Historical Saison Band 103

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ENTHÜLLUNG UNTERM MISTELZWEIG von CHRISTINE MERRILL
Daphnes einzige Freunde sind die Katzen. Das denkt sie zumindest, bis sie den wunderbaren Charles Pallister kurz vor Heiligabend kennenlernt. Doch er ist nicht das, was er zu sein vorgibt …

EIN LORD ZUM CHRISTFEST VON SOPHIA JAMES
Nie wieder heiraten! Da ist sich die junge Witwe Elizabeth Martin sicher. Ihre beiden Kinder halten sie schon genug auf Trab. Doch dann lädt sie ihr neuer Nachbar, Lord Alexander Grey, ein, die Festtage in seinem Haus zu verbringen …

RETTE MICH VOR WEIHNACHTEN! von MARGUERITE KAYE
Weihnachten im Kreise der Familie: Das ist sowohl für die geschiedene Lady Silvia als auch für den unkonventionellen Ellis Wyn-Jones ein Alptraum. Also beschließen sie, das Fest der Liebe gemeinsam zu feiern …

EINE WINTERBRAUT FÜR DEN DUKE von VIRGINIA HEATH
Ein Ball in der Adventszeit? Nein, der Duke of Manningtree ist auf Brautschau! Das interessiert Eliza nun wirklich nicht, und sie zieht sich während des Festes in die Bibliothek zurück. Wo sie auf einen attraktiven Buchliebhaber trifft …

CINDERELLA UND DER FREMDE von CATHERINE TINLEY
Nach dem Tod ihres Vaters ist Nell gezwungen, im Haus ihrer Stiefmutter zu arbeiten. Doch mitten im Schnee trifft sie auf einen Fremden, der all ihrem Kummer ein Ende bereiten könnte …


  • Erscheinungstag 25.11.2023
  • Bandnummer 103
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518000
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

CHRISTINE MERRILL, SOPHIA JAMES, MARGUERITE KAYE, VIRGINIA HEATH, CATHERINE TINLEY

HISTORICAL SAISON BAND 103

1. KAPITEL

Daffy Bingham war schon als alte Jungfer mit einer Affinität zu Katzen zur Welt gekommen. Praktisch gesehen wurden natürlich alle Frauen unschuldig geboren. Doch die kleine Daphne hatte etwas an sich, das jedermann vermuten ließ, an diesem Zustand werde sich auch nichts ändern, bis sie irgendwann alleine und in hohem Alter verstarb. So wie ihr Cousin Geoffrey als Viscount Mawbry und dessen Schwester als Lady Honoria geboren worden waren, war es Daphne also als alte Jungfer.

Zunächst sei erwähnt, dass ihre Eltern, Mr. und Mrs. Bingham, bedauerlicherweise am Fieber verstarben, als Daffy noch ein ausgesprochen gesundes Baby war, und sie somit als jene arme Verwandte zurückließen, derer sich der Duke und die Duchess von Twinden annehmen mussten. Was nicht bedeutete, dass selbige es als unangenehm empfanden – sie liebten Daphne auf die gleiche geistesabwesende Weise wie auch ihre eigenen Kinder. Doch sie war, nichtsdestotrotz, nur die arme Verwandte.

Dazu kam noch ihr unglücklicher Spitzname, den sie von Geoffrey erhalten hatte, als der noch ein lispelnder Dreijähriger gewesen war. Die Familie hatte es als entzückend erachtet, und fortan war sie Daffy, was nichts Geringeres als albern und dümmlich bedeutete. Doch was entzückend sein mochte, wenn man fünf Jahre alt war, war eine ganz andere Sache, wenn man ins Erwachsenenalter kam. Und während Geoffrey zu einem strammen Geoff heranwuchs und Honoria süß genug war, um Honey genannt zu werden, war die vernünftige Daphne dazu verdammt, für immer Daffy zu bleiben.

Ein klarer Verstand war nur eine von vielen vortrefflichen Eigenschaften alter Jungfern, und entgegen ihrem Spitznamen war Daffy damit zur Genüge gesegnet. Vor acht Jahren hatte sie eine Saison mitgemacht, doch die Duchess hatte von vornherein bezweifelt, dass eine ausreichte. Männer erlagen gerne dem Glauben, die Frauen durch eine Heirat zu retten. Daffy Bingham aber verströmte eine unselige Selbstsicherheit, die besagte, dass sie durchaus in der Lage war, auf sich selbst und dazu auf jeden anderen, der zufällig ihren Weg kreuzte, aufzupassen.

Daffy war eine von jenen, die stets ein zusätzliches Taschentuch bei sich trugen, falls eine zarter besaitete Dame in Tränen ausbrach. Zudem hatte sie allzeit eine Sicherheitsnadel parat, um einen gelösten Saum aufzustecken, der an den Tränen sein mochte. Und sollte ein Übermaß an Emotionen zu einer Ohnmacht führen, verwahrte Daffy immer ein Fläschchen Riechsalz in ihrem Retikül.

Daffy fiel niemals in Ohnmacht.

Auch benötigte sie keinen jungen Mann, der ihr nach einem etwas zu lebhaften Tanz eine Limonade brachte. Man forderte sie ohnehin kaum je zum Tanz auf, und wenn doch, tanzte sie gut und war niemals erschöpft. Tatsächlich war sie stark wie ein Ochse.

Und was ihre oftmals erwähnte Affinität zu Katzen anbelangte, so entsprach diese Annahme nicht ganz den Tatsachen. Vielmehr war es so, dass Katzen eine Affinität zu ihr hatten. Während Lady Honey Rotkehlchen dazu bringen konnte, auf ihrer Hand zu landen, wenn sie Brotkrumen im Garten verstreute, wurden Daffy von vergötternden Miezen allerorts tote Vögel zu Füßen gelegt. Wenn sie tragend waren, warfen sie ihre Kätzchen in genau dem Schubfach, in dem sie ihre überschüssigen Taschentücher aufbewahrte. Setzte sie sich irgendwo hin, sprangen sie ihr auf den Schoß und kuschelten sich in ihre Strickarbeit, davon überzeugt, dass ihr Nickerchen nicht gestört werden würde, denn Daffy Bingham ging niemals irgendwo hin.

Sie brachten sie zum Niesen.

Doch sie gestattete ihnen zu bleiben, denn sie gehörte nicht zu der Sorte, die anderen Personen Unannehmlichkeiten bereitete, selbst wenn diese Person zufälligerweise eine Katze war.

Gemäß dem Duke war ihr derzeitiges Verhalten genau aus dem Grunde äußerst befremdlich. Ein so praktisch veranlagtes Mädchen sollte nicht dazu tendieren, anderer Leute Eigentum an sich zu nehmen.

„Besonders nicht an Weihnachten“, fügte die Duchess hinzu und wrang ihr Taschentuch sorgenvoll zu einem dünnen Strang.

„Es ist schon das restliche Jahr über schlimm genug“, ergänzte der Duke verärgert. „Ständig müssen wir Manschettenknöpfe und Ohrringe aus ihrem Zimmer holen, die sie entwendet hat. Undankbar ist das.“

Als Diebeshäscher wusste Charles Pallister sehr gut, dass allzu magere Almosen einer Familie deren arme Verwandtschaft dazu treiben konnten, Dinge aus dem Haus zu stibitzen. Was er dagegen nicht verstand, war, inwiefern die Herrschaften von ihm erwarteten, selbiges zu verhindern. „Sprachen Sie mit ihr über dieses Problem?“, fragte er und strebte somit die direkteste Lösung an.

„Etliche Male“, antwortete der Duke stirnrunzelnd. „Es zügelte ihr Verhalten in keiner Weise. Es ist verflixt ärgerlich.“

„Wir machten Zugeständnisse. Schließlich gehört sie zur Familie.“ Die Duchess zuckte die Schultern. „Keine nahe Verwandtschaft natürlich. Dennoch, jede Familie hat ihre Schrullen, und man muss Zugeständnisse machen. Aber nun“, merkte sie an, „haben wir Gäste. Das ganze Haus voll. Und wenn deren Habseligkeiten verschüttgehen? Nun, das können wir uns nicht erlauben.“

„Ich verstehe“, sagte Charles, der in einem Ohrensessel am Kamin saß. „Dennoch ist das eine ungewöhnliche Angelegenheit. Sonst ist es meine Aufgabe, den Täter aufzuspüren, ihn zu fassen und vor Gericht zu bringen. In diesem Fall sind die ersten beiden Schritte nicht nötig. Was genau erwarten Sie also von mir, soll ich mit einem Dieb anstellen, den Sie ja bereits gefasst haben?“

Die Duchess wrang ihr Taschentuch noch fester. „Wir dachten, vielleicht, wenn Sie mit ihr sprächen …“

„Ihr Angst einjagen, meinen Sie“, erwiderte Charles ausdruckslos. Der Strick war eine gängige Strafe für Diebe. Augenscheinlich war er hier, um einer armen alten Frau Gottesfurcht einzubläuen, weil sie sich das Silber unter den Nagel gerissen hatte. An manchen Tagen hasste er seine Arbeit.

„Nicht vor den Gästen, versteht sich“, fügte die Duchess hinzu.

„Wir wollen niemanden beunruhigen“, merkte der Duke an.

„Außer Miss Bingham“, entgegnete Charles.

„Nur dahingehend, dass sie mit ihrem Betragen nicht die ganze Familie blamiert. Könnten Sie sie im Auge behalten und sie vom Stehlen abhalten, wäre das noch besser“, meinte die Duchess.

„Wir werden Sie auf der Party als entfernter Cousin vorstellen“, erklärte Twinden fröhlich. „Niemand muss erfahren, wer Sie sind.“

„Ich bezweifle allerdings, dass Miss Bingham das als sonderlich beunruhigend empfinden wird“, gab er zu bedenken.

„Es gibt keinen Grund, sich ihr zu offenbaren, wenn sie nichts Falsches tut“, sagte die Duchess. „Vielleicht können Sie eine leise Warnung äußern, wie von einem Freund.“

„Dann soll ich mich mit ihr anfreunden?“, fragte er, bemüht, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen.

„Wenn sie sich jedoch mit jemandes Diamantdiadem davonmacht“, meinte der Duke grimmig, „muss etwas geschehen.“

„Dann wünschen Sie also schlichtweg, dass ich jegliche Diebstähle auf dieser Hausparty vereitele, auf welchem Weg auch immer“, schloss er, dankbar für diese Klarheit. Für gewöhnlich interessierte ihn die Bestrafung mehr als die Vorbeugung. Das von ihnen beschriebene Verhalten könnte jedoch eher das Anzeichen einer geistigen Schwäche sein als eines schlechten Charakters. Es widerstrebte ihm, eine vornehme Dame zu verfolgen, die ihre Handlungen womöglich gar nicht unter Kontrolle hatte.

„Sie abzuhalten wäre ideal“, stimmte die Duchess zu und lockerte endlich den Griff um ihr gepeinigtes Taschentuch. „Geben Sie auf sie acht, wenn wir es nicht können, und sorgen Sie dafür, dass sie nichts tut, wodurch sie sich blamieren könnte.“

„Oder uns“, fügte Twinden mit zusammengezogenen Brauen hinzu. „Was ich ihretwegen an Unsinn erdulden musste, reicht für ein ganzes Leben. Wenn sie sich bis zum Dreikönigsabend nicht zusammennehmen kann, müssen drastische Konsequenzen her.“

Durch mich, nahm Charles an. Wenn er eine unglückliche alte Jungfer nicht an Weihnachten in eine Anstalt verfrachten wollte, sollte er sich wohl besser ranhalten. „Ich werde mich um alles kümmern, Eure Hoheit.“ Er lächelte zuversichtlich. „Von heute an bin ich Ihr entfernter Cousin, der an Weihnachten die Familie besucht. Und Miss Bingham wird für niemanden ein Ärgernis darstellen.“

„Sie stehen genau unter dem Mistelzweig“, sagte der attraktive, junge Lord Beverly, wobei sich langsam ein Lächeln auf sein Gesicht schlich.

Sein Opfer sah auf und täuschte Überraschung vor, wie es alle Ladys taten, wenn sie auf diese Weise erwischt wurden. Es wäre nicht gut, würde ein Gentleman glauben, diese Situation sei in irgendeiner Form künstlich herbeigeführt worden. Die holde Weiblichkeit forderte keine Küsse ein, ganz gleich, wie sehr es sie danach verlangte.

„Dafür müssen Sie Buße tun“, sagte er und sein Blick brannte sich in ihren.

Bebend presste sie eine Hand auf ihre Brust, schaute ihn unschlüssig an, dann lächelte sie. „Wenn das so ist, werde ich es gerne tun, Mylord.“

Er senkte die Lippen auf ihre nieder, während er eine Beere von dem Zweig pflückte. Seine Hand verweilte über ihnen, ebenso wie seine Lippen auf den ihren verweilten, und er griff nach einer weiteren Beere.

Aus einer dunklen Ecke des Raumes heraus räusperte sich Daffy.

Das Paar schrak auf, peinlich berührt davon, ertappt worden zu sein. Sie hatten sie nicht bemerkt. Das taten die Leute ohnehin kaum.

„Lassen Sie noch einige Beeren für die anderen Gäste übrig, Lord Beverly“, sagte sie.

„Gewiss doch, Miss Bingham“, erwiderte er und trat unter dem Türbogen zurück.

Lady Honoria tat es ihm gleich, wobei sie ihr einen verärgerten Blick zuwarf, ehe sie sich ganz trennten. Das arme Ding war seit Tagen hinter Beverly her. Und jetzt, da der Erfolg – und Beverly – endlich greifbar gewesen waren, hatte Daffy alles verdorben.

Daffy seufzte. Es war nicht so, als wollte sie diejenige sein, die den Weihnachtsspaß zunichtemachte. Doch jemand musste es tun, und sie war ein geborener Chaperon.

Da sie es übernommen hatte, das Haus zu schmücken, wusste sie ganz genau, wo sich all die Verlockungen befanden. Das beeindruckendste Gebinde aus Mistelzweigen hatte sie in diesen abgelegenen Winkel hängen müssen, wohl wissend, dass es junge Paare anziehen würde, die einen Augenblick allein sein wollten. Sie gestattete ihnen diesen einen Moment, zwei allerhöchstens, dann fühlte sie sich verpflichtet, sie zu unterbrechen und zurück zur Party zu schicken. Unter ihrer Aufsicht würde es zu keinen zwangsweise geschlossenen Ehen kommen. Daffy war weitaus gewissenhafter als der Name, welcher ihr aufgebürdet worden war, vermuten ließ.

Sie erhob sich und streckte die Beine, strich zufrieden mit einer Hand über die Girlande aus Buchsbaumzweigen am Kaminsims der Bibliothek. Der Raum war erfüllt vom herrlichen Duft des Feuers und der Kerzen und glänzte in einem wundervollen Licht. Welch eine Schande, dass sie zu alt war, um es – genau wie die jungen Leute – zu genießen. Doch damit war sie vor acht Jahren an der Reihe gewesen. Die geraubten Küsse zu Weihnachten waren wirklich sehr schön gewesen, wie sie sich seufzend erinnerte. Sie hatte nicht viele ergattert, doch die Erinnerung an die paar, die sie bekommen hatte, hielt sie in Ehren.

Aber das hatte sie hinter sich gelassen und war recht zufrieden mit dem, was ihr blieb – Stricken und Bücher und ihre Ruhe zu Weihnachten. Wenn ihr nicht danach war, musste sie nicht tanzen und vorgeben heiter zu sein. Niemanden kümmerte es, ob sie für sich alleine war, ob sie lange aufblieb oder sich früh zurückzog. Meistens gehörte ihre Zeit nur ihr selbst.

Stirnrunzelnd schaute sie hinunter, als sich ein Kater an ihrem Knöchel rieb. Es war nicht so, dass sie die Tiere nicht mochte, doch auf Twinden House gab es einfach zu viele davon. Das Herrenhaus war voller Mäuse, und jemand hatte entschieden, dass etwas gegen diese Plagegeister unternommen werden musste. Doch manchmal dachte sie, die Katzen stellten ein beinahe ähnlich großes Problem dar wie die Nagetiere.

Welchen Raum auch immer sie betrat, immer schien schon eine dort zu sein und darauf zu warten, sich auf sie zu setzen, sich an ihr zu reiben oder sie erwartungsvoll anzustarren, als dächte sie, Daffy würde ein Stückchen Fleisch unter ihrem Stuhl hervorziehen. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, die Katzen hatten sie zu ihrer Königin auserkoren. Vielleicht, weil sie spürten, dass sie niemanden sonst hatte.

Nachdem er Daffy lange und ernsthaft gemustert hatte, sprang der derzeit anwesende Kater – eine blaugraue Schönheit, der seinen Schwanz wie ein Fragezeichen aufrecht hielt – auf den Sims und spazierte an der Girande entlang, ehe er interessiert an den Beeren der Stechpalme schnüffelte.

„Daran wirst du dich vergiften, du kleiner Dummkopf“, sagte sie, streichelte ihn und schob ihn sacht von der Gefahr weg.

Als wolle er zustimmen, reckte er die Nase und trollte sich in die andere Richtung.

„Daffy, komm raus in die Halle“, flüsterte Honoria von der Türschwelle her. „Cousin Charles ist eingetroffen.“ Die Aussicht auf diesen unbekannten Cousin war für Honoria nahezu ebenso aufregend gewesen, wie Lord Beverly zu verführen. Sie hatte Spekulationen bezüglich seines Alters, seines Vermögens und seines möglicherweise guten Aussehens angestellt, seit die Duchess sie vor knapp einer Woche mit der Neuigkeit seines bevorstehenden Besuchs überrascht hatte.

„Er ist in Vaters Arbeitszimmer“, flüsterte sie weiter. „Und wir sind hier genau am richtigen Ort, um ihn herauskommen zu sehen.“

„Unter dem Mistelzweig, meinst du?“ Daffy schüttelte den Kopf, nahm das Mädchen beim Arm und zog sie sacht zur Seite. „Selbst wenn er so gut aussieht, wie du hoffst, wird später noch genug Zeit dafür sein. Vorerst wird es dir nicht zur Ehre gereichen, wenn du zu ungeduldig erscheinst.“

Wenn sie auch nicht so ungeduldig war wie Honoria, musste sie sich doch eine gewisse Neugier diesen Charles Pallister betreffend eingestehen. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass er je von der Familie erwähnt worden wäre. Was kaum etwas ausmachte. Sie war nicht diejenige, die die Gästeliste festlegte. Doch die späte Ergänzung würde für eine ungerade Zahl am Tisch sorgen und zudem die jungen Ladys im Bestreben, seine Aufmerksamkeit zu erregen, in hellen Aufruhr versetzen. Jemand würde wahrscheinlich einen Tanz aussetzen müssen. Als jemand, dem selbiges des Öfteren widerfuhr, hatte sie Mitleid mit derjenigen, wer immer es auch sein mochte.

Honoria sog aufgeregt die Luft ein, als sich die Tür zum Arbeitszimmer öffnete und ihre Eltern herauskamen, gefolgt von besagtem Mann. Daffy musste zugeben, dass er, wenn er auch nicht unbedingt zum Tagesgespräch würde, so doch des Interesses der Damen würdig war.

Charles Pallister war nicht das, was sie in ihrer Jugend als gutaussehend bezeichnet hätte, als sie noch Männern ihres eigenen Alters hinterhergeschmachtet hatte, die körperlich wie geistig noch jungenhaft waren. Der Mann vor ihnen musste an die vierzig sein und war dem Jünglingsalter schon lange entwachsen. Sein dunkles Haar wurde an den Schläfen bereits von schneidigen Silberstreifen überhaucht, und seine Wangen waren gebräunt, nicht rosig, dunkel von Jahren an der frischen Luft, sei es zu Fuß oder zu Pferd. Seine Hautfarbe bot einen starken Kontrast zu seinen Augen, die von einem so faszinierenden silbrigen Grau waren, dass sie Daffy glauben machten, wenn der Raum nur dunkel genug wäre, würden sie schimmern wie Mondlicht auf dem Wasser.

Seine Haltung, als er auf sie zuschritt, zeugte von einem Selbstbewusstsein, das die anderen Gentlemen auf dieser Hausparty vermissen ließen. Er wirkte solide, als könne der stärkste Sturm ihm nichts anhaben und nichts und niemand ihn aufhalten, wenn er sich erst ein Ziel gesetzt hatte.

Als er die Tür erreichte, wo sie Seite an Seite mit Honoria stand, blickte er in ihre Richtung und schien sich im Vorbeigehen jedes Detail von ihnen einzuprägen, als wolle er es für später in Erinnerung behalten, wenn sie einander angemessen vorgestellt werden konnten. Dann glitt sein Blick zu einer Stelle wenige Zoll über Daffys Kopf, und er lächelte.

Sie sah ebenfalls auf und stellte fest, dass sie genau unter dem Mistelzweig stand, so als wartete sie dort auf einen Kuss von irgendjemandem, der zufällig vorbeikäme.

Honoria kicherte, und Daffy wich so hastig zurück, dass sie sich auf ihren eigenen Rocksaum trat. Dabei hätte sie sich gar nicht sorgen müssen, denn Charles war schon halb die Treppe hinauf, auf dem Weg zu seinem Zimmer, um sich für das Dinner umzuziehen.

Und sie blieb zurück … Grundgütiger, war sie etwa flatterig? Allein bei dem Gedanken wollte sie schon lachen. Sie hatte seit mindestens fünf Jahren mit niemandem mehr geflirtet und auch niemand mit ihr. Gewiss war es eher ein Scherz gewesen als etwas Ernstgemeintes. Doch selbst wenn er von dem, was gewirkt haben musste wie die schamlose Einforderung eines Kusses, amüsiert gewesen war, Charles Pallister hatte sie anerkennend betrachtet und ihr auf eine Weise zugenickt, die ausgedrückt hatte: Auf Sie werde ich später noch zukommen.

Vielleicht, weil er sie als seine Verwandte erkannt hatte. Irgendwann früher mussten sie sich einmal begegnet sein, wenn sie sich auch beim besten Willen nicht erinnern konnte, ihn je zuvor gesehen oder auch nur seinen Namen gehört zu haben. Und diese Augen hätte sie bestimmt nicht wieder vergessen.

Ein Schauer überlief sie, und sie zog ihr Schultertuch enger um sich. Wie dem auch sei, es würde ein weit interessanteres Weihnachtsfest werden, als sie es erwartet hätte.

2. KAPITEL

Nachdem er sich frisch gemacht und für das Dinner umgekleidet hatte, ging Charles nach unten und gesellte sich den Gästen zu, die im Salon versammelt darauf warteten, zu Tisch gebeten zu werden. Man hatte ihm versichert, Miss Bingham werde unter ihnen sein. Man hatte außerdem angeregt, auf eine offizielle Vorstellung zu verzichten, da er angeblich zur Verwandtschaft gehörte und es sich zudem nur um Daffy handelte.

Diese Erläuterung weckte in ihm irgendwie das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Es war sicher nicht einfach, in einer Familie als so selbstverständlich angesehen zu werden, dass selbst übliche Höflichkeiten nicht für nötig erachtet wurden. Natürlich hätte ihn das nicht überraschen dürfen. Schließlich handelte es sich um dieselbe Familie, die sie sogar vor dem Gesetz anprangern würde, statt zu versuchen, die arme Lady von ihren schlechten Angewohnheiten zu befreien, indem sie ihr Güte entgegenbrachte.

Er setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf und suchte den Raum nach einer großen Frau mit praktischem kurzem Haarschnitt ab. Nach der Beschreibung, die man ihm über ihren Charakter gegeben hatte, stellte Charles sich eine reizbare Frau vor, hager und linkisch. Eines dieser Geschöpfe, die, knochig und voller Vorurteile, in den Ecken von Ballsälen zu lauern schienen. Natürlich war sie noch nicht ergraut. Sie sagten, alt, nicht uralt. Doch aus ihrem Haar mochte das Strahlen der Jugend bereits ein wenig gewichen sein und ein fades Braun oder Aschblond zurückgelassen haben.

Er hatte mindestens ein halbes Dutzend Mädchen in die engere Auswahl genommen und dann doch wieder aussortiert, ehe er auf die Einzige stieß, die ihm wahrscheinlich erschien, und von ihr musste er seinen Blick regelrecht fortzwingen, damit sie sein verblüfftes Starren nicht bemerkte.

Es war die Frau, die vorhin in der Halle unter dem Mistelzweig gestanden hatte. Er hatte ihr nicht unbedingt einen lüsternen, ganz bestimmt aber einen neckenden Blick zugeworfen, um ihr mitzuteilen, was er gedachte zu tun, wenn sie dort stehen bliebe. Daraufhin war sie hübsch errötet, weshalb er, höchst zufrieden mit sich selbst, auf dem Weg die Treppe hinauf schon den Plan gefasst hatte, später mit ihr zu tanzen.

Normalerweise hätte er es nicht gewagt, einem Gast seines Arbeitgebers seine Gesellschaft aufzudrängen, doch er würde genau das tun müssen, wenn er sich als Cousin Charles unter die Gäste mischen sollte. Es ging nicht an, einem einzelnen Mitglied dieser Gesellschaft nachzustellen, bis jeder bemerkte, wie viel Aufmerksamkeit er ihr widmete.

Und, um ehrlich zu sein, wäre es eine erfreuliche Abwechselung, seinen harten Berufsalltag einmal durch Tanz und Dinner aufzulockern. Zwar brachte es eine gewisse Befriedigung mit sich, Schurken zur Rechenschaft zu ziehen, doch er empfand nicht mehr die gleiche Freude daran wie noch als junger Mann, als er noch an die Gerechtigkeit der Gesetze geglaubt hatte. Seither war er zu vielen Menschen wie Miss Bingham begegnet, für deren Lage er zu viel Mitgefühl entwickelt hatte.

Weshalb er sich nun fragte, was er von dieser überraschenden Entwicklung halten sollte. Daffy Bingham war keine ulkige alte Jungfer. Sie hatte genau die richtige Größe und dazu Kurven, die besagten, dass sie keinen Grund sah, um der Meinung irgendeines Mannes willen zu hungern. Wie erwartet, war ihr Haar kurz geschnitten, vermutlich, um der Zofe die Mühen zu ersparen, die sich ihr stets erst zuletzt zuwenden würde, wenn überhaupt. Doch was an Kopfschmuck vorhanden war, waren üppige, kastanienbraune und ungezähmte Locken, die danach verlangten, berührt zu werden.

Ihre Augen, die er sich fortwährend blinzelnd vorgestellt hatte, waren groß und von einem rauchigen Moosgrün. Gerade jetzt schauten sie im Raum umher, nahmen alles in sich auf, ohne jedoch einen Ausdruck der Zustimmung oder des Missfallens ob dieser ausgelassenen Feier zu zeigen. Es war weder ein Anflug von Wehmut darin, weil sie gerne teilhaben würde, noch Missgunst, weil sie übergangen wurde. Sie war einfach nur, entzückenderweise, da.

Einen Moment war er an Ort und Stelle wie festgefroren, lauschte seinem eigenen Herzschlag, unsicher, wie er sich bewegen oder was er sagen sollte, um sich bei ihr vorzustellen. Was immer er auch sagen würde, es wäre – natürlich – eine Lüge. Er war es durchaus gewohnt zu lügen, um die Verfolgung von Übeltätern voranzutreiben. Doch er hatte es nie weniger gemocht als heute.

Was erwarteten der Duke und die Duchess, was er mit einer Frau wie ihr anstellen sollte? Wenn sie wirklich eine Diebin war, dann eine äußerst geschickte. Sie schien an dem ganzen Schmuck, der an Ohren und Kehlen um sie herum zur Schau gestellt wurde, keinerlei Interesse zu haben. Hätte er einen Hang zum Stehlen, hätte er die Diamanten der Herzoginwitwe gewählt, die gegenwärtig zu ihrer Rechten stand, oder die rubinverzierte Krawattennadel des Earls an ihrer anderen Seite. Stattdessen aber blickte sie …

Großer Gott, sie blickte geradewegs zu ihm.

Er tat einen gestelzten Schritt in ihre Richtung, ehe er sich fing und ganz normal weiterschlenderte, wobei er in seine Rolle als verloren geglaubter Cousin schlüpfte, der kam, um mit einer entfernten Verwandten Bekanntschaft zu schließen.

Er kam auf sie zu.

Es war albern, zu viel in diesen einen Blick im Korridor hineinzudeuten, doch sie konnte sich nicht helfen. Bei der Erinnerung daran durchlief Daffy ein Schauer bis in die Zehenspitzen. Es sah ihr gar nicht ähnlich, sich dermaßen zu einem der eingeladenen Gentlemen hingezogen zu fühlen. Seit sie hier wohnte, waren es viele Dutzend gewesen, und auch in diesem Augenblick befand sich wenigstens ein halbes Dutzend mit ihr unter diesem Dach.

Doch keiner von denen hatte sie so angesehen wie Charles Pallister.

Was vermutlich daran lag, dass er nicht wusste, wer sie war. Erkannte er erst einmal, wie wenig ihm ein Flirt mit ihr einbringen würde, würde er seine Aufmerksamkeit gewiss jemand anders zuwenden.

Bis er neben ihr stand, hatte Daffy sich wieder so weit gefasst, dass von der Beklommenheit, die sie in seiner Gegenwart empfand, nichts mehr zu erahnen war.

„Miss Bingham?“

Sie bemühte sich, bei der Erwähnung ihres Namens nicht zusammenzuzucken, denn es war offensichtlich, dass er genau wusste, wer sie war. Schließlich lächelte sie ihn an und sank in einen Knicks. „Und Sie sind Mr. Pallister.“

„Der Cousin aus Gloucestershire“, sagte er, nickte ihr seinerseits zu und neigte sich über ihre Hand. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.“

„Und ich freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte sie und fügte eilig hinzu: „Jedes Familienmitglied. Sehen Sie, ich habe nicht sehr viele.“ Hoffentlich wirkte sie nicht übereifrig.

„Ich habe auch keine Familie. Außer dieser hier natürlich.“ Er verschränkte die Hände hinterm Rücken und wippte einmal auf den Fersen, als wollte er so die Tatsache betonen, dass er mit seinen Gesprächsthemen bereits am Ende war.

Sie hoffte nur, er erwartete nicht, dass sie nun dafür sorgte, denn sie war nie gut in unverbindlichen Plaudereien gewesen. Höflich lächelte sie in das Schweigen und blickte an ihm vorbei auf der Suche nach jemandem, irgendwem, der dieses merkwürdige Zusammentreffen entspannen könnte.

„Ich war an Weihnachten noch nie in einem so großen Haus“, sagte er, ebenfalls an ihr vorbeischauend. „Die Dekoration ist wirklich schön.“

„Danke“, entgegnete sie abwesend.

Überrascht sah er sie wieder an. „Ist das Ihr Werk?“

Sie nickte. „Das Haus zu schmücken wird immer mir überlassen.“

„Ich dachte, die Dienstleute unter Aufsicht der Lady des Hauses …“ Er ließ den Satz ausfließen, als wüsste er nicht, wie er ihn beenden sollte.

Sie schüttelte den Kopf. „Die Duchess ist eine reizende Lady, doch für solche Dinge hat sie einfach kein Händchen.“

„Ich verstehe“, sagte er, als hätte sie mehr preisgegeben, als sie dachte.

„Es ist keine große Mühe“, fügte sie hinzu. Obwohl, wenn sie ehrlich war, das nicht ganz stimmte. Sie hatte einen ganzen Tag auf Leitern überall im Haus verbracht, Schleifen gebunden und Girlanden aufgehängt.

„Das Ergebnis ist sehr festlich“, meinte er.

„Vielen Dank“, erwiderte sie.

Dann herrschte wieder Schweigen.

„Ich traf auch die Menüauswahl“, ergänzte sie, als die Stille allzu erdrückend wurde.

„Hmm.“ Anhand dieses Lautes konnte sie unmöglich sagen, ob ihn das überraschte oder nicht.

Zu ihrer Erleichterung rief ein Diener sie mittels eines Gongschlags zu Tisch. Rasch schaute sie umher und überlegte, welchen Platz sie in dieser Prozession einnehmen sollte.

„Darf ich Sie zum Dinner geleiten?“, fragte er und bot ihr seinen Arm.

„Danke“, sagte sie nach einem Moment des Zögerns.

Er lächelte. „Sie denken, ich müsste mich nicht dazu verpflichtet fühlen. Doch jemand muss Ihnen den Arm bieten, und ich sehe keinen Grund, weshalb das nicht ich sein sollte.“

Damit hatte er recht. Sie hatte ihrer beider Rang eingeschätzt und überlegt, ob sie ein angemessenes Paar bilden würden. Daraufhin war sie versucht gewesen, ihm mitzuteilen, dass er es besser treffen könnte, und ihn sogleich zu einer anderen, jüngeren Lady zu führen. Doch solange sie nicht mehr über ihn wusste, als dass er ein entfernter Cousin war, passten sie durchaus zusammen, bis sie ihn über sein Einkommen ausfragen und einige Bekanntschaften für ihn arrangieren konnte.

Fürs Erste würde sie seinen dargebotenen Arm annehmen und sich von ihm in den Speisesalon führen lassen. Als sie ihre Plätze einnahmen, fand sie ihn abermals neben sich.

Sie warf ihm ein verzweifeltes Lächeln zu. Es war nicht unbedingt so, als missfiele ihr seine Gesellschaft, nur war sie so viel höfliche Aufmerksamkeit eines Mannes schlicht nicht gewohnt.

Dabei hätte sie nicht überrascht sein sollen, als Mr. Pallister neben ihr Platz nahm, denn wie er schon angedeutet hatte, unterschied sich ihr Rang nicht wesentlich von seinem. Es verwunderte sie allerdings, dass das Sitzverhältnis so ausgeglichen war, hatte sie doch angenommen, dieser verspätet hinzugefügte Gast würde die Tischordnung durcheinanderbringen.

Schweigend zählte sie die Köpfe und überlegte, wen sie nur vergessen haben könnte.

„Was tun Sie?“ Mr. Pallister klang ein wenig amüsiert, und sie bemerkte, dass sie beim Zählen wohl mit dem Kopf gewippt haben musste.

Sie bemühte sich noch, eine plausible Ausrede zu ersinnen, um ihr großes Interesse an der Paarbildung zu verbergen, doch letztendlich gab sie auf. „Ihr Eintreffen wurde in letzter Minute bekannt gegeben, und ich war besorgt, dass es zu einer Unausgewogenheit am Tisch führen könnte. Doch wie es scheint, verzählte ich mich.“

„Sie waren für die Tischordnung verantwortlich?“, fragte er überrascht.

„Nun …“ Sie wedelte leicht mit der Hand. Es wäre die Aufgabe der Gastgeberin gewesen, sich um derlei Angelegenheiten zu kümmern, doch sie konnte die Duchess selbst jetzt förmlich hören, als sie diese Pflicht an sie weitergegeben hatte:

Daffy, du bist so viel besser in diesen Dingen als ich …

Der Mann neben ihr sah sich um und verkündete dann: „Mir erscheint es perfekt so.“

„Wen könnte ich nur vergessen haben?“, sagte sie, eher zu sich selbst.

„Schlossen Sie sich selbst in die Planung mit ein?“, fragte er, und noch immer klang er amüsiert.

„Ich …“ Sie schloss sich selbst nie mit ein. Sie zählte nicht, wenn sie ohnehin gedachte, einen Großteil des Abends mit Stricken zu verbringen und am Tanz und den Spielen nicht teilzunehmen.

„Es ist äußerst freundlich von Ihnen, sich um die Zufriedenheit der anderen Gäste zu sorgen“, sagte er und nippte an seinem Wein, „doch ich denke, wir sollten nicht zu sehr darum besorgt sein. Ich bin recht zufrieden, wo ich bin.“

Sie fühlte, wie sie errötete. Er übertünchte die Sache mit einem so geschickten Kompliment, dass es ihr kein bisschen peinlich war, sich selbst nicht mit auf die Liste gesetzt zu haben. Und doch durchfuhr sie ein merkwürdiger kleiner Schauer, als sie erkannte, wie leicht es ihm fiel, sie wahrzunehmen. Denn manchmal schien es, als könnten das nur sehr wenige Leute.

Sie nahm einen Löffel Suppe, die hier immer ganz ausgezeichnet schmeckte, und schloss aus seinem Gesichtsausdruck, während er selbst kostete, dass er dem wohl zustimmte. „Ihnen wird das Menü munden“, sagte sie überzeugt. „Die Twinden-Küche ist exzellent, und an Weihnachten übertrifft sich die Köchin sogar noch.“

„Das ist …“

Hinter ihnen war ein leises Räuspern zu hören, dann legte einer der Diener eine Serviette neben ihren Teller. Am Saum entlang war eine hastig geschriebene Notiz gefaltet worden. Daffy seufzte, schob den Stuhl zurück und wollte aufstehen.

„Wohin gehen Sie?“, fragte Charles. „Der erste Gang wurde doch gerade erst aufgetragen.“

„Am Kopfende des Tisches stimmt etwas mit dem Wein nicht“, erwiderte sie und schüttelte betrübt den Kopf. „Entweder korkt er oder es ist der falsche Jahrgang.“

„Gewiss kommt der Lakai doch damit zurecht“, meinte er darauf mit einem verwunderten Lächeln.

„Die Duchess wünscht, dass ich mich darum kümmere.“ Sie erwiderte sein Lächeln und stand auf.

„Tut sie das oft?“, fragte er, sein Lächeln schwand.

„Nicht oft. Normalerweise sind die Bediensteten äußerst akkurat, besonders bei Menüs wie diesen. Wenn Sie mich nun entschuldigen?“ Sie warf einen einzelnen, bedauernden Blick auf ihre Suppe, die nun in der Schale verblieb, und machte sich auf den Weg zur Speisekammer, um sich des Problems anzunehmen.

Charles widerstand dem Drang, seine Serviette wegzulegen und ihr zu folgen. Wenn sie der Dieb war, wie ihre Familie behauptete, wäre dies die perfekte Gelegenheit für sie, die Gästezimmer nach herumliegendem Tand zu durchsuchen. Und für ihn war es der schlechteste Zeitpunkt, um ihr nachzujagen, ohne an diesem Ende des Tisches für gehörige Unruhe zu sorgen.

Ganz beiläufig griff er über ihren Suppenteller und nahm sich die danebenliegende Serviette, um sich zu vergewissern, dass dort wirklich geschrieben stand, was sie ihm gesagt hatte. Wie es schien, waren Miss Bingham die meisten unangenehmen und formalen Pflichten der Gastgeberin übertragen worden, und sie durfte an der Party nur teilnehmen, wenn sie nach der Pfeife der Duchess tanzte. Er wusste nicht recht weshalb, doch er hatte es äußerst ärgerlich gefunden, dass sie ihn unbewusst mit einer der Debütantinnen hatte zusammensetzen wollen, einfach nur, weil er alleine angereist war. Es war nicht so, als suchte er nach einer Ehefrau. Und wenn dem so wäre, könnte er diese Entscheidung durchaus selbst treffen, und dann würde es keines dieser grünen Mädchen werden. Es würde jemand …

Nun, er war sich nicht ganz sicher, wer es würde. Die Entscheidung konnte er dennoch selbst treffen. Nichts von alldem beantwortete allerdings die Frage, was er mit Miss Bingham anfangen sollte.

Während des Dinners kam sie nicht mehr zurück, und ihm blieb nichts, als eine höfliche Konversation mit der Gattin des Vikars zu führen, die an seiner anderen Seite saß, und der guten Frau dabei sorgfältig ausgearbeitete Lügen bezüglich seiner Familienverbindungen und seines Lebens in Gloucestershire aufzutischen.

Schließlich neigte sich das Dinner dem Ende zu, und die Gesellschaft begab sich zum Tanz in den Ballsaal. Das Pianoforte war gestimmt und ein anerkannter Musiker zur Unterhaltung der Gäste engagiert worden, wahrscheinlich von Miss Bingham.

Als er sich im Saal umschaute, entdeckte er Miss Bingham, die sich, von ihm unbemerkt, der Party wieder angeschlossen hatte. Sie saß in einem Sessel am anderen Ende des Raumes bei den Chaperons und hatte ihr Strickzeug im Schoß, während ihr eine der vielen Hauskatzen, ein Kater offenbar, um die Knöchel strich und den seidenen Faden beäugte, der sich von ihren Nadeln hinabschlängelte. Miss Bingham gab vor, voll und ganz auf ihre Handarbeit konzentriert zu sein, als wollte sie niemandem den Spaß verderben, indem sie auf ihre Position als Mauerblümchen aufmerksam machte. Doch Charles bemerkte, wie die Spitze ihres Schuhs, der unter dem Saum ihres sittsamen Kleides hervorlugte, im Takt zur Musik wippte.

Mit halbem Lächeln sah sie auf den Kater, und ihr Mund formte die Worte: „Wage es ja nicht.“

Der Kater aber schaute sie skeptisch an, als glaubte er nicht, dass sie auch nur einen Finger gegen ihn erheben würde, sollte er sich in ihre Arbeit verwickeln. Dann rieb er sich abermals an ihren Knöcheln.

Charles schritt durch den Ballsaal auf sie zu, bemüht, nicht auf den Knöchel zu blicken, den der Kater freilegte, während er mit den Pfoten an ihrem Rockzipfel spielte. Er räusperte sich, um seine Anwesenheit anzukündigen, dann sah er auf die Katze und sagte: „Er scheint Sie zu mögen.“

Sie blickte auf und versuchte, ihre Überraschung ob seines Erscheinens zu verbergen. „Wie bitte?“

„Die Katze. Er scheint Ihre Gesellschaft zu genießen. Und ich dachte, ich schließe mich Ihnen ebenfalls an.“

„Oh.“ Nun sah sie erneut auf ihr Werk nieder, als dürfte sie es nicht aus den Augen lassen, doch das gleichmäßige Klicken der dünnen Metallnadeln ließ erkennen, dass sie geübt genug war, um jedwede Ablenkung zu meistern. Während er ihr zusah, wuchs das sorgfältig ausgearbeitete Muster aus Rot und Weiß wie durch Zauberhand.

„Wird das ein Geschenk?“, fragte er und überlegte, ob man etwas derart Kompliziertes bis Weihnachten fertigstellen könnte.

„Für mich“, antwortete sie, ohne auch nur eine Masche fallen zu lassen. „Ich kann es nirgendwo mit hinnehmen, und ich habe auch nur wenig zum Hineintun, doch es ist Weihnachten, und ich kaufte mir einige Knäuel Garn für mich selbst.“

Er fragte sich, ob dies das einzige Geschenk sein würde, das sie erhielt. Eine solche Vernachlässigung könnte erklären, weshalb es sie danach verlangte zu stehlen, was ihr ansonsten verwehrt wurde. Doch im Augenblick schien das Stricken sie zufriedenzustellen. „Es ist reizend“, sagte er. „Oder das wird es sein, wenn Sie erst fertig sind.“

Das brachte sie zum Lächeln. „Sind Sie eine Autorität auf dem Gebiet von Damenretiküls?“

„Nein. Aber ich nehme an, Sie schon. Und dass Sie nichts fertigen würden, was Ihnen nicht gefiele.“

Sie verzog zustimmend das Gesicht, ohne jedoch das Stricken zu unterbrechen.

„Es überrascht mich, dass Sie daran arbeiten, obwohl hier getanzt wird“, meinte er.

„Müßiggang ist aller Laster Anfang“, entgegnete sie und verzog abermals das Gesicht, als wäre ihr soeben bewusst geworden, dass sie wie die alte Jungfer klang, auf die er hier zu treffen geglaubt hatte. Schließlich schaute sie ihn mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Wenn man eine Aufgabe hat, vergehen die Stunden schneller.“

„Beim Tanzen ebenfalls“, sagte er und deutete zu den Paaren, die sich hinter ihm auf dem Parkett aufstellten.

„Das nehme ich an“, erwiderte sie und lächelte ihn verwirrt an.

Einen Moment fragte er sich, ob sie dermaßen lebensfern war, dass sie sein Angebot nicht verstand, oder ob vielleicht er die Gesellschaft betreffend so aus der Übung war, dass es nicht verständlich gewesen war. Schließlich reichte er ihr die Hand, um seine Absicht deutlicher zu machen. „Dürfte ich Sie um diesen Tanz bitten, Miss Bingham?“

Einen Augenblick schien ihr darauf keine Antwort einzufallen. Fungierte sie wirklich schon so lange als Chaperon, dass sie nicht mehr wusste, wie man selbst etwas Spaß hatte?

„Miss Bingham?“, wiederholte er und streckte ihr die Hand weiter entgegen.

„Ja“, brachte sie atemlos hervor, legte dann ihr Strickzeug beiseite und erhob sich, nahm seine Hand und gestattete ihm, sie aufs Parkett zu führen.

Daffy ergriff Charles Pallisters Hand und versuchte, sich bei etwas so Simplem und leicht zu Begreifendem nicht wie ein Dummkopf anzustellen. Es war nur ein Walzer. Doch nach den vielen Jahren, die sie am Rande sitzend verbracht hatte, fühlte es sich so intim an wie ein Kuss.

Und als er ihr, während sie tanzten, in die Augen schaute, schien es, als wollte er dort etwas von ihr erfahren, das niemand sonst wusste. Sie erwiderte den Blick, verlor sich in den silbrigen Tiefen seiner Augen und war sich seiner Hand auf ihrem Rücken mit einem Mal überaus bewusst.

Wann war sie zuletzt von einem Mann auf eine so alles andere als zufällige Weise berührt worden? Er hielt sie, als sei sie etwas Kostbares, sanft und doch mit festem Griff, als wollte er sie nicht verlieren, nun, da sie in seinen Armen war. Es gab ihr das äußerst merkwürdige Gefühl, klein und zart zu sein.

Wenn sie über sich nachdachte, was sie kaum je tat, dann sah sie sich als Frau, die imstande war, sich ohne eine stützende Hand an ihrem Ellenbogen durch ihre kleine Welt zu bewegen. Nun aber fragte sie sich, ob es nicht nett wäre, manches Mal Arm in Arm mit jemandem gehen zu können. Sie würde dennoch nicht straucheln, doch wie schön war der Gedanke, jemand könne diese Tatsache bemerken.

Unentwegt lächelte er sie an, als wäre ihre Gegenwart alles, was er zum Glücklichsein brauchte. Sie erlaubte sich ein zufriedenes Seufzen, achtete dann jedoch darauf, den Blick an ihm vorbei zu richten und sich nicht von etwas mitreißen zu lassen, das wahrscheinlich bloß ein höfliches Krümmen seiner Lippen war. Es bestand kein Grund anzunehmen, er würde die nächste Dame, mit der er tanzte, nicht ebenso ansehen. Zumal eine Zukunft für sie beide ausgeschlossen war, da er ohnehin in etwas über einer Woche wieder fort sein würde.

Das alles hielt sie jedoch nicht davon ab, sich zu fragen, weshalb genau er eigentlich hier war. „In welcher Verbindung stehen unsere Familien zueinander?“, platzte es aus ihr heraus, um der romantischen Stille, die sie sich einbildete, ein Ende zu bereiten.

„Ähm?“ Die Frage schien ihn zu überraschen und ließ ihn aufschrecken, als wäre er selbst in Fantasien versunken gewesen.

„Sie sind ein Cousin, wie ich eine Cousine bin. Doch von Ihrem Zweig der Familie hörte ich bislang nichts, ebenso wusste ich nicht, dass wir Verwandtschaft in Gloucestershire haben.“

„Ich gehöre der Seite der Duchess an“, antwortete er.

„Oh.“ Dabei war sie sich sicher, es hatte geheißen, er sei ein Verwandter des Dukes. „Es ist gewiss schön für die Duchess, dass Sie zu Besuch sind.“

Er lachte, als sei ihm dieser Gedanke bislang nicht gekommen. „Was ich nicht erwartet hätte. Ich werde nicht oft so freundlich empfangen, wenn ich irgendwo hinkomme.“

„Wirklich?“, hakte sie nach. Wie seltsam, dass ein so manierlicher und – verflixt, dass sie das dachte – gutaussehender Gentleman irgendwo nicht willkommen sein sollte.

Er wirbelte sie herum, dass sie vor Freude aufkeuchte, dann lehnte er sich vor, als wollte er ihr ein dunkles Geheimnis anvertrauen. „Das liegt an meinem Beruf.“

„Sie haben einen Beruf?“, fragte sie, verwundert, da er zugab, überhaupt zu arbeiten.

„Ich bin ein Diebeshäscher.“ Er legte sich einen Finger auf die Lippen, um ihr zu bedeuten, dass das ein Geheimnis war.

Sie verpatzte den nächsten Schritt, stolperte, als seien ihre Träume ein fester Boden gewesen, der nun unter ihren Füßen einbrach. Dann, wie immer, bekam sie ihre Emotionen wieder in den Griff und fand ohne fremde Hilfe zurück in den Rhythmus. „Wie interessant.“

„Es ist schön, einige Tage hier verbringen zu können, ohne mich mit den Schandtaten anderer befassen zu müssen“, sagte er, ihren Fehltritt ignorierend.

„Das freut mich sehr für Sie“, antwortete sie mit dünner Stimme und widerstand dem Drang zu überprüfen, ob ihre Taschen noch leer waren. „Wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen?“

„Ich bin der zweite Sohn eines Sekretärs. Unsere Eltern hatten meinem Bruder und mir nicht viel mitzugeben außer der Überzeugung, dass wir mit einer anständigen Ausbildung in der Lage wären, unseren Weg zu machen. Mein Bruder und ich studierten beide die Rechtswissenschaft. Doch während er dann auch als Jurist tätig wurde, galt mein Interesse eher der Vollstreckung.“

„Ich verstehe“, erwiderte sie, obwohl sie gar nichts verstand. „Ihr Bruder? Sagten Sie nicht, Sie hätten keine Familie?“

„Er ging nach Amerika“, antwortete er etwas zu rasch, als wäre dessen Abwesenheit Teil einer Geschichte, die er lieber nicht erzählen wollte.

„Sicherlich vermissen Sie ihn“, meinte sie, peinlich berührt, das Thema angeschnitten zu haben.

„Es ist eine alte Wunde, die gut verheilt ist“, sagte er und wechselte das Thema, als die Musik endete. „Es war mir eine wahre Freude, mit Ihnen zu tanzen.“ Er lächelte strahlend. „Ich hätte nicht erwartet, dass Sie eine so charmante Partnerin sind.“

„Vielen Dank.“ Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, fürchtete jedoch, ihrem Ausdruck könnte etwas Befangenes anhaften, das sie nicht zu unterdrücken wusste. Diebeshäscher waren oft gefährliche Männer, kaum ehrlicher als jene, die sie jagten.

An dem Mann an ihrer Seite konnte sie jedoch nichts Furchteinflößendes finden. Und auch wenn seine Familie eher bescheiden zu sein schien, gab es doch den Zweig der Duchess an seinem Stammbaum. Er geleitete sie zurück zu ihrem Sessel und scheuchte den Kater vom Kissen, damit sie sich setzen konnte.

„Darf ich Ihnen ein Glas Punsch bringen?“, fragte er und offerierte eine Verneigung und ein weiteres Lächeln.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen“, erwiderte sie und sah ihm nach, als er den Saal in Richtung Punschschale durchquerte. Es gefiel ihr, dass er ihr nicht stattdessen Limonade anbot, als wäre sie zu jung oder zu alt, um etwas Alkoholisches zu vertragen. Im Augenblick konnte sie etwas Starkes gebrauchen, das ihr Gemüt beruhigte.

Das Tanzen hatte Spaß gemacht. Es war ihr erster Walzer gewesen, und es barg eine gewisse Magie, dass sie ihn mit Charles Pallister getanzt hatte. Seit dem Moment, in dem sie einander erblickt hatten, hatte sie eine Verbindung zu ihm gespürt. Vor dem Dinner hatte er sie dann aufgesucht und war schließlich neben sie gesetzt worden, obwohl sie nichts dergleichen arrangiert hatte.

Schließlich folgte die eigenartige Bemerkung, er habe nicht erwartet, dass sie so charmant sei, was vermuten ließ, jemand habe zuvor mit ihm über sie gesprochen – ausgerechnet über sie – und sie habe seine Erwartungen übertroffen.

Was bedeutete, die Duchess hatte die Tischordnung dahingehend geändert, dass sie beide nebeneinandersitzen konnten, und der Duke hatte wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer, als er dort Mr. Pallister empfangen hatte, über sie gesprochen.

Überrascht sog sie Luft durch die Zähne ein. Sie wollten sie verkuppeln. Es war das Einzige, das Sinn ergab. Nach all der Zeit hatten sie jemanden gefunden, den sie als akzeptablen Ehemann erachteten, und hatten sie beide an Weihnachten zusammengebracht, um zu sehen, ob sie zueinander passten.

Ein Teil von ihr wollte über diese Manipulation ihres Lebens verärgert sein, doch ein weit größerer Teil fühlte sich geschmeichelt, weil sie sich um sie sorgten. Was eine Eheschließung anbelangte, war sie es gewöhnt, als vollkommen inakzeptabel zu gelten. Cousin Charles aber war gutaussehend und zugleich sympathisch, und sie konnte nicht behaupten, dass sie etwas gegen diesen Versuch einzuwenden hatte.

Ihre Wangen wurden schon heiß und rot, wenn sie bloß darüber nachdachte. Nicht nur, dass er sich von den anwesenden jungen und hübschen Mädchen offenbar nicht so leicht den Kopf verdrehen ließ, er hatte auch noch ihr seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, nicht einmal während ihrer ersten und einzigen Saison, in der ein Mann einmal einen ganzen Raum durchschritten hätte, eigens, um mit ihr zu sprechen. Und es war nicht bloß ihrer Einbildung entsprungen, dass er ihr während des Walzers in die Augen geschaut und versucht hatte, eine Verbindung aufzubauen.

Sein Beruf stellte natürlich einen Haken dar. Doch vermutlich hatten die Twindens ihr eigenartiges Problem nicht erwähnt, andernfalls wäre er ihr wohl von vornherein aus dem Weg gegangen. Vielleicht würde sie, wenn sie woanders lebte, nicht weiter unter ihrer seltsamen Neigung leiden. Wenn sie sich einige wenige Tage beherrschen konnte, müssten sie ihm überhaupt niemals davon erzählen.

Und wenn es ihr nicht gelang? Dann gab es so lange keinen Grund, alles zu verderben, bis es unumgänglich wurde. Sie musste nicht jedes schmutzige Detail ihres Lebens offenbaren, bevor sie nicht sicher war, dass er mehr für sie übrighatte als bloße Höflichkeit. An Weihnachten wurde jedem etwas Spielraum gewährt. Sogar jemandem wie ihr.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen wurde Charles in das Arbeitszimmer des Dukes bestellt und darüber informiert, dass die Herzoginwitwe einen Diamantohrring vermisste und ihre Tochter Lady Priscilla eine Perlenkette.

Er fluchte still vor sich hin und versprach dem Peer, sich heute um alles zu kümmern. Er hatte Miss Bingham während des Dinners entkommen lassen, doch was hätte er tun sollen? Und er hatte sie, da er es als unfair erachtete, sie über seine Identität im Dunkeln zu lassen, während ihres gemeinsamen Tanzes gewarnt, damit sie sich dann vielleicht so gut wie möglich betragen würde.

Sie war zwar nicht davongelaufen, als er ihr von seiner Tätigkeit erzählt hatte, doch unberührt gelassen hatte es sie auch nicht. Etwas in ihm hatte erwartet, sie würde seine Hand loslassen und die Flucht ergreifen, wenn sie nur erführe, dass er einen Beruf ausübte. Wer im Haushalt eines Dukes lebte, mochte den Umgang mit der Arbeiterklasse nicht gewohnt sein.

Die Sorge vor einer solchen Zurückweisung war überraschend intensiv gewesen. Er wusste, dass er gar nichts empfinden sollte. In der Vergangenheit hatte er die Diebe, auf die er angesetzt worden war, als Aufträge betrachtet, nicht als Individuen. Doch Miss Bingham hatte etwas an sich, eine Mischung aus Schönheit und Tüchtigkeit, das jegliche Schutzwände durchbrach, die er um sich herum errichtet hatte. Es machte seine Arbeit um einiges komplizierter.

Bedachte er die Art, wie sie beim Dinner behandelt worden war, fiel es ihm schwer, sie dafür zu verurteilen, sich mittels kleiner Dinge an jenen Leuten zu rächen, die sie so unterdrückten. Könnte er sie davon überzeugen, die entwendeten Gegenstände herzugeben, könnte die Familie ihre verletzten Gefühle vielleicht auf andere Weise lindern.

Das rief nach einem weiteren Tanz, mindestens. Mit ihr zu tanzen hatte ihm Freude bereitet. Sie war leicht wie eine Feder gewesen, während er mit ihr durch den Raum gewirbelt war, und schien in seine Arme zu gehören, als sei sie ein verlorener Teil von ihm. Die Musik hatte nicht länger als fünf Minuten gespielt, doch währenddessen hatte er so viele Pläne für sie beide geschmiedet, als hätte er ein ganzes Leben dafür Zeit gehabt.

Anfangs war er noch dem Glauben verfallen, er könnte so tun, als gehörte dieser Walzer zu seiner Arbeit – schließlich konnte sie niemandem Ärger machen, während sie mit einem Mann tanzte, der nichts besaß, das sich zu stehlen lohnte. Doch er hätte ihr weder den Punsch aufdrängen noch sich den Rest des Abends mit ihr unterhalten und dabei die übrigen Gäste ignorieren müssen. Er hätte sie ebenso gut vom anderen Ende des Raumes aus im Auge behalten können.

Was vielleicht sogar besser gewesen wäre, denn es war ihr offenbar trotz seiner Bemühungen, sie davon abzuhalten, gelungen, etwas zu stehlen. Das hatte sie unmöglich alles während des Dinners bewerkstelligen können, zumal er schwören könnte, dass die Herzoginwitwe ihre Ohrringe zu der Zeit beide noch getragen hatte. Dennoch war einer abhandengekommen. Wie hatte sie das geschafft?

Aber vielleicht lautete die Frage gar nicht, wie sie es getan hatte? Vielleicht lautete die Frage vielmehr: Wer sonst hätte ein Motiv?

Er lächelte vor sich hin. Die vermissten Ohrringe waren ein beinahe ebensolches Rätsel wie Daphne Bingham selbst. Und Rätseln konnte er nicht widerstehen.

Die Unterhaltung bestand an diesem Abend darin, Apollos Tanz mit den Musen als lebendes Bild darzustellen, und wie stets überließ man es Daffy, die Einzelheiten zu organisieren. Zu diesem Zweck verbrachte sie den ganzen Nachmittag damit, sämtliche überzählige Bettlaken im Haus zusammenzusuchen, dazu eine Vielfalt an Nadeln und Bändern, um die Laken glaubwürdig zu griechischen Tuniken zusammenzustecken, die über den Kleidern der Mädchen getragen werden konnten.

Sehr zum Bedauern der jungen Ladys gestattete sie es ihnen nicht, aus Gründen geschichtlicher Genauigkeit nackte Beine zu präsentieren. Sie willigte ein, dass sie die Schuhe auszogen, doch die Strümpfe würden bleiben, wo sie hingehörten, und die Rocksäume durften nicht höher wandern als bis zur Mitte der Knöchel. Und gewiss würde sie niemandem erlauben, nur das Unterkleid anzubehalten, in der Annahme, ein Leinenlaken könnte eine angemessene Garderobe ersetzen.

Letztendlich würde die präsentierte Szene somit eher einem Pulk anständiger junger, in Bettlaken gehüllter Damen ähneln, als der wilden Unbekümmertheit des Gemäldes, doch es war unumgänglich, dass eine im Raum einen klaren Kopf bewahrte. Eine Rolle, die wie immer Daffy zufiel.

Als das lebendige Kunstwerk nach dem Supper dargeboten wurde, klatschten die Gentlemen höflich und versicherten den posierenden Mädchen eine würdige Ähnlichkeit mit den Göttinnen, die sie dargestellt hatten. Die Ladys nahmen die Komplimente errötend und kichernd entgegen, dann kehrten sie in den Salon zurück, der ihnen als Umkleideraum diente, um sich der Laken zu entledigen.

Während die Damen die Kränze aus ihrem Haar nahmen und ihre Kleider wieder in ihren normalen, makellosen Zustand versetzten, kam am hinteren Ende des Salons ein kleiner Tumult auf.

„Ich legte es hier hin. Ich bin mir ganz sicher.“

„Nun, jetzt ist es nicht mehr da. Genau wie die Brosche, auf die du für mich aufpassen solltest.“

Die Misses Felton trennte nur ein Jahr voneinander, und obwohl sie aus dem Alter heraus sein sollten, hatten sie ihre Neigung zu Schulzimmerzankereien noch nicht ganz abgelegt.

„Ladys“, sagte Daffy in ihrem besten, mahnenden Tonfall. „Was haben wir denn hier für ein Problem?“

Die jüngere der beiden, Miss Sybella Felton, zeigte anklagend mit dem Finger auf ihre Schwester. „Als wir uns für das Tableau umzogen, überließ ich meinen Schmuck Ophelias Obhut. Und jetzt ist er weg.“

„Ich legte den Ring und die Brosche genau hier hin“, sagte die ältere und klopfte auf einen Beistelltisch. „Aber beides ist verschwunden.“

Daffy wurde die Kehle eng, und sie brauchte ganze zehn Sekunden, ehe sie etwas antworten konnte. Dann sagte sie: „Habt ihr unter dem Tisch nachgesehen? Vielleicht sind sie in der Eile hinuntergefallen.“

Das war eine logische Erklärung und, ganz ehrlich, die wahrscheinlichste. Dennoch strich sie verstohlen an ihren Seiten hinab, tastete nach unerwarteten Stücken in ihren eigenen Taschen und war erleichtert, keine zu finden.

„Sie sind nicht auf dem Boden oder auf einem der anderen Tische“, beharrte Ophelia. „Ich weiß genau, wo ich sie hinlegte.“

„Dann muss sie jemand versehentlich an sich genommen haben“, sagte Daffy und errötete, während sie doch andere beschuldigte. „Ich bin mir sicher, bis morgen sind sie wieder da.“

Die Mädchen sahen einander zweifelnd an, dann fuhren sie mit ihren gegenseitigen Schuldzuweisungen fort, als hätten sie Daffys beschwichtigende Worte schon vergessen.

Daffy blieb zurück, als sich die Feltons und die übrigen Mädchen wieder den Gentlemen im Salon zugesellten, und suchte unter Stühlen und Sitzkissen und betete, dass die Dinge wenigstens dieses eine Mal wieder dort auftauchten, wo sie sein sollten. Doch am heutigen Abend wurde ihr dieser Wunsch nicht gewährt. Der Schmuck war nirgendwo zu finden.

4. KAPITEL

Miss Bingham ging ihm aus dem Weg.

Er war sich dessen nicht vollkommen sicher, denn es hatte am vergangenen Abend keinen Tanz gegeben und somit keine Gelegenheit, sie dazu aufzufordern, doch nachdem sein Gespräch mit Twinden beendet gewesen war, hatte er versucht, sie aufzusuchen, nur um zu erfahren, dass die Damen zu beschäftigt mit den Vorbereitungen der Abendunterhaltung seien, um sich den Gentlemen zuzugesellen.

Zum Dinner erschien sie ebenfalls nicht, da sie, wie schon am Tag zuvor, Botengänge für die Duchess erledigen musste. Er war versucht, sich zum Kopf des Tisches zu begeben und seinen Auftraggebern mitzuteilen, dass sie, wenn sie von ihm erwarteten, Miss Bingham auf dem rechten Weg zu halten, aufhören mussten, ihr unentwegt Gelegenheiten zu geben, sich ihm zu entziehen.

Am heutigen Tag hatte die restliche Partygesellschaft das Haus zum Schlittenfahren und Eislaufen verlassen, wodurch sich Charles die Möglichkeit bot, Miss Binghams Zimmer nach dem vermissten Schmuck zu durchsuchen. Als er jedoch die Halle auf dem Weg zu den Treppen durchquerte, musste er feststellen, dass Miss Bingham ausgerechnet heute nur allzu leicht aufzufinden war. Sie stand mitten in der Halle und beaufsichtigte die Bediensteten, während diese die Erfrischungen für die heimkehrenden Gäste bereitstellten.

Das würzige Aroma von Glühwein hing in der Luft. In der Mitte des Tisches, auf dem die silbernen Kessel aufgestellt waren, drapierte Miss Bingham gerade eine auf Tannengrün gebettete Pyramide aus Orangen und Walnüssen, währenddessen diverse Hauskatzen ihre Beine umschlichen und dabei ständig im Weg waren.

Als sie einen Schritt zurücktrat, um ihr Werk zu bewundern, stieß sie genau gegen ihn. Erschrocken machte sie wieder einen Satz nach vorn und prallte gegen den Tisch, worauf eine der Nüsse von ihrem angedachten Platz rollte und somit den Effekt ruinierte.

Charles schnappte sie sich, ehe sie noch vom Tisch kullern konnte, und legte sie vorsichtig zurück an Ort und Stelle. „Sie sind nicht mit der Partygesellschaft draußen eislaufen?“

Miss Bingham warf einen sehnsuchtsvollen Blick zum Fenster, machte sich dann aber wieder an die Arbeit. „Hier gibt es zu viel zu erledigen, um den Tag am Teich zu vergeuden, Mr. Pallister.“

Er ergriff ihre Hand, zog sie vom Tisch fort und schenkte ihr sein wärmstes Lächeln. „Bitte. Nennen Sie mich Charles. Schließlich sind wir gewissermaßen eine Familie.“

Sie erwiderte sein Lächeln angespannt. „Nun, gut, Charles.“

„Und ich werde Sie Daphne nennen“, fuhr er fort, nachdem sie es von sich aus nicht anbot.

„Daffy“, korrigierte sie automatisch.

Er hob eine Braue und starrte sie wortlos an.

„So nennen mich all meine Freunde“, erklärte sie.

„Das erscheint mir nicht sehr freundlich von ihnen.“ In Erwartung einer Antwort starrte er sie weiterhin an.

„Es stört mich nicht“, versicherte sie rasch.

Er fragte sich, ob das stimmte. Natürlich war es unerheblich, ob es sie störte oder nicht. Ihre Beschwerde würde wahrscheinlich ohnehin nichts daran ändern. „Nun, ich bevorzuge Daphne“, sagte er und musterte sie langsam von oben bis unten. „Sie war eine Nymphe, schön genug, um einen Gott zu verführen.“

„Ich glaube nicht …“ Vermutlich wollte sie anmerken, dass das nicht zu ihr passte.

Er unterbrach sie. „Ich an Ihrer Stelle würde mich gegen Komplimente nicht wehren. Durch meine berufliche Tätigkeit bin ich sehr hartnäckig geworden, und ich neige nicht dazu, mir meine Meinungen ausreden zu lassen. Es wird das Beste sein, Sie akzeptieren sie einfach und belassen es dabei.“

„Ich danke Ihnen“, sagte sie sanft. Eine zarte Röte überzog ihre Wangen. So das möglich war, machte es sie noch attraktiver.

„Sie sind sehr hübsch, wissen Sie. Wenn Sie das nicht selbst erkennen, verdienen Sie, dass es Ihnen jemand sagt“, fügte er hinzu. „Offen gesagt, bin ich beeindruckt, eine Frau wie Sie zu treffen, die noch unverheiratet ist.“

Zuerst fiel ihr keine Antwort darauf ein, außer noch tiefer zu erröten. „Ich bekam nie einen Antrag“, sagte sie schließlich und fuhr gleich fort: „Außerdem wurde ich natürlich hier gebraucht.“

„Leben Sie gerne hier?“ Er betrachtete sie mit dem gleichen direkten Blick, den er nutzte, wenn er Gefangene befragte. „Hätte Ihnen jemand einen Antrag gemacht, wären Sie dann gerne von hier fortgegangen oder eher widerwillig?“ Es war eine unschuldige Frage, die er jedem Angeklagten gestellt hätte, wenn er geglaubt hätte, dadurch eine Erklärung für dessen Verbrechen zu bekommen. Doch während er nun auf eine Antwort wartete, fühlte er sich seltsam nervös, als ginge es dabei überhaupt nicht um ihre Motive.

Ihre Augen wurden groß, als habe sie darüber nie zuvor nachgedacht. Dann sagte sie: „Selbst als ich meine Saison hatte, hielt ich hier fortzugehen nicht für etwas, über das ich mir Gedanken machen müsste. Ich bin einfach nicht die Sorte …“

Charles tat alles, um die Enttäuschung zu verbergen, die er angesichts dieser passiven Antworten auf seine völlig vernünftigen Fragen empfand. „Boten der Duke und die Duchess Ihnen eine Mitgift?“

„Sie bezahlten meine Kleider“, sagte sie rasch.

„Also lautet die Antwort Nein“, erwiderte er.

„Sie kamen auch für die Reise nach London auf. Und gestatteten mir, Honoria nach Almack’s zu begleiten, als sie fünf Jahre nach mir in die Gesellschaft eingeführt wurde.“

„Als Chaperon“, merkte er an. „Erhielten Sie denn kein Billett?“

„Ich war nicht gerade, was man als einen guten Fang bezeichnet hätte“, sagte sie steif.

„Sie boten Ihnen auch keine zweite Saison.“

„Eine zweite Londoner Saison wäre sehr kostspielig geworden.“

„Nicht so sehr, wenn man, wie Twinden, ein Anwesen in London besitzt und zudem noch einen anderen Grund hat, sich dort aufzuhalten, als eine Debütantin einzuführen“, erinnerte er sie. „Dem Parlament beiwohnen, beispielsweise.“

„Aber wenn der Duke und die Duchess in der Stadt sind, muss hier jemand nach dem Rechten sehen“, erinnerte sie nun ihn.

„Diesen Jemand nennt man Bedienstete“, konterte er. „Sie aber sind ein Familienmitglied.“

„Eine verarmte Verwandte“, berichtigte sie. „Und aus diesem Grund“, fuhr sie so ruhig fort, als gefielen ihr die Gefühle nicht, die seine Fragen in ihr auslösten, „erwarte ich nicht viel.“

„Was vermutlich auch das Beste ist, da Sie nicht viel bekommen.“

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, als wollte sie damit das Ende der Diskussion ankündigen. „Meine Saison liegt lange zurück.“ Ihre Augen verengten sich verdrossen. „Ich dachte Ewigkeiten nicht daran.“

„Was nicht bedeutet, dass Sie nicht über das Heiraten nachdachten“, sagte er. War sie denn wirklich zufrieden mit einem so eingeengten und undankbaren Leben? Und wenn es so war, weshalb stahl sie dann? „Männer finden sich auch außerhalb Londons. Eine gescheiterte Saison muss nicht den Kurs für Ihr restliches Leben vorgeben“, gab er zu bedenken. „Gewiss hegen Sie doch Hoffnungen für die Zukunft.“

„Zukunft?“ Ungläubig lächelte sie ihn an. „Mr. Pallister …“

„Charles“, korrigierte er.

„Charles“, berichtigte sie sich, „ich bin siebenundzwanzig Jahre alt.“

„Und das ist weit entfernt von tot“, sagte er. „Sie leben gut und gerne mehr als noch einmal so viele Jahre, ehe sie ins Paradies eingehen. Was wollen Sie mit dieser Zeit anfangen, außer sich als Handlanger für die Duchess of Twinden herzugeben?“

Sie wandte sich ab und beschäftigte sich wieder mit dem Tisch, nahm ein Tablett voller Becher und stellte sie so auf, dass sie exakt der Anordnung derer auf dem Tablett auf der anderen Seite der Punschschüsseln entsprachen. „Ich bin kein Handlanger, wie Sie es ausdrücken, Mr. Pallister. Es gibt etwas, das nennt sich ‚seinen Platz kennen’. Es ist ungefähr wie ‚sich um seine eigenen Angeleg...

Autor

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