Historical Lords & Ladies Band 91

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EIN EARL AUF BRAUTSCHAU von ANN ELIZABETH CREE
Als Claire auf dem Ball den Earl of Rotham wiedersieht, steigt ihr das Blut in die Wangen: Er ist so arrogant und gefährlich attraktiv wie damals! Sie ahnt nicht, dass Jack von ihr bald weit mehr als einen Tanz verlangt: Der Earl sucht eine Braut – Liebe sucht er nicht …

LIEBE, RAUB UND LEIDENSCHAFT von MARGUERITE KAYE
Was für ein Schock: Henrietta erwacht im Bett des Earl of Pentland! Angeblich hat der berüchtigte Wüstling sie gefunden, nachdem ein Einbrecher sie niederschlug. Als Henrietta plötzlich selbst des Diebstahls beschuldigt wird, erweist der Earl sich erneut als ihr Retter in der Not … mit äußerst unschicklichen Methoden!


  • Erscheinungstag 13.05.2022
  • Bandnummer 91
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511230
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ann Elizabeth Cree, Marguerite Kaye

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 91

PROLOG

John Alexander Grenville, genannt Jack, seines Zeichens sechster Earl of Rotham, warf die Karten auf den Tisch. „Dein Spiel.“ Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln schob er seinen Einsatz seinem Großcousin Sir Frederick Brenton zu und lehnte sich im Stuhl zurück.

Frederick starrte die Chips an, als befürchte er, sie würden ihn beißen. „Verflixt, Jack. Du bist wohl betrunkener, als ich dachte. Sonst verlierst du nie!“

„Entweder das oder er ist verliebt“, sagte Harry Devlin scherzend. Er hob die Augenbrauen und musterte Jack amüsiert. „Ich habe dich noch nie so schlecht spielen sehen.“

„Von verliebt kann wohl keine Rede sein“, erwiderte Jack. Eine steile Falte bildete sich zwischen seine schwarzen Augenbrauen. Er winkte dem Kellner und bestellte eine weitere Flasche des hervorragenden Rotweins.

Die drei Männer befanden sich in einem Privatsalon des Weston’s – einem exklusiven Klub in London. Seit dem frühen Abend spielten sie bereits. Inzwischen war es drei Uhr morgens, und mehrere geleerte Flaschen standen auf dem Tisch, doch immer noch dachte keiner daran, den Abend zu beenden. Alle drei hatten mittlerweile ihre Gehröcke abgelegt, und Frederick machte einen reichlich zerzausten Eindruck. Harry hingegen hatte nichts von seiner blendenden Eleganz eingebüßt. Auch Jack wirkte, als hätte ihm der Alkoholgenuss nichts anhaben können. Lediglich der feurige Ausdruck in seinen gewöhnlich so kühl blickenden grauen Augen verriet, dass er nicht mehr ganz so nüchtern war, wie es den Anschein hatte.

„Nun, ich werde mein Glück nicht hinterfragen“, sagte Harry. Er war groß, breitschultrig, mit blondem Haar und verträumt blickenden blauen Augen. „Allerdings frage ich mich sehr wohl, ob es weise ist, eine vierte Flasche Wein zu genießen. Ihr habt morgen wohl nichts vor, nehme ich an.“

„Nein“, sagte Jack. Wenn man einmal davon absah, dass seine Stiefmutter und Lady Arundel, seine Großmutter mütterlicherseits, ihren Besuch angekündigt hatten, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten und daher natürlich nicht gemeinsam kamen. Der Gedanke an die bevorstehende doppelte Heimsuchung weckte in Jack den Wunsch, sich einen Rausch anzutrinken. Allerdings befürchtete er, die beiden Damen würden in diesem Fall seinen verkaterten Zustand zu ihren Gunsten ausnutzen.

Unvermittelt setzte er sich auf. Jegliche Gleichgültigkeit in seiner Miene war einem ungehaltenen Ausdruck gewichen. „Dieses verfluchte Testament. Es ist heute eröffnet worden.“

„Welches Testament?“, fragte Frederick.

„Das meines Großonkels“, antwortete Jack. Er sah zu, wie der Kellner die Flasche auf den Tisch stellte, dann griff er danach und schenkte sich ein.

„Vermutlich willst du dich aus Dankbarkeit ihm zu Ehren bis zur Besinnungslosigkeit betrinken“, sagte Harry.

Jack hob sein Glas. „Ja, Großonkel Hughs Letzter Wille gibt mir reichlich Anlass dazu, aber nicht aus Dankbarkeit.“

„Hat er dir Blydon Castle etwa nicht vermacht?“, erkundigte sich Harry.

Jack lachte bitter auf. „Oh, doch. Es gehört mir. Vorausgesetzt, ich erfülle die Bedingungen.“ Es überraschte ihn, dass seine Stimme trotz des vielen Weines so klar wie immer klang.

Harry beugte sich vor. „Und die wären?“

„Ich muss mich innerhalb der nächsten sechs Wochen vermählen und mit meiner Gemahlin die darauffolgenden sechs Monate in Blydon Castle verbringen.“

Frederick stand vor Erstaunen der Mund offen. „Donnerwetter!“

„Du sagst es!“ Jack lächelte freudlos.

Auch Harry sah ihn verblüfft an. „Faszinierend. Also hat dein Großonkel Hugh doch noch einen Weg gefunden, dir seinen Willen aufzuzwingen. Liegt dir denn so viel an dem Anwesen?“

Jack senkte den Blick. „Ja.“ Er hatte sich als kleiner Junge auf den ersten Blick in Blydon Castle verliebt. Es war das Inbild seiner Kindheitsträume von Rittern und Drachen und schönen Maiden. Grau und vom Wind umtost, lag die Burg in der Grafschaft Kent in der Nähe des Meeres. Zwar mangelte es dem Anwesen an vielen der modernen Annehmlichkeiten, aber das war Jack einerlei. In Blydon Castle fühlte er sich zu Hause. Er betrachtete es weit mehr als sein Heim als Grenville Hall, den biederen, gediegenen Landsitz seiner Familie.

„Du willst dir die Fesseln der Ehe anlegen lassen?!“, rief Frederick. „Lieber Himmel, doch nicht du!“

„Und wer wird die Glückliche sein? Sylvia?“, fragte Harry.

„Unmöglich. Sie ist die Witwe eines Bürgerlichen“, warf Frederick ein.

Jack betrachtete ihn verärgert. „Das wäre mir gleich. Allerdings wird sie unsere Freundschaft gewiss nicht durch eine Ehe ruinieren wollen.“ Seine ehemalige Mätresse war klug und liebreizend, doch sie verspürte nicht den geringsten Wunsch, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Außerdem trauerte sie immer noch um ihren verstorbenen Gatten, der die Liebe ihres Lebens gewesen war.

„Gewiss wird es keinen Mangel an Bewerberinnen geben, wenn erst bekannt wird, dass du eine dauerhaftere Verbindung anstrebst“, meinte Harry.

„Ja, sicher wird jede Dame entzückt darüber sein, ein halbes Jahr in einer zugigen Burg verbringen zu müssen“, erwiderte Jack spöttisch. Ebenso wenig entzückte ihn die Aussicht, sechs Monate mit einer Gemahlin zu leben.

„Der Titel und dein beträchtliches Vermögen werden den Verzicht auf Komfort sicherlich mehr als wettmachen.“

Jack lachte sarkastisch. „Du hast solch eine charmante Art und Weise, dich auszudrücken.“

„Lady Arundel wird dir vermutlich keine Ruhe lassen, bis du dir eine Braut gewählt hast.“ Schaudernd trank Frederick einen Schluck aus Jacks Glas.

Jack nahm ihm das Glas aus der Hand. „Zweifellos.“

„Dir bleibt nicht viel Zeit.“ Harry amüsierte sich ganz eindeutig über seine missliche Lage. Am liebsten wäre Jack aufgesprungen, hätte ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, bis Harry das unverschämte Grinsen vergangen wäre.

„Und welche Prioritäten willst du bei der Wahl deiner Braut setzen? Schönheit? Verstand? Vermögen? Figur?“

„Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht sollte mir jede Bewerberin schriftlich ihre Qualitäten darlegen. Genauso gut könnte ich mir meine Braut bei einer von Großmutters Fächerlotterien auslosen lassen.“

Lady Arundel liebte es, bei Bällen eine sogenannte Fächerlotterie zu veranstalten. Dabei wurden die Damen eingeladen, ihre Fächer auf einen Tisch zu legen. Anschließend wurden die Herren gebeten, einen Fächer auszuwählen, um so ihre Partnerin für den nächsten Tanz zu bestimmen. Beim letzten Ball hatte Jack von mehreren Damen Hinweise erhalten, welchen Fächer er wählen solle.

Ein kühles Lächeln umspielte seine Lippen. Warum eigentlich nicht? Letztendlich würde es kaum einen Unterschied machen, welche Dame er zur Braut wählte. Die Ehen seines Vaters – zuerst eine Vernunftehe, mit Jacks Mutter, mit der ihn kaum gemeinsame Interessen verbunden hatten, und danach eine Liebesheirat mit einer hübschen, aber selbstsüchtigen Frau, die halb so alt war wie er – hatten Jack dies gelehrt.

Er bemerkte, dass Harry und Frederick ihn fragend anblickten, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. „Ich habe beschlossen, mir meine Braut mithilfe einer Fächerlotterie zu wählen. Meine Großmutter wird eine bei ihrem Ball in der nächsten Woche abhalten. Die Dame, deren Fächer ich ziehe, werde ich ehelichen.“

Frederick schnappte nach Luft. „Das kannst du doch nicht machen! Keine Dame heiratet einen Mann, der sie mithilfe einer Lotterie ausgewählt hat.“

„Das muss sie ja nicht unbedingt erfahren.“

Auch Harry blickte skeptisch. „Wie willst du sicherstellen, nicht an eine ältliche Matrone zu geraten? Ich nehme doch an, du möchtest einen Erben.“

Jack zog die Stirne kraus. Einen Erben? Daran hatte er bislang keinen Gedanken verschwendet. „Ich werde meine Großmutter bitten, nur ledige Damen zwischen achtzehn und dreißig Jahren an der Lotterie teilnehmen zu lassen.“

Harry lachte. „Das lässt immer noch viel zu viele Möglichkeiten offen. Was ist, wenn du den Fächer einer mageren Bohnenstange mit unzähligen Sommersprossen und einem nervenaufreibenden Lachen ziehst? Oder den einer Witwe mit wenig schmeichelhaftem Ruf? Würdest du dich dennoch mit der betreffenden Dame vermählen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Fünftausend Pfund, wenn du tatsächlich die Dame heiratest, deren Fächer du wählst. Und dazu das Fohlen, das du mir neulich abkaufen wolltest.“

„Und wenn ich mich nicht mit ihr vermähle?“

„Dann schuldest du mir fünftausend Pfund und deinen schwarzen Hengst.“

Satan? Einen Augenblick lang zögerte Jack. Er besaß das Pferd, seit es ein Fohlen war. Doch seine Spielernatur gewann schließlich die Oberhand. Es gab zahlreiche Damen und ehestiftende Mütter, die ihm zu verstehen gegeben hatten, dass ein Heiratsantrag von ihm sehr willkommen wäre. Und bisher hatte er die Frauen, an denen er interessiert war, noch immer mühelos erobern können. „Abgemacht.“

Doch als er das Weston’s im frühen Morgenrot verließ, wurde ihm plötzlich bewusst, wie sehr er sich getäuscht hatte. Denn es gab durchaus eine Dame, die seinen Antrag entschlossen abgelehnt hatte. Unerwartet stieg Verbitterung in ihm auf. Sie hatte ihn zurückgewiesen, obwohl sie damit riskierte, ihren guten Ruf zu verlieren.

1. KAPITEL

Claire Ellison lugte in Lady Arundels Salon. Erleichtert stellte sie fest, dass sich niemand in dem Raum aufhielt. Vermutlich genossen die meisten Gäste derzeit im Ballsaal das Souper. Sie selbst hatte sich entschuldigt, in der Hoffnung, ihren Fächer wiederzufinden, bevor der Tanz begann.

Mit raschen Schritten ging Claire zu der gestreiften Chaiselongue, auf der sie vor wenigen Augenblicken gesessen hatte, und ließ suchend den Blick darüber schweifen. Doch ihren alten, ausgeblichenen Fächer entdeckte sie nicht.

Nachdenklich nagte sie an der Unterlippe, noch nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Vielleicht ist er während der Unterhaltung mit Harry heruntergefallen, überlegte sie.

Gewissenhaft darauf achtend, ihr elegantes Ballkleid nicht zu zerknittern, kniete sie sich nieder und blickte unter die Chaiselongue. Doch auch dort lag er nicht. Als sie sich wieder aufsetzte, brannten törichterweise Tränen in ihren Augen. Sie war sich so sicher gewesen, ihn hier zu finden.

Der Fächer war ein Geburtstagsgeschenk ihrer Mutter. Gewöhnlich benutzte Claire ihn nicht, doch heute hatte sie aus einem Impuls heraus in letzter Minute danach gegriffen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in London nahm sie mit ihrer Schwägerin und ihrer Nichte an einem Ball teil, und aus unerfindlichen Gründen benötigte sie zu diesem Anlass die tröstliche Geborgenheit, die er ihr spendete.

Sie erhob sich und versuchte ihr Kleid zu glätten, das nun eine Reihe feiner Fältchen aufwies. Ob jemand den Fächer an sich genommen hat? Doch sie verwarf den Gedanken sogleich, denn wer würde schon einen altmodischen Fächer haben wollen, dessen Elfenbeingriff noch dazu an einer Ecke abgesplittert war. Sie könnte sich bei einem von Lady Arundels Lakaien erkundigen, möglicherweise hatte auch Harry ihn für sie eingesteckt. Er war im Zimmer zurückgeblieben, als sie von der Chaiselongue aufgesprungen und davongeeilt war, nachdem er sie in seiner unverblümten Weise hatte wissen lassen, dass Lord Rotham eingetroffen sei. Plötzlich hatte sie in dem kleinen Raum, der bloß über eine Tür verfügte, keine Luft mehr bekommen. Sie wollte nur noch eines – sich in die Sicherheit des belebten Ballsaales flüchten, wo sie sich in der Menge der Gäste verlieren konnte.

Zwar nahm sie nicht an, dass Lord Rotham sie wiedererkennen würde. Für ihn war sie gewiss nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung. Dennoch wünschte sie inständig, sie hätte die Einladung zum Ball ablehnen können. Lady Arundel war Lord Rothams Großmutter, daher war damit zu rechnen gewesen, dass er unter den Gästen weilte. Allerdings war Lady Arundel auch die Patin ihrer Schwägerin Jane und stets sehr freundlich zu Claire gewesen, weshalb sie sich zum Kommen verpflichtet gefühlt hatte.

Ein Seufzer entfuhr ihr. Sie sollte sich auf die Suche nach Harry machen und ihn fragen, ob er ihren Fächer an sich genommen hatte. Danach wollte sie sich den restlichen Abend in einer Ecke verkriechen und darauf hoffen, Lord Rotham nicht zu begegnen.

„Pardon, ich hoffe, ich störe nicht“, erklang in diesem Moment eine kühle männliche Stimme hinter ihr.

Claire gefror das Blut in den Adern, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Oh, nein, das kann nicht sein! dachte sie. Das Schicksal war gewiss nicht so grausam, sie auf diese Weise zusammenzuführen. Doch seine unverwechselbare, kultivierte Stimme erkannte sie selbst nach sechs Jahren auf Anhieb.

„Nun? Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“

„Nein.“ Langsam drehte sie sich um und zwang sich, Lord Rotham fest in die Augen zu schauen.

Er hatte sich sehr verändert. Natürlich war er älter, reifer geworden. Seine Gesichtszüge wirkten markanter und härter. Die Schultern, betont durch den schwarzen Abendfrack, erschienen ihr noch breiter als früher. Aber am meisten machte sich die Veränderung in seinen Augen bemerkbar. Sein Blick war undurchdringlich und unnahbar. Das Lachen, das ihrer Erinnerung nach immer in seinen Augen gefunkelt hatte, war verschwunden.

Bedächtig ließ er den Blick über ihr Gesicht schweifen. Zuerst schien es, als würde er sich nicht an sie entsinnen, dann aber sah sie den Schrecken der Erkenntnis in seinen Augen aufflackern.

„Claire! Was zum Teufel tust du hier?“

„Ich … man hat mich eingeladen.“

Unverwandt ruhte sein Blick auf ihr. „Ich hätte angenommen, dieses Haus sei der letzte Ort in London, den du betreten würdest. Mein Haus selbstverständlich ausgenommen.“

„Ich wusste nicht, dass Sie zugegen sein würden.“ Ihr Kopf war plötzlich wie leer gefegt, es schien ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Seine Miene versteinerte. „Und warum sollte ich nicht zugegen sein? Die Gastgeberin ist meine Großmutter.“

„Natürlich. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden, M … Mylord.“ Die standesgemäße Anrede, die sie so selten benutzt hatte, ließ ihre Zunge stolpern.

Statt jedoch beiseitezutreten, machte er einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück und spürte die Chaiselongue an ihren Beinen.

„Warum bist du hier, Claire?“

„Ich sagte bereits, ich wurde eingeladen.“

„Das war nicht die Frage. Ich möchte wissen, warum du überhaupt in London weilst.“

Sein Tonfall gab zu erkennen, dass er der Ansicht war, sie habe in seiner Nähe nichts verloren. Herausfordernd reckte sie das Kinn. „Ich lebe bei meiner Schwägerin, solange Edward sich in Brüssel aufhält. Ich nehme an, dagegen haben Sie nichts einzuwenden?“

„Nein, ganz und gar nicht. Mir ist gleich, was du tust.“

„Dann werden Sie mich jetzt wohl sicherlich auch vorbeilassen.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, damit er nicht merkte, wie sehr sie seine Worte kränkten. Sie tat einen Schritt zur Seite und wollte an ihm vorbeigehen.

Unvermittelt schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk. „Nein.“

„Wie bitte?“ Konsterniert blickte sie auf seine schlanken, starken Finger, und ein Schauder durchzuckte sie. Als sie zu ihm aufsah, nahm sie einen Hauch Cognac in seinem Atem wahr.

„Nein.“ Er musterte sie eindringlich. In seinen Augen stand ein seltsames, fast verwegenes Funkeln. „Wirst du an der Fächerlotterie teilnehmen?“

„Der Fächerlotterie?“ Zuerst wusste sie nicht, wovon er sprach. Dann aber fiel ihr ein, dass ihre Nichte Dorothea ihr davon erzählt hatte. Seit drei Tagen sprach sie von nichts anderem. „Nein. Ich mache mir nichts aus solchen Dingen.“

„Tatsächlich? Vermutlich ist das auch besser so.“

„Bitte lassen Sie mich los.“ Sie zitterte unmerklich, wusste jedoch nicht, ob Furcht oder eine gänzlich andere Empfindung dafür verantwortlich war.

„Nur, wenn du mir den nächsten Tanz versprichst.“

„Den nächsten Tanz?“ Er musste beschwipst sein. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, indes schlossen sich seine Finger daraufhin nur noch fester um ihren Arm. „Warum? Wieso sollten ausgerechnet Sie mit mir tanzen wollen?“

„Aus Neugier womöglich.“ Er klang gelangweilt.

„Ich bedaure, aber ich teile diese Neugier nicht. Ich hege nicht den geringsten Wunsch, mit Ihnen zu tanzen.“ Aus dem Ballsaal drangen Stimmen und Gelächter zu ihnen. Das Souper war beendet. Unvermittelt ergriff sie Panik. „Lassen Sie mich bitte los. Sie tun mir weh.“

Er ließ ihre Hand so rasch los, als hätte er sich daran verbrannt. Über seine Schulter hinweg sah Claire, wie zwei Damen den Salon betraten. Gleich darauf hielten sie mit erstauntem Blick inne. Mit Unbehagen erkannte Claire in der einen Dame Lady Coleridge, eine Bekannte ihrer Schwägerin.

Lady Coleridge stand die Missbilligung ins Gesicht geschrieben. „Ich fürchte, wir haben ein Stelldichein unterbrochen.“

Claire errötete. „Keineswegs. Ich wollte gerade gehen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Mylord.“ Dieses Mal ließ er sie passieren. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte sie an ihm vorbei.

Als sie den Ballsaal erreichte, bebte sie am ganzen Körper, und ihr Herz schlug so rasend schnell, als wäre sie soeben nur um Haaresbreite einem erbitterten Feind entflohen. Was womöglich sogar zutreffend war. Verborgen hinter einer Säule, lehnte sie sich an die Wand und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen, während das Orchester einen fröhlichen Ländler spielte.

Oh, warum musste sie ihm ausgerechnet in einem Moment wiederbegegnen, in dem sie allein war? Selbstverständlich hatte sie angenommen, bei einem eventuellen Wiedersehen in Gesellschaft zu sein, und sich vorgenommen, ihn knapp zu grüßen, so als ob sie sich kaum an ihn erinnern konnte. Stattdessen hatte sie wie zur Salzsäule erstarrt sprachlos vor ihm gestanden. Dass sein Anblick sie nach sechs Jahren immer noch derart durcheinanderbrachte, hatte sie nicht erwartet.

Die Musik verklang, und die Paare verließen die Tanzfläche. Sie musste Jane suchen. Wahrscheinlich machte sich ihre Schwägerin bereits Sorgen um sie.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Claire, größer zu sein, denn sie konnte kaum bis zur anderen Seite des Saales blicken. Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge und entdeckte Jane schließlich mit Dorothea am hinteren Ende des Raumes.

Jane wandte sich ihr zu, als Claire sich zu ihnen gesellte. Sie war zierlich, hatte blondes Haar und bot in ihrem roséfarbenen Ballkleid einen bezaubernden Anblick. „Claire! Du warst lange weg. Ich fürchtete schon, dir sei etwas zugestoßen.“ Prüfend musterte sie ihre Schwägerin. In ihren blauen Augen stand Sorge. „Oh, Claire! Ich sehe es dir an, etwas ist geschehen. Was ist es?“

Claire zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte Jane nicht bekümmern, indem sie ihr von dem Vorfall mit Lord Rotham erzählte. „Nichts von Bedeutung. Ich kann lediglich meinen Fächer nicht finden. Aber vielleicht hat Harry ihn ja auch eingesteckt.“

Jane krauste die Stirn. „Als wir vor dem Tanz zusammenstanden, hat er zwar nichts dergleichen erwähnt, dennoch könnte er ihn natürlich bei sich tragen.“ Sie tätschelte sacht Claires Hand. „Sorge dich nicht. Ich bin sicher, wir werden ihn finden.“

„Das hoffe ich.“

Dorothea schenkte ihnen ein fröhliches Lächeln. Sie war ebenso blond wie ihre Mutter, hatte strahlend blaue Augen und ein lebhaftes Wesen, das ihr eine erfolgreiche erste Saison verhieß. „Die Fächerlotterie wird gleich beginnen, Tante Claire! Ich glaube, das wird ein großer Spaß.“

„Vermutlich“, sagte Claire. Lord Rothams seltsame Frage, ob sie daran teilnehmen wolle, schoss ihr durch den Kopf. Allerdings hatte das gesamte Gespräch sie so sehr aufgewühlt, dass sie sich kaum an die genauen Worte erinnern konnte.

In diesem Augenblick öffneten sich die Türen des Ballsaals, und zwei Lakaien trugen einen mit aufwendigen Schnitzereien versehenen Tisch aus Kirschbaumholz herein. Die Menge teilte sich, um den beiden Dienstboten Platz zu machen.

Nachdem der Tisch in der Mitte des Raumes abgestellt war, trat Lady Arundel vor. Sie war mollig, hatte rosige Wangen, und man sah ihr das Alter von sechzig Jahren nicht an. Sie wartete, bis Schweigen einkehrte, dann erhob sie die Stimme. „Für den nächsten Tanz werden die Gentlemen durch das Ziehen eines Fächers ihre Tanzpartnerin auswählen. An diesem Abend gehen wir jedoch ein wenig anders vor. Zunächst wurden nur ledige Damen zwischen achtzehn und dreißig Jahren aufgefordert, ihre Fächer auf den Tisch zu legen.“

Erstauntes Gemurmel war zu vernehmen. „Das halte ich nicht für gerecht!“, beschwerte sich eine stämmige Matrone in lilafarbenem Satin.

„Moment!“ Lady Arundel hob die Hand. „Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, werden ausschließlich ledige Männer einen Fächer ziehen.“

„Heißt das etwa, wir sind zu mehr als einem Tanz verpflichtet?“, rief einer der Herren. Die Bemerkung wurde mit beifälligem Gelächter aufgenommen.

„Nein, es sei denn, Sie verspüren diesen Wunsch.“ Lady Arundel lächelte. „Mein Enkel hat darum gebeten, als Erster seine Wahl treffen zu dürfen.“

Ihr Herz tat einen Satz, als Claire Lord Rotham mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule im hinteren Teil des Raumes lehnen sah. Er machte den Eindruck, als öde ihn diese Angelegenheit entsetzlich an. Gemächlich richtete er sich auf und ging zur Mitte des Raumes, blieb am Tisch stehen und musterte die darauf liegenden Fächer. Claire beobachtete, wie er den Tisch umrundete. Er nahm einen Fächer auf und legte ihn gleich wieder zurück. Seine Miene drückte Gleichgültigkeit aus, aber seine gestrafften Schultern verrieten eine gewisse Anspannung. Ihr kam das merkwürdig vor. Es schien fast, als wäre es von größter Bedeutung, welchen Fächer er wählte. Im Raum herrschte Grabesstille, alle hielten gemeinsam den Atem an.

Schließlich nahm er einen Fächer vom Tisch, schlug ihn auf und hielt ihn hoch. „Würde die Besitzerin dieses Fächers bitte vortreten?“

Niemand rührte sich. Vor Claire stand eine große Frau mit einem riesigen Turban auf dem Kopf und versperrte ihr die Sicht.

Dorothea reckte sich und fasste Claire am Arm. „Claire, ich glaube, er hält deinen Fächer in der Hand.“

„Meinen Fächer? Das kann nicht sein!“

„Aber er ist es. Ich bin mir ziemlich sicher. Schau selbst.“

Mit bangem Herzen trat Claire an der Dame mit dem Turban vorbei und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es war tatsächlich ihr Fächer. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie den vertrauten Anblick der verblassten Rosen und des gelb gewordenen Elfenbeins gut erkennen. Wie war das möglich?

Jane trat neben sie. „Oh, Claire. Dorothea hat recht. Das ist dein Fächer.“

Claire blieb wie angewurzelt stehen. Die Gäste in ihrer Nähe tuschelten und warfen ihr auffordernde Blicke zu. Lord Rotham wartete mit undurchdringlicher Miene.

Dorothea berührte sie leicht am Arm. „Du musst zu ihm gehen, Tante Claire. Du kannst ihn nicht einfach so stehen lassen.“

„Das kann ich nicht“, flüsterte Claire.

„Claire, geh bitte“, sagte auch Jane. Sie war beinahe ebenso bleich geworden und blickte so erschrocken drein, wie Claire sich fühlte. „Es wäre eine unverzeihliche Beleidigung, wenn du es nicht tätest.“

Schritt für Schritt zwang Claire ihre zitternden Beine vorwärts. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum. Ihr Herz klopfte stürmisch, und ihr wurde schwindelig. Sie hoffte nur, dass sie sich nicht vollends blamierte, indem sie vor der Hälfte der Gesellschaft in Ohnmacht fiel.

Lord Rotham stand so reglos wie eine in Stein gemeißelte Statue, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet. Als sie ihn erreichte, sah er sie von oben herab an. Sie hatte keine Ahnung, was er wohl denken mochte. Seine Augen musterten sie kühl und verrieten seine Gefühle nicht. „Offenbar wirst du nun doch noch mit mir tanzen“, sagte er frostig.

„Es hat den Anschein, Mylord.“ Sie versuchte, ebenso kühl zu klingen wie er.

Der Lakai hüstelte, und Lord Rotham schreckte auf, als hätte er vergessen, dass sie mitten in einem Ballsaal standen. Er wandte sich den Gästen zu. „Gentlemen, bitte wählen Sie einen Fächer.“

Dann nahm er ihren Arm und zog sie vom Tisch fort, während die männlichen Gäste sich um die verbleibenden Fächer drängten. Einige Schritte vom Tisch entfernt blieb Lord Rotham stehen. Ein spöttischer Glanz schimmerte in seinen grauen Augen. „Welch unglückliche Entscheidung, dass Sie es sich offenbar anders überlegt und Ihren Fächer doch noch auf den Lotterietisch gelegt haben.“

„Das habe ich nicht.“

Er betrachtete den Fächer in seiner Hand. „Ach, ist dies etwa gar nicht Ihr Fächer?“

„Natürlich ist es mein Fächer. Ich habe ihn jedoch nicht auf den Lotterietisch gelegt.“

Ungläubig hob er die Brauen. „Nicht? Womöglich hat er es selbst getan.“

Errötend reckte sie das Kinn. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ich habe ihn verloren. Jemand muss ihn gefunden und …“

„… ihn freundlicherweise auf den Tisch gelegt haben“, fuhr er an ihrer Stelle fort. Seine Stimme verriet, dass er ihr kein einziges Wort glaubte.

Auch Wut hörte sie aus seinen Worten. Und das verwunderte sie. Er hätte dankbar sein sollen, vor sechs Jahren einer Zwangsheirat mit dem jungen Mädchen entgangen zu sein, aus dem er sich nichts machte. Sie schlang die Hände ineinander.

„Bitte, Mylord, wir sollten hier nicht streiten.“

„Möchten Sie das Gespräch anderswo fortsetzen?“

„Nein“, sagte sie leise. Die Lakaien hatten inzwischen den Tisch wieder hinausgebracht, und das Orchester begann die ersten Takte eines Menuetts zu spielen.

Lord Rotham nahm ihren Arm. „So sehr es Ihnen verhasst sein mag, Sie sind mir für diesen Tanz verpflichtet.“

Sein herablassender Ton traf sie zutiefst, weshalb sie wie angewurzelt auf der Stelle verharrte. „Ich hege nicht den Wunsch, mit Ihnen zu tanzen, Mylord. Würden Sie mir bitte meinen Fächer wiedergeben?“

Er lächelte flüchtig. „Nein. Erst nach dem Tanz. Sie haben keine Wahl. Es sei denn, Sie möchten eine Szene machen.“

Er führte sie zur Tanzfläche, verbeugte sich galant und griff nach ihrer Hand. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, aber in seinen Augen entdeckte sie keinerlei Herzlichkeit. „Die Höflichkeit gebietet, dass Sie zumindest vorgeben, erfreut darüber zu sein, mit mir zu tanzen, Mrs. Ellison. Selbst wenn Sie Ihren Fächer nicht, wie Sie behaupten, auf den Lotterietisch gelegt haben.“

„Können Sie mich nicht bitte in Frieden lassen“, sagte sie leise. Seine fortdauernden beißenden Bemerkungen raubten ihr allmählich die Fassung. Warum tat er ihr das an? Unzählige Male hatte sie sich ihr Wiedersehen in ihrer Vorstellung ausgemalt, sich vorgestellt, wie ihr erstes Gespräch nach all den Jahren verlaufen würde. Doch nie hätte sie damit gerechnet, dass er sich ihr gegenüber wütend zeigen würde. Reserviert, ja. Vielleicht auch verächtlich, aber nicht derart von kaltem Zorn beseelt.

„Ich versuche lediglich, Konversation zu betreiben. Möchten Sie sich über etwas Bestimmtes unterhalten?“

„Nein.“ Sie fühlte sich elend und krank. Es war das gleiche Gefühl, das sie bei den Demütigungen ihres Gatten verspürt hatte. Ohne zu wissen, wie es ihr gelang, führte sie die entsprechenden Tanzschritte aus.

Sein Mund verzog sich zu einem bedrohlichen, fast grausamen Lächeln. „Nun gut, vielleicht sollte ich ein Thema für unsere Unterhaltung wählen, da Ihnen keines einfällt. Ich möchte Ihnen mein Beileid zum vorzeitigen Dahinscheiden Ihres Gatten aussprechen. Wie …?“

Sie entriss ihm ihre Hand, sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Wie können Sie es wagen? Genügt es Ihnen nicht, mich zu beleidigen und zu verspotten? Ich wünschte, dieses Wiedersehen mit Ihnen wäre mir erspart geblieben!“

Claire wirbelte herum und stürmte ungeachtet der Blicke und dem erstaunten Gemurmel der anderen Gäste auf die Türen des Ballsaales zu. Kaum hatte sie das Vestibül erreicht, berührte jemand ihren Arm. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals; einen grässlichen Augenblick lang befürchtete sie, es sei Lord Rotham.

Doch er war es nicht. Stattdessen sah sie in Harry Devlins freundliches und höchst willkommenes Gesicht. „Mir scheint, deine Begegnung mit Jack verlief nicht gerade herzlich.“

„Oh, Harry! Es war … einfach schrecklich!“ Beschämt stellte sie fest, dass ihre Stimme zitterte.

Er hob die Augenbrauen. „So schlimm?“, fragte er mitfühlend. „Meine Liebe, soll ich ihn zum Duell fordern?“

„Nein!“ Sie tat einen tiefen Atemzug. „Nein. Würdest du bitte Jane und Dorothea später nach Hause bringen? Ich möchte nicht länger bleiben.“

Nachdem es Jack endlich gelungen war, sich aus der Gesellschaft seiner Stiefmutter zu befreien, die sich in Schimpftiraden über Claire ergangen hatte, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge.

Der Tanz wurde zwar fortgesetzt, doch mit weniger Hingabe als zuvor, da die meisten Gäste damit beschäftigt waren, die Hälse zu recken und sich nach Lord Rotham umzudrehen.

Jack schenkte den unverhohlen neugierigen Blicken indes keine Beachtung und verließ den Ballsaal. Raschen Schrittes eilte er die Treppe hinunter ins Vestibül. Als er von der letzten Stufe stieg, betrat Harry das Haus.

Jack hielt inne und blickte seinen Freund an. „Wo ist sie?“

Harry hob die Augenbrauen. „Meinst du etwa Claire? Ich habe sie soeben in ihre Kutsche gesetzt. Zweifellos legt sie keinen Wert darauf, dir noch einen weiteren Tanz zu schenken.“ Er öffnete seine elegante Schnupftabaksdose und nahm eine Prise. „Oder gar, dich zu ehelichen.“

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, du hattest bei dieser Angelegenheit deine Hände im Spiel.“ Jack musterte Harry mit scharfem Blick. „Vielleicht hattest du das wirklich. Sie meinte nämlich, sie hätte keine Ahnung, wie ihr Fächer auf den Lotterietisch gelangt sei.“

Harry zuckte die Schultern. „Möglicherweise hast du recht. Allerdings hatte ich keinen Einfluss darauf, welchen Fächer du wählen würdest. Es sei denn, du unterstellst mir übernatürliche Kräfte.“ Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen. „Erstaunlich, wie sich die Vergangenheit wiederholt. Wir sind beinahe in derselben Lage wie vor sechs Jahren. Dieses Mal ist der Einsatz jedoch ungleich höher.“

Jack blickte auf den Fächer, den er immer noch in der Hand hielt, ehe er sich wieder Harry zuwandte. „In der Tat eine Ironie des Schicksals.“

„Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es dieses Mal ausgehen wird. Ich frage mich, ob du wohl wieder verlieren wirst.“

Jack verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln. „Nein. Ich beabsichtige, diese Wette unter allen Umständen zu gewinnen.“

2. KAPITEL

>Ich muss schon sagen!“ Lady Billingsley blieb an der Tür des Salons stehen und blickte Claire empört an. Ihr Doppelkinn bebte. „Ich hatte gehofft, Sie besäßen zumindest den Anstand, nach dem gestrigen Vorfall London unverzüglich zu verlassen.“ Ihr Blick schweifte zu ihrer Nichte. „Ich kann nicht fassen, Jane, dass du sie obendrein noch in Schutz nimmst! Dorotheas Saison ist so gut wie ruiniert!“ Mit diesen Worten rauschte sie, die ausladenden Hüften entrüstet wiegend, aus dem Zimmer.

„Oh, diese grässliche Frau!“, rief Jane, legte die Hände an ihre feuerroten Wangen und sank aufs Sofa.

Claire erhob sich von ihrem Stuhl und ging hinüber zu Jane. „Oh, meine Liebe, es tut mir so leid, dir solche Unannehmlichkeiten zu bereiten.“ Seit ihrer Heimkehr am vergangenen Abend plagten sie Gewissensbisse. Lady Billingsleys Worte, so harsch sie auch klingen mochten, waren leider nur allzu wahr. Claire hatte ihrer Familie Schande bereitet. Edward würde außer sich vor Wut auf sie sein. Allerdings konnte sie es ihrem Bruder ohnehin kaum recht machen, gleich, was sie tat.

Jane blickte sie mit unglücklicher Miene an. „Das alles ist doch nicht deine Schuld. Lord Rotham hätte sich dir gegenüber nicht in dieser abscheulichen Weise benehmen dürfen. Ich weiß nicht, welcher Teufel ihn geritten hat. Ach, Claire, ich befürchte, er hat es dir nie verziehen, dass du damals seinen Antrag abgelehnt hast.“

„Nein“, stimmte sie zu, wenngleich sie sich nicht erklären konnte, weshalb er ihr das nie verziehen haben sollte, da er nie Liebe für sie empfunden hatte. Ja, sie konnte sich nicht einmal mehr sicher sein, ob er sie überhaupt je gemocht hatte. Sie waren Freunde gewesen, so dachte sie zumindest, indes hatte sein Verrat selbst diese Illusion letztendlich zerstört. Und diese Erkenntnis schmerzte weitaus mehr als die Schande, die sie damals über sich gebracht hatte.

Sie ergriff Janes Hand. „Vielleicht sollte ich London tatsächlich verlassen. Lady Billingsley hat recht. Ich habe dich und Dorothea blamiert. Ich befürchte, es ist mein Schicksal, mich selbst zu ruinieren, aber ich werde mir nie verzeihen, wenn ich durch mein Handeln eurem Ansehen Schaden zufüge.“

„Oh, Claire, das hast du nicht.“

„Eine Einladung ist bereits zurückgenommen worden. Sicher werden weitere folgen.“

„Nicht einmal im Traum würde ich daran denken, Lady Hawkes Ball zu besuchen, wenn du ihr nicht willkommen bist.“

„Aber Dorothea zuliebe …“

„Dorothea ist ganz meiner Ansicht“, fiel Jane ihr ins Wort und umarmte Claire kurz. „Sorge dich nicht. Ich bin mir sicher, diese Angelegenheit wird uns nicht im Mindesten berühren. Und ich verbiete dir, London zu verlassen. Warum gehst du nicht nach oben und sagst Dorothea, dass Tante Billingsley gegangen ist, und sie nun unbesorgt wieder herunterkommen kann. Danach solltest du dich ein wenig ausruhen. Wir werden heute keine weiteren Besucher mehr empfangen.“

Claire gab Dorothea Bescheid und ging anschließend in ihr Schlafzimmer. Nachdenklich stellte sie sich ans Fenster und ließ den Blick über den Garten auf der Rückseite des Hauses schweifen. Keinesfalls wollte sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Es wäre ihr unerträglich, wenn Lady Billingsley recht behielte und kein Gentleman mehr Dorothea aufgrund dieses Vorfalls den Hof machte. Gewiss würde Lord Rotham sie zukünftig meiden, aber was, wenn er auch Jane und Dorothea ignorierte? In diesem Fall wäre Dorotheas Saison mit Sicherheit ruiniert.

An Edward mochte sie erst gar nicht denken. Ihr Bruder wäre vor Zorn außer sich, wenn ihm dieser Vorfall zu Ohren käme. Zum Glück weilte er derzeit in diplomatischer Mission in Brüssel.

Sie wandte sich vom Fenster ab und sank auf ihr Bett. Warum musste Lord Rotham auch ausgerechnet ihren Fächer ziehen? Hat er ihn wiedererkannt und mit Absicht gewählt, fragte sie sich. Indes konnte sie sich nicht vorstellen, warum er so etwas tun sollte, es sei denn, um sie zu verspotten. Selbst jetzt noch zuckte sie bei der Erinnerung an seine kalten, höhnischen Worte zusammen.

Wenn sie nur die Fassung behalten und ihn höflich angelächelt hätte, als ob es ihr einerlei sei, was er zu ihr sagte. Aber nein, wie gewöhnlich hatte sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen und gehandelt, ohne vorher nachzudenken. Und nun war Dorotheas Saison in Gefahr.

Zudem hatte er immer noch ihren Fächer. Ihr blieb nur ein Ausweg aus dieser misslichen Lage: Sie musste ihn um Verzeihung bitten, so schwer ihr das auch fallen mochte.

Missmutig ob des leichten, aber beharrlichen Pochens in seinem Kopf, das ihn unangenehm an die Ausschweifungen der letzten Nacht erinnerte, nahm Jack die Handschuhe von der Kommode, die sein Kammerdiener Hobbes für ihn herausgelegt hatte. Dabei fiel sein Blick auf den zarten Fächer, der neben einer diamantenbesetzten Krawattennadel lag. Aufstöhnend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.

Was zum Teufel hatte ihn nur dazu getrieben, Claire in dieser Weise zu quälen? Bis zu ihrem Wiedersehen im Salon war er der Ansicht gewesen, sie bedeute ihm nichts. Dann aber waren die längst vergessen geglaubte Wut und Verbitterung unvermittelt wieder in ihm aufgestiegen. Ihr Gesicht mit den strahlenden Augen und den schön geschwungenen Lippen war noch liebreizender, als er es im Gedächtnis hatte. Doch ihr Anblick löste unvermittelt den seltsamen Wunsch in ihm aus, sie für den Schmerz, den sie ihm vor sechs Jahren zugefügt hatte, zu bestrafen.

Allein deshalb hatte er vermutlich unverzeihlicherweise diese Szene herbeigeführt. Wahrscheinlich zerrissen sich die Klatschbasen bereits den Mund darüber.

Warum hatte das Schicksal ausgerechnet ihn ihren Fächer wählen lassen? Oder war es einfach nur Pech gewesen? Er nahm den Fächer in die Hand, fuhr mit dem Finger über den Elfenbeingriff und entdeckte die kleine Kerbe am Rand. Unter all den aufwendig gearbeiteten, glanzvollen Exemplaren war er ihm aufgrund seines vergilbten Aussehens ins Auge gestochen. Offenbar hing die Besitzerin sehr daran, was in ihm die vage Hoffnung geweckt hatte, sie sei keine dieser oberflächlichen Damen des ton, die sich zumeist in seichter Konversation ergingen.

Niemals hätte er damit gerechnet, dass der Fächer Claire gehörte. Die seltsame Erleichterung, die er anfangs darüber verspürt hatte, war jedoch rasch der Wut gewichen, als sie sich zu ihm gesellte und ihm unmissverständlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihn verachtete.

Ungehalten legte er den Fächer auf die Kommode zurück. Offensichtlich hatte ihm der Cognac, den er vor der Lotterie genossen hatte, den Verstand benebelt. Normalerweise neigte er nicht dazu, sich von solch törichten Sentimentalitäten leiten zu lassen.

Mit den Handschuhen in der Hand fragte er sich, was er tun sollte. Wenn er sein Pferd nicht verlieren wollte, musste er Claire irgendwie dazu bringen, in eine Ehe mit ihm einzuwilligen. Gleich, was er zu Harry am gestrigen Abend auch gesagt haben mochte, nüchtern bei Tageslicht betrachtet schien dieses Unterfangen keinerlei Aussicht auf Erfolg zu haben.

Nachdenklich rieb er sich den Nacken. Der erste Schritt lag klar auf der Hand. Er musste Claire aufsuchen und sie um Vergebung bitten. Es blieb nur zu hoffen, dass sie ihn überhaupt empfangen würde.

Es war ein sonniger Tag. Nur wenige Wolken schwebten träge über den strahlend blauen Himmel. Aus diesem Grund entschloss sich Jack, zu Fuß zum St. James’s Square zu gehen, in der Hoffnung, der Spaziergang würde ihm wieder einen klaren Kopf verschaffen. Er wollte soeben Lord Dunfords Anwesen betreten, als Claire in Begleitung einer Bediensteten das Haus verließ.

„Guten Tag, Claire.“

Erschrocken blickte sie zu ihm auf und errötete. „Was führt dich … Sie denn hierher, Mylord?“

„Ich habe gehofft, dir meine Aufwartung machen zu dürfen.“

„Mir?“ Sie trat einen Schritt zurück, als hätte er die Absicht geäußert, sie zu verführen.

„Ja. Wolltest du ausgehen?“ Eine idiotische Frage. Unglücklicherweise schien er sich in Claires Gegenwart immer wie ein Narr aufzuführen.

„Ja.“ Sie sah so verlegen drein, als hätte er sie bei einer Missetat ertappt.

„Hattest du vor, spazieren zu gehen?“ Eine Kutsche war nicht in Sicht, und der Green Park lag ganz in der Nähe. Es war verständlich, wenn er diese Vermutung äußerte.

„Das nehme ich an.“

Fragend hob er eine Augenbraue. „Du nimmst es an? Weißt du es denn nicht?“

Sie holte tief Luft. „Eigentlich habe ich Sie aufsuchen wollen.“

„Mich?“ Er sah sie stirnrunzelnd an. „Wieso, um Himmels willen?“

Sie ließ den Blick wachsam umherschweifen, als befürchte sie, man könne sie zusammen sehen. „Das sollten wir besser nicht hier besprechen.“

„Wir könnten im Green Park flanieren.“

Verunsichert blickte sie ihn aus haselnussbraunen Augen an. „Wie Sie wünschen, Mylord.“

Gemeinsam schlenderten sie zum Park, das junge Dienstmädchen bummelte gemächlich hinter ihnen her. Im Schatten eines Baumes blieb Jack schließlich stehen und sah sie nachdenklich an. „Sicherlich wolltest du mir nicht ernsthaft einen Besuch abstatten. Es sei denn, du hegst die Absicht, deinen Ruf zu ruinieren.“

„Vermutlich ist mein Ruf nach dem gestrigen Vorfall bereits so befleckt, dass nicht mehr viel zu ruinieren ist.“

„Nun, das träfe mit Sicherheit zu, wenn sich herumspräche, dass du mich aufsuchen wolltest.“ Er sah sie mit unheilvoller Miene an. „Es gehört sich nicht für eine Dame, einem Gentleman einen Besuch abzustatten, meine Liebe.“

„Ich wäre in Begleitung meiner Zofe gekommen.“

Er sah über ihre Schulter hinweg zu der jungen Frau, die mit träumerischer Miene einige Vögel beobachtete. „Sie scheint mir ja kaum den Kinderschuhen entwachsen, ganz zu schweigen davon in der Lage, eine geeignete Anstandsdame abzugeben.“

„Wie können Sie so etwas sagen!“ Sie sah ihn entrüstet an. „Ich versichere Ihnen, sie ist dieser Aufgabe durchaus gewachsen. Außerdem geht es Sie rein gar nichts an, was ich tue, Mylord.“

Mylord. Irritiert über die formelle Anrede, hob er erneut eine Augenbraue. Früher hatte sie ihn kaum jemals mit dem Titel angeredet und wenn doch, dann nur um ihn zu necken, wenn er sich zu hochtrabend gab. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Es geht mich sehr wohl etwas an, denn immerhin betrifft es auch mich.“

„Das tut es nicht …“ Sie funkelte ihn wütend an, riss sich aber zusammen. „Dieses Gespräch ist lachhaft. Außerdem habe ich Ihnen etwas zu sagen.“

„Und das wäre? Wenn du eine Entschuldigung verlangst … Ich gebe gern zu, es war unrecht von mir, dich derart unhöflich zu behandeln“, sagte er steif.

„Oh.“ Sie schien völlig verblüfft.

„Und? Nimmst du meine Entschuldigung an?“

Sie krauste die Stirn. „Ja, aber nur Thea zuliebe.“

„Thea?“

„Dorothea, meine Nichte.“ Sie atmete tief ein und verschränkte die Hände. „Ich fürchte, ich habe durch mein gestriges Verhalten ihre Saison ruiniert. Lady Billingsley, Janes Tante, ließ mich bereits wissen, dass Thea wohl nie eine angemessene Partie machen wird, weil ihre Tante einen Earl des Königreichs beleidigt hat. Und Lady Hawkes hat die Einladung zu ihrem Ball zurückgenommen. Jane macht sich darüber offensichtlich Sorgen, obwohl sie behauptet, es kümmere sie nicht. Wenn Edward von all dem erfährt, wird er mich wohl für immer verstoßen. Daher wollte ich mich entschuldigen und Sie bitten, ob …“

Sie sah so verletzlich aus, Jack spürte Zorn in sich auflodern. Diese scheußliche Situation hatte sie nicht verschuldet, ebenso wenig wie damals vor sechs Jahren.

„Lady Billingsley und Lady Hawke sind komplette Närrinnen“, meinte er brüsk. „Ich werde schon dafür Sorge tragen, dass Dorotheas Saison nicht ruiniert ist oder du gar verstoßen wirst. Der Himmel weiß, diese Schuld will ich ganz gewiss nicht auf mich laden.“

„Sie haben also nicht vor, sie zu meiden?“ Die Erleichterung stand ihr sichtlich ins Gesicht geschrieben.

„Nein, warum zum Teufel sollte ich auch?“

„Ich weiß nicht. Lady Billingsley behauptet …“

„Lady Billingsley weiß gar nichts. Das sollte dir spätestens nach fünf Minuten in ihrer Gesellschaft hinreichend klar sein.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Wirst du heute Lady Meltons Abendgesellschaft besuchen?“

„Nein, das ist nicht …“

„Doch, du wirst. Und nach deinem Eintreffen werden wir uns im Salon eine Weile freundlich miteinander unterhalten. Wir sollten so oft wie möglich zusammen gesehen werden.“

Sie blickte ihn bestürzt an. „Ist das wirklich notwendig? Ich dachte, es genügt, wenn Sie mit Jane und Dorothea …“

Er hob die Augenbrauen. „Es ist sogar unumgänglich. Wie könnte man die Gerüchte besser zerstreuen, als damit, sich nach einem Streit gemeinsam zu zeigen? Niemand wird es wagen, dich zu schneiden, wenn du in meiner Begleitung bist.“

„Das ist sehr edelmütig von Ihnen, Mylord“, sagte sie hölzern. Dabei sah sie so argwöhnisch aus, als fürchte sie, in seiner Gesellschaft könne ihr etwas Schreckliches zustoßen. Wieder durchzuckte ihn dieser bittere Schmerz, so wie letzte Nacht.

„Keineswegs. Ich bin nicht edelmütig; alles hat seinen Preis.“

Das Aufflackern von Furcht in ihren Augen hätte ihn zufriedenstellen sollen. Stattdessen fühlte er sich nur noch verbitterter. Sorgsam seine Gefühle hinter einer ausdruckslosen Miene verbergend, bot er ihr den Arm. „Ich werde dich nach Hause bringen.“

Auch ihr Gesicht wirkte verschlossen. „Nein, ich gehe lieber allein.“

Er ließ den Arm sinken. „Nun gut. Bis heute Abend.“ Ohne ihr einen weiteren Blick zu schenken, machte er auf dem Absatz kehrt und ging raschen Schrittes davon. Er wollte nicht wissen, ob sie ihm nachblickte oder nicht.

Lady Melton nahm ihre Gäste am oberen Treppenabsatz vor den Türen zum Salon in Empfang. Ihre Augen leuchteten vor unterdrückter Aufregung auf, als sie Jane, Dorothea, Claire und Harry erblickte. „Meine liebe Jane“, rief sie erfreut und ergriff Janes Hand. „Wie schön, dich zu sehen. Du siehst reizend aus wie immer. Ich kann nicht verstehen, warum Edward dich alleine lässt. Und Thea. Du wirst allen jungen Gentlemen den Kopf verdrehen.“ Sie gab Janes Hand frei und wandte sich an Claire. „Oh, meine Liebe. Wie tapfer von Ihnen, uns heute Abend Gesellschaft zu leisten. Besonders nach dem gestrigen Vorfall. Lady Arundel hat bereits durchblicken lassen, warum Sie so übereilt die Gesellschaft verließen. Wie grässlich, von derart plötzlichem Unwohlsein überfallen zu werden.“

„Wie bitte?“, sagte Claire. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr ein Teil des Gesprächs entgangen.

„Ja, in der Tat“, sagte Jane rasch. „Die arme Claire hat sehr unter der Hitze und dem Trubel im Ballsaal gelitten. Zudem ist sie erst kürzlich von einer Erkältung genesen.“

Harry hustete erstickt, vermutlich um ein Lachen zu unterdrücken.

„Ja, Sie wirken immer noch ein wenig angegriffen. Aber ich kann verstehen, wenn Sie der Ansicht waren, Sie müssten heute kommen, um nicht etwaigem Gerede Vorschub zu leisten.“ Lady Melton senkte die Stimme. „Lord Rotham ist bereits eingetroffen. Alle warten gespannt darauf, was er wohl tun wird, wenn er auf Sie trifft. Ich hoffe, er wird sich benehmen!“

„Ich bin sicher, man wird sich mit äußerster Höflichkeit begegnen“, sagte Jane.

„Das kann man nur hoffen“, sagte Harry. Er machte eine Bemerkung, die Lady Melton ein zwitscherndes Lachen entlockte, und sie nutzten die Gelegenheit, in den Salon zu gehen, in dem sich bereits zahlreiche Gäste tummelten.

Kurz darauf gesellte sich Harry wieder zu ihnen. „Lady Arundel hat dein Verhalten also mit einer plötzlichen Unpässlichkeit erklärt. Ich frage mich, wieso?“, sagte er und betrachtete Claire schmunzelnd.

Claire lächelte schwach. „Das weiß ich wirklich nicht.“

„Zugegebenermaßen ist es eine interessante Erklärung für deinen überstürzten Abschied. Ob Jack wohl davon weiß?“ In Harrys Tonfall schwang Zweifel mit.

Claire errötete. Sie überlegte noch, wie sie ihn von dem Thema abbringen konnte, als Lady Arundel unversehens neben sie trat.

„Mrs. Ellison, wie schön, Sie zu sehen.“ Sie bedachte Claire mit einem herzlichen Lächeln. „Fühlen Sie sich heute wieder wohl, meine Liebe? Sie erscheinen mir immer noch ein wenig bleich, aber das ist ja auch allzu verständlich.“

„Nun, ich … bin wieder wohlauf, Mylady.“

„Wunderbar.“ Lady Arundel wandte sich an Jane. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dir Mrs. Ellison kurz entführe? Mein Enkelsohn erwartet sie bereits voller Ungeduld.“

Jane, Dorothea und Harry blickten Claire überrascht an. Claire wunderte das nicht, hatte sie ihnen doch nichts von ihrer Begegnung mit Jack erzählt.

„Nun ja, natürlich“, sagte Jane schließlich.

„Es gibt keinerlei Grund zur Beunruhigung“, versicherte Lady Arundel, hakte sich bei Claire unter und schlenderte mit ihr durch den Salon.

Jack stand neben einem der großen Fenster mit einem Herrn zusammen, den Claire nicht kannte. Als sie sich zu ihnen gesellten, drehte er sich mit ausdrucksloser Miene zu ihr herum.

Lady Arundel lächelte den anderen Mann freundlich an. „Mein lieber Frederick, wie geht es Ihnen? Meine Liebe, darf ich Sie mit Frederick Brenton bekannt machen. Er ist Jacks Großcousin. Frederick, darf ich Ihnen Mrs. Ellison vorstellen?“

Mr. Brenton hatte ein sympathisches rundes Gesicht und braune Haare, die er in einer modischen Lockenfrisur trug. Er musterte Claire unverhohlen, dann schien ihm einzufallen, dass man eine Begrüßung von ihm erwartete. Rasch beugte er sich über ihre Hand und ließ sie ebenso schnell wieder los. „Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Ellison.“

„Danke.“

„Meinen Enkel kennen Sie ja bereits“, fuhr Lady Arundel fort.

Jack ergriff ihre Hand und hob sie an seine Lippen, die er ein weniger länger über ihren Fingern verweilen ließ, als es sich schickte. Ein Schauer überlief sie, und sie widerstand mit eisernem Willen dem Drang, ihm ihre Hand zu entziehen.

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Mrs. Ellison, ich hoffe, Sie haben sich wieder erholt.“

„J … ja, Mylord.“ Warum musste sie in seiner Gegenwart bloß immer stammeln wie ein Schulmädchen? „Ich fürchte, die Hitze in Ballsälen bekommt mir nicht.“

Seine Mundwinkel zuckten, und ein belustigtes Funkeln stand in seinen Augen. „Ach, tatsächlich? Dann sollten wir beim nächsten Mal darauf achten, in der Nähe eines geöffneten Fensters zu tanzen.“

Claire errötete. Sie war sich durchaus bewusst, dass Mr. Brenton sie neugierig beobachtete.

Lady Arundel hakte sich bei ihm unter. „Frederick, ich möchte dir gerne Miss Morton vorstellen. Eine charmante junge Dame, obwohl sie mich immer an ein kleines Häschen erinnert.“ Sie schlenderte mit ihm davon.

Betreten blickte Claire auf ihren Fächer. Sie wusste, sie sollte etwas sagen, doch ihr Kopf war wie leer gefegt. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass zwei Damen bereits nicht mehr vorgaben, in ein Gespräch vertieft zu sein, und sie ungeniert beobachteten. „Offenbar sind sehr viele Gäste Lady Mentons Einladung gefolgt“, sagte sie schließlich leicht ungehalten, weil er sich nicht die Mühe machte, ein Gespräch anzufangen, sondern sie lediglich sprachlos musterte.

„Ja“, erwiderte er in höflichem Ton, seine Miene indes wirkte abweisend.

„Können wir nicht über irgendetwas plaudern“, meinte sie verzweifelt. „Andernfalls werden die Leute wohl denken, wir lägen immer noch im Streit.“

„Zweifellos hast du recht.“ Er krauste die Stirn. „Siehst du Devlin des Öfteren?“

„Harry?“ Die Frage erstaunte sie. „Nun ja. Er ist unser Nachbar und war mir immer schon ein sehr guter Freund.“ Sie lächelte leicht. „Er hat versprochen, sich um uns zu kümmern, solange Edward in Brüssel weilt.“

„Ich verstehe“, sagte er kurz angebunden und verschränkte die Arme, als hätte ihm ihre Antwort gar nicht gefallen. „Du lebst also im Haus deines Bruders?“

„Ja.“

„Wie lange schon?“

„Seit Marcus vor zwei Jahren von uns gegangen ist. Edward hat mir freundlicherweise ein Heim angeboten.“

„Freundlicherweise?“ Er presste die Lippen kurz zusammen. „Das war wohl das Mindeste, was er tun konnte. Warst du glücklich mit Ellison?“

Sie kam sich vor wie bei einem Verhör. Und überhaupt, das ging ihn gar nichts an. „Ich möchte nicht mit Ihnen über meine Ehe sprechen, Mylord. Vielleicht könnten wir uns einem unpersönlicheren Thema zuwenden.“

„Das da wäre?“

„Ich habe keine Ahnung. Eigentlich besteht kein Grund, diese lächerliche Unterhaltung fortzusetzen, wenn Sie mich weiterhin so zornig … anfunkeln!“ Errötend wandte sich Claire zum Gehen.

„Warte. Du kannst jetzt nicht gehen.“ Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk.

„Lassen Sie mich los!“ Sie versuchte seine Hand abzuschütteln, sich kaum des Aufkeuchens der Damen bewusst, die in ihrer Nähe standen.

Er ließ ihre Hand so plötzlich los, als hätte er sich verbrannt. Beinahe drohend sah er sie an. „Claire“, meinte er warnend.

„Würden Sie es freundlicherweise unterlassen, mich mit meinem Taufnamen anzureden! Und besäßen Sie wohl die Güte, mir meinen Fächer wiederzugeben?“ Sie bedachte ihn mit einem düsteren Blick und stolzierte davon.

In ihrer Hast wäre sie beinahe mit Jacks Stiefmutter Lady Rotham zusammengestoßen. „Ich bitte um Verzeihung.“

Lady Rotham musterte sie aus eiskalten blauen Augen. Eine Mischung aus Abneigung und Triumph spiegelte sich in ihrer Miene, als sie zur Seite trat. „Natürlich. Wie entzückend, Sie wiederzusehen, Mrs. Ellison. Wie mir scheint, bereiten Ihnen nicht nur Bälle Unwohlsein.“

„Ich denke, das hängt ganz von der Gesellschaft ab, in der ich mich befinde“, gab Claire scharf zurück und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als sie sah, wie sich Lady Rothams Wangen vor Wut röteten. „Bitte entschuldigen Sie mich, Mylady.“

Claire bahnte sich den Weg durch den überfüllten Raum, nur eins im Sinn, die Flucht. Als sie den Flur erreichte, wich die Wut der Verzweiflung. Sie lehnte sich an die Wand und schloss kurz die Augen. Nichts konnte sie nun noch vor der Verachtung der Gesellschaft retten. Lady Rotham hatte sie noch nie ausstehen können, und nun hatte sie diese bedeutende Persönlichkeit des ton auch noch in aller Öffentlichkeit beleidigt. Und nicht nur das, sie hatte erneut Lord Rotham vor den Kopf gestoßen, einen Earl des Königreichs.

Sie drückte die Hände auf die Augen, um das plötzliche Verlangen, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, zu unterdrücken. Warum nur handelte sie immer derart unvernünftig, wenn sie sich in seiner Gesellschaft befand? Sie verlor die Beherrschung, rannte ungestüm inmitten von Bällen und Abendgesellschaften vor ihm davon, erlaubte ihm, sie in einem mondbeschienenen Garten zu küssen …

„Claire. Verflixt, sieh doch nicht so bekümmert drein.“

Sie fuhr auf, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Lord Rotham stand vor ihr und musterte sie besorgt. Bemüht, die Fassung wiederzugewinnen, schenkte sie ihm einen finsteren Blick. „Ich sehe ganz gewiss nicht unglücklich drein, Mylord.“

„Und was ist das?“ Mit einer sanften Berührung, die ganz im Gegensatz zu seiner rauen Stimme stand, wischte er eine Träne von ihrer Wange.

Sie zuckte zusammen. „Nicht. Bitte, können Sie mich nicht einfach in Frieden lassen?“

„Ich möchte mit dir reden. In der Bibliothek können wir uns gewiss ungestört unterhalten.“

„Eine Unterhaltung scheint mir mit Ihnen nicht möglich. Sie tun ohnehin nichts anderes, als mich … mit Blicken zu erdolchen.“

Ein freudloses Lächeln lag auf seinen Lippen. „Wenn ich verspreche, dich nicht mit Blicken zu erdolchen, wirst du dann mit mir kommen?“ Er streckte seine Hand aus.

Sie blickte auf seine eleganten, starken Finger, auf den schweren Siegelring, den er am Ringfinger trug. „Nein.“

„Claire, bitte, so kann es zwischen uns doch nicht weitergehen.“

„Das wird es auch nicht. Ich verlasse London so schnell wie möglich.“

Er ließ die Hand sinken. „Nein. Du kannst jetzt nicht abreisen.“

Sie hob das Kinn. „Das kann ich sehr wohl, Mylord.“

Jack schüttelte ungehalten den Kopf. „Früher warst du nicht so starrköpfig. Wirst du nun mit mir kommen, oder muss ich dich dazu zwingen?“

Er sah aus, als sei es ihm ernst damit. Sein Gesicht hatte wieder diesen finsteren Ausdruck angenommen, der ihr das Gefühl gab, gleich, was sie sagte, es sei ihm nicht recht. Und sie wollte keineswegs eine weitere Szene provozieren. Wie konnte sie nur vergessen haben, wie scheußlich beharrlich er bei der Verfolgung seiner Ziele war? Obgleich sie keine Ahnung hatte, was er überhaupt von ihr wollte. Sie sank gegen die Wand, plötzlich fühlte sie sich unsäglich erschöpft. „Kann das nicht warten?“

Er musterte sie. „Nun gut, ich werde dich morgen aufsuchen.“ Nach kurzem Zögern meinte er: „Claire, wir müssen keine Feinde sein.“

Sie sah in seine dunklen Augen, gewahrte den forschenden Blick und wusste nicht, was sie denken sollte. Einst hatte sie angenommen, sie seien Freunde, mehr als Freunde sogar, aber das hatte sich als Trugschluss herausgestellt. Sie war für ihn nichts weiter gewesen als ein Mittel, um eine Wette zu gewinnen.

In diese Falle durfte sie nicht noch einmal gehen. Er hegte für sie nun ebenso wenig Interesse wie für das unbeholfene, unscheinbare Mädchen, das sie mit siebzehn gewesen war.

„Komme ich noch rechtzeitig, um eine weitere Auseinandersetzung zu verhindern?“

Harrys Stimme ließ sie auffahren. Er hob fragend die Augenbrauen und blickte von einem zum anderen. „Wie es scheint, sind die Säbel gezückt, aber das Signal zum Angriff wurde noch nicht gegeben.“

Jack trat einen Schritt zurück. Der kühle, gleichgültige Ausdruck war wieder in sein Gesicht getreten. „Im Gegenteil, wir haben die Waffen gestreckt – zumindest für den Augenblick.“ Er wandte sich wieder Claire zu. „Ich hoffe, Claire davon überzeugen zu können, dass es keinen Grund gibt, überhaupt die Klingen zu kreuzen“, sagte er sanftmütig.

„Ach ja? Natürlich sollte man klugerweise erst dann die Waffen strecken, wenn man sich sicher ist, dass der Feind keine Gefahr mehr darstellt.“

Jack begegnete Harrys Blick mit offenkundiger Herausforderung. „Es besteht keine Gefahr.“

„Das will ich hoffen.“ Harry blickte zu Claire, die dem Wortwechsel verwirrt gelauscht hatte. „Claire, es ist an der Zeit, uns von unserer Gastgeberin zu verabschieden. Jane möchte gehen.“

„Oh, ja, natürlich.“

Jack trat vor sie und verstellte ihr den Weg. „Bis morgen, Claire.“

Errötend nickte sie, inständig hoffend, dass sie die Kraft besaß, seinen Wünschen zu widerstehen, was immer er auch von ihr begehren mochte.

3. KAPITEL

>Als Jack am nächsten Morgen den Salon betrat, saß seine Stiefmutter auf dem gelb-weiß gestreiften Sofa und trank Tee. Bei seinem Eintreten stellte sie die feine Porzellantasse ab. „Ich dachte schon, du hättest die Stadt verlassen. Reitest du immer so lange aus?“

„Manchmal.“ Er zog die Handschuhe aus. „Was führt dich zu solch früher Stunde zu mir, Celeste?“

Der Schatten eines Lächelns erhellte ihre schönen Gesichtszüge. „Ich bin mir sicher, das weißt du bereits.“

„Ach ja?“ Jack ließ sich in einen Sessel ihr gegenüber fallen und streckte die Beine von sich. Sie betrachtete naserümpfend seine Stiefel, dann fuhr sie fort: „Ich bringe es gleich auf den Punkt. Du wärst ein Narr, wenn du dich weiter mit Claire Ellison abgibst. Nach dem gestrigen Vorfall ist es ja wohl offenkundig, dass sie es darauf anlegt, dich öffentlich zu blamieren.“

„Mrs. Ellison hegt gewiss nicht die Absicht, mich zu blamieren.“ Die Träne, die von Claires Wange geperlt war, stand ihm noch bildlich vor Augen.

„Wie sonst erklärst du dir ihr Verhalten? Ich hoffe, du versuchst mir nicht weiszumachen, ihr sei wieder unwohl geworden. Kein Mensch glaubt das auch nur eine Sekunde lang.“

„Ich habe versucht, sie gewaltsam festzuhalten. Also musst du wohl mich tadeln.“

Sie lachte kurz auf. „Du empfindest immer noch eine befremdliche Zuneigung für diese Person, wie ich fürchte, obwohl ich nicht verstehe, warum. Sie ist keine Schönheit, und auch sonst spricht nichts für sie. Zudem hätte sie dich vor sechs Jahren beinahe mit Hinterlist zur Ehe gezwungen. Gewiss will sie Rache nehmen, weil du ihr damals nicht die Ehe angetragen hast.“

„Da irrst du dich. Sie hat meinen Antrag abgelehnt.“

„Wie galant von dir, das zu behaupten.“ Sie bedachte ihn mit einem spöttisch ungläubigen Blick. „Du hast dich in dieser Sache äußerst töricht benommen. Alle Welt stellt bereits Vermutungen darüber an, was zwischen euch vorgefallen sein mag. Ich musste gestern Abend Emma Fenshaw versichern, dass du Mrs. Ellison selbstverständlich nicht verführt hast. Ich sagte ihr, diese Person verspüre eine törichte Schulmädchenliebe für dich und sei in dem irrigen Glauben gewesen, du wolltest sie heiraten. Weil du das nicht tatest, versucht sie nun, dich bloßzustellen.“

Er musterte sie eindringlich. „Ich hoffe, du wirst zukünftig keine weiteren Gerüchte über Claire Ellison verbreiten.“

Sie riss erstaunt die Augen auf. „Gerüchte. Das ist die Wahrheit.“

„Du wirst keine weiteren Gerüchte verbreiten“, sagte er in gefährlich ruhigem Ton. „Wie du dich erinnern wirst, bin ich der Treuhänder deines nicht unbedeutenden Unterhalts.“ Die blinde Liebe seines Vaters zu seiner zweiten Frau hatte ihn dennoch nicht veranlasst, ihr nach seinem Tod die Kontrolle über sein Vermögen anzuvertrauen.

Sie hob die Augenbrauen und lachte kehlig. „Willst du mir etwa drohen?“

„Ja.“

Mit abschätzendem Blick sah sie ihn an, als könne sie sich nicht entscheiden, ob er es ernst meinte.

Jack stand auf, um weitere Argumente im Keim zu ersticken. „Ich habe jetzt keine Zeit mehr für dich, ich bin verabredet.“

Ihre Handschuhe zurechtzupfend, erhob sie sich ebenfalls. „Du kannst es dir nicht leisten, Zeit mit Mrs. Ellison zu verschwenden. Du musst heiraten, wie du weißt, und du wirst dich sehr bald entscheiden müssen.“

Als er darauf nicht antwortete, fuhr sie leicht gereizt fort: „Alicia ist in der Stadt eingetroffen. Es ist an der Zeit, ihr eine passende Partie zu suchen. Ich hoffe, du wirst dich ein wenig um sie kümmern. In London hat sie nur wenige Bekannte.“

„Zweifellos wird sich dies ändern, wenn du sie erst unter deine Fittiche nimmst.“ Jack wollte am liebsten jedem Gespräch über das Mündel seiner Stiefmutter aus dem Weg gehen, denn er hegte den Verdacht, dass Celeste es sich in den Kopf gesetzt hatte, Alicia sei die passende Gemahlin für ihn. Glücklicherweise zog es seine Stiefmutter vor, in ihrem eigenen Stadthaus am Bedford Square zu residieren. So war er nicht gezwungen, mit ihr oder ihrem Mündel unter einem Dach zu leben.

Nachdem sich Celeste verabschiedet hatte, ließ er sich in einen Sessel fallen und dachte nach. Seine Drohung würde sie wohl davon abhalten, weitere Unwahrheiten zu verbreiten, aber er war sich auch im Klaren darüber, dass sie alles daransetzen würde, die Gerüchte, die bereits im Umlauf waren, weiter auszuschmücken. Als sie sich in jenem Sommer vor sechs Jahren bei einer Hausgesellschaft von Harrys Eltern kennenlernten, hatte Celeste eine sofortige Abneigung gegen Claire gefasst, wenngleich er nicht wusste, warum.

Indes hatte er sich Claire gegenüber nicht minder verabscheuungswürdig verhalten. Er war zu dieser verflixten Gesellschaft am vergangenen Abend gegangen, mit der festen Absicht, höfliche Konversation zu betreiben. Doch sein edler Vorsatz war plötzlich wie vom Wind verweht, als er sah, mit welch strahlendem Lächeln sie Harry bedachte, und hörte, dass sie ihn als guten Freund bezeichnete.

Schon immer war es ihm schwergefallen, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen. Damals hatte er sie lediglich küssen wollen und war nahe daran gewesen, sie zu verführen. Sie hatte sich geweigert, ihn tun zu lassen, was die Ehre gebot, und sich stattdessen an Marcus Ellison vergeudet. Ellison, ein achtbarer, aber gefühlskalter Mann von beinahe vierzig Jahren, war in jenem Sommer bei ihrem Bruder zu Besuch gewesen. Jack hatte von Anfang an gemerkt, dass er ein Auge auf Claire geworfen hatte. Der Mann hatte ihre Lage zweifellos für seine Zwecke ausgenutzt, als er ihr seinen Antrag machte. Jedes Mal, wenn Jack sich vorstellte, wie sie in Ellisons knochigen Armen lag, erfüllte ihn eine Mischung aus Wut und Verzweiflung.

Wer konnte wissen, welche unbedachten Dinge sie nun tun würde? Entschlossen presste er die Lippen zusammen. Er würde nicht darauf warten, es herauszufinden. Dieses Mal würde sie ihn ehelichen, und wenn er sie dazu entführen musste. Sie würde ihn dafür vielleicht hassen, aber wenigstens konnte er sie so vor sich selbst schützen.

Dorothea ließ den Vorhang fallen und sah zu Claire und Jane, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. „Er ist hier. Er ist auf einem herrlichen schwarzen Hengst gekommen. Er macht einen feschen Eindruck, wie du sicher zugeben wirst, Tante Claire.“

„Das weiß ich nicht, ich habe sein Pferd nie gesehen.“

„Doch nicht das Pferd. Lord Rotham.“ Dorothea kicherte. „Hältst du ihn nicht auch für gut aussehend?“

„Darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Ich nehme an, einige Damen sind dieser Ansicht.“ Claire ignorierte Dorotheas ungläubigen Blick. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte sie ihn tatsächlich attraktiv gefunden, aber jetzt nicht mehr.

Der Klang schneller Schritte und männlicher Stimmen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Rasch wandte sie den Blick von der Tür ab, nahm ein Buch von dem Tisch neben sich und schlug es auf, damit er nicht denken sollte, sie habe auf ihn gewartet.

Nachdem der Butler ihn gemeldet hatte, betrat er mit festen Schritten das Zimmer. Sein Blick glitt durch den Raum und blieb schließlich auf Claire haften. Heiße Röte schoss ihr in die Wangen, und sie senkte den Kopf, insgeheim wünschend, sie wäre fähig, ihm gegenüber ein kühles, distanziertes Auftreten zu wahren.

Jane erhob sich mit freundlichem Lächeln. „Lord Rotham, wie nett, dass Sie uns Ihre Aufwartung machen.“

Mit offenkundiger Verwunderung über ihre herzliche Begrüßung verbeugte er sich. „Vielen Dank. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen.“

„Natürlich empfangen wir Sie. Ich glaube, meine Tochter kennen Sie bereits.“

„Ja.“ Seine Züge wurden weicher, lächelnd wandte er sich Dorothea zu. „Obwohl ich Sie beinahe nicht wiedererkannt hätte. Als ich Sie zum letzten Mal gesehen habe, sind Sie noch auf Bäume geklettert und haben die Wiesen und Wälder auf einem Pony durchstreift.“

Dorothea errötete. „So etwas tue ich schon lange nicht mehr.“

„Das war zu erwarten. Sie sind erwachsen geworden.“

Dorothea sah ob des Kompliments noch verlegener drein. Und Claire spürte plötzlich einen Stich der Eifersucht, den sie sofort unterdrückte. Wie konnte sie auf Dorothea eifersüchtig sein, die sie innig liebte, seit sie ein Baby war? Vermutlich, weil er Dorothea in dieser neckenden Weise anblickte, mit der er einst auch sie betört hatte.

„Ich nehme an, Sie wollen mit Claire sprechen“, sagte Jane. Sie sah zu ihrer Tochter. „Dorothea, ich möchte dir gerne den Seidenstoff zeigen, den ich gestern erstanden habe. Ich denke, daraus kann man eine prächtige Ballrobe schneidern.“

Claire warf Jane einen flehenden Blick zu, den diese jedoch geflissentlich ignorierte. Aus irgendwelchen Gründen hatte sich Jane nicht im Mindesten verärgert gezeigt, als sie ihr widerwillig eingestand, dass Lord Rotham ihnen heute einen Besuch abstatten würde.

Dorothea lächelte Claire aufmunternd zu und folgte ihrer Mutter aus dem Zimmer.

„Ich beiße nicht, Claire. Du darfst mich ruhig anschauen.“

Sie hob den Blick und entdeckte zu ihrer Überraschung den Hauch eines Lächelns auf seinen Zügen.

„Darf ich mich setzen?“

„Oh, ja, natürlich.“

Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie, er wolle neben ihr Platz nehmen, doch er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Dennoch schien er ihr viel zu nah.

„Was liest du da, Claire?“

„Lesen?“

„Auf deinem Schoß liegt ein aufgeschlagenes Buch, daher nahm ich an, du würdest es lesen.“

„Es ist …“ Unerklärlicherweise war ihr der Titel entfallen. Rasch sah sie auf den Ledereinband, um sich zu vergewissern. „Es ist ‚Clarissa oder die Geschichte einer jungen Dame‘ von Richardson.“

„Eine lohnende Lektüre“, sagte er trocken.

„Nun, ich finde sie sehr wohl lohnend, auch wenn sie Ihnen stumpfsinnig erscheinen mag.“

„Das habe ich keineswegs behauptet.“

„Nein, aber Ihr Tonfall hat dies sehr wohl durchscheinen lassen.“ Sie wusste keinen Grund, warum sie schon wieder mit ihm stritt, außer dass es eine sichere Methode war, ihn auf Distanz zu halten.

„Nicht stumpfsinnig. Nur ein wenig melodramatisch.“

„Ich nehme an, Sie lesen immer noch ausschließlich trockene Geschichts- und Philosophiebücher.“

Sein plötzliches Lachen wischte die harten Züge aus seinem Gesicht. „Und du vertreibst dir immer noch die Zeit mit unwahrscheinlichen Geschichten über Heldinnen in Not, die in die Fänge böser Schurken geraten sind.“

„Sicher freut es Sie zu hören, dass mein verstorbener Gatte Ihre Ansichten teilte. Er verbot mir jedwede Literatur, lediglich einige ausgewählte Schriften durfte ich lesen.“

Sein Lächeln erstarb. „Ich necke dich zwar gern wegen deiner Vorliebe für sentimentale Romane, aber ich würde dir nie verbieten, sie zu lesen“, sagte er brüsk.

Claire senkte den Blick, von der Heftigkeit seiner Worte und dem plötzliche Wechsel seines Mienenspiels erschüttert. Sie hielt es für das Beste, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. „Aus welchem Grund wollten Sie mich sprechen? Ich nehme an, Sie sind nicht hier, um über meinen Büchergeschmack zu diskutieren.“

Er erhob sich und kam zu ihr hinüber. Mühsam widerstand sie dem Drang, aufzuspringen und hinter dem Sofa Schutz zu suchen.

Eindringlich bittend sah er sie an. „Ich möchte nicht, dass du London verlässt.“

„Ob ich es tue oder nicht, kann Ihnen doch einerlei sein.“

„Das ist es aber nicht.“

„Ich weiß nicht, warum. Ich habe Ihnen schließlich nur Ärger bereitet. Nicht einmal Lady Arundels freundliche Fürsprache kann nun noch darüber hinwegtäuschen, dass ich törichterweise erneut davongelaufen bin.“ Sie atmete tief ein und aus. „Ich nehme an, Sie wünschen eine Entschuldigung. Nun, es tut mir leid.“

„Ich möchte keine Entschuldigung. Du hattest recht. Ich habe gestern Abend meine Manieren vergessen.“

„Oh.“ Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen überraschte er sie.

„Es besteht kein Grund, nun auch noch aus London fortzulaufen. Damit erreichst du nichts.“

„Ich laufe nicht fort. Ich handle lediglich vorausschauend.“

„Weshalb? Deiner Nichte wegen? Wie soll es ihr helfen, wenn du die Stadt verlässt? Es wird die Gerüchte bestätigen, dass es einen Grund für unseren Streit gab. Und was ist mit deiner Schwägerin? Denkst du etwa, sie wird glücklich über deine überstürzte Abreise sein? Ganz zu schweigen von deinem Bruder. Ich nehme an, er hat dich aus einem gewissen Grund in sein Haus geholt.“

„Ja, als Begleiterin von Jane“, sagte sie, ohne nachzudenken, und errötete sofort vor Schuldgefühlen. „Lady Billingsley hat sich als Anstandsdame erboten.“

Er hob die Augenbraue. „Ah, wieder einmal die entzückende Lady Billingsley. Sie wird Ihre Schwägerin eher in den Wahnsinn treiben, statt ihr eine Hilfe zu sein.“

Claire biss sich auf die Lippe. „Sie meint es vermutlich nur gut.“

„Das bezweifle ich. Und außerdem gilt es auch, meinen guten Ruf zu wahren.“

„Ihren Ruf?“ Claire blickte ihn erstaunt an.

„Ja.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie ernst an. „Meine Stiefmutter hat mich wissen lassen, ein Großteil der Gesellschaft sei der Ansicht, du wolltest mich öffentlich blamieren. Auch über die Gründe, warum du diesen Wunsch verspürst, wird reichlich spekuliert. Man nimmt an, ich hätte dich verführt und mich anschließend geweigert, dich zu ehelichen“, sagte er bedeutungsvoll.

Ihr Gesicht glühte. „Wie … wie töricht.“

„Ja, nicht wahr? Und auch ironisch. Aus diesem Grund darfst du London nicht verlassen, denn dadurch würdest du die Gerüchte bestätigen.“

„Oh je …“ Bestürzt erhob sich Claire. Es schien ihr fast, als würde sich die Vergangenheit wiederholen und sie auf Schritt und Tritt verfolgen. Wieder befanden sie sich in einer solch grässlichen Situation wie damals. Und wie beim letzten Mal übernahm er die Schuld für etwas, das er nicht zu verantworten hatte. Sie musste an Jane und Dorothea denken. Solch diffamierendes Gerede würde sie zutiefst verletzen.

„Was soll ich Ihrer Ansicht nach tun?“

Seine Miene spiegelte Erleichterung. „Wir könnten zunächst einmal einen Friedenspakt schließen. Ich denke, es sollte uns doch möglich sein, in einem Raum zu weilen, ohne miteinander zu streiten.“

„Offenbar kommen wir nicht gerade gut miteinander aus.“

„Einst haben wir uns aber gut verstanden.“

„Wir haben uns verändert.“

„Aber nicht sehr. Bitte, Claire, lass uns Frieden schließen.“

Sie sah ihn an. Seine Augen wirkten an diesem Tag hellgrau und warm. Das war eines der Dinge, die ihr sofort an ihm aufgefallen war – der wechselhafte Grauton seiner Augen, die zudem von langen schwarzen Wimpern beschattet wurden. Nie zuvor hatte sie solch faszinierende Augen bei einem Mann gesehen.

„Claire?“

Sie senkte den Blick. „Wenn Sie es wünschen.“ Zweifellos musste sie ihm undankbar erscheinen, indes weigerte sie sich, ihm diesen kleinen Sieg zuzugestehen.

„Sollen wir es mit Handschlag besiegeln?“ Er streckte die Hand aus.

Nur widerwillig legte sie die Hand in die seine. Aber anstatt sie zu schütteln, hob er sie langsam an seine Lippen, drehte sie um und gab ihr einen Kuss auf die Handfläche. Ob des warmen Drucks seines Mundes durchströmte sie eine ungeahnte Hitzewelle. Erschrocken über ihre Gefühle, entriss sie ihm die Hand und bedachte ihn mit vernichtendem Blick. „Das war wohl kaum ein Handschlag.“

Ein entwaffnendes Lächeln erhellte seine Miene, und unvermittelt erinnerte er sie wieder an den jungen Mann von vor sechs Jahren. Damals hatte sie ihn für einen unverbesserlichen Charmeur gehalten. „Nein, aber doch viel bindender, meinst du nicht auch? Natürlich hätte ich unseren Friedenspakt lieber mit einem echten Kuss besiegelt, doch ich glaube, das hättest du dir kaum gefallen lassen.“

Claire errötete. „Nein, niemals!“ Sie trat einen Schritt zurück. „Warum geben Sie überhaupt solch unsinnige Bemerkungen von sich? Freunde küssen sich nicht.“

„Das hängt von der Art der Freundschaft ab.“

„Ich hege nicht die Absicht, jemals eine solch vertrauliche Freundschaft mit Ihnen zu pflegen, Mylord.“

Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln. „Nicht?“

„Ganz gewiss nicht! Wenn Sie weiterhin solche Unverschämtheiten äußern, werde ich nicht einmal mehr vorgeben, mit Ihnen befreundet zu sein“, sagte Claire entschieden.

„Nun gut. Ich werde versuchen, mich zurückzuhalten. Obwohl ich es immer sehr genossen habe, dich zu necken. Du errötest jedes Mal höchst bezaubernd und musterst mich danach mit glühendem Blick, so wie jetzt.“

„Ich ziehe es vor, nicht über die Vergangenheit zu sprechen“, erwiderte sie frostig.

„Warum nicht, Claire?“ Er lächelte immer noch, doch in seine Augen war ein wachsamer Ausdruck getreten.

„Dafür bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Und bitte nennen Sie mich nicht länger beim Taufnamen.“

„Das hast du mir aber einst erlaubt.“

Sie betrachtete ihn prüfend, verspürte Hilflosigkeit und Ärger zugleich. Warum hatte er die Vergangenheit aufleben lassen? Er war ihr ein Rätsel. „Ich war jung und höchst töricht. Ich möchte nicht über die Vergangenheit reden. Am besten vergisst man sie ganz.“

„Tatsächlich?“, fragte er sanft.

„Ja!“, sagte sie, bemüht, die Fassung nicht zu verlieren. „Gibt es sonst noch etwas, über das Sie sprechen möchten? Ich … ich habe noch zu tun.“

„Ich halte es für das Beste, wenn man uns bald zusammen sieht. Komm mit mir auf einen Ausritt.“

„Auf einen Ausritt?“ Sie zuckte zusammen.

„Ja. Wenn ich mich recht erinnere, bist du immer gern geritten.“

Schon wieder sprach er von der Vergangenheit. „Ich habe in der Stadt kein Pferd. Außerdem bin ich seit Jahren nicht mehr geritten.“ Marcus hatte es ihr verboten. Nach seinem Tod hatte sie das Interesse daran verloren und zog lange, einsame Spaziergänge vor.

„Dann machen wir eben eine Ausfahrt.“

Warum war er bloß so beharrlich? Allein der Gedanke, neben ihm in einer Kutsche zu sitzen, wühlte sie auf. „Ich halte das für keine gute Idee.“

Er zog die Brauen zusammen. „Ich dagegen halte es sogar für unerlässlich. Welche bessere Möglichkeit gibt es, den Gerüchten Einhalt zu gebieten, als uns in aller Öffentlichkeit zusammen zu zeigen?“

„Ich …“ Sie war im Begriff gewesen, seinen Vorschlag abzulehnen, weil sie befürchtete, eine Ausfahrt würde erneut zu wilden Spekulationen Anlass geben. Doch ob seiner entschlossenen Miene fiel ihr plötzlich keine höfliche Ausrede mehr ein.

„Du musst auch an deine Nichte und deine Schwägerin denken“, fügte er hinzu.

„Es zeugt nicht gerade von Edelmut, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.“

„Nein, aber ich sagte dir bereits, ich bin kein edelmütiger Mensch.“ Er trat einen Schritt näher, und sie wich zurück. „Bitte, Claire, kannst du dich denn gar nicht dazu überwinden?“

Er kam ihr viel zu nahe. So nah, dass sie den leichten Sandelholzduft seines Rasierwassers wahrnahm.

Ihr Blick glitt über seine markanten Wangenknochen und den schön geschwungenen Mund. „Ich … weiß es nicht.“

„So schlimm wird es nicht werden.“ Das Grau seiner Augen schien sich zu verdunkeln. Dann berührte er plötzlich unvermittelt ihre Wange. „Du bist noch liebreizender als in meiner Erinnerung.“

Autor

Ann Elizabeth Cree
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Marguerite Kaye
<p>Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...
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