELLE
"Wer sind Sie?" Als Stephen, Earl of Whitmore, aus seiner Ohnmacht erwacht, blickt er in das Gesicht eines Engels. Doch er befindet sich nicht im Himmel, sondern in seinem Schlafzimmer. Und so überirdisch schön die junge Frau an seinem Bett ist, so höllisch wütend ist sie auch. Hat er wirklich ihren Bruder auf dem Gewissen? Stephen kann sich an nichts erinnern - auch nicht daran, dass sie angeblich seine Ehefrau ist.

MISS LILY VERLIERT IHR HERZ von MARLOWE, DEB
Ihr erster Ball in London, endlich hat Lily sich von den Fesseln ihrer strengen Mutter befreit! Mit ihrem Charme verdreht sie allen Junggesellen den Kopf - aber sie will nur Jack Alden, den kühlen und doch so wagemutigen und attraktiven Gentleman. Schon beim ersten Blick in seine Augen hat sie ihr Herz verloren! Seine sehnsüchtigen Küsse verraten ihr, dass die Arroganz nur eine Mauer ist, hinter der er seine Gefühle zu verbergen sucht. Einen Sommer lang hat Lily Zeit, diesen Schutzwall zu durchbrechen - wenn sie scheitert, muss sie zurück in das graue Leben an der Seite ihrer Mutter …


  • Erscheinungstag 27.04.2018
  • Bandnummer 0067
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779894
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Willingham, Deb Marlowe

HISTORICAL LORDS & LADIES

1. KAPITEL

Bei der Wahl des Geflügels für eine Hühnersuppe sollte man sich für ein Tier mit weichen gelben Füßen, kräftigen kurzen Beinen und einer fetten Brust entscheiden. Vor der Zubereitung muss dem Huhn allerdings zunächst der Garaus gemacht werden …

– aus dem Kochbuch der Emily Barrow –

Falkirk House, England, 1850

Kühle Hände strichen über seine Stirn, und Stephen Chesterfield kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, in der er ein weiteres Mal zu versinken drohte. Mit brutaler Heftigkeit hämmerte der Schmerz in seinem Schädel. Sein Mund fühlte sich an wie mit Baumwolle ausgestopft, und alles tat ihm weh. Kurzum: Er war in einer scheußlichen Verfassung.

„Trinken Sie!“, befahl eine Frauenstimme, und er spürte, wie eine Tasse mit heißem Tee an seine Lippen gehoben wurde. Obwohl die Flüssigkeit bitter schmeckte, schluckte er sie herunter.

„Sie haben Glück, wissen Sie das?“, fuhr die Stimme fort.

Glück? Ihm war, als hätte ihm jemand den Schädel in zwei Teile gespalten. Er hatte noch nicht einmal genügend Kraft, die Augen zu öffnen, um seine Pflegerin anzusehen.

„Wie können Sie von Glück sprechen?“, stieß er flüsternd und nur unter größter Anstrengung hervor. Vermutlich hatte sie sagen wollen, dass er sich glücklich schätzen konnte, noch am Leben zu sein.

„Sie haben Glück, dass ich kein Arsen in Ihren Tee getan habe“, erklärte sie trocken. „Ansonsten wären Sie jetzt tot.“ Ein warmer Wickel, der nach Kräutern duftete, wurde auf seine Stirn gelegt.

„Wie bitte?“ Er krallte die Finger in die Bettdecke und zwang sich, die bleischweren Lider zu heben. Allerdings nahm er seine Umgebung nur wie durch wabernden Nebel wahr, als er herauszufinden versuchte, wo er sich befand und wer diese Frau war, die ihm offenbar nach dem Leben trachtete.

Sie hatte das Antlitz eines Engels. Das war das Erste, was er zweifelsfrei festzustellen vermochte, als er ein wenig klarer sehen konnte. Ihr honigblondes Haar trug sie im Nacken zu einem lockeren Chignon zusammengesteckt, aus dem sich ein paar ungebärdige Strähnen gelöst hatten. Sie umspielten ein fein geschnittenes Gesicht mit großen bernsteinfarbenen Augen, aus denen die junge Frau ihn müde ansah. Trotz des abscheulichen Trauerkleides aus Wollstoff, das so unförmig war, dass sie beinahe darin versank, war sie ausgesprochen hübsch. Lediglich ihre Wangen wirkten ein wenig eingefallen.

Sie kam ihm bekannt vor, aber ihr Name wollte ihm partout nicht einfallen. Fast schien es ihm, als wäre er ihr vor langer Zeit schon einmal begegnet.

„Sie haben Ihr Versprechen gebrochen. Es ist allein Ihre Schuld, dass mein Bruder sterben musste.“ Der Schmerz in ihrer Stimme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie wütend sie war. Ihre Augen funkelten anklagend, und sie hatte trotzig das Kinn gereckt.

Sie machte ihn für den Tod ihres Bruders verantwortlich? Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Stephen wusste ja nicht einmal, wer sie war – wie sollte er da ihren Bruder kennen? Er schob den Wickel von der Stirn fort und verengte argwöhnisch die Augen. „Wer sind Sie?“

Sie erbleichte. „Sie erinnern sich nicht an mich?“, fragte sie ungläubig. „Und ich dachte, der Tag könnte schlechter nicht mehr werden.“ Klirrend setzte sie die Tasse ab.

Er brachte nur wenig Verständnis für ihren Missmut auf. Verdammt, er war derjenige, der Schmerzen litt. Und jedes Mal, wenn er versuchte, sich an das Ereignis zu erinnern, das zu seinen Verletzungen geführt hatte, schien es sich in Rauch aufzulösen. Was war ihm widerfahren?

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, entgegnete er. „Wie ist Ihr Name?“

„Ich heiße Emily.“ Sie beugte sich vor und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. Beinahe kam es ihm so vor, als warte sie auf eine Erwiderung von ihm.

Schemenhaft fügten sich einige Bruchstücke seiner Vergangenheit wieder zusammen. Emily Barrow, Baron Hollingfords Tochter. Liebe Güte, er hatte sie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen! Ungläubig musterte er sie. Alles an ihrer Haltung brachte Tugendhaftigkeit zum Ausdruck, aber er wusste noch, wie sie Steine nach seiner Kutsche geworfen hatte und auf Bäume geklettert war, um ihn auszuspionieren.

Und mit ihr hatte er den ersten Kuss getauscht, als er ein unerfahrener Jüngling gewesen war.

Diesen letzten Gedanken schüttelte er ab, obwohl er dankbar war, dass sich zumindest ein Teil seiner Erinnerung wieder eingestellt hatte. „Was tun Sie hier?“

„Ich wohne hier.“ Und mit einem gekünstelten Lächeln fügte sie hinzu: „Erinnern Sie sich etwa nicht an Ihre Ehefrau?“

Ihre Enthüllung ließ ihn verblüfft schweigen. Seine Ehefrau? Was meinte sie damit? Er war nicht verheiratet.

„Sie belieben zu scherzen.“ Ganz gewiss war er kein unbesonnener Mann, und er pflegte jeden Tag minutiös zu planen. Ausgeschlossen, dass er sich dazu hinreißen ließ, eine Frau zu heiraten, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Falls er es nicht aus einer Weinlaune heraus doch getan haben sollte, lag auf der Hand, dass sie nicht die Wahrheit sprach. Und bei Gott, falls Emily Barrow vorhatte, ihn hinters Licht zu führen, würde sie es bitter bereuen.

„In so einer Angelegenheit würde ich nie scherzen.“ Sie hielt ihm die Tasse entgegen, die er jedoch geflissentlich übersah. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, etwas zu trinken, das sie ihm anbot. Plötzlich verschwamm alles vor seinen Augen, und in seinen Ohren begann es zu rauschen.

Mit geschlossenen Lidern wartete er, dass die Benommenheit wieder verschwand, und als die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen, sah er sich im Zimmer um. Das Bett, in dem er lag, hatte einen Himmel aus blauem Samt und Vorhänge aus demselben schweren Stoff, und auf dem Regal an der gegenüberliegenden Wand standen zahlreiche Bücher. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich in seinem Schlafgemach auf Falkirk befand – einem seiner Landsitze. Allerdings hatte er keinen blassen Schimmer, wie er hierhergekommen sein mochte.

„Wie lange bin ich schon auf Falkirk?“

„Seit zwei Tagen.“

„Und davor?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie sind eine Woche nach unserer Hochzeit nach London verschwunden. Seit Februar habe ich Sie nicht mehr gesehen. Warum sagen Sie mir nicht, wo Sie gesteckt haben?“

Obwohl er sich verzweifelt bemühte, wollte sich noch nicht einmal der Hauch einer Erinnerung bei ihm einstellen. Es schien, als hätte gähnende Leere einen Teil seines Lebens ersetzt, was eine überaus irritierende Erfahrung war, wie er feststellen musste. An den größten Teil seiner Kindheit und seines Erwachsenendaseins vermochte er sich zu erinnern. Ihm fiel sogar ein, dass er im Januar an einer Aufstellung von Konten für einen seiner Landsitze gearbeitet hatte. Doch danach … nichts.

„Was für ein Tag ist heute?“, fragte er in dem Bestreben, die letzte ihm verbliebene Erinnerung zeitlich genau zu bestimmen.

„Der zwanzigste Mai.“

Unwillkürlich krallte er die Finger in die Bettdecke. Februar, März, April und beinahe der ganze Mai … nahezu dreieinhalb Monate seines Lebens waren völlig aus seinem Gedächtnis getilgt. Wieder schloss er die Augen, um die Erinnerungen heraufzubeschwören, doch je verbissener er es versuchte, desto mehr schmerzte ihm der Kopf.

„Wo sind Sie gewesen?“, fragte sie, und es kam ihm so vor, als schwinge Sorge in ihrer Frage mit. Allerdings konnte er sich nur schwer vorstellen, dass diese Regung aufrichtig war, hatte sie ihm doch eben gerade noch angedroht, ihn zu vergiften.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Aber ich weiß genau, dass ich mich nicht daran erinnere, geheiratet zu haben.“

„Das mag wohl so sein, es ist aber nun mal eine Tatsache.“

Irgendetwas stimmte nicht, und sie verschwieg es ihm. Sie wirkte beinahe verzweifelt – vermutlich, weil er sie beim Lügen ertappt hatte.

„Es steht Ihnen frei, jederzeit zu gehen“, schlug er vor. „Offensichtlich erregen Sie sich sehr über meine Rückkehr.“

Ihre Augen schimmerten feucht, als sie mit sanfter Stimme erwiderte: „Sie haben keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich dachte, ich würde Sie nie wiedersehen.“

Sie tauchte den ausgekühlten Wickel in die Wasserschüssel und wrang ihn aus, bevor sie ihn wieder auf seine Stirn legte, wobei sie mit der Hand sacht seine Wange streifte. Die Geste stand im völligen Widerspruch zu ihren harschen Worten.

„Sie sind nicht meine Gattin.“

Als sie daraufhin die Arme vor der Brust verschränkte, zog die Gebärde seine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf ihre Figur. Sie war ausgesprochen schlank, doch ihre Brüste waren wohlgerundet, und er betrachtete sie fasziniert. Der oberste Knopf ihres Kleides hatte sich geöffnet, sodass er einen Blick auf die ansonsten unter Stoff verborgene Haut zu erhaschen vermochte.

„Doch, das bin ich.“ Sie ließ die Arme sinken und nahm anscheinend all ihren Mut zusammen, während sie ihn unverwandt ansah. Ihr sinnlicher Mund war leicht geöffnet, und ihre Schultern hoben und senkten sich unter ihren raschen Atemzügen. Die Strähnen ihres goldblonden Haars, die sich aus dem Chignon gelöst hatten, hoben sich deutlich vom Schwarz des Trauerkleides ab.

Sie hatte ihr Haar noch nie zu bändigen vermocht – schon als Mädchen nicht. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er ihr damals mit den Haarnadeln geholfen, um ihr eine Rüge zu ersparen. Doch jetzt haftete einer solchen Geste eine Intimität an, die bestenfalls unter Eheleuten statthaft war. Hatte er sie wirklich geheiratet? Hatte er ihr die Kleider aufgeknöpft und sich an ihrer seidenweichen Haut ergötzt? Die Art, wie sie vor ihm zurückwich, ließ darauf schließen, dass es nicht sehr wahrscheinlich war.

„Ich möchte einen Arzt sehen“, sagte er, um das Thema zu wechseln.

„Doktor Parson hat Sie gestern Abend untersucht. Meine Aufgabe ist es, die Verbände zu wechseln und die Wunde zu säubern. Er sieht morgen wieder nach Ihnen.“ Abermals hob sie die Teetasse an seine Lippen, aber er trank nicht.

Ihre Hand zitterte, und der Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, wollte so gar nicht zu ihrem verbitterten Tonfall passen. In diesem kurzen Moment meinte Stephen, abgrundtiefe Einsamkeit in ihren Zügen zu erkennen.

Doch durfte er kein Mitleid mit ihr haben; diese Frau hatte immerhin gedroht, ihn umzubringen.

Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, ihn zum Trinken zu bewegen, und nahm die Tasse fort. „Es ist kein Gift in dem Tee“, sagte sie zögernd. „Ich habe kein Arsen auftreiben können.“

„Laudanum hätte dieselbe Wirkung“, erwiderte er trocken. „In entsprechender Dosierung.“ Ihm war schleierhaft, warum er ihr das erzählte.

„Ich merke es mir fürs nächste Mal“, entgegnete sie errötend, jedoch ohne zu lächeln.

„Warum habe ich Sie geheiratet?“, fragte er sanft.

Sie griff nach dem Tablett mit dem Teegeschirr. „Sie sollten noch eine Weile ruhen. Später beantworte ich dann gerne Ihre Fragen.“

„Ich möchte es aber jetzt wissen. Setzen Sie sich.“

Sie ignorierte seine Aufforderung und ging zur Tür. Vermutlich hätte er ebenso gut versuchen können, einen Ziegelstein dazu zu bringen, sich zu setzen. Falls das Undenkbare tatsächlich geschehen war, falls er wahrhaftig diese Frau geheiratet hatte, dann war eines gewiss: Er hatte mehr verloren als lediglich sein Gedächtnis – nämlich seinen Verstand.

Emily floh in das angrenzende Zimmer und stellte mit zittrigen Händen das Tablett ab, bevor sie sich setzte. Der Earl of Whitmore war zurück – und erinnerte sich nicht mehr an ihre Ehe.

Verdammt soll er sein. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen, obwohl sie sich nach Kräften um Fassung bemühte. Es kam ihr vor, als wäre er von den Toten auferstanden. So lange, wie er fort gewesen war, hatte sie schon beinahe damit gerechnet, dass er nicht mehr lebte, auch wenn nie eine Leiche gefunden worden war. Sie hatte alles getan, um ihn zu vergessen; sich an jedem einzelnen Tag der vergangenen Monate ins Gedächtnis gerufen, dass sie ihrem Ehemann nichts bedeutet hatte. Bereits eine Woche nach ihrer Hochzeit war er nach London verschwunden – geradewegs in die Arme seiner Geliebten –, während er sie, die kleine, naive Ehefrau, auf den Landsitz abgeschoben hatte, damit ihr die Untreue ihres Gatten verborgen blieb. Ihr wurde schlecht, wenn sie nur daran dachte.

Gemeinhin lautete die Auffassung, dass Ehen nun einmal so waren. Doch sie hatte es nicht glauben wollen, Närrin, die sie gewesen war. Sie hatte sich völlig von seinem Charme verzaubern lassen, als ihr Traum wahr zu werden schien und der gut aussehende Earl dem Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Aber letztendlich war es eben nur ein Traum gewesen. Er hatte sie benutzt und aus ihr unerklärlichen Gründen geheiratet, um sich anschließend aus ihrem Leben zu stehlen. Und mit seiner Rückkehr erniedrigte er sie sogar noch mehr. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen fort und lachte verbittert auf. Er war die Tränen nicht wert. Je eher er Falkirk verließ, umso besser.

Sie erhob sich und widerstand dem überwältigenden Verlangen, das kostbare Porzellan auf dem Tablett zu zertrümmern. Selbstmitleid würde sie nicht weiterbringen. Sie war nun einmal mit einem Mann verheiratet, der seine Versprechen gebrochen hatte.

Und falls er die Ehe für null und nichtig erklärte, würde ihr kein Ort bleiben, an den sie fliehen konnte.

Der Schrei eines Kindes riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Hastig raffte sie die Röcke und eilte in das Schlafgemach, das sie vorübergehend als Kinderzimmer nutzte. Auf dem Boden kniete ihr Neffe Royce und spielte mit seinen Zinnsoldaten.

„Attacke!“, rief er, bevor er die vorderste Reihe der Soldaten zu Boden warf. Das Zinnspielzeug und ein Märchenbuch waren die einzigen Dinge, die er nach Daniels Tod von zu Hause mitgebracht hatte. Angesichts Royces jugendlicher Begeisterung musste Emily lächeln.

Als er einen weiteren Schlachtruf ausstieß, erklang das Weinen eines Säuglings. Mit einem Mal wirkte Royce betroffen. „Ich wollte sie nicht wecken.“

„Ist schon in Ordnung.“ Emily hob das Baby aus der Wiege und drückte es an sich. Ihre Nichte Victoria war kaum neun Monate alt. Ein weicher Flaum rotbraunen Haars bedeckte den Kopf des Babys, und im Unterkiefer waren bereits zwei winzige Zähnchen zu sehen. Das Baby griff nach Emilys Haar.

Als sie Victorias kleine Finger aus der losen Strähne löste, fühlte Emily sich in ihrem Beschluss bestärkt. Wenn auch ihre Ehe zerbrochen war, so blieb ihr doch immer noch ihre Familie. Sie würde sich um die Kinder ihres Bruders kümmern, wie sie es ihm an seinem Grab versprochen hatte. Zunächst einmal musste sie die Scherben ihrer gescheiterten Ehe zusammenkehren und dann entscheiden, was sie als Nächstes tun wollte.

„Tante Emily?“ Royce unterbrach sein Spiel und zog die Knie an die Brust. „Ist Papa schon gekommen, um uns abzuholen?“

„Nein, mein Schatz, noch nicht.“ Bisher hatte sie nicht den Mut aufgebracht, dem Jungen zu sagen, dass sein Vater niemals zurückkehren würde. Sie brachte es nicht übers Herz, Royces Hoffnungen zunichtezumachen, denn schon früh genug würde er die Wahrheit erfahren.

Als er aufstand, zog sie ihn mit der freien Hand an sich und hielt die beiden Kinder fest umschlungen. „Ich liebe euch, das weißt du.“

Royce versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Ich weiß. Kann ich weiterspielen?“

Emily entließ den siebenjährigen Knaben, damit er den Krieg gegen die hilflosen Zinnsoldaten wieder aufnehmen konnte.

Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und wiegte das Baby in den Armen. Victoria weinte noch immer, und die Augen drohten ihr vor Erschöpfung zuzufallen. Emily hob sich das Kind an die Schulter und klopfte ihm behutsam auf den Rücken. Am liebsten hätte sie in das Weinen mit eingestimmt. Plötzlich bemerkte sie, dass der Earl in der Tür stand.

„Was machen Sie denn hier?“ Sie sprang auf und hielt Victoria beschützend an sich gedrückt. „Ihre Wunde blutet, und Sie sollten das Bett nicht verlassen.“

Er bedachte sie mit einem eisigen Blick. „Ich glaube, das hier ist immer noch mein Haus.“ Dünne Linien hatten sich um seinen Mund eingegraben und zeugten von den Schmerzen, die er offenbar stillschweigend ertrug. Das dunkelbraune Haar, das unter der Bandage an den Schläfen hervorlugte, war zerzaust. Er lehnte sich an den Türrahmen, und obwohl er deutlich schmaler war als das letzte Mal, da sie ihn gesehen hatte, gab er kein Anzeichen von Schwäche preis. Der Stoppelbart auf seinen Wangen verlieh ihm ein ungezähmtes Aussehen, das ganz und gar nicht zum Bild des vornehmen Earls passte, den er sonst zu verkörpern pflegte.

Bei seinem Anblick fragte sie sich, ob sie ihn jemals richtig gekannt hatte. Es schien keine Spur mehr von dem Jungen in ihm vorhanden zu sein, den sie als Mädchen so sehr verehrt hatte. Verschwunden waren sein charmantes Lächeln und die gutmütigen Spötteleien. Sein Blick wirkte kalt und berechnend. Selbst in seiner augenblicklichen schlechten Verfassung strahlte er etwas Einschüchterndes aus. Emily trat einen Schritt zurück und wäre beinahe über den Schaukelstuhl gestolpert. „Sie haben einen heftigen Schlag gegen den Schädel bekommen, weswegen Sie noch längst nicht wieder auf den Beinen sein sollten.“

„Aber das käme Ihnen doch sehr entgegen, oder etwa nicht? Wenn ich stürzen und verbluten würde.“

Sie bemühte sich, trotz seiner harschen Worte die Fassung zu bewahren. „Schon wahr. Aber Ihr Blut würde Flecken auf dem Teppichboden hinterlassen, und es besteht kein Grund, dem Personal zusätzliche Arbeit zu bescheren.“

„Außer dass ich das Personal dafür bezahle.“

„Auch nach Ihrem Tod? Alle Achtung, dann hätten Sie gut für die Leute gesorgt“, schoss sie zurück und bereute sogleich ihre boshafte Bemerkung. Was war bloß los mit ihr? Eine derartige Gehässigkeit entsprach so gar nicht ihrer Art. Allerdings half sie ihr dabei, die Furcht zu überspielen – davor, dass der Earl sie und die Kinder fortschicken könnte.

„Ich schätze mich glücklich, eine so ausgesprochen sanftmütige Ehefrau mein Eigen nennen zu dürfen“, versetzte er sarkastisch, was nicht dazu beitrug, ihre ohnehin schlechte Laune aufzuhellen. Dann starrte er die Kinder an. „Wer sind die beiden?“

„Unsere Kinder“, erwiderte Emily verteidigend.

„Ich schätze, ich würde mich daran erinnern, irgendwelche Nachkommen gezeugt zu haben.“

„Es sind die Kinder meines Bruders. Sie sind ihr Vormund.“

„Ihr Vormund?“

In der Hoffnung, ihn davon abhalten zu können, in Gegenwart der Kinder noch mehr verlautbaren zu lassen, warf Emily ihm einen scharfen Blick zu. Es würde Royce das Herz brechen, wenn er vom Tod seines Vaters erfuhr. „Wir sprechen später über Daniel.“

„Wer ist ihr Kindermädchen?“

„Ich will kein Kindermädchen“, protestierte Royce lautstark. „Ich will Tante Emily.“

„Royce, bitte …“, begann sie beschwichtigend, doch ohne Erfolg.

„Ich will aber keins!“, brüllte der Junge und schleuderte einen Zinnsoldaten auf den Boden.

Emily ahnte schon, was als Nächstes geschehen würde. „Hier.“ Sie übergab dem Earl ihre Nichte, die er ihr zögernd abnahm und eine Armeslänge von sich entfernt hielt, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätte. Dann ging Emily neben Royce in die Hocke, um vernünftig mit ihm zu reden. „Ganz ruhig. Wir stellen kein Kindermädchen ein. Mach dir keine Sorgen.“

„Papa kommt bald“, sagte Royce mit entschiedener Stimme. „Er holt uns von hier fort.“ Nachdem er einen herausfordernden Blick in Richtung Lord Whitmores geworfen hatte, ließ der Junge sich von Emily trösten. Die Last schien immer schwerer auf ihre Schultern zu drücken, und ihr wurde bewusst, dass sie Royce den Tod seines Vaters nicht länger verschweigen durfte.

„Emily …“, meldete sich plötzlich Whitmore etwas kleinlaut zu Wort. Augenblicklich ließ sie Royce los und nahm dem Earl das Baby gerade rechtzeitig ab, bevor Whitmores Knie nachgaben und er leise stöhnend am Türrahmen zusammenbrach. Blut sickerte durch den Verband um seinen Kopf.

Rasch legte sie den Säugling zurück in die Wiege und ignorierte Victorias Protestgeschrei. „Hilfe!“, rief sie in der Hoffnung, dass ein Bediensteter in Hörweite war. „Kommt schnell!“ Dann kniete sie sich neben den Earl und schob ihm stützend den Arm unter die Schultern. Ein schwaches Lächeln umspielte daraufhin seine Lippen.

„Also haben Sie beschlossen, mich doch nicht sterben zu lassen“, flüsterte er, als ihm die Augen zufielen.

„Noch ist der Tag nicht zu Ende“, murmelte sie.

Stephen war nicht sicher, wie viel schlimmer sein Leben noch werden konnte. Er hatte eine angebliche Ehefrau, die ihn verachtete, zwei unerwartete Kinder und keinerlei Erinnerungen an die vergangenen drei Monate. Letzteres wog am schwersten, weswegen er unverzüglich nach seinem Butler Farnsworth schickte, damit der Mann ihm half, Licht ins Dunkel zu bringen. Dann stemmte er sich mühsam in seinem Bett hoch, um den Dienstboten sitzend empfangen zu können. Dabei wurde ihm leicht schwindelig.

Endlich trat Farnsworth ins Zimmer und räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen. Ein Kranz grauer Haare umgab seine Halbglatze, die roten Wangen waren säuberlich rasiert.

„Berichten Sie mir, was in der Nacht meiner Rückkehr vorgefallen ist“, verlangte Stephen ohne lange Vorrede.

„Mylord, ich fürchte, da gibt es wenig zu sagen. Es ist vor zwei Tagen geschehen.“

„Wer hat mich hergebracht?“

„Eine Mietdroschke. Der Kutscher hatte keine Ahnung, wer Sie sind. Er hatte lediglich den Auftrag erhalten, Sie bis vor die Tür zu bringen.“

„Hat er erwähnt, wer den Auftrag gegeben hat?“

„Sie selbst, Mylord. Es war mitten in der Nacht, und der Kutscher schien mir ausgesprochen schlechter Laune. Er hat darauf bestanden, augenblicklich für seine Dienstleistung entlohnt zu werden.“

Stephen runzelte die Stirn. Offensichtlich brachten ihn diese Fragen nicht weiter. „Was hatte ich bei mir?“

„Nichts außer der Kleidung, die Sie auf dem Leib trugen, Mylord. Derenthalben Sie sich jedoch keine Sorgen mehr zu machen brauchen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Sie hing in Fetzen an Ihnen herunter, Mylord, und sah grauenhaft aus. Außerdem stank sie nach Fisch, also habe ich sie verbrannt.“

War er etwa an Bord eines Schiffes gewesen? Vermutlich hätte er mehr erfahren können, wäre der Butler nicht so voreilig gewesen, seine Sachen einzuäschern. Stephen zügelte sein Temperament und fragte beherrscht: „Haben Sie in den Taschen nachgesehen, bevor alles verbrannt wurde?“

„Nein, Mylord. Das ist mir nicht in den Sinn gekommen.“

Stephen biss die Zähne zusammen. „Danke, Farnsworth. Das wäre dann alles.“

Der Butler räusperte sich und zögerte. „Mylord, was ist mit Lady Whitmore?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Nun, Sir, die anderen Dienstboten und ich haben uns gefragt …“ Farnsworth hüstelte, ohne den Satz zu beenden. Offensichtlich war die Mitteilung, die der Butler ihm machen wollte, über die Maßen heikel. Entweder das, oder er brauchte einfach nur einen Kräutertee, um dieses irritierende Hüsteln loszuwerden.

Gereizt klopfte Stephen mit den Fingern auf die Bettdecke. „Ja?“, fragte er ungeduldig.

„Wenn ich offen sprechen darf, Mylord, Ihre Gemahlin hat verschiedene … Veränderungen vorgenommen.“

„Welche Art von Veränderungen?“

Farnsworth machte eine fahrige Bewegung mit den Händen. „Seit über dreißig Jahren bin ich Ihrem Haushalt ein treuer Diener, Mylord. Niemals würde ich schlecht von den Chesterfields reden, doch ich fürchte, dieses Mal ist sie zu weit gegangen.“

Stephen fragte sich, ob Emily eine der Vasen in der Eingangshalle um ein paar Zoll verrückt oder in einem Anfall von Rachsucht die Katze erdrosselt hatte. Jedenfalls kam ihm Farnsworths Beschwerde unter den gegebenen Umständen etwas lächerlich vor. Stephen konnte sich nicht an die letzten drei Monate seines Lebens erinnern, und der Butler machte sich Sorgen, dass Lady Whitmore zu weit gegangen war?

„Was … hat … sie … getan?“, stieß er entnervt hervor.

„Ihre Ladyschaft hat den Koch entlassen. Und …“ Farnsworth senkte die Stimme, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. „Sie sagt, dass sie keinen neuen einzustellen gedenkt, weil sie plant, in Zukunft selbst zu kochen.“

Zur Hölle. Diese Frau meinte es also wirklich ernst damit, ihn vergiften zu wollen.

2. KAPITEL

In der Küche hat eine Frau alles in strikter Ordnung und sauber zu halten. Mit Ehemännern sollte auf dieselbe Weise verfahren werden …

– aus dem Kochbuch der Emily Barrow –

Später in der Nacht wurden seine Kopfschmerzen so stark, dass an Schlaf nicht zu denken war. Entnervt schlug Stephen die Bettdecke zur Seite und stand auf. Mit nackten Füßen tappte er über den handgewebten Bettvorleger, bis er mit dem Knie gegen die Mahagonitruhe am Fußende des Bettes stieß. Fluchend setzte er seinen Weg fort.

Über der Kommode hing ein großer Spiegel, doch es war so dunkel im Raum, dass er kaum etwas erkennen konnte. Nachdem er eine Kerze entzündet hatte, studierte er sein Spiegelbild. Einst hatte er ein geordnetes und planbares Leben geführt, jetzt wirkte er beinahe heruntergekommen. Quer über seinen Brustkorb erstreckte sich eine hässliche rote Narbe. Sie schien von einer Verletzung herzurühren, die ihm mit einem Messer beigebracht worden war, woran er sich allerdings nicht mehr erinnerte. Den Schlag auf den Kopf hatte er kürzlich erst einstecken müssen, vermutlich von Dieben oder anderem Gesindel. Aber irgendjemand musste ihm das Leben gerettet und ihn wieder nach Hause geschickt haben.

Er war sich selbst ein Fremder geworden.

Die Ungewissheit ging ihm an die Nerven. Jedes Mal, wenn er in seiner Erinnerung nach einem Hinweis auf die jüngste Vergangenheit suchte, verweigerte sein Gedächtnis ihm den Dienst. Weder erinnerte er sich an seine angebliche Hochzeit noch an die Umstände, die dazu geführt haben mochten. Es kam ihm vor, als hindere ihn eine unsichtbare Mauer daran, die Wahrheit herauszufinden.

Gerade als er den Blick wieder abwenden wollte, entdeckte er ein kleines schwarzes Mal in seinem Nacken. Er drehte sich um und sah über die Schulter, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Zu seinem Erstaunen erkannte er, dass es sich um eine Tätowierung handelte.

Wie war er bloß dazu gekommen? Bis vor einer Minute hätte er geschworen, nicht die Sorte Mann zu sein, die sich tätowieren ließ, doch die unauslöschliche Tinte offenbarte eine weitere geheimnisvolle Schattierung seiner aus dem Gedächtnis gelöschten Vergangenheit.

Vergeblich versuchte er, Einzelheiten des Symbols zu erkennen. Der ungünstige Winkel machte es ihm unmöglich, daher trat er vom Spiegel zurück. Koste es, was es wolle, aber er würde die Antworten finden, die er brauchte.

Einige davon hielt Emily bereit. Sie nahm sich ihm gegenüber in Acht, und sie tat gut daran. Wahrscheinlich hatte sie ihn belogen, um die Kinder zu schützen. Sie blieb nur bei ihm, weil es für sie keine andere Zuflucht gab.

Ihm war immer noch unerklärlich, warum er sie geheiratet haben sollte – selbst wenn sie als Kinder eine tiefe Freundschaft verbunden hatte. Mehr sogar als Freundschaft, wenn er ehrlich war. Wie Eva einst Adam hatte sie ihn bezaubert mit der unschuldigen Süße ihrer ersten Liebe. Dann allerdings war seinem Vater etwas davon zu Ohren gekommen, und Seine Lordschaft hatte seinem Sohn verboten, Emily wiederzusehen. Wie kam es, dass ihre Pfade sich nach so vielen Jahren wieder gekreuzt hatten? Und warum konnte er sich nicht daran erinnern?

Ein seltsamer Laut riss ihn aus seinen Überlegungen. Stephen wartete einen Moment, bevor er die Tür zum Flur öffnete. Das Wimmern wurde leiser, bis es schließlich verklang. Handelte es sich möglicherweise um ein Tier? Er runzelte die Stirn angesichts des Gedankens, was sonst noch alles ohne seine Erlaubnis ins Haus gebracht worden sein mochte.

Als er den Flur entlangging, fand er heraus, dass der Laut aus einem der Schlafzimmer kam. Nachdem er vorsichtig die Tür geöffnet hatte, fiel sein Blick auf eine schmächtige Gestalt, die zusammengerollt auf dem Bett lag. Für Emily war sie viel zu klein, und als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er den Jungen, dem er heute begegnet war. Wie hatte sein Name doch gleich gelautet? Ralph? Roger? Der Knabe lag auf dem Bauch, das Gesicht ins Kissen vergraben, und die schmalen Schultern bebten.

Der Anblick schnürte Stephen die Kehle zu, aber er machte keine Anstalten, das Kind zu trösten. Ihm schien, als wären seine Füße auf dem Boden festgewachsen, und er sagte sich, dass er weder der Vater des Jungen war noch sein Vormund – gleichgültig, was Emily behaupten mochte. Es oblag ihm nicht, sich einzumischen. Außerdem war es besser für den Knaben, wenn er lernte, dass er von anderen Menschen keinen Trost erwarten durfte. So war es ihm von seinem eigenen Vater beigebracht worden, bis er gelernt hatte, die Tränen zu unterdrücken. Es schickte sich nicht für den zukünftigen Earl, zu weinen oder überhaupt Gefühle zu zeigen. Die hatte ihm sein Vater so lange ausgetrieben, bis Stephen zu einem Vorbild an Beherrschtheit geworden war.

Als das Schluchzen des Jungen allmählich verebbt war und er gleichmäßig zu atmen begonnen hatte, trat Stephen ans Bett. Er breitete die Decke über das Kind und verließ den Raum so leise, wie er ihn betreten hatte.

Es war noch dunkel draußen, aber das Geräusch des Regens, der gegen die steinernen Mauern des Hauses schlug, verhalf Emily zu einem Gefühl von Behaglichkeit. Die junge Magd Lizbeth machte Feuer im Herd, und sobald sich angenehme Wärme in der Küche ausgebreitet hatte, begann Emily den Brotteig zu kneten.

Ihr war bewusst, dass die Dienerschaft sie mit einer Mischung aus Neugierde und Unbehagen beobachtete. Es schickte sich einfach nicht für die Tochter eines Barons, in der Küche zu arbeiten. Doch Emily hatte ein großes Bedürfnis, sich nützlich zu machen. Es war ihr unangenehm, den Hausangestellten Anweisungen zu geben, da sie bis vor Kurzem praktisch selbst eine Bedienstete gewesen war.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie ihr Bestes getan, um die Familie zusammenzuhalten. Die geschäftlichen Misserfolge ihres Bruders Daniel hatten ihr zunehmend Kopfzerbrechen bereitet, aber sie hatte gelernt, jegliche Kritik für sich zu behalten. Keiner ihrer Verwandten wäre bereit gewesen, ihnen zu helfen, nachdem …

Sie zwang sich, nicht an den beschämenden Skandal zu denken. Sie hatte getan, was getan werden musste, als Hab und Gut verschachert worden waren, nachdem Daniel das gesamte Vermögen verspielt hatte.

Vor lauter Trauer um seine Frau war er nicht mehr er selbst gewesen. Emily hatte ihm verziehen, in dem Wissen, dass sie selbst sich auf eine Ehe keine Hoffnungen mehr machen konnte. Dennoch war sie jetzt verheiratet.

Rhythmisch knetete sie den Brotteig, und die gleichförmige Arbeit half ihr, sämtliche Sorgen und Nöte aus ihren Gedanken zu vertreiben. Den vertrauten Geruch von Hefe in der Nase, genoss sie es, Zeit zum Nachdenken zu haben.

Whitmore würde sie loswerden wollen. Sowohl seine Untreue als auch der Umstand, dass er Daniel im Stich gelassen hatte, verletzten sie tief. Trotzdem brauchte sie seine Hilfe, um die Kinder zu beschützen. Sie wischte sich mit einer bemehlten Hand über die Stirn. Irgendwie musste es ihr gelingen, das Beste aus der Misere zu machen.

Schweigend begann die Küchenmagd, Würstchen fürs Frühstück zu braten. Lizbeth hatte ein unscheinbares Gesicht und eine Figur wie ein Fässchen, aber dafür stets ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. Emily hatte das Mädchen vom ersten Moment an ins Herz geschlossen.

„Sie haben ihm einen Schrecken eingejagt, wissen Sie“, bemerkte Lizbeth nach einem Moment und wendete die Würstchen. „Dem selbstgefälligen Herrn.“

„Dem Earl?“

„O nein, Mylady.“ Lizbeth errötete. „Ich spreche von Farnsworth. Er hat Seiner Lordschaft hinterbracht, dass Sie Monsieur Henri entlassen haben.“

„Gut.“ Emily war es gleichgültig, ob Stephen davon wusste. Der stets schlecht gelaunte Küchenchef hatte sich in den vergangenen Monaten schamlos am Haushalt bereichert, indem er lächerlich hohe Summen für den Einkauf von Nahrungsmitteln gefordert hatte. Ohne ihn waren sie alle besser dran.

„Und Sie brauchen sich wegen der Zubereitung der Mahlzeiten keine Sorgen zu machen, Mylady“, fügte Lizbeth hinzu. „Miss Deepford und ich kümmern uns darum, bis wir einen neuen Koch haben.“

„Vielen Dank, Lizbeth.“ Emily entspannte sich ein wenig. Ihr übereiltes Angebot, für den ganzen Haushalt zu kochen, ließ sich unmöglich in die Tat umsetzen – und das war ihr durchaus bewusst gewesen. Allerdings hatte sie den entsetzten Ausdruck in Farnsworths Gesicht in vollen Zügen genossen. „Es tut mir leid, dass ich euch beiden mehr Arbeit verursache.“

„O nein, nicht doch. Dieser Monsieur Henri hätte schon viel früher entlassen werden müssen.“

In Emily begannen sich Zweifel zu regen, ob sie womöglich ihre Befugnisse überschritten hatte. Der Earl hieß es sicherlich nicht gut, dass sie sich in die Personalangelegenheiten einmischte – zumal ihre eigene Situation mehr als unsicher war. Sie musste sich unbedingt bei ihm für ihre scharfen Worte entschuldigen.

„Ist dir sonst noch etwas Interessantes zu Ohren gekommen?“, erkundigte sie sich. „Über den Earl, meine ich. Hat er sich schon an etwas erinnert?“

„Nein, Mylady, ich habe nichts dergleichen gehört.“ Lizbeth schlug ein Ei in eine Schüssel, als plötzlich eine Glocke bimmelte. Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen. „Das ist Seine Lordschaft. Er verlangt sicher nach seinem Frühstück.“

„Ich bringe ihm das Tablett aufs Zimmer“, bot Emily an. Sie musste mit Stephen über die Kinder sprechen, und eine Servierplatte voller Köstlichkeiten mochte dazu beitragen, seine Laune zu verbessern, während sie ihm erklärte, dass es keine gute Idee wäre, ihre Familie auf die Straße zu setzen. Ihr Magen grummelte, aber Emily ignorierte das Hungergefühl. Sie hatte bereits eine Scheibe getoastetes Brot und eine Tasse Tee zu sich genommen, was völlig ausreichend für sie war.

Als sie die Dienstbotentreppe erklommen hatte und den Korridor zum Schlafgemach des Earls entlangeilte, war sie außer Atem. Ihre Arme schmerzten unter der Last des schweren Tabletts, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Nachdem sie an die Tür geklopft hatte, erklang von drinnen ein gedämpftes „Herein“.

Der Earl saß in einem Lehnsessel und las die Times. Er trug eine dunkelgraue Hose zu einem tiefblauen Gehrock sowie eine Nadelstreifenweste und ein weißes Baumwollhemd. Die dunkle Krawatte hatte er mit einem schlichten Knoten gebunden, und auf seinen Wangen zeigte sich der Schatten eines Bartes. Als Emily eintrat, hob er den Blick und betrachtete sie interessiert.

Sein Haar war feucht, und an den Schläfen glitzerten noch winzige Wassertropfen. Offenbar hatte er ein Bad genommen. Emily erschauerte wohlig bei der Vorstellung, wie er sich in eine Wanne warmen Wassers sinken ließ und die muskulösen Arme auf dem Rand abstützte. Mit eigenen Augen hatte sie seinen flachen Bauch gesehen und erinnerte sich nur zu gut an die beängstigende Narbe, die sich quer über den athletischen Brustkorb erstreckte. Sinnliche Bilder davon, wie sie seinen männlichen Körper genüsslich einseifte, erstanden vor ihrem inneren Auge, und sie malte sich aus, wie er sich über sie beugte, bis sie sich ihm hingab. So wie damals …

Ein Gefühl unerträglicher Einsamkeit erfasste sie. In der Nacht, in der er sie verlassen hatte, hatte er sie geküsst, als wolle er sie nie wieder loslassen. Doch jetzt kam es ihr so vor, als habe dieser Mann niemals existiert.

Ihr fiel ein, in welcher Verfassung Stephen nach Falkirk zurückgekehrt war, und der Schmerz traf sie wie ein Faustschlag in den Magen. Am liebsten wäre sie zu ihm hingelaufen, hätte ihn in die Arme geschlossen und Gott dafür gedankt, dass er noch am Leben war. Doch er kannte sie nicht mehr. Er hatte seine Versprechen gebrochen und sie mit einer anderen Frau betrogen – und das konnte sie ihm nicht verzeihen.

Mühsam zwang sie die Gefühle zurück, die sie zu überwältigen drohten. Whitmore empfand nichts mehr für sie, und sie wusste nicht zu sagen, ob er es jemals wieder tun würde.

„Haben Sie vor, das Tablett abzusetzen, oder wollen Sie mich stattdessen weiter anstarren?“

Sie spürte, wie sie errötete, und stellte das Tablett auf den Tisch. „Ihr Frühstück, Sir“, gab sie zurück und knickste spöttisch.

„Ich würde die Anrede Mylord vorziehen.“

Emily hatte das Sir sarkastisch gemeint. Dass dies dem Earl anscheinend entgangen war, entfachte ihre Wut aufs Neue. „Haben Sie vielleicht sonst noch einen Wunsch? Soll ich niederknien und Ihnen die Stiefel lecken?“

„Später vielleicht.“ Er klang so, als würde er Gefallen an dem Gedanken finden.

Zornig machte sie kehrt und ging zur Tür.

„Noch bin ich nicht fertig mit Ihnen.“

Sie wirbelte herum und bedachte ihn mit einem wütenden Blick, doch er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Times zu und setzte sich ein Paar Augengläser auf den Nasenrücken.

Emily sah sie zum ersten Mal. Sie hatte nicht gewusst, dass er sie zum Lesen benötigte. Sie verliehen ihm die Ausstrahlung eines Mannes, den man nicht so leicht zum Narren halten konnte.

Schicklich, steif und felsenfest in seinen Überzeugungen, war er zu einem exakten Abbild seines Vaters, des Marquess, geworden. Bei dem Gedanken wurde ihr plötzlich ganz unbehaglich zumute.

„Wünschen Sie eine Tasse Tee?“, fragte sie, darum bemüht, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Er senkte die Zeitung und sah sie an. „Ist er vergiftet?“

Seine Überheblichkeit weckte das Verlangen in ihr, ihm die Teekanne auf dem Kopf zu zerschlagen. „Das werden Sie wohl erst wissen, wenn Sie daran gestorben sind“, entgegnete sie unschuldig lächelnd, während sie den Tee in die Tasse aus chinesischem Porzellan goss. „Milch und Zucker?“

„Ich trinke ihn schwarz. Dann bleiben Ihnen weniger Möglichkeiten, noch etwas anderes hinzuzufügen.“

„Es sei denn, ich hätte es schon getan“, widersprach sie und hielt ihm auffordernd die Tasse hin. Soll er sich doch daran verschlucken! sagte sie sich wütend.

Allerdings machte er keine Anstalten, ihr die Tasse abzunehmen. „Sie trinken zuerst“, bestimmte er.

„Ich habe den Tee nicht vergiftet“, versicherte sie ihm.

„Trinken Sie.“

Obwohl sein arroganter Tonfall sie verärgerte, gehorchte sie. Der heiße Tee hatte ein würziges und vollmundiges Aroma. „Hier. Sind Sie jetzt zufrieden?“

„Noch nicht ganz.“ Der Earl legte die Zeitung zur Seite und deutete auf das Essen. „Ich möchte, dass Sie alles vorkosten, was sich auf dem Tablett befindet.“

„Ich habe keinen Hunger“, schwindelte sie.

Sein Blick verriet ihr, dass er um ihre Lüge wusste. „Sie sehen aus, als hätten Sie seit Wochen keine ordentliche Mahlzeit mehr zu sich genommen. Sie sind viel zu dünn, und ich will nicht, dass die Diener glauben, ich würde meine eigene Frau nicht anständig ernähren – falls Sie tatsächlich meine Frau sind.“

„Mir ist egal, was sie denken.“

„Mir aber nicht. Und falls Sie wünschen, mit den Kindern in meinem Haushalt zu bleiben, dann haben Sie meinen Anordnungen Folge zu leisten.“

Jetzt war es also geschehen – die Drohung war ausgesprochen. Er verfügte tatsächlich über die Möglichkeit, ihr das Leben schwer zu machen und sie und die Kinder auf die Straße zu setzen. Ihr waren die Hände gebunden, denn weder konnte sie die Kinder alleine ernähren, noch ihnen ein Zuhause geben.

Wütend stach sie mit der Gabel in ein Würstchen und ertappte sich bei dem Wunsch, es möge sich dabei um einen ganz bestimmten Körperteil des Earls handeln. Danach nahm sie eine Gabel voll von den Eiern und atmete tief den köstlichen Duft ein. Liebe Güte! Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, während sie genüsslich kaute. Möglicherweise hätten den Eiern eine Prise Salz oder sogar etwas gebratener Speck gut angestanden. Eine Fülle Rezeptideen gingen ihr durch den Sinn, während sie in elysischen Genüssen schwelgte, die Whitmore ihr in seiner unendlichen Überheblichkeit wohl eher unwissentlich ermöglichte. Das Bimmeln der Dienstbotenglocke riss sie aus ihren Träumereien. Sie öffnete die Augen, doch der Earl gab keinen Hinweis darauf, warum er nach einem Diener geklingelt hatte.

„Ich habe nicht in Ihr Frühstück gespuckt, falls Sie das denken sollten.“

„Das habe ich auch nicht behauptet“, entgegnete er ernst.

Unbehaglich schob sie ihm den Teller zu und fragte sich, was er mit dem Läuten bezweckt haben mochte. „Sie können essen“, sagte sie. „Wie Sie sehen, bin ich immer noch am Leben.“

Jedoch machte er keine Anstalten, das Frühstück anzurühren, sondern fuhr fort, sie fragend anzusehen. Seine Augen waren von einem faszinierenden sanften Grau, seine Lippen fest, um seinen Mund lag ein Zug stoischer Entschlossenheit. Früher hatte sie ihn für einen gut aussehenden Mann gehalten. Seine Gesichtszüge hatten so perfekt gewirkt wie in Stein gemeißelt. Doch jetzt war er selbst zu einer Statue geworden, zu einem Mann ohne Gefühle, der nie offenbarte, was ihm gerade durch den Sinn ging.

Warum war sie so töricht gewesen, auf seine Versprechungen hereinzufallen? Der Earl hatte sie von dem heruntergewirtschafteten und völlig überschuldeten Anwesen fortgeholt und ihr geschworen, ihren ungeratenen Bruder ausfindig zu machen und dessen Schulden zu begleichen. Emily war so vernarrt in Whitmore gewesen, dass sie sich nicht einen Moment nach seinen Motiven gefragt hatte.

Es klopfte, und zu Emilys Erstaunen trat Farnsworth ein. Der missbilligende Blick, mit dem er sie bedachte, machte ihr bewusst, dass er ihre Kleidung und ihr Auftreten für unschicklich befand. Schließlich erwartete man von ihr, sich wie eine Countess zu benehmen und nicht wie eine Dienstbotin. Emily straffte die Schultern, obwohl das vermutlich nicht dazu beitrug, Farnsworths Meinung über sie zu ändern.

„Bringen Sie ein Tablett für Lady Whitmore. Und mehr Tee“, wies der Earl ihn an.

„Nein, wirklich, ich benötige nichts.“

Doch Whitmores durchdringender Blick ließ sie verstummen, und nachdem der Butler gegangen war, verschränkte er die Arme vor der Brust. „In einigen Dingen müssen wir uns einig werden. Ich gebe hier die Anweisungen, und Sie befolgen sie.“

Hielt er sich etwa für den König von England? „Sehr wohl, Eure Majestät.“

Offensichtlich fand er ihre Spöttelei keineswegs amüsant. „Darüber hinaus werden Sie alles aufessen, was Farnsworth gleich bringt.“

„Und falls nicht?“

„Sie wollen doch, dass auch die Kinder etwas zu essen bekommen, oder etwa nicht?“

Seine versteckte Drohung, den Kindern das Essen vorzuenthalten, brachte das Fass zum Überlaufen. Emily ließ sich von ihrer Wut fortreißen. „Wagen Sie es bloß nicht, unschuldige Kinder unter Ihren lächerlichen Launen leiden zu lassen!“

„Es sind ja nicht meine Kinder“, erklärte er unbeeindruckt. „Und wenn Sie von mir erwarten, ihnen trotzdem ein Heim zu gewähren, sie zu kleiden und zu ernähren, werden Sie meinen Befehlen gefälligst Folge leisten.“

Stephen entging die Furcht nicht, die in ihren Augen aufflackerte, und er fühlte sich unbehaglich dabei, ihr zu drohen. Allerdings nur ein wenig. Wie es aussah, hatte Emily seit Langem keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Wenn sie sich aufgrund einer falschen Schlussfolgerung dazu genötigt sah, endlich vernünftig zu essen, dann plagten ihn auch keine Gewissensbisse.

Ihre hohen Wangenknochen betonten das hübsche Gesicht mit dem zarten Teint. Ihre großen Augen hatten einen Braunton, der an einen erlesenen Whisky denken ließ. Eine Strähne ihres goldblonden Haares hing ihr in die Stirn, die leicht mit Mehl bestäubt war.

„Sie sind für sie verantwortlich“, hielt sie ihm vor.

Einige Minuten darauf kehrte Farnsworth mit dem Tablett zurück, und Emily aß mit zornigem Eifer. Trotzdem glaubte Stephen einen Ausdruck von Verzweiflung in ihren Augen zu bemerken.

„Ich wünsche, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten“, sagte er schließlich. „Fangen wir mit unserer Hochzeit an.“

Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Eier, als habe sie nichts gehört. Stephen griff nach ihrer Hand, an deren Mittelfinger das Familienerbstück prangte – ein goldener Reif, der mit einem funkelnden Rubin besetzt war. Er rieb über den kostbaren Stein und nahm erstaunt wahr, wie kalt Emilys Finger sich anfühlten.

„Ich erinnere mich nicht an die Trauungszeremonie. Ich erinnere mich noch nicht einmal daran, Ihnen diesen Ring angesteckt zu haben. Soviel ich weiß, könnten Sie ihn mir gestohlen haben.“

„Sie wollen ihn zurück?“, fragte sie ruhig.

„Schon möglich.“ Er starrte auf den Ring, als könne er so seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen. Als Emily versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, hielt er sie fest.

„Erzählen Sie mir von unserer Hochzeit.“

„Es hat geschneit an dem Tag“, wisperte sie und sah mit einem Mal unglaublich verloren aus.

„Hatten wir Gefühle füreinander?“

Die Frage schien sie völlig zu überraschen, doch obwohl sie lachte, konnte er in ihren Augen sehen, wie verletzt sie war. „Sie haben mich verehrt. Wir haben aus einer Laune heraus geheiratet.“

„Ich will den wirklichen Grund wissen, Emily.“

Wieder wandte sie den Blick dem Frühstückstablett zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Antwort darauf weiß. Ich hatte angenommen, dass ich Ihnen etwas bedeute“, sagte sie schließlich mit schmerzerfüllter Stimme. „Ich habe mich geirrt.“

„Habe ich Sie kompromittiert?“, erkundigte er sich und strich mit dem Daumen über ihre Finger. Es entging ihm nicht, dass die Haut so rau war wie die einer Spülmagd.

Hastig entzog sie ihm die Hand. „Nein. Und ich würde es vorziehen, nicht über dieses Thema zu sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Warum haben Sie mich geheiratet?“ Was hatte diese Traurigkeit in ihrem Blick zu bedeuten? Sie verstand es, ihre Gefühle so gut vor ihm abzuschirmen, dass er einfach nicht schlau aus ihr wurde.

Emily schob den Teller mit den Überbleibseln des Frühstücks beiseite. „Ich hatte meine Gründe“, entgegnete sie beschämt, und Stephen musterte sie schweigend. Sie hatte von Gefühlen zwischen ihnen gesprochen. Er fragte sich, ob er womöglich behauptet hatte, sie zu lieben.

Sie war hübsch – das war sie schon immer gewesen. Darüber hinaus war sie unverblümt und mit einer messerscharfen Zunge gesegnet. Und falls sie ihn aus einer Laune heraus geheiratet hatte, neigte sie noch immer zu unüberlegtem Verhalten.

„Ich muss nach London zurück“, sagte er, um das Thema zu wechseln. Im Arbeitszimmer der Stadtresidenz verwahrte er sorgfältig geführte Anlagenbücher. Wenn es Antworten gab, dann würde er sie in diesen Dokumenten finden. „Sobald ich genesen bin, breche ich auf. Sie werden mich begleiten.“

„Nein!“, rief sie aus, bevor sie sich wieder fasste und hinzufügte: „Um ehrlich zu sein, würde ich das lieber nicht tun.“

Angesichts ihres Erschreckens schöpfte er Verdacht. „Warum haben Sie solche Angst vor London?“

„Weil Ihr Vater uns nicht empfangen wird. Und die Kinder brauchen mich hier.“ Sie machte eine fahrige Bewegung mit den Händen, offenbar auf der Suche nach einer weiteren Ausrede.

„Dann stelle ich eben ein Kindermädchen ein. Offen gesagt, habe ich Farnsworth bereits damit beauftragt, Ihnen einige Bewerberinnen vorzustellen. Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann nicht selbst auf die Idee gekommen ist.“

„Ich habe eine Amme für das Baby. Anna kümmert sich um Victoria und Royce.“

„Royce braucht aber auch einen Lehrer.“ Als sie keine Einwände erhob, änderte Stephen seine Taktik. „Glauben Sie nicht, dass meine Familie sich fragen würde, warum ich ohne meine Frau reise?“

Ihre Wangen verfärbten sich dunkelrot. Ihre Zurückhaltung konnte nur bedeuten, dass sie nicht verheiratet waren, dessen war er sich sicher.

Doch dann verwirrte sie ihn, als sie trotzig das Kinn reckte. „Mir ist gleichgültig, was Ihre Familie denkt. Ich begleite Sie nicht nach London. Nicht jetzt und auch nicht in Zukunft.“ Sie stand auf und eilte zur Tür hinaus, die sie lautstark hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Sie hatte Angst. Vielleicht irrte er sich ja auch, aber Stephen beschlich der Verdacht, dass seine Frau mehr über die Nacht seines Verschwindens wusste, als er bisher angenommen hatte. Das verhieß nichts Gutes für ihre gemeinsame Zukunft.

3. KAPITEL

Gebäck, das man zum Tee reicht, sollte stets leicht sein und den Gaumen ergötzen. Die Gastgeberin sollte lächeln und ihre Gäste mit größter Liebenswürdigkeit behandeln.

– aus dem Kochbuch der Emily Barrow –

Etwas später an diesem Morgen traf Dr. Parsons ein. Er überprüfte die Verbände und nickte anerkennend. „Ihre Frau hat sich sehr gut um Sie gekümmert“, befand er. „Die Wunden sind sauber, und auch die Prellungen verheilen zufriedenstellend. Ich schätze, dass Sie innerhalb der nächsten Tage wieder auf den Beinen sind.“

„Ich beabsichtige, nach London zu reisen“, erklärte Stephen dem Arzt. „Wenn möglich, schon in drei Tagen.“

„Mylord, von einem verfrühten Aufbruch rate ich ab. Es wäre gut, wenn Sie sich noch eine weitere Woche gedulden könnten, bevor Sie die Reise antreten.“

„Ich habe keinerlei Erinnerung an den Unfall“, gestand Stephen seufzend. „Und auch nicht an die Ereignisse der vergangenen drei Monate.“

„Gedächtnisverlust ist in einem solchen Fall durchaus nicht unüblich.“ Der Arzt machte sich daran, die Verbände zu wechseln. „Ich konnte das bei einer ganzen Reihe Patienten feststellen, besonders dann, wenn sie ein verstörendes Erlebnis hatten. Häufig versucht der menschliche Verstand zu verhindern, sich an Dinge zu erinnern, die er lieber vergessen würde.“

„Wann ist mein Erinnerungsvermögen wieder vollständig hergestellt?“, verlangte Stephen zu wissen.

„Offen gesagt – möglicherweise niemals“, erwiderte Parsons ernst. „In einem Fall wie dem Ihren ist eine Prognose schwierig. Ihre Kopfverletzung und die Prellungen sind frisch, aber ich bezweifle, dass sie mit dem Gedächtnisverlust in Zusammenhang stehen. Die Narbe der Stichverletzung auf Ihrer Brust deutet darauf hin, dass Sie vor einigen Monaten Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein könnten – vielleicht ist es dieses Erlebnis, an das Sie sich nicht erinnern wollen. Allerdings kann ich Ihnen versichern, dass Ihre Schmerzen innerhalb weniger Tage der Vergangenheit angehören werden.“

Schmerzen waren das Letzte, worüber Stephen sich im Moment Gedanken machte. Einen Augenblick überlegte er, ob er den Arzt auf die seltsame Tätowierung in seinem Nacken ansprechen sollte, aber er entschloss sich dagegen. Soviel er wusste, hatte er sich zu unüberlegtem Handeln hinreißen lassen – und beispielsweise eine Frau geehelicht, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Als der Arzt gegangen war, kam Stephen das Gespräch in den Sinn, das er am Morgen mit Emily geführt hatte. Ihre Sorge um die Kinder in allen Ehren – aber stimmte es, dass er tatsächlich für das Wohlergehen der beiden zuständig war, wie sie behauptete? Er beschloss, mit dem Jungen zu sprechen. Wenn er von seiner Frau keine Antworten bekam, dann würde er sie eben von einer anderen Stelle erhalten. Er rief Farnsworth herbei und beauftragte ihn, den Knaben zu ihm zu bringen.

„Sehr wohl, Mylord.“ Der Butler verneigte sich und verließ den Raum, um die Anordnung auszuführen.

Die Minuten verstrichen, ohne dass Farnsworth zurückkam, und schließlich begann Stephen, rastlos im Raum auf und ab zu marschieren. Jemand musste dem Jungen Disziplin beibringen – man konnte nicht früh genug damit anfangen, gutes Benehmen zu erlernen. Nachdem fünf weitere Minuten vergangen waren, öffnete Stephen die Tür zum Flur. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, runzelte er die Stirn.

„Jetzt komm schon.“ Farnsworth stand vorgebeugt und hielt dem Jungen ein Zuckerplätzchen hin wie einen Köder. Mit missmutigem Gesichtsausdruck musterte das Kind den Bediensteten, bevor es einen zögerlichen Schritt vorwärts machte. „Alles ist gut. Komm her, bitte, mach schon.“ Der Butler gurrte förmlich.

„Du liebe Güte, Farnsworth. Der Junge ist doch kein Hund. Hören Sie auf, ihn wie einen zu behandeln!“ Stephens Geduld war erschöpft.

„Mylord, er hört nicht.“ Der Butler richtete sich auf, und wie vorherzusehen, verschwand das Kind in eines der Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Lassen Sie mich das machen.“ Energisch folgte Stephen dem Knaben, doch als er die Tür erreicht hatte und versuchte, sie zu öffnen, musste er feststellen, dass sie verriegelt war. „Den Schlüssel bitte, wenn Sie so freundlich wären, Farnsworth.“

„Mylord, ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich hole ihn augenblicklich.“ Der Diener machte sich auf den Weg, sichtlich froh, entkommen zu können.

Einen Moment lang blieb Stephen lauschend stehen und überlegte seinen nächsten Schachzug. Es würde ihm kein Erfolg beschieden sein, wenn er den Jungen wie ein Kind behandelte. Also klopfte er an die Tür.

„Geh weg!“

Das war zu erwarten gewesen – nur ein Narr hätte sich jetzt bereits ergeben. Selbstverständlich musste Stephen dem Jungen einen entsprechenden Anreiz bieten. „Du wünschst doch, mein Haus zu verlassen, habe ich recht?“

Schweigen. Anscheinend hatte der Knabe mit dieser Frage nicht gerechnet. „Ja“, erklang es schließlich gedämpft.

„Ich schlage den Austausch von Informationen vor. Du erzählst mir alles, was ich wissen möchte, und ich kümmere mich um deine Abreise.“ Wohlweislich verschwieg Stephen, wohin die Reise gehen würde – ein Internat lag im Bereich des Möglichen. Schließlich hatte der Junge Erziehung bitter nötig.

Wieder Schweigen. Dann klickte das Schloss, und die Tür wurde geöffnet. Mühsam unterdrückte Stephen ein siegessicheres Lächeln. Es war nicht ratsam, den Waffenstillstand gleich zu Anfang zu gefährden, denn er brauchte Auskünfte und baute auf die Leutseligkeit des Gegners.

Als er den Raum betrat, beobachtete der Knabe ihn misstrauisch.

„Roland, richtig?“, fragte Stephen.

„Ich heiße Royce“, erwiderte der Junge empört und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich kann dich nicht leiden.“

Stephen zuckte mit den Schultern. „Ich kann auch nicht gerade behaupten, dass du mir sympathisch bist.“

Seine Antwort schien bei Royce auf Zustimmung zu stoßen. Die Grenzen zwischen ihnen waren abgesteckt.

„Setz dich.“ Er wies auf einen Schemel, aber Royce leistete der Aufforderung keine Folge. Ungerührt eröffnete Stephen das Gespräch. „Wie lange bist du schon auf Falkirk?“

„Seit Februar.“ Der Junge sah zur Tür, als erwäge er eine Flucht.

„Hat eure Tante euch hergebracht?“

Bei der Erwähnung Emilys wurden die Züge des Knaben für einen flüchtigen Moment weicher, bevor sie wieder einen abwehrenden Ausdruck annahmen. „Sie hat nach uns geschickt.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen und sah auf seine Hände. „Du bist ziemlich groß“, fügte er unvermittelt hinzu.

„Weich nicht vom Thema ab.“ Stephen war fest entschlossen, seine Befragung fortzusetzen. „Warum hat eure Tante mich geheiratet?“

Plötzlich war Furcht in Royces schmalem blassen Gesicht zu sehen. „Ich weiß nicht.“

„Ich glaube, du weißt es doch. Es ist besser, wenn du mir die Wahrheit erzählst.“

Der Junge richtete den Blick auf den Fußboden und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich will zu meinem Papa.“

Stephen versuchte, einen sanfteren Ton anzuschlagen. „Es tut mir leid wegen deines Vaters.“ Er streckte die Hand nach dem Jungen aus, aber Royce floh in Richtung Tür, wo Stephen ihn gerade noch rechtzeitig zu fassen bekam.

Die Schultern des Knaben bebten, und er schluchzte. „Ich will zu meinem Papa.“ Tränenüberströmt versuchte er, sich aus Stephens Griff zu befreien.

Es war hoffnungslos. Er hätte wissen müssen, dass seinem Vorhaben, Antworten von dem Kind zu bekommen, kein Erfolg beschieden sein würde.

„Was haben Sie getan?“ Die Tür wurde aufgestoßen, und Emily stürzte in den Raum. Ihr Blick flog zu Royce, sie kniete sich hin und nahm ihn in den Arm. „Sie haben ihn zum Weinen gebracht“, sagte sie wütend. „Er ist doch nur ein Kind.“

„Ich habe ihm lediglich ein paar Fragen gestellt“, verteidigte Stephen sich. Es war wahrhaftig nicht gerade einer seiner besten Einfälle gewesen, und er kam sich lächerlich vor.

Emily wandte sich zu Royce. „Geh zu Lizbeth. Sie hat ein Stück Kuchen für dich.“

Die Aussicht auf die Leckerei veranlasste den Jungen dazu, blitzartig loszurennen. Sobald er außer Hörweite war, ließ Emily ihrem Ärger ungehemmten Lauf. „Sie sind herzlos“, warf sie Stephen vor und erhob sich. „Was haben Sie zu ihm gesagt?“ Trotz ihrer Wut wirkte sie verängstigt.

„Ich habe ihm nur ein paar Fragen gestellt.“ Stephen trat einen Schritt auf sie zu und bemerkte, dass sie zitterte. „Wovor haben Sie solche Angst?“

„Er weiß noch nicht, dass sein Vater tot ist.“

„Warum nicht?“

Mit einem Mal wirkte sie unendlich müde. „Es ist meine Schuld. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm wehzutun. Seine Mutter starb bei Victorias Geburt. Und jetzt hat er auch noch seinen Vater verloren.“

Stephen ergriff sie beim Handgelenk. Er spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Ihre Haut war warm, und er nahm einen leichten Duft nach Vanille wahr, der ihn an Zuckerplätzchen erinnerte und den Wunsch in ihm weckte, Emily noch näher zu sein. „Es wird nicht besser, wenn Sie ihm die Wahrheit verschweigen.“

„Und manches Mal wird die Wahrheit nicht geglaubt, selbst wenn sie ausgesprochen wird.“ Sie hielt seinem prüfenden Blick stand und entzog ihm ihre Hand. „Fahren Sie nach London. Dort finden Sie die Antworten, nach denen Sie suchen.“

Plötzlich verhielt sie sich wieder so abweisend wie zuvor. Ihr honigblondes Haar war sorgfältig von einem schwarzen Haarnetz gebändigt, ihr Gesicht frisch gewaschen, und sie wirkte wie der Inbegriff von Tugend. Sie hatte sich umgezogen und trug ein schlichtes schwarzes Tageskleid, dessen Saum ausgefranst und bereits mehrere Male ausgebessert worden war.

Allmählich verärgerte ihn ihr märtyrerhaftes Verhalten. Abermals griff er nach ihrer Hand und drückte sie so fest, dass der Ehering schmerzhaft gegen die Finger gepresst wurde. „Hören Sie auf, so wehleidig zu tun, und beantworten Sie meine Fragen. Was ist mit Ihrem Bruder geschehen?“

„Seine Gläubiger haben ihn getötet, während Sie bei Ihrer Mätresse weilten“, stieß sie hervor. „Er ist verblutet.“

„Ich habe keine Mätresse“, widersprach Stephen und verstärkte seinen Griff um ihre Hand, als sie wieder versuchte, sich zu befreien. „Glauben Sie wirklich, ich würde einen Mann sterben lassen, wenn es in meiner Macht läge, ihm zu helfen?“

„Nein“, gestand sie, wenn auch ein wenig zweifelnd.

Er beugte sich zu ihr und musterte sie forschend in der Hoffnung, ihre Lügen enträtseln zu können. Doch die Trauer in ihren Augen war echt. Als er ihre Taille umfasste, konnte er die Wärme ihrer Haut durch den Stoff ihres Kleides spüren. Mit den Fingern berührte er spielerisch einen der kleinen Knöpfe am Rückenteil. „Wer hat Ihnen erzählt, ich sei bei meiner Geliebten gewesen?“

„Die Männer, die Daniels Leichnam gebracht haben.“ Abermals unternahm sie den Versuch, sich zu befreien, doch Stephen war fest entschlossen, seine Antworten zu bekommen.

„Und wer waren diese Männer?“ Er streichelte ihren Rücken, über die Dutzende von kleinen Knöpfen, bis er den obersten am Halsausschnitt erreicht hatte. Mit einem Daumenschnipsen öffnete er ihn und enthüllte ein winziges Stück nackter Haut. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion.

„Ich … ich weiß nicht“, stammelte sie. „Ich dachte, dass es Ihre Anwälte sind. Sie haben nach Ihnen gesucht.“

Sie erstarrte, als er begann, die bloße Haut ihres Nackens zu streicheln. „Fassen Sie mich nicht an!“

Er ignorierte die Bemerkung und öffnete einen weiteren Knopf. „Warum nicht?“

„Weil ich Ihnen nichts bedeute. Sie wollten mich nicht – genauso wenig wie ich Sie.“

Plötzlich blitzte eine flüchtige Erinnerung vor seinem inneren Auge auf. Emily, vor dem Kamin in seinem Schlafzimmer auf Falkirk. Das Haar, das ihr ungebändigt über die Schultern fiel, während sie ungeduldig versuchte, die Knöpfe seines Gehrocks zu öffnen. Ihre Wangen, die vor Begierde leicht gerötet waren …

Hastig zog er seine Hand zurück, und die Vision verflüchtigte sich. Woher war sie gekommen? Entsprach sie der Wahrheit? Hatten sie sich geliebt? Verzweiflung ergriff ihn, als die Erinnerungen im Nebel des Vergessens verschwanden wie Traumbilder. Er beugte sich so dicht zu Emily, dass sein Gesicht beinahe ihres berührte und er den Vanilleduft, den ihre Haut verströmte, noch intensiver wahrnahm. „Erzählen Sie mir, warum ich Sie geheiratet habe.“

Verwirrt sah sie ihn an, die Wangen kreideweiß. Dann verschränkte sie die Hände so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten, und hob die Schultern. „Sie haben behauptet, sich um mich kümmern und unserer Familie helfen zu wollen. Und wie eine Närrin klammerte ich mich an die Illusion, dass Sie mich lieben.“

Einen Moment lang betrachtete er sie. Sie wirkte unendlich verloren und verletzlich, und hinter der Maske der Härte und Verbitterung erhaschte er einen Blick auf das Mädchen, das er einst gekannt hatte. Vor langer Zeit war sie seine beste Freundin gewesen – und jetzt war sie seine Frau.

Die drei verlorenen Monate kamen ihm plötzlich wie ein ganzes Leben vor.

„Wie ist es dazu gekommen?“ Er runzelte die Stirn. Hatte er ihr den Hof gemacht? Hatte er aus einer Laune heraus gehandelt, oder war er dazu gezwungen worden?

„Es war kurz nach dem Valentinstag.“ Ihr Tonfall klang leicht ironisch. „In Schottland. Ich habe die Heiratsurkunde, falls Sie mir nicht glauben. Sie können sie gerne sehen.“

„Später vielleicht.“ Auch Dokumente dieser Art konnten gefälscht sein. Er zog es vor, einen vertrauenswürdigen Diener zu entsenden, damit er Einsicht in das Kirchenregister nahm. Denn er befürchtete, keine ehrliche Antwort von ihr zu erhalten, da sie so verzweifelt um das Wohl der Kinder bemüht war.

Es musste sich um eine Art Vereinbarung zwischen ihnen gehandelt haben, doch es schien, dass es für sie mehr gewesen war. Vergeblich versuchte sie, sich seiner Umarmung zu entziehen.

„Haben wir etwas füreinander empfunden?“, drang er weiter in sie. Sie fühlte sich so zerbrechlich an, und er beugte sich so weit vor, dass er ihren Atem im Gesicht spürte. Wenn ich meinen Mund nur ein winziges bisschen tiefer senke, könnte ich ihre Lippen in einem sanften Kuss streifen, dachte er und wartete, dass sie sich gegen ihn zur Wehr setzte und ihn dafür verfluchte, dass er ihr so nahe kam. Doch sie gab keine Antwort. Stattdessen schien ihr Körper sich willig an seinen zu schmiegen, und plötzlich lagen ihre Hände auf seinen Schultern, während er bedächtig über ihren Rücken strich. Die Zeit schien sich zurückzudrehen und Emily wieder das junge Mädchen zu werden, mit dem er im Stall das Küssen erprobt hatte. Doch jetzt hielt er eine Frau in den Armen – eine schöne, temperamentvolle Frau, die ihn um den Verstand brachte, sobald er sie berührte.

Obwohl er es gerne getan hätte, küsste er sie nicht. Zu viele Fragen harrten noch einer Antwort.

Als er einen Schritt zurücktrat, verschränkte Emily abwehrend die Arme vor der Brust. „Werden Sie unsere Ehe annullieren?“

Die Furcht in ihren Augen ließ ihn zögern. Obwohl er am liebsten mit Ja geantwortet hätte, blieb er bei der Wahrheit. „Das weiß ich noch nicht.“

Mit dem Daumen zog er die Konturen ihrer Wangenknochen nach. „Ich muss herausfinden, was mit mir geschehen ist, Emily, und vielleicht ist es doch besser, wenn Sie hierbleiben, bis ich aus London zurückgekehrt bin.“ Er war erstaunt, wie rau seine Stimme klang.

„Wohin sollte ich sonst?“, fragte sie und lächelte traurig.

„Du liebe Güte.“ Christine Chesterfield, Marchioness of Rothburne, presste sich die Hand auf die Brust, als sie ihren Sohn durch die Tür treten sah. Stephen durchquerte den Salon und umarmte seine Mutter, die ihn an sich drückte, bevor sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasste.

„Ich sollte dich auspeitschen lassen. Deinetwegen habe ich mich zu Tode geängstigt. Ich hatte schon befürchtet, dass du von Heiden entführt und auf eine verlassene Insel mitten im Nirgendwo verschleppt worden bist.“

Stephen rieb sich über die brennende Wange und brachte ein Lächeln zustande. Da er sich an nichts erinnerte, konnten die Vermutungen seiner Mutter sich durchaus als zutreffend erweisen. „Ich habe eine Nachricht geschickt, dass ich komme.“

„Du hättest schon viel früher etwas von dir hören lassen müssen. Lord Carstairs’ Ball hast du ohne ein Wort des Abschieds verlassen, was Lady Carstairs, nebenbei bemerkt, über die Maßen verstimmt hat. Und dann warst du seit Februar wie vom Erdboden verschluckt. Selbst die Diener konnten mir nicht sagen, wo du dich aufhältst.“

Lady Rothburne bedeutete ihrem Sohn, sich zu setzen, und schenkte ihnen eine Tasse Tee ein. „Und jetzt erzähl mir, was seitdem vorgefallen ist“, verlangte sie. „Ich bestehe darauf.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ Stephen hob die Schultern. „Ich war auf Falkirk House und habe mich von meinen Verletzungen erholt.“

„Du warst verletzt?“ Die Marchioness wirkte erschrocken. Sie streckte die Hand aus und strich ihrem Sohn reuevoll über die Wange, die sie geohrfeigt hatte. „Vergib mir, Stephen, das habe ich nicht gewusst. Geht es dir wieder gut?“

„Besser. Ich kann mich nur bruchstückhaft an das, was geschehen ist, erinnern. Deswegen bin ich nach London gekommen – um Antworten zu erhalten.“

Lady Rothburne hob ihre Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. „Die Vorstellung, dass irgendein Grobian dir Leid zufügt, beunruhigt mich zutiefst, mein Junge. Ich sollte Lady Thistlewaite um Hilfe bitten.“

Als seine Mutter den Namen ihrer besten Freundin erwähnte, musste Stephen ein Stöhnen unterdrücken. Wie die meisten Frauen verfügte auch Lady Thistlewaite über höchst ergiebige Informationsquellen. Allerdings ließen ihre Methoden stets ein wenig zu wünschen übrig. Er hatte es schon förmlich vor Augen, wie die untersetzte Matrone mit ihrem Sonnenschirm bewaffnet an die Tür eines nichts ahnenden Zeitgenossen klopfte und zu wissen verlangte: „Sind Sie der Barbar, der Lady Rothburnes Sohn einen Schlag gegen den Schädel verpasst hat?“

„Aber davon abgesehen“, fuhr seine Mutter beharrlich fort, „finde ich, dass du am Konzertabend der Yarringtons nächste Woche teilnehmen solltest. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.“ Sie lächelte strahlend und ergriff seine Hand. „Dein Vater und ich bestehen darauf.“

Stephen wurde misstrauisch. „Mutter, ich glaube wirklich nicht …“

„Ach, papperlapapp. Ich weiß genau, was du brauchst. Eine reizende junge Dame an deiner Seite, das ist es. Jemand, die all deine Sorgen mit dir teilt. Und Miss Hereford hat dich wirklich furchtbar vermisst. Außerdem seid ihr beide ein entzückendes Paar. Ich kann es wirklich kaum erwarten, dass ihr eure Verlobung bekannt gebt. Um ehrlich zu sein …“ Vertraulich beugte Ihre Ladyschaft sich vor, wie um ihrem Sohn ein großes Geheimnis mitzuteilen. „Dein Vater und ich haben bereits damit begonnen, die Gästeliste für deine Hochzeit zusammenzustellen. Miss Hereford wird die perfekte Ehefrau abgeben. Und sie ist von untadeliger Herkunft.“

„Hochzeit?“, fragte Stephen verblüfft.

Seine Mutter lachte perlend. „Aber natürlich, mein Sohn. Schließlich bist du einer der begehrtesten Junggesellen des Landes.“

Es schien ihr völlig ernst zu sein mit dem, was sie sagte, und das Blut begann in Stephens Ohren zu rauschen, als ihm die Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde.

Es sah ganz danach aus, als hätte Emily Barrow ihn nach Strich und Faden belogen.

4. Kapitel

Wenn ein Kuchen zu sehr bräunt, bevor er gar ist, war möglicherweise der Backofen zu heiß. Die meisten verbrannten Backwaren sind ein Ergebnis zu großer Hitze. Dabei ist es gar nicht vonnöten, ein Inferno zu entfachen …

– aus dem Kochbuch der Emily Barrow –

Obwohl Whitmore erst seit drei Tagen fort war, wuchs Emilys Sorge um ihn mit jeder Stunde, die verstrich. Ob er wohlauf war und seine Wunden gut verheilten?

Hör auf damit! Sie nahm einen Henkelkorb und die Gartenschere vom Regal und ging in den Küchengarten. Vor dem Kräuterbeet stellte sie ihre Utensilien ab und kniete sich ins weiche Gras. Er ist abgereist, und das hast du dir schließlich gewünscht, beendete sie ihren Gedanken.

Doch gleichgültig, wie sehr sie sich auch bemühte, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, es war nicht mehr dasselbe. Lustlos nahm sie die Gartenschere aus dem Korb und schnitt einen Bund Thymian für das gegrillte Huhn, das sie zuzubereiten gedachte. Normalerweise versetzte die Arbeit im Garten sie in gute Stimmung – sie genoss den Duft der frischen Kräuter und die Geborgenheit, die sie im Schutze der kleinen Gruppe von Lebensbäumen empfand. Heute jedoch fühlte sie sich unsäglich niedergeschlagen.

Was, wenn der Earl nicht zurückkehrte? Oder wenn er sich von ihr scheiden ließ? Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu, und am liebsten hätte sie geweint, aber das gestattete sie sich nicht. Sie musste sich damit abfinden, dass er sie nicht liebte, auch wenn er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Mit dieser Tatsache musste sie schlicht und ergreifend leben.

Sie wusste nicht, wie ihr geschah, als jemand sie plötzlich grob von hinten packte und eine ungeschlachte Hand auf ihren Mund gepresst wurde. Sie wollte schreien, doch der Angreifer schloss die andere riesige Pranke um ihre Kehle. „Keinen Mucks, sonst drück ich zu“, flüsterte er, und stieß sie mit dem Gesicht nach unten auf den feuchten Grund.

Emily bekam kaum Luft, das Herz trommelte ihr vor Angst gegen die Rippen.

„Du weißt, was mit deinem Bruder geschehen ist, richtig?“

Ihr brach der Schweiß aus, als ihr klar wurde, dass Daniels Mörder sie gefunden hatten. Sie versuchte zu nicken.

„Ich will seine Papiere. Alle Aufzeichnungen über seine Geschäfte. Wo sind sie?“ Der Griff über ihren Mund lockerte sich leicht.

„Ich … ich weiß nicht“, stammelte sie und wollte den Kopf heben, um Atem zu holen.

Doch ihr Angreifer drückte sie schon wieder zu Boden, und der Griff um ihre Kehle verstärkte sich. „Lüg mich nicht an.“

„Vielleicht im Haus meines Vaters …“

Bevor sie weiterreden konnte, hörte sie Royces Stimme. „Tante Emily!“

„Kein Wort. Zu niemandem“, hörte sie eine rau geflüsterte Warnung an ihrem Ohr. „Oder den Kindern passiert was.“ Ein Schlag traf sie an der Schläfe, und sie unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Als sie es wagte, sich in die Hocke aufzurichten, war der Mann verschwunden. Wieder rief Royce nach ihr, und mühsam stand Emily auf. Sie haben uns gefunden, dachte sie verzweifelt. Daniels Feinde, möglicherweise sogar der Mann, der ihn getötet hatte.

Sie raffte die Röcke und seufzte, als ihr Blick auf die niedergetrampelten Kräuter fiel. Warum wollte der Fremde die Geschäftspapiere ihres Bruders? Seine Forderung ergab keinen Sinn. Daniels Investitionen hatten sich stets als wirtschaftliche Fehlentscheidungen erwiesen.

Doch in Falkirk House waren sie nicht mehr sicher. Sie durfte nicht zulassen, dass Royce oder Victoria in die Fänge von Daniels Feinden gerieten. Eher würde sie mit den Kindern nach Amerika oder in den Orient fliehen.

Nein, nach London. Sie würde die Kinder nehmen und nach London gehen, wo der Earl sie alle beschützen konnte. Der Gedanke erleichterte sie ebenso sehr, wie er sie in Unruhe versetzte. Sie hasste es, sich auf jemand anderen als sich selbst verlassen zu müssen. Doch in Whitmores Nähe drohte ihnen weit weniger Gefahr.

Ihr gepeinigtes Herz schien protestieren zu wollen, als sie sich vorstellte, wieder bei Stephen zu sein. All seine Versprechungen hatten sich als Lügen entpuppt, und nun sah sie sich in einer Ehe gefangen, die besser niemals geschlossen worden wäre.

Weit mehr allerdings beunruhigte sie ihre Reaktion auf seine Berührung. Obwohl er sie nur umarmt hatte, waren Erinnerungen in ihr wach geworden, die zu vergessen sie unendliche Anstrengung kostete. Prickelnde Schauer durchströmten sie jetzt noch bei dem bloßen Gedanken daran, wie er die Knöpfe ihres Kleides gelöst und die nackte Haut ihres Nackens gestreichelt hatte.

Nein. Nie wieder. Noch in ihrer Hochzeitsnacht hatte sie ihre Lektion gelernt, und eine solche Kränkung würde ihr nicht ein weiteres Mal widerfahren. Es würde ein Leichtes sein, jeglicher Versuchung zu widerstehen, wenn sie die Augen schloss und an all die furchtbaren Dinge dachte, die sie seinetwegen erlitten hatte.

Als sie sich die bevorstehende mehrtägige Reise in der Kutsche ausmalte, biss sie die Zähne zusammen. Royce würde die Fahrt für ein großes Abenteuer halten, während Victoria sicher die ganze Zeit weinen würde. Natürlich konnte man auch mit dem Zug nach London reisen, aber das neue Verkehrsmittel war nichts für sie. Allein der Gedanke an die hohe Geschwindigkeit machte ihr viel zu viel Angst.

Als sie ins Haus kam, fand sie Royce im Foyer vor. Der Junge kauerte auf dem Läufer und blätterte mit geschürzten Lippen in dem Märchenbuch, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Als er sie sah, ging ein Strahlen über sein Gesicht. „Da bist du ja. Liest du mir vor, Tante Emily?“

Obwohl sie seinem Wunsch liebend gern nachgekommen wäre, schüttelte sie den Kopf. „Jetzt nicht. Ich muss dir etwas Wichtiges erzählen. Wir fahren nach London.“

„Um Papa zu finden?“

Sie wusste, dass es Zeit war, Royce die Wahrheit zu sagen. Warum musste ausgerechnet sie diejenige sein, die ihm mitteilte, dass auch sein Vater gestorben war? Schweren Herzens kniete sie sich neben ihren Neffen.

Royce beäugte sie misstrauisch. „Gehst du weg?“

„Nein. Ich muss dir etwas anderes sagen.“ Sie stockte und suchte nach den richtigen Worten. „Royce, dein Vater kommt nicht mehr zurück.“ Sie nahm die Hand des Jungen in ihre.

Royce schüttelte heftig den Kopf. „Doch. Papa hat es mir versprochen, und er hält immer, was er verspricht.“

„Dieses eine Versprechen kann er nicht halten, Royce“, entgegnete sie tieftraurig und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Er ist gestorben, mein Schatz.“

Mit unbewegtem Gesicht sah Royce sie an. „Nein. Du lügst“, sagte er schließlich und entzog ihr seine Hände, um einen Zinnsoldaten aufzuheben, der auf den geflochtenen Läufer gefallen war. Er ahmte einen Schuss nach und tat so, als habe der Soldat einen Feind niedergestreckt.

„Es ist wahr.“ Sie wollte ihn in den Arm nehmen, aber er zuckte zurück.

„Nein. Ich weiß, dass er kommt. Er hat es versprochen.“

Verzweifelt senkte Emily den Kopf, während Royce mit dem Soldaten spielte und so tat, als habe sie gar nichts gesagt. Endlich sah sie auf und drückte sacht seine Schulter. „Wir fahren morgen früh. Pack alles ein, was du mitnehmen willst.“

Augenblicklich änderte sich sein Verhalten. „Ich kann nicht weg. Papa weiß, dass wir hier sind. Wir warten hier auf ihn.“

Emily stand auf. „Ich gehe in die Küche und bitte Miss Deepford, heute Abend dein Lieblingsessen zu kochen.“

„Ich gehe trotzdem nicht“, entgegnete er mit zitternder Stimme.

Sie erwiderte nichts und wandte sich zum Gehen, als sie plötzlich etwas Kleines, Hartes am Rücken traf, das anschließend mit einem Scheppern auf den Boden fiel. Emily sah den Soldaten, den Royce nach ihr geworfen hatte, bückte sich aber nicht, um ihn aufzuheben.

Sie hörte, wie ihr Neffe leise weinte.

Am nächsten Morgen entsandte Stephen Boten in alle Kirchengemeinden entlang der schottischen Grenze. Seine Mutter ging fest davon aus, dass er unverheiratet war, doch er wusste nicht, was er glauben sollte. In gewissen Momenten flackerten schemenhaft Bilder vor seinem inneren Auge auf – von Emily in seinen Armen. Er wusste nicht, ob es Erinnerungen an wirkliche Geschehnisse waren oder nicht. Früher einmal hatte er etwas empfunden für die Frau, die sich hinter der Mauer unüberwindlicher Verachtung verbarg. Trotzdem konnte er nicht glauben, dass er sie geheiratet hatte.

Die Tür zur Bibliothek wurde geöffnet, und sein Vater stand im Durchgang. James Chesterfield, Marquess of Rothburne, trug wie üblich Schwarz. Eine graue Strähne durchzog das dunkle Haar an seinen Schläfen. Er war groß, schlank und durch und durch beseelt von der Überzeugung, von erhabenerer Abstammung als andere Menschen zu sein. Sobald sein Vater einen Raum betrat, gerieten für gewöhnlich sämtliche Anwesenden in den Bann seiner dominanten Ausstrahlung.

Einen Moment lang musterte der Marquess seinen Sohn schweigend. „Würdest du die Güte haben, deine Handlungen zu erklären?“, verlangte er dann ohne Umschweife.

Stephen schluckte den dargereichten Köder nicht. „Freut mich auch, dich wiederzusehen, Vater.“

Keine Begrüßung, kein Zeichen der Zuneigung – häufig hatte Stephen sich gefragt, ob sein Vater überhaupt etwas für seine Kinder empfand. Nach dem Tod von Stephens ältestem Bruder William vor einigen Jahren hatte James so getan, als wäre nichts geschehen. Nie hatte er über die Tragödie gesprochen.

James Chesterfield glaubte an Pflicht und Tradition, und es tat für ihn nichts zur Sache, dass Stephen niemals den Ehrgeiz verspürt hatte, eines Tages selbst einmal den Titel eines Marquess zu tragen. Er war nun einmal der Erbe und hatte die Erwartungen zu erfüllen, die an ihn gestellt wurden.

„Deine Mutter informierte mich, dass du geheiratet hast.“ Unausgesprochen blieben die Worte: ohne meine Erlaubnis.

Stephen vermied es, die Bemerkung seines Vaters zu bestätigen oder zu leugnen. „Die Wahl meiner Ehefrau obliegt allein mir, wie ich meine. Ich benötige deine Erlaubnis nicht.“

„Da irrst du dich aber gewaltig.“ James ging in Positur wie ein militärischer Befehlshaber. „Deine Verantwortung als mein Erbe umfasst auch die Wahl einer geeigneten Frau.“

„Es ist nicht Ungeeignetes an Emily Barrow. Sie ist die Tochter eines Barons.“

„Und ihre Familie ist von Skandalen zerrüttet. Du hättest ebenso gut eine Dienstmagd ehelichen können. Niemand aus der feinen Gesellschaft wird bereit sein, sie zu empfangen.“

Wie zu erwarten, standen für seinen Vater gesellschaftliche Ansprüche an höchster Stelle, und plötzlich erkannte Stephen einen möglichen Grund für seinen Entschluss, ausgerechnet Emily zu heiraten – es war die perfekte Gelegenheit gewesen, sich den väterlichen Wünschen zu widersetzen. James Chesterfield hatte keinen Einfluss auf die Wahl seiner Schwiegertochter gehabt.

„Ist das alles?“ Stephen hielt dem Blick seines Vaters stand.

„Noch nicht ganz. Du sorgst dafür, dass niemand von diesem … Fehltritt erfährt, während ich prüfe, welche Möglichkeiten es gibt, die Ehe zu annullieren. Ich hoffe um deinetwillen, dass ich einen Weg finde.“ Nachdem er seine Anordnungen erteilt hatte, sah der Marquess offenbar keinen weiteren Grund, länger zu verweilen, und ohne ein weiteres Wort verließ er die Bibliothek.

Stephen trat an den Servierwagen mit den Spirituosen und schenkte sich einen Brandy ein. Während er das Glas in den Händen erwärmte, biss er wütend die Zähne zusammen. Der Marquess schien noch nicht begriffen zu haben, dass sein Sohn sich nicht länger Vorschriften machen ließ.

Er trank einen Schluck Brandy und genoss das Gefühl des stillen Trotzes. Ihm wurde bewusst, dass es höchste Zeit war, sich einen eigenen Wohnsitz zu suchen. Zu lange schon litt Stephen darunter, in Rothburne House leben zu müssen, das er eines Tages erben würde. Nach dem Tod seines Vaters würde er dazu verdammt sein, wieder hier zu wohnen, doch er sah keine Notwendigkeit, James Chesterfield weiter zu ertragen, bis dieser Tag gekommen war. Morgen, so versprach er sich, morgen würde er sich um die Angelegenheit kümmern. Sein Leben gehörte ihm, und es kümmerte ihn nicht, was sein Vater von ihm verlangte.

Stephen setzte das Glas ab und dachte an Emily Barrow. In der zarten Hülle verbarg sich eine Frau mit unerschütterlichem Willen – eine gefährliche Frau, die ihm gram war und ihn benutzte, um ihre Nichte und ihren Neffen zu versorgen. So, wie er sie benutzte, um gegen seinen herrschsüchtigen Vater aufzubegehren. Der Gedanke war ernüchternd. Hatte Emily wirklich geglaubt, er würde sie lieben? Warum sollte er eine Frau derart belügen? Die Vorstellung, dass er sich tatsächlich so unehrenhaft verhalten haben könnte, missfiel ihm über die Maßen. Was war nur mit ihm geschehen? Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, als er an das seltsame Puzzle dachte, dessen Teile einfach nicht zusammenpassten.

Er würde Emily nicht aus seinem Leben drängen können, solange er nicht die Antworten hatte.

Wäre Emily im Besitz einer Pistole gewesen – sie hätte sie gegen sich selbst gerichtet.

Seit zwei Tagen saßen sie in einer engen Kutsche zusammengepfercht und hatten nur angehalten, um etwas zu essen oder in einem Gasthaus zu übernachten. Und wie befürchtet, schien Victoria seit dem Aufbruch wild entschlossen, sich die Lunge aus dem Leib zu schreien – Stunde um Stunde. Die Amme Anna tat, was sie konnte, um den Säugling zu beruhigen, aber Victoria wollte einfach nicht aufhören zu weinen.

Und nun war Royce in das Geschrei eingefallen und verlangte lautstark, nach Hause gebracht zu werden. Er drohte sogar damit, fortzulaufen, um seinen Vater zu finden. Stumm zählte Emily bis fünfzig und tröstete sich mit dem Gedanken, dass es nicht mehr weit war nach London. Es hatte zu regnen begonnen, und dicke Tropfen trommelten im Rhythmus der Pferdehufe auf das Dach der Kutsche.

Nachdem Victoria vor Erschöpfung eingeschlafen war und Royce den Kopf auf Emilys Schoß gebettet hatte und so aussah, als würde er ebenfalls jeden Moment einschlummern, kamen die ersten Häuser der Stadt in Sicht. Es wurde bereits dunkel, und als Emily durch das Kutschenfenster spähte, erkannte sie, dass sie an der Themse entlangfuhren, in deren trübem Wasser sich das Licht vereinzelter Gaslaternen spiegelte. Die unvertrauten Gerüche der Metropole erfüllten die Luft und schürten eine tiefsitzende Angst in Emily.

Ich bringe das einfach nicht fertig, dachte sie panisch. Ich kann nicht plötzlich vor der Tür des chesterfieldschen Stadthauses auftauchen und verlangen, meinen Gatten zu sprechen. Doch ihr blieb keine Wahl, denn auf Falkirk waren sie nicht länger in Sicherheit.

Die Kutsche wurde langsamer, dann hielt sie an, und einen Moment später öffnete der Kutscher den Schlag. „Warten Sie hier“, wisperte Emily der Amme zu. Anna nickte und fuhr fort, das Baby im Arm zu wiegen.

Emily konnte nur hoffen und beten, dass Stephen ihnen Schutz gewährte. Es war schon viel zu spät für einen Besuch, und es regnete unaufhörlich. Die beeindruckende Steinfassade der Stadtresidenz der Rothburnes zeichnete sich gegen den mondlosen Himmel ab. Große Fenster reflektierten die gedämpften Lichter der nächtlichen Stadt.

Tapfer ignorierte Emily den Regen und ging zielstrebig auf den Haupteingang zu. Sie betätigte den Klopfer und hielt sich vor Augen, dass sie sich hochmütig wie eine Countess zu verhalten hatte, auch wenn sie sich im Augenblick nicht wie eine fühlte.

Ein Diener öffnete die Tür und musterte sie, als wäre sie eine tote Ratte. Entschlossen hielt Emily dem Blick des Mannes stand. „Treten Sie von der Tür zurück. Ich habe nicht vor, bei diesem Wetter hier draußen stehen zu bleiben.“

Verwirrt blinzelte er. „Der Dienstboteneingang ist auf der Rückseite, Madam.“

„Ich bin wohl kaum eine Dienstbotin.“ Emily machte einen Schritt vorwärts und schob den Lakaien einfach beiseite. „Und wenn meinem Ehemann zu Ohren kommen sollte, wie Sie mich behandeln, können Sie sich auf etwas gefasst machen.“

Der Diener übersah die durchnässte Pelerine, die Emily ihm hinhielt, nachdem sie sie ausgezogen hatte. „Wen soll ich ankündigen?“, fragte er näselnd und machte ein Gesicht, als würde er sie am liebsten auf der Stelle hinauswerfen.

„Ich bin Lady Whitmore.“ Erhobenen Hauptes ging Emily an ihm vorbei. „Und der Earl erwartet unsere Ankunft.“ Dass sie wegen dieser Lüge nicht augenblicklich der Blitz traf und in ein Aschehäufchen auf dem polierten Parkettboden verwandelte, fasste sie als gutes Zeichen auf. Eigentlich war es ja auch keine richtige Lüge gewesen, denn Stephen hatte ja zunächst gewollt, dass sie ihn nach London begleitete. Sie konnte einfach behaupten, ihre Meinung kurzerhand geändert zu haben. Ja, das klang nach einem guten Plan.

„Wie ist Ihr Name?“, fragte sie den Diener.

„Phillips.“ Seine Haltung war so steif wie ein Hutständer.

„Phillips, wir haben eine lange Reise hinter uns. Bitte sorgen Sie dafür, dass unsere Räume vorbereitet werden. Das Küchenpersonal soll den Kindern und mir eine Mahlzeit zubereiten. Wir speisen im Esszimmer.“ Emily verschränkte die Arme vor der Brust, sodass der Diener einen Blick auf den Rubinring an ihrer linken Hand werfen konnte.

Beim Anblick des Familienerbstücks änderte sich Phillips Verhalten schlagartig. „Wenn Sie so freundlich wären, hier zu warten, Mylady. Ich informiere Seine Lordschaft von Ihrer Ankunft.“

Emily legte die Pelerine ab, behielt ihren Hut jedoch in den Händen und begann unruhig auf und ab zu laufen. Etliche Minuten verstrichen, bevor Schritte zu hören waren. Der Diener kehrte zurück, gefolgt von Stephens Vater, dem Marquess of Rothburne. Emily umklammerte ihre Kopfbedeckung so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Mit seiner gebogenen Nase glich der hochgewachsene Marquess einem Falken. „Was geht hier vor, Phillips?“, verlangte er von dem Lakaien zu wissen, während er Emily von oben bis unten musterte.

„Ich bin hier, um meinen Mann zu sehen.“ Emily umklammerte ihren Ehering.

Lord Rothburne nickte dem Diener zu. „Lassen Sie uns einen Augenblick allein.“

Emily war sofort klar, dass der Marquess alles daransetzen würde, sie loszuwerden. Ob man Stephen überhaupt von ihrer Ankunft informiert hatte? Es war nicht sehr wahrscheinlich, wenn sie Phillips’ selbstgefälliges Grinsen richtig deutete. Angst wallte in ihr auf, gefolgt von Verzweiflung. Nach dem Skandal um ihre Familie hatte sie keine Freunde mehr in London, keine Zufluchtsstätte. Deswegen durfte sie sich nicht von Lord Rothburne fortschicken lassen.

„Sie sind in diesem Haus nicht willkommen“, sagte er ohne Umschweife. „Und vom Vermögen meines Sohnes werden Sie keinen Penny erhalten.“

„Ich will sein Geld nicht. Ich brauche es nicht.“

Missbilligend musterte der Marquess Emilys verblichenes Kleid, doch so leicht ließ sie sich von seinem überheblichen Gebaren nicht einschüchtern. Sie straffte die Schultern. Ihr blieb keine Wahl, sie musste für die Kinder kämpfen. Wenn sie nach Falkirk zurückkehrten, würden Daniels Feinde sie ausfindig machen.

„Ich wünsche, den Earl zu sehen“, erklärte sie fest.

Verärgert verschränkte Lord Rothburne die Arme vor der Brust. „Mir ist gleichgültig, was Sie wünschen. Mein Sohn möchte Sie nicht mehr sehen, und falls Sie nicht freiwillig gehen, werde ich Phillips beauftragen, Sie zu entfernen.“

Emily musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut nach Whitmore zu rufen in der Hoffnung, dass er auftauchen und sie retten würde.

Auf ein Nicken des Hausherrn hin eilte der Diener herbei und öffnete die Tür. Immer noch pladderte der Regen auf das Kopfsteinpflaster.

„Bitte“, wandte Emily sich flehentlich an den Marquess. „Lassen Sie mich nur einen Moment zu ihm. Ich bin nicht gekommen, um Ärger zu machen.“ Von draußen drang Victorias neuerliches Weinen an ihre Ohren, so laut, dass es sogar die Geräusche der Londoner Straßen übertönte.

Eisiges Schweigen war die Antwort. Unbewegten Gesichts stand Rothburne da und sah sie an. Fröstelnd machte Emily einen Schritt rückwärts, dann noch einen und noch einen, bis sie den kalten Regen auf ihrem Gesicht spürte. Phillips warf ihr die Pelerine zu, die sie auffing, als die Tür laut ins Schloss fiel.

Sie sah zu den beleuchteten Fenstern hinauf, ohne sich darum zu kümmern, dass sie bis auf die Haut durchnässt war. Whitmore war ihr nicht zu Hilfe geeilt. Was hatte sie eigentlich erwartet?

Wie betäubt kehrte sie zur Kutsche zurück, ohne den blassesten Schimmer, was sie als Nächstes tun sollte. Sie zog ihre Pelerine an und setzte den Hut auf, dann band sie die feuchten Bänder zu einer Schleife und stieg ein.

„Gehen wir hinein, Mylady?“ Anna drückte Victoria an ihre Schulter.

Autor

Michelle Willingham
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Deb Marlowe wuchs im Bundesstaat Pennsylvania auf und hatte stets ihre Nase in einem Buch. Glücklicherweise hatte sie genug Liebesromane gelesen, um ihren eigenen Helden auf einer Halloween Party am College zu erkennen. Sie heirateten, zogen nach North Carolina und bekamen zwei Söhne. Die meiste Zeit verbringt Deb Marlowe an...
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