Historical Saison Band 112

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  • Erscheinungstag 16.11.2024
  • Bandnummer 112
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526524
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie Burrows

1. KAPITEL

Was für ein Abenteuer!

Clara Isherwood war in einer Reisekutsche unterwegs zu einer Hochzeit. Und nicht nur das – zu einer Hochzeit am Weihnachtstag. Sie hatte eine Einladung für drei Tage in das Haus der Braut erhalten, einer ehemaligen Schülerin von Heath Top, der Schule, an der Clara als Hilfslehrerin unterrichtete.

Sie konnte es kaum glauben. Weihnachten im Heim einer Familie.

Wie lange hatte sie sich schon sehnsüchtig gewünscht, Weihnachten mit einer Familie zu verbringen. Sie konnte sich aus ihrer Kindheit noch dunkel an viel Fröhlichkeit und ganz besonderes Essen erinnern. An zu viele Menschen in überheizten Räumen und das Austauschen von Geschenken.

Jedes Jahr unterdrückte sie mühsam ihren Neid, wenn sie den Leuten in ihrer Umgebung bei den Vorbereitungen auf Weihnachten im Kreise ihrer Familien zusehen musste. Und es war beinahe schmerzhaft für sie, in die freudigen Gesichter der Menschen zu schauen, wenn sie am Weihnachtsmorgen vom Frühgottesdienst kamen. Diese Leute konnten nach Hause gehen und dort gemeinsam mit ihren Lieben den Weihnachtsbraten essen, gefolgt von Plumpudding und Eiercreme mit Vanillesauce.

Doch dieses Jahr war alles anders. Sie hatte eine Einladung erhalten, aber nicht nur zu einer gewöhnlichen Weihnachtsfeier, sondern sogar zu einer weihnachtlichen Hochzeit in der Residenz eines Dukes! Bella Fairclough, früher einmal die unartigste Schülerin, die jemals Heath Top besucht hatte, hatte laut der Nachricht im Oakwick Chronicle Herz und Hand keines Geringeren als des Dukes of Braid gewonnen.

Natürlich war die Schulleiterin, Miss Badger, erbost gewesen, dass Clara eine Einladung erhalten hatte, sie aber nicht. Allerdings hätte Clara sich nicht vorstellen können, warum Bella ausgerechnet diese Frau hätte einladen sollen, von der sie nie etwas anderes als gestrenge Vorträge über ihr Verhalten zu ertragen hatte und oft hart bestraft worden war. Dennoch hatte Miss Badger einen so beleidigten Eindruck gemacht, dass Clara anfangs befürchtete, sie werde ihr die Teilnahme nicht gestatten. Doch schließlich hatte die Schulleiterin seufzend zugegeben, dass Clara die einzige Person war, die es jemals fertiggebracht hatte, dieses Mädchen zum Zuhören zu bewegen. Daher gab es keinen Grund, warum anstelle eines offiziellen Vertreters nicht Clara an der Feier teilnehmen sollte. Schließlich bekam sie die Erlaubnis, aber unter der Bedingung, die künftige Duchess um Spenden für die Schule zu bitten.

Und so war sie nun hier und bestieg ihre bisher dritte Reisekutsche. Sie duckte sich unter den Hasen und Truthähnen hindurch, die von den Gepäckträgern baumelten, und zwängte sich auf einen Sitz neben einer Farmersfrau. Ihre Füße musste sie auf den Weidenkorb der Frau legen, die ihr versicherte, dass sie damit keinen Schaden anrichtete, denn er enthielt nur Gläser mit Essiggurken und einige gut verpackte Früchtekuchen für ihre Tochter.

Drei Schuljungen kletterten im letzten Augenblick zu ihnen herein, bevor die Kutsche sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, und nahmen den gesamten Platz gegenüber ein. Clara musste daran denken, wie sehr sich all dies unterschied vom letzten Mal, als sie eine Reise in einer Kutsche gemacht hatte.

Damals war sie acht Jahre alt. Sie war völlig verängstigt und musste ständig die Tränen unterdrücken. Die drei würdigen, älteren, schwarz gekleideten Männer bei ihr in der Kutsche waren ihr keine Hilfe. Sie erklärten ihr nur ernst, wie dankbar sie dafür sein solle, dass sie in dieses Heim einziehen dürfe. Und sie belehrten sie über die Großzügigkeit der Gönner, die ihr eine gute Erziehung ermöglichten, obwohl ihre Eltern so unbedacht gewesen waren, sie mittellos zurückzulassen. Es war nicht gerade das, was ein verwaistes Kind hören wollte oder konnte. Sie hätte jemanden gebraucht, der sie umarmte und ihr die Tränen trocknete, nicht jemanden, der sie von oben herab anblickte und ihr sagte, wie dankbar sie sein müsse.

Vielleicht hatte sie deshalb solch eine Schwäche für Isabella Fairclough entwickelt. Sie wusste, wie es sich anfühlte, ganz plötzlich aus einem warmen Zuhause gerissen und in ein freudloses, strenges Pensionat verbracht zu werden, wenn man noch nicht einmal zehn Jahre alt war. Sie hatte sogar Verständnis dafür gehabt, dass dieses Kind so zornig war. Denn während Clara beide Eltern verloren hatte, lebte Miss Faircloughs Vater noch. Und das sogar im Wohlstand.

„Heath Top ist doch eigentlich ein Zufluchtsort für Töchter oder Schwestern von notleidenden oder verstorbenen Geistlichen“, hatte das kleine Mädchen unter Tränen geklagt. Clara hatte ihr ein Taschentuch und eine Schulter zum Ausweinen geboten.

Doch in keiner der Kutschen, in denen Clara bisher gereist war, befand sich jemand, der auch nur im Geringsten würdevoll war. Die Kutscher und Wachmänner waren meist unfreundlich und ungeduldig. Einige Passagiere nörgelten, anderen war übel vom Schaukeln der Wagen. Der Wirt des Gasthauses, in dem Clara übernachtete, hatte sie schlicht nicht beachtet, während die Bedienung ausgesprochen unhöflich war. Aber würdevoll – nein.

Sie musste schmunzeln über die Schuljungen, die auf ihren Sitzen herumzappelten und -hüpften vor lauter Aufregung, der Schule zu entkommen und über Weihnachten nach Hause fahren zu dürfen. Als Schullehrerin müsste sie eigentlich versuchen, sie zur Ruhe zu bringen. Aber wie konnte sie das, wenn sie selbst ebenso aufgeregt über ihre Auszeit von der Schule war wie diese Kinder? Am liebsten würde sie auch hüpfen und zappeln oder wie ein Wasserfall plappern über das, was sie tun würde, wenn sie ankam.

Doch sie war eine alleinstehende Frau und musste ihren Ruf wahren. Und sie fuhr ja auch nicht nach Hause, oder? Sie hatte ja keines. Jedenfalls kein richtiges Zuhause, wo ihre Familie auf sie wartete. Das einzige Heim, das sie kannte, war die Schule, und diese war der allerletzte Ort, an dem sie ein weiteres trauriges, unbefriedigendes Weihnachtsfest verbringen wollte.

Auch, wenn sie nicht viel über das Leben im Palast eines Dukes wusste, würde es gewiss völlig anders sein als in der Schule. Wenn sie dort aus der Kirche kam und sich in der Schule mit einem Schal um die Schultern ans magere Feuer setzte, musste sie sich mit dem Ausbessern von zerrissener Kleidung befassen oder gelangweilten Schulmädchen aus dem Predigtbuch vorlesen.

So, wie sie Miss Fairclough einschätzte, besaß sie vermutlich gar keine Bücher. Und wenn, dann waren es belanglose Bücher, wahrscheinlich mit vielen Bildern. Gab es überhaupt Bücher mit vielen Bildern? Es gab Zeitschriften mit gedruckten Abbildungen der neuesten Mode, so viel wusste sie. Und Miss Fairclough war die Art von Mädchen, die so etwas kaufen würde.

Doch der Duke hatte sicherlich eine Bibliothek, selbst wenn er selbst nicht viel las. Einige seiner Vorfahren würden doch wohl gelesen haben, oder nicht? Sie würde in seiner Bibliothek sitzen und lesen können, ohne sich schuldig zu fühlen wegen eines Stapels von Bettwäsche, die noch zusammengefaltet werden musste. Und sein Haus stand bestimmt in der Mitte eines großen und gepflegten Parks.

Vor ihrer Abreise hatte sie keine Zeit mehr gehabt, etwas über die Winterresidenz des Dukes of Braid herauszufinden, aber ein wahrer Duke hatte doch gewiss einen Park mit frei umherlaufenden Hirschen, oder? Und einen Irrgarten und Teiche und schöne Aussichtsplätze? Der Park war wahrscheinlich so riesengroß, dass niemand eine kleine unbedeutende Schullehrerin bemerken würde, die herumwanderte, um alles zu erforschen.

Doch selbst, wenn sie niemals einen Fuß in dieses wundervolle Parkland ihrer Fantasie setzte, würde sie sicherlich zu den Mahlzeiten an einem Tisch sitzen, der sich bog unter all Speisen, von denen sie zu Weihnachten immer geträumt hatte, die sie aber noch nie hatte probieren können. Truthahn und Rind und große Teigtaschen. Und mit Früchten gefüllte Puddings, vielleicht sogar Gelee und Sahnecremes. Und Orangen zuhauf.

Clara lief das Wasser im Munde zusammen bei dieser Vorstellung.

Manchmal gab es für die Mädchen, die über Weihnachten in der Heath-Top-Schule blieben, vom Kuratorium eine Orange. Als sie noch Internatsschülerin war, hatte sie auch einmal eine Orange erhalten. Doch da sie inzwischen zur Hilfslehrerin befördert worden war und dem Namen nach etwas verdiente, stand ihr solch ein weihnachtlicher Leckerbissen nicht mehr zu.

Als Clara an der letzten Station der Reise aus der letzten Kutsche ausstieg, verwunderte es sie nicht, dass sie von dem Wachmann ignoriert wurde, während er geschäftig herumfuhrwerkte, um das Gepäck aller Reisenden abzuladen, die aussahen, als könnten sie ihm ein gutes Trinkgeld geben. Das war allein Miss Badgers Schuld, denn sie hatte ihr zwar alle notwendigen Fahrkarten für die Fahrt gekauft, aber es versäumt, ihr Geld für unterwegs mitzugeben. So konnte Clara den Wachmännern, Kutschern und Kellnern kein Trinkgeld geben. „Ich muss mich vor dem Kuratorium wegen jeder unerwarteten Ausgabe verantworten“, hatte Miss Badger erklärt. Und wenn Clara an diese schwarz gekleideten, feierlichen Männer dachte, konnte sie verstehen, warum die Schulleiterin stets so sorgfältig mit Geld umging.

Clara hatte Spaß daran, während des Wartens all die Menschen zu beobachten, die auf dem Hof des Gasthauses umherliefen. Die Angestellten, wie zum Beispiel Stallburschen, spannten die müden Pferde aus und brachten ausgeruhte Tiere zur Kutsche. Passagiere stiegen aus dem Wagen. Durch die Fenster des Gasthauses konnte sie Kellner erkennen, die mit hoch erhobenen Tabletts voller Krüge und Becher herumhetzten und einen Dampfschwall hinter sich herzogen.

Sie lächelte sogar ein wenig ironisch, als sie sah, dass selbst die Schuljungen besser bedient wurden als sie, und es verwunderte sie auch nicht, dass der Wachmann ihr Gepäck bis zuletzt oben liegenließ. Doch es ärgerte sie, dass er unverschämterweise ihre Tasche auf der hinteren Seite des Wagens herabwarf, als er sich endlich dazu bequemte, sie abzuladen. Danach ging er sofort weg. Dies bedeutete für Clara, dass sie sich den Weg in das dichteste Gewimmel auf dem Hof bahnen musste, um ihre kleine Tasche zu holen. Und sie musste es schnell tun, denn wenn die Tasche dort eine Weile liegenblieb, würde bald einer der Gepäckträger oder ein eiliger Passagier darüber stolpern.

Sie huschte hinter der Kutsche vorbei, um nicht im Wege zu sein, während die Pferde vorn gewechselt wurden. Gerade bückte sie sich, um ihre Tasche aufzuheben, als ein harter Männerarm sie plötzlich um die Taille fasste und zur Seite riss. Sie war so erschrocken, dass sie kaum den Mund öffnen konnte, um zu protestieren. In diesem Moment trottete ein gewaltiges Pferd mit schweren Fesseln über genau die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Wenn sie die Tasche genommen hätte, wäre sie von dem Pferd umgestoßen worden. Vielleicht hätte es sie sogar niedergetrampelt.

Ihr Magen verkrampfte sich, und ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Eigentlich dumm, denn die Gefahr war inzwischen vorüber.

„Haben Sie nicht mehr Verstand im Kopf, als einem Pferd vor die Füße zu laufen, das Scheuklappen trägt?“ Die Stimme kam von direkt hinter ihrem Ohr. Der Mund war ihr so nah, dass der Atem warm zwischen ihrem Kragen und dem Hals hindurch strich. „Haben Sie es nicht kommen gesehen? Oder dachten Sie, dass der Inhalt der Tasche es wert ist, sein Leben dafür zu riskieren?“

Clara drehte den Kopf so weit zurück wie möglich, obwohl sie wegen der Krempe ihrer Haube nicht mehr von dem Mann mit der wütenden Stimme und dem harten Arm sehen konnte als die Wange mit dem dunklen Bartschatten.

Seien Sie nicht dumm … natürlich habe ich das Pferd nicht kommen sehen. Das hätte sie gern gesagt, aber ihr Herz schlug bis zum Hals und der Arm des Mannes presste sich gegen ihren Magen. Alles, was aus ihrem Mund kam, war ein kleines wimmerndes Geräusch.

„Sie zittern ja“, stellte der Mann fest. Offenbar überraschte ihn das. Obwohl sie gerade eine Beinahe-Begegnung mit dem Tode in Form eines Zugpferdes hatte und unter Schock stand, weil ein dunkler und entschlossen klingender Fremder sie von den Füßen gerissen hatte. „Sie sollten sich besser setzen.“

Die Umklammerung durch den Arm um ihre Taille lockerte sich. Der Mann war nun nicht mehr hinter ihr und außerhalb ihres Blickfeldes, sondern an ihrer Seite. Immer noch hielt er sie fest, aber jetzt versuchte er sie in Bewegung zu setzen. In Richtung des Gasthofs.

„Meine Tasche“, stieß sie mit quiekender Stimme aus, als sein Griff sich änderte.

„Lassen Sie die Tasche, wo sie ist“, sagte er mit gereizt klingender Stimme. „Sie hat Ihnen schon genug Ärger eingebracht.“

„Oh, aber …“

„Ich gehe sie holen, sobald Sie an einem sicheren Ort sitzen.“

„Oh. Nun, ich danke Ihnen“, sagte sie, als er sie auf eine Bank direkt unter dem Fenster setzte, durch das sie eben noch hindurchgeschaut hatte. Und bevor sie ihn richtig ansehen konnte, entfernte er sich mit großen Schritten. Behände wand er sich zwischen den anderen hin- und herlaufenden Leuten hindurch, wobei sein schwerer dunkelblauer Mantel über die Pflastersteine streifte. Dann stieß er hinab, ergriff ihre Tasche und drehte sich zurück, um mit einer geschickten Bewegung zu ihr zurückzukehren. Irgendwie erinnerte er sie stark an einen großen schwarzen Raubvogel.

Als er ihr nun von Angesicht gegenüberstand, war ihr erster Eindruck der eines schmalen Gesichts, dessen Miene perfekt zu seiner Stimme passte.

„Hier“, sagte er und ließ die abgenutzte und nun auch noch schmutzige Tasche vor ihre Füße fallen. Dann blieb er einen Augenblick still stehen und schaute sie mit schräggestelltem Kopf von oben herab an.

Unter seinem dunkelblauen Zweispitz-Hut sah sie dunkle Augen, eingerahmt von schwarzen Wimpern, und darüber dichte schwarze Brauen. Trotz der strengen düsteren Miene fand sie ihn sehr attraktiv. Es verwunderte sie. Warum in aller Welt sollte sie sich von einem Mann angezogen fühlen, der sie grob behandelte, ihr sagte, sie sei dumm, sie auf einer Bank ablud und sie nun mürrisch anblickte, als sei sie etwas Unangenehmes, auf das er gern verzichtet hätte?

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er dann, und seine Miene wurde noch mürrischer, als sie nicht antwortete. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie sich eigentlich bedanken müsste, weil er sie und ihre Tasche gerettet hatte, statt ihn nur anzustarren.

„Soll ich jemandem Bescheid sagen? Es ist nur so …“ Er machte eine halbe Drehung und blickte sich auf dem betriebsamen Hof um. „… Ich bin hier, um jemanden abzuholen, und ich will sie nicht übersehen unter diesen vielen Menschen.“

Ihr Herz machte einen seltsamen Hüpfer. Er hatte eine Liebste. Natürlich hatte er eine. Ein Mann, der so aussah … Und er trug Kleidung von guter Qualität, wie ihr nun aus der Nähe auffiel. Natürlich musste er eine Liebste haben. Und natürlich wollte er keine wertvolle Zeit verschwenden, die er mit ihr hätte verbringen können, indem er eine tollpatschige dumme Hilfslehrerin vor den Folgen ihrer eigenen Kurzsichtigkeit rettete.

„Es geht mir gut“, sagte sie mit erhobenem Kinn. Weil es ihr gut ging. Der plötzliche Schmerz war nur die Folge des Zusammenstoßes mit der Gefahr und war nicht real. Und es machte ihr nichts aus, dass der Mann zu beschäftigt war, um bei ihr zu verweilen. Er hatte genug getan. Immerhin hatte er sie gerettet. Es war ein Abenteuer gewesen, und es war vorbei, ohne dass ihr etwas zugestoßen wäre.

Wieder schaute er zu ihr herab. „Nun, wenn Sie sicher sind … Es ist nur so, dass sie in der Kutsche sein sollte, aus der Sie gestiegen sind und …“ Er schaute sie scharf an. „Hören Sie mal, Sie sind nicht zufällig Miss Isherwood?“

Nur werktags, hätte sie gern leichtfertig gesagt, weil sie sonst nie eine Chance hatte, Scherze zu machen. Aber dieser Tag war etwas Besonderes. Weil es etwas ganz Außergewöhnliches war, Weihnachten in der Residenz eines Dukes zu verbringen. Und dann auch noch von einem fremden Mann vor einer drohenden Gefahr gerettet zu werden. All das hatte etwas Unwirkliches.

Doch ihr gesunder Menschenverstand setzte sich durch. Wenn er wegen Miss Isherwood hier war, dann wohl deswegen, weil er sie zum Palast des Dukes fahren sollte. Nach langem Murren über den komplizierten Reiseweg und bevor sie ihr ein Päckchen Fahrscheine in die Hand drückte, hatte Miss Badger ihr erklärt, dass dieser Gasthof der nächstgelegene vor ihrem Zielort sei. Weiter würde die Postkutsche sie nicht bringen. Und sie werde einen Brief schreiben, damit jemand kommen würde, um sie abzuholen.

Dies war dann wohl dieser Jemand.

Er sah sie mit finsterem Blick an. „Sie sehen nicht so …“

Sie hatte den Verdacht, dass er hatte sagen wollen nicht so aus wie erwartet. Aber er riss sich offensichtlich zusammen, veränderte den ungläubigen zu einem bloß höflichen Gesichtsausdruck und sagte: „Das heißt also, Sie sind der Ehrengast der Braut?“

Clara war perplex. „Ehrengast? Davon weiß ich nichts. Aber ich habe eine Einladung zur Vermählung von Miss Fairclough und dem Duke of Braid erhalten. Möchten Sie sie sehen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie die Schnüre ihres Retiküls und wühlte darin, bis sie die dicke cremefarbene Karte mit Goldrand fand. Sie war sehr froh, dass sie sie mitgenommen hatte. Um die Karte nicht zu beschädigen, hatte sie sie eigentlich zur Aufbewahrung zwischen die Seiten ihres Gebetbuchs stecken wollen. Doch dann hatte sie die Befürchtung, ohne die Karte würde man nicht glauben, dass eine so schlicht aussehende Person wie sie einen prachtvollen Ort wie den Palast des Dukes betreten durfte. Doch ihr Name stand auf der Karte, und auf die Rückseite hatte die Braut selbst eine persönliche Bemerkung geschrieben. Mit dieser Karte in der Hand würde ihr niemand den Zutritt verwehren.

Der Mann blickte auf die Einladung. Dann nahm er den Hut ab und machte eine knappe Verbeugung.

Sie unterdrückte einen erleichterten Seufzer, weil sie das Gefühl hatte, gerade eine möglicherweise unangenehme Hürde überwunden zu haben.

„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Isherwood. Ich bin Lieutenant Warren.“

Lieutenant? Nun, wenn er in der Army oder Navy war, würde das seine schroffen Manieren erklären. Er war wahrscheinlich eher gewohnt, Leute herumzukommandieren, als höfliche Konversation zu machen.

Clara stand auf und knickste respektvoll. „Und ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Lieutenant. Ohne Sie hätte das Pferd mich wahrscheinlich niedergetrampelt.“

Er lächelte nicht, aber die strenge Linie seiner Lippen sah etwas weicher aus. Es machte seine Miene ein wenig freundlicher.

„Wenn Sie mit mir kommen würden“, sagte er und zeigte die Richtung mit dem Arm. „Draußen auf der Straße steht mein Fahrzeug bereit. Denn wie Sie wohl bereits erraten haben, bin ich gekommen, um Sie zum Saxony Palace zu bringen.“

„Vielen Dank“, sagte sie erfreut.

Als er ihre Tasche nahm und voranging, teilte sich die dichte Menschenmenge vor ihm und hinter ihm war für sie der Weg frei. Am liebsten wäre sie gehüpft. Nicht nur, weil sie den trübseligen Weihnachtsfeiertagen in der Schule entgangen war, nicht nur wegen der interessanten Reise und nicht nur, weil sie von einem attraktiven dunklen Fremden aus großer Gefahr gerettet worden war. Nun würde sie auch noch den Weg zum Saxony Palace in seiner Gesellschaft verbringen, egal wie lange es dauerte.

Welch ein Abenteuer! Wie viele Geschichten würde sie den Mädels erzählen können, wenn sie nach Heath Top zurückkam!

2. KAPITEL

Auf dem Weg zu seinem neuen Fahrzeug warf Hugo einen langen Blick auf die schlanke, ein bisschen unbeholfen wirkende junge Frau, die angeblich Miss Isherwood war. Konnte dies wirklich die Person sein, von der die künftige Braut des Dukes in so glühenden Worten geschwärmt hatte? Die Einzige, die für sie als Ehrendame in Frage kam?

Nachdem er das törichte Mädchen kennengelernt hatte, das demnächst die Duchess of Braid sein würde, hatte er angenommen, ihre engste Vertraute sei aus demselben Holz geschnitzt. Er hatte erwartet, dass ein blendend schönes Geschöpf aus der Ein-Uhr-dreißig-Kutsche aussteigen würde, auffällig und möglicherweise farbenfroh gekleidet. Eine Person, die einfältig lächeln und zwinkern oder ihm seufzend ins Gesicht schauen würde – und die er vor einer Schar verliebter Bauernburschen retten müsste, die sich auf der Reise an ihre Fersen geheftet hätten.

Stattdessen war sie so unauffällig, dass er sie kaum gesehen hatte, als sie aus der Kutsche stieg. Sie fiel ihm erst auf, als sie quer über den Hof ging, um ihr einziges Gepäckstück zu holen, und um ein Haar von einem Packpferd niedergetrampelt worden wäre.

Das hieß aber vermutlich nur, dass sie wahrscheinlich auf andere Weise töricht war als die zukünftige Braut.

Obwohl … könnte ihm ihre Unbeholfenheit vielleicht seine Aufgabe erleichtern? Das überlegte er, als er ihr hinauf in den Passagiersitz half.

Bevor er abfuhr, hatte er befürchtet, dass die erwartete modebewusste Frau sich beklagen würde, wenn er sie im offenen Zweispänner abholte. Er hatte sich darauf vorbereitet, ihr klarzumachen, dass er das Gepäck, welches nicht auf den hinteren Gepäckträger passte, später holen lassen müsse.

Aber das war nicht nötig. Er konnte die eine schäbige kleine Tasche einfach unter ihren Sitz schieben.

Dabei fiel ihm auf, dass der Mantel, den er vorher nur steif und farblos fand, außerdem auch noch ein wenig fadenscheinig war.

Sein Gewissen schlug. „Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, in einem offenen Wagen zu fahren. Heute ist ein milder Tag“, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. Um sein Gewissen zu beruhigen, aber auch um eventuellen Vorwürfen zuvorzukommen. „Und ich dachte mir, Sie hätten vielleicht gern etwas frische Luft nach einem langen Reisetag, eingepfercht in öffentliche Postkutschen.“

Sie sah ihn mit einem so süßen Lächeln an, dass er seinen ersten Eindruck von ihr komplett revidierte. Sie war unbeholfen, schlecht gekleidet und trug eine Haube, die aussah, als sei sie einzig zu dem Zwecke entworfen worden, das gesamte männliche Geschlecht abzuschrecken, doch hatte sie ebenso viel Potenzial, einem ahnungslosen Burschen den Kopf zu verdrehen, wie ihr Schützling.

Und außerdem – wie sonst hätte die kleine Miss Fairclough ihre vielen Tricks lernen sollen als von einer durchtriebenen Lehrerin?

„Oh, das ist freundlich von Ihnen“, sagte Miss Isherwood. „Und ich muss gestehen, dass ich die Reise in so einem Fahrzeug genießen werde“, fügte sie hinzu und schaute sich mit aufmerksamen Blicken auf ihrem hohen Sitz um. „Wissen Sie, das ist für mich etwas ganz Neues. Bis heute hatte ich noch nie dazu die Gelegenheit. Für mich ist das alles ein großes Abenteuer!“

„Das Problem mit Abenteuern ist“, hob er hervor, denn er hatte davon sehr reichlich in den letzten Jahren genossen, „dass sie sehr schnell ungemütlich werden können.“ Wenn sie wirklich noch nie in einem offenen Zweispänner gefahren war, hatte sie wahrscheinlich keine Ahnung, wie kalt es hier oben sein konnte, wenn sie die volle Geschwindigkeit erreichten. „Hier“, ergänzte er schroff, nahm eine Decke aus dem Kutschkasten und breitete sie über ihren Schoß, „das wird Sie vor der größten Kälte schützen.“

„Oh, danke“, hauchte sie, als sei die Tatsache, dass er sich um ihre Bequemlichkeit Gedanken machte, von großer Bedeutung.

Doch da er sie noch überreden wollte, ihm bei der Erreichung seines Zieles zu helfen, ließ er sich seine Gedanken nicht anmerken. Er hatte viel Erfahrung damit, ein hartes unergründliches Gesicht zu machen. Ein Mann konnte nicht kommandieren, wenn er nicht lernte, wie man seine Untergebenen davon abhält, seine Gedanken oder Gefühle zu erraten. Sie mussten absolut auf seine Befehle vertrauen können – sogar dann, wenn selbst er fürchtete, es sei tollkühn bis an die Grenze zur Kriminalität.

Sie zuckte zusammen und hielt sich an der Seite fest, als er mit einem Peitschenknall die Pferde antrieb. Er schaute misstrauisch zu ihr hinüber, um zu sehen, ob sie zu kreischen anfangen würde. Wenn sie tatsächlich noch nie in einem offenen Fahrzeug gefahren war, fand sie vermutlich die Höhe und das Schwanken des Sitzes in der Aufhängung ein wenig beängstigend. Er wollte nicht, dass sie die Pferde scheu machte.

Doch er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn sie sah absolut nicht ängstlich aus. Ganz im Gegenteil – sie lächelte wieder und diesmal offenbar entzückt.

„Ich bin froh, dass Ihnen Ihre erste Erfahrung auf einem offenen Zweispänner gefällt“, sagte er auf dem Weg durch die engen belebten Straßen.

„Oh ja, es ist wundervoll“, sagte sie. „Von hier oben aus kann man so viel sehen. Und es fühlt sich so schnell an.“

„Wenn wir draußen die freie Wegstrecke erreichen, kann ich Ihnen zeigen, wie schnell meine Pferde wirklich laufen können, wenn Sie möchten“, bot er ihr an. Und dann wunderte er sich über sich selbst, warum in Gottes Namen er ihr so etwas anbot. Wenn er einen anderen Mann so zu einem Mädchen hätte sprechen hören, welches er gerade erst kennengelernt hatte, würde er annehmen, der Kerl wolle sich großtun vor ihr.

„Oh. Ich weiß nicht“, sagte sie zögerlich. „Ich könnte … wollte sagen … Sie gehen doch kein Risiko ein, oder?“

„Sie sind ganz sicher bei mir“, beteuerte er. Und dann fiel ihm auf, dass ihn das noch mehr zum Laffen machte. Obwohl es die Wahrheit war. Er würde niemals das Leben eines Passagiers aufs Spiel setzen, egal was er von der Person hielt. Auch nicht, um seine Fahrkünste zu beweisen oder die unvergleichliche Perfektion seiner neu erworbenen Kastanienbraunen hervorzuheben. „Und sollten Sie sich fürchten, brauchen Sie es nur zu sagen, dann fahre ich sofort langsamer“, fügte er hinzu.

„Vielen Dank“, hauchte sie. „Ich will nicht wie ein Feigling klingen, aber andererseits weiß ich gar nicht, ob ich feige bin oder nicht.“

„Das weiß niemand, bevor er auf die Probe gestellt wird. So, jetzt geht es los“, sagte er, als sie die lange schnurgerade Strecke erreichten, die vom Market Gate bis zu der kurvenreichen Landstraße zum Saxony Palace verlief.

Sie nahm seine Bemerkung wörtlich, und er gab den Pferden das Zeichen zum Beschleunigen. Was sie auch taten, umstandslos und ruhig.

Miss Isherwood sagte nichts, aber immer, wenn er zu ihr schaute, um zu sehen, wie es ihr ging, sah er sie lächeln.

Als er verlangsamte, um abzubiegen und durch die Torpfosten zu fahren, sagte sie: „Das war … berauschend!“

„Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat“, sagte er. Dann räusperte er sich. „Miss Isherwood, ich muss gestehen, dass ich einen Hintergedanken hatte, als ich diesen Wagen wählte, um Sie abzuholen. Natürlich abgesehen von der Hoffnung, dass es Ihnen an der frischen Luft gefallen würde.“ Und außerdem wollte er das Geschenk erproben, das er von seinem Onkel vorzeitig zu Weihnachten bekommen hatte. Noch nie hatte er so schöne Pferde besessen und noch nie die Chance gehabt, so ein perfekt zusammenpassendes Paar zu lenken. Er hatte mehrere vernünftige Gründe angegeben, warum er die beiden Braunen anspannen ließ, als er diesen Auftrag annahm, aber eigentlich hatte er einfach nur der Verlockung nicht widerstehen können.

„Oh?“ Sie wandte sich zu ihm, um ihn anzuschauen, und ihr aufmerksamer interessierter Blick gab ihm das Gefühl, als betrachte sie eine Spezies, die ihr noch nie zuvor begegnet war.

Vielleicht sprach aber nur sein schlechtes Gewissen.

„Ja“, sagte er mit fester Stimme. „Ich hatte gehofft, wir beide könnten uns unterhalten. Etwas Ernstes besprechen. Ich weiß, dass wir in einer geschlossenen Kutsche besser über Privates hätten sprechen können, aber ich hätte nicht guten Gewissens ohne Anstandsdame mit Ihnen bis zum Saxony Palace fahren können.“ Eine perfekte Entschuldigung. Das war es wirklich. „Es hätte den Zweck verfehlt.“ Das hätte es. „Und aus irgendeinem Grund – und obwohl wir ebenso lange allein sind und enger nebeneinander sitzen als in einem geschlossenen Wagen – findet es anscheinend niemand anstößig, wenn ein Mann in einem offenen Zweispänner allein mit einer unverheirateten Frau sitzt.“

„Ist das wahr?“

Er blickte sie an und fragte sich, ob sie es wohl sarkastisch gemeint hatte. Doch sie sah nur leicht verwirrt aus.

Er räusperte sich erneut.

„Tatsache ist“, sagte er und beschloss, sofort zur Sache zu kommen, „dass wir – also die Familie des Dukes – alle besorgt über diese Heirat sind.“

Besonders er selbst. Er mochte vielleicht keine hohe Meinung von Miss Faircloughs Intelligenz haben, aber er konnte nicht tatenlos zusehen, wie das törichte junge Ding einen schrecklichen Fehler machte, der ihr ganzes Leben zerstören würde. Nicht, wenn er es verhindern konnte. Er würde es sich nie verzeihen. Ebenso wenig, wie er sich verziehen hatte, dass er Julie, die Tochter seiner Nachbarn, nicht davor bewahrt hatte, einen Mann zu heiraten, von dem sie vorher schon wusste, dass er ihr das Leben schwer machen würde. Jedes Mal, wenn ihm in den darauffolgenden Jahren Gerüchte über die Grausamkeiten Lord Warings gegenüber seiner jungen Braut zu Ohren kamen, wünschte er, er hätte sie einfach entführt und heimlich geheiratet. Sie hatte ihn angefleht, es zu tun.

Der leicht verunsicherte Blick seines Fahrgasts vertiefte sich zu einem der größten Verwirrung.

„Was meinen Sie damit?“, wollte sie wissen.

„Nun, es ist so, dass Seine Gnaden mindestens dreimal so alt ist wie Miss Fairclough“, stieß er hervor. „Und sein Bauchumfang ist ungefähr viermal so groß wie ihrer. Seine drei Töchter sind alle alt genug, um ihre Mutter zu sein. Und alle hoffen, Sie könnten sie überzeugen, sich zu …“ Denn es musste die Lady sein, die einen Rückzieher machte. Kein Mann von Ehre konnte ein Verlöbnis brechen, erst recht nicht wenige Tage vor der Trauung. „… und sie warnen. Ich wollte Sie bitten, sich bei ihr zu vergewissern… ob sie wirklich völlig sicher ist, dass sie es ertragen kann … und ob diese Verbindung wirklich das ist, was sie sich wünscht. Und ihr sagen, falls nicht, dass sie sich an mich wenden kann. Ich würde ihr helfen, aus dem Palast zu entkommen, und auch dafür sorgen, dass sie keine Beschuldigungen von ihrer eigenen Familie zu befürchten hätte.“

Denn dies war der große Unterschied. Er war kein reicher Mann, aber er war auch kein Junge ohne eigenes Einkommen mehr. Irgendwie könnte er ein Mädchen unterstützen, das keinen anderen Ausweg sah und niemand anderen hatte, an den sie sich wenden konnte. Irgendwie.

Gewiss würde diese Frau, die im Moment neben ihm saß, sich an sein Hilfsangebot erinnern, wenn sie erst einmal den Duke of Braid mit eigenen Augen sah. Dann würde sie hoffentlich genug Vernunft haben, um es Miss Fairclough auszureden, diese zwangsläufig verheerende Verbindung einzugehen.

Wenn nicht … nun, daran mochte er nicht einmal denken.

3. KAPITEL

Zum ersten Mal seit ihrer Abreise spürte Clara die Kälte. Wie ein eisiger Finger lief es ihr kalt über den Rücken.

Miss Faircloughs Verlobter war dreimal so alt wie sie?

Und viermal so dick?

Und die ganze Familie des Dukes wollte Miss Fairclough davon abhalten, ihn zu heiraten? Kein Wunder, dass sie Carla zu sich eingeladen hatte. Das arme Mädchen war gewiss verzweifelt und brauchte jemanden – irgendjemanden – zu ihrer Unterstützung.

Bevor sie Lieutenant Warren eine Antwort auf diese neuen Informationen geben konnte, fuhren sie um eine Kurve und sie fing ihren ersten Eindruck von dem Palast auf. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Es war atemberaubend, und niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie von der unglaublichen Pracht überwältigt wurde. Tatsächlich fürchtete sie, Lieutenant Warren würde sie für ein Landei halten, darum schloss sie ihren vor Staunen offen stehenden Mund rasch wieder.

Das Gebäude war riesig. Unzählige Reihen von Fenstern sahen aus wie goldene Tafeln in einer Fassade aus hellem Stein und schienen in den Strahlen der untergehenden Sonne warm zu glühen.

Eine Lady eilte ihnen entgegen, um sie zu begrüßen, als die Kutsche um einen kiesbestreuten Wendekreis fegte und vor einer Treppe unter einem Säulenvorbau zum Stehen kam.

„Ich bin Mrs. Cromwell“, informierte die Lady Clara, „die Haushälterin Seiner Gnaden. Ich werde Sie persönlich zu Ihrem Zimmer begleiten“, fügte sie in einem Ton hinzu, der Clara klarmachte, was für einen großen Gefallen sie ihr damit erwies.

„Ich sollte wohl …“, sagte Clara in entschuldigendem Ton zu Lieutenant Warren und kletterte schnell von ihrem hohen Sitz hinab. Und bevor sie mehr tun konnte, als ihre Tasche zu ergreifen und Lieutenant Warren einen Dank zuzurufen, wurde sie schon von Mrs. Cromwell ins Haus geführt.

Sie hatte das Äußere schon für prächtig gehalten, aber das Innere war sogar noch beeindruckender. Clara war noch nie im Haus einer bekannten Persönlichkeit gewesen, aber selbst ihr fiel auf, dass die vielen Gemälde und Verzierungen, ja sogar das Holz der Treppengeländer, von feinster Qualität waren.

„Dies ist Ihr Zimmer, Miss Isherwood,“ sagte Mrs. Cromwell, als sie oben ankamen. Sie öffnete ihr die Tür zu einem Raum, der so groß war wie der Schlafsaal, in dem sie als junge Schülerin in Heath Top geschlafen hatte. Das war aber auch die einzige Ähnlichkeit, die sie entdecken konnte. So etwas sah sie zum ersten Mal. Noch nie hatte sie einen Teppich betreten, der so dick und weich war, oder Wände erblickt, die offenbar mit echter Seide tapeziert waren. Ebenso wenig hatte sie je ein Schlafzimmer mit einem so gewaltigen Kamin gesehen, in dem auch noch ein großes Feuer fröhlich flackerte!

Ein Berg von Kleidern, Handschuhen, Federn und einen zerknitterten Haufen Samt zwischen anderen Gegenständen lag auf dem massiven Seiden-Himmelbett mit Eichenpfosten.

„Es muss sich um einen Irrtum handeln …“, sagte sie.

„Nein, dies ist Ihr Zimmer. Miss Fairclough bestand darauf“, sagte Mrs. Cromwell und ging eilig zum Fenster. Sie zupfte an den Vorhängen, als wolle sie Claras Aufmerksamkeit auf die Aussicht lenken. „Von hier aus sehen Sie die formellen Gärten. Sie sagte, sie sei sicher, dass es Ihnen hier gefallen würde.“

„Oh, aber …“ Clara zeigte auf die durcheinanderliegenden Dinge auf dem Bett, „… wem gehören denn diese Sachen?“

„Sie sind hier!“ Miss Fairclough sprang plötzlich in das Zimmer herein und umarmte Clara stürmisch. „Es tut mir so leid, dass ich zur Begrüßung nicht zur Tür gekommen bin, aber ich schwöre“, sagte sie und legte eine Hand auf die Brust, „ich bin sofort losgegangen, als ich Sie ankommen hörte. Hatten Sie eine gute Fahrt? Gefällt Ihnen das Zimmer? Möchten Sie Tee? Und möchten Sie sich frisch machen? Cromwell, seien Sie so gut und holen Sie Tee und eine Kanne Wasser. Oder besser gleich mehrere Kannen. Sie können gern vor dem Dinner ein Bad nehmen, Miss Isherwood …“

Clara nahm Miss Faircloughs Hände zwischen ihre und drückte sie. Dabei forschte sie in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Kummer. Nach allem, was Lieutenant Warren ihr erzählt hatte, und auch wegen der Einladung in letzter Minute, hatte sie erwartet, ihre ehemalige Schülerin beunruhigt vorzufinden.

Aber so war es nicht.

„Ja, ich würde mich über Tee und eine Waschgelegenheit freuen“, sagte Clara. „Und das Zimmer ist wunderschön. Allerdings … wird diejenige, die hier sonst wohnt, nichts dagegen haben, es mit mir zu teilen?“ Dies erschien ihr die plausibelste Erklärung für den Haufen Kleider auf dem Bett.

„Sie teilen das Zimmer mit niemand, liebste Miss Isherwood. Diese Sachen sind …“ Sie drehte sich zur Haushälterin um und zog gebieterisch eine Augenbraue hoch. „Sind Sie noch da? Meine Ehrendame möchte Tee und Wasser für ein Bad.“

Dann kicherte sie, als die Haushälterin sichtlich beleidigt aus dem Zimmer stapfte. „Sie mag mich nicht“, sagte sie zu Clara. „Nun, keiner von denen mag mich, aber was schert mich das?“ Sie warf den Kopf so trotzig in den Nacken wie früher, wenn sie zu Miss Badger zitiert wurde.

„Ja, davon habe ich gehört“, sagte Clara zögernd. „Die Familie ist wohl besorgt, dass der Duke möglicherweise … etwas älter ist, als man sich wünschen würde …“

„Puh! Mir ist es egal, wie alt er ist. Buttons ist total lieb. Und …“, sie legte den Kopf schräg und machte ein verschmitztes Gesicht, „Sie können das nur von seinem Neffen erfahren haben, da er derjenige ist, der Sie von der Station abgeholt hat. Und er leidet wahrscheinlich unter einem schweren Fall von Missgunst, denn wenn ich Buttons einen Erben schenke, schließt es ihn aus.“

Es schloss ihn aus? „Wollen Sie mir damit sagen, dass Lieutenant Warren der Neffe des Dukes of Braid ist?“ Denn sie vermutete, dass Buttons der Kosename war, den Miss Fairclough ihrem künftigen Gatten gegeben hatte.

Miss Fairclough nickte. „Und auch sein Erbe, da er bisher nur Töchter hat.“

Sein Erbe? Hatte Lieutenant Warren aus diesem Grund seine Bedenken wegen der bevorstehenden Heirat ihrer Schülerin mit dem Duke of Braid geäußert?

Plötzlich fiel ihr wieder die schroffe Art ein, wie er zu ihr gesprochen hatte, bevor er wusste, wer sie war. Sein barscher Ton, als er sie tadelte, weil sie beinahe dem Zugpferd vor die Hufe gelaufen wäre.

Und dann die plötzliche Wandlung, als er herausfand, wer sie war, und vermutete, dass sie einen gewissen Einfluss auf die Frau haben könnte, die seinen Onkel heiraten und ihm möglicherweise einen männlichen Erben schenken würde.

Oh … so niedergeschmettert und enttäuscht war sie nicht mehr gewesen, seit … nun, sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie sich jemals so desillusioniert gefühlt hatte. Er war ihr so perfekt vorgekommen. Wie ein Inbegriff männlicher Tugend. Von dem Moment an, als er seinen starken Arm um sie gelegt und sie aus der Gefahrenzone gefegt hatte.

Als sie vorhin darüber nachdachte, wie sie ihr Abenteuer den Mädchen in Heath Top erzählen würde, hatte sie vorgehabt, ihn als den Helden der Geschichte darzustellen. Zuerst wollte sie ihnen eine Handvoll Anekdoten über die spaßigen Leute erzählen, denen sie unterwegs begegnet war. Und wie es war, allein in der Herberge einer Poststation zu übernachten. Danach wollte sie ihren ersten Eindruck von dem hübschen jungen Mann, der sie abholen kam, beschreiben. Wie er sie rettete und zum Palast brachte. In einem hochmodernen Wagen, gezogen von glänzenden Pferden, die Dampf aus den Nüstern stießen wie Drachen den Rauch, als sie über die winterliche Straße donnerten.

Wahrscheinlich hätte sie den Mädchen nicht erzählt, wie … geehrt sie sich fühlte, als er so aufmerksam die Decke über ihre Knie legte, um sie vor der Kälte zu schützen. Und nichts darüber, dass er sich nach ihrer Meinung erkundigte, bevor er die Pferde zu diesem aufregenden Galopp antrieb.

Niemand war jemals so aufmerksam zu ihr gewesen. Noch nie hatte jemand sie nach ihrer Meinung über etwas gefragt, das geplant war, nicht einmal, wenn es sie selbst betraf. Und schon gar nicht hätte jemand die Wegstrecke geändert, um ihr einen Gefallen zu tun. Und auf keinen Fall hätte sie den Mädchen erzählt, wie ihr Herz flatterte, als er sie in den Armen hielt. Sie hatte vorgehabt, das Ganze zu einem erbaulichen Abenteuer auszuspinnen, geeignet für Jugendliche, die eine solche Geschichte schön finden würden statt der üblichen frommen Predigten.

Aber er war gar kein Held.

Er hatte sie anscheinend manipulieren wollen.

Es bewies ihr nur, wie wehrlos eine Frau gegenüber einem einigermaßen attraktiven Mann sein konnte, wenn sie nur wenig darüber wusste, wie Männer wirklich waren.

„Aus diesem Grund“, sagte Miss Fairclough, „nun ja, teilweise aus diesem Grund, habe ich darauf bestanden, dass Sie meine Ehrendame sein sollten.“

Aha. Also war die junge Frau doch nicht so ungerührt von dem Widerstand gegen ihre Heirat.

„Ich brauchte jemanden hier, der ganz auf meiner Seite ist“, fuhr Miss Fairclough fort. „Und ich wusste, Sie würden verstehen, warum ich die Gelegenheit ergriff, meinen lieben Buttons zu heiraten. Auch, wenn er älter ist als mein Vater“, fügte sie hinzu und warf herausfordernd den Kopf zurück. Diese Geste kannte Clara von früher sehr gut. „Er bietet mir ein Heim und eine Position, die mir niemand wieder nehmen kann. Selbst, wenn wir uns entzweien oder er sterben würde, wäre ich immer noch die verwitwete Duchess und hätte ein eigenes Haus, aus dem mich niemand vertreiben könnte“, endete sie heftig.

In diesem Moment sah sie wieder genauso aus wie das verletzliche und wütende kleine Mädchen, das damals in Heath Top ankam und behauptete, es gehöre nicht hierher, da es keine Waise sei. Nacht für Nacht hatte das Kind zornige Tränen vergossen über den Verrat seines Vaters, der es wegschickte, nachdem seine zweite Ehefrau ihm einen Sohn geboren hatte.

Clara tätschelte Miss Faircloughs Hand. „Ja, ich kann Ihren Wunsch verstehen, eine Sicherheit in dieser unsicheren Welt zu haben. Und solange er freundlich zu Ihnen ist …“

„Oh, Buttons ist der großzügigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er besteht darauf, mir eine komplett neue Garderobe von den besten Modistinnen zu schenken. Er sagte, er wolle mich nicht mehr in den lumpigen Kleidern sehen, die ich während meiner Saison getragen habe. Darum gebe ich das alles Ihnen“, sagte sie mit einem triumphierenden Blick. Offenbar fiel ihr nicht auf, dass zusätzlich zu dem Berg an Kleidung indirekt eine Beleidigung für Clara darin enthalten war.

„Nun“, schloss Miss Fairclough, „ich wusste, dass Sie nichts Passendes anzuziehen haben würden für eine Hausparty, an der seine steifen zerknitterten Töchter teilnehmen würden.“ Sie warf einen Blick auf Claras schäbige kleine Tasche. „Wie ich sehe, hatte ich recht.“ Ihr Gesicht trug wieder den trotzigen Ausdruck. „Ich werde diesen bösartigen Frauen keine Gelegenheit geben, dass Sie sich schlecht fühlen müssten. Sie werden für jede Mahlzeit ein anderes Kleid anziehen können, zusammen mit den passenden Accessoires.“

„Ich weiß, dass Sie und ich eine unterschiedliche Figur haben“, sagte sie und untertrieb damit gewaltig. Miss Fairclough war kleiner als Clara und hatte üppigere Formen. „Aber ich habe für alles gesorgt. Nach Ihrem Bad schicke ich eine Frau zu Ihnen, um Sie zu vermessen und etwas auszuwählen, das bis zum Dinner heute Abend fertig sein kann. Denn ich werde Sie nicht den garstigen Bemerkungen dieser sogenannten Ladys aussetzen, nur weil Sie kein passendes Kleid haben.“

Clara fehlten die Worte. Sie hatte tatsächlich nur ihr bestes Sonntagskleid eingepackt, das sie an jedem Abend und auch zu der Eheschließung zu tragen beabsichtigte.

Und außerdem – welche Frau könnte dem Angebot von mehreren neuen Kleidern widerstehen? Eins für jeden Abend ihres Aufenthalts und ein weiteres für die Zeremonie.

Obschon Miss Fairclough alles als lumpig bezeichnet hatte, sah der Berg farbiger luxuriöser Kleider auf dem Bett für sie aus wie ein Schatz aus Aladdins Höhle.

„Miss Fairclough“, sagte sie. „Das ist ja wirklich sehr freundlich von Ihnen …“

„Ach bitte, nennen Sie mich Bella.“

„Dann nennen Sie mich bitte Clara“, fühlte Clara sich verpflichtet zu antworten.

Triumphierend und mit strahlendem Lächeln, rauschte Miss Fairclough aus dem Zimmer. Clara blieb zurück und fühlte sich, als habe sie gerade eine Begegnung mit einem kleinen blonden Wirbelwind gehabt.

Sie musste lächeln.

Denn obwohl sie drauf und dran war, eine Duchess zu werden, sah es nicht so aus, als habe sich Miss Fairclough im Geringsten verändert.

4. KAPITEL

Nachdem Hugo Miss Isherwood am Haupteingang abgesetzt hatte, fuhr er mit dem Zweispänner zu den Stallungen und ließ sich vom Pferdeknecht seine Stute Remembrance satteln. Er war noch nicht bereit, in den Palast zu gehen und schönzutun mit seinen Onkeln, Tanten und Cousinen und all ihren Begleitern, die ihnen auf Schritt und Tritt folgten.

Seit er nach dem Tode seines älteren Bruders Malcolm einen Schritt näher an die Adelskrone herangerückt war, war er auf einmal interessant für bestimmte Frauen geworden. Es waren solche, die selbst gern den Hermelinmantel tragen würden. Sie schmeichelten jedem seiner Verwandten, um ihm näherzukommen. Zumindest erschien es ihm gestern Abend und heute Morgen so. Er konnte kaum in Ruhe sein Frühstück essen, ohne dass ihm die eine oder andere seiner Tanten eine entzückende junge Lady vorstellten, die Tochter einer engen Busenfreundin.

Er verbrachte ein bis zwei informative Stunden damit, die äußersten Winkel des Anwesens zu erkunden, und kehrte erst zurück, als es dunkel wurde. Er wollte nicht riskieren, dass sich Remembrance verletzte, indem sie in ein Kaninchenloch oder etwas Ähnliches trat.

Er brachte das Tier in den Stall und warf noch einen langen Blick auf die wunderschönen Kastanienbraunen, die er vorhin am Wagen hatte. Dann betrat er den Palast durch die Tür zu den Dienstbotenquartieren. Von dort aus konnte er sein Zimmer über die Hintertreppe erreichen.

Er war noch nicht auf der zweiten Etage angekommen, als ein unerwarteter Anblick sein Blut zum Kochen brachte. Lord Baguley, der mit der ältesten Tochter des Dukes verheiratet war, bedrängte auf dem Zwischengeschoss anscheinend eine Hausmagd. Hinter dem breiten Körper des Mannes konnte Hugo nur die Schürzenzipfel der Frau sehen, aber vermutlich drückte sie sich dicht an die Wand, um dem sabbernden Mund des älteren Mannes auszuweichen.

Zumindest vermutete er, dass es sich um eine Hausmagd handelte. Doch als Lord Baguley sich halb umdrehte – wahrscheinlich hörte er ihn kommen –, erkannte Hugo, dass es sich um Miss Isherwood handelte.

„Was zum Teufel tun Sie da, Baguley?“ Hugo ging den Mann an, ohne einen Gedanken an ihre familiären Beziehungen zu verschwenden, und zerrte ihn von der offensichtlich verängstigten Miss Isherwood fort.

„Nur ein bisschen Spaß mit einer hübschen kleinen Magd“, knurrte Lord Baguley. „Das geht Sie nichts an, Warren.“

„Es ist nicht spaßig, wenn Sie offensichtlich das arme Mädchen zu Tode erschrecken“, gab er zurück. „Außerdem ist sie keine Hausmagd, sondern ein Gast.“ Als ob das einen Unterschied machte. Hugo wusste nur zu gut, dass Männer wie Lord Baguley die weiblichen Dienstboten in den Häusern, die sie aufsuchten, als Freiwild betrachteten. Er würde sich nicht wundern, wenn der Mann sich sogar an seinen eigenen Angestellten vergriff.

Lord Baguley zog eine Augenbraue hoch. „Ist das so? Was macht sie dann hier auf der Hintertreppe? Hat sich wohl verlaufen, was?“, sagte er und wandte sich wieder zu Miss Isherwood, die sich in der Zeit, als Hugo ihren Angreifer ablenkte, seitlich an der Wand entlang bewegt hatte, um sich aus seiner Reichweite zu entfernen. „Dann gestatten Sie mir, Ihnen den Weg dorthin zu zeigen, wo auch immer Sie hinwollten“, sagte er und streckte ihr mit öligem Lächeln den gebeugten Arm entgegen.

„Ich kann Miss Isherwood bringen, wohin sie gehen möchte“, sagte Hugo und stellte sich zwischen Lord Baguleys Arm und Miss Isherwood.

„Meinen Sie?“ Lord Baguley schaute spöttisch Hugos nicht gerade vorzeigbare Bekleidung an.

Miss Isherwood regelte die Angelegenheit, indem sie zu Hugo trat und sich an den Ärmel seines schmutzbedeckten Mantels klammerte, obwohl er bisher noch nicht einmal daran gedacht hatte, ihr seinen Arm entgegenzustrecken.

„Ich verstehe“, sagte Lord Baguley mit einem ziemlich garstigen Grinsen. „Dann bleibt mir nur zu sagen, dass ich mich darauf freue, unsere Bekanntschaft in den nächsten Tagen zu vertiefen.“ Er machte eine sichtlich ironische Verbeugung vor Miss Isherwood und ging die Treppe hinunter – in Richtung der Dienstbotenquartiere, wie Hugo mit ungutem Gefühl feststellte. Und dort würde er dann wahrscheinlich weitere Frauen belästigen, wenn man von seinem Verhalten gerade eben ausgehen konnte.

„Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben, Miss Isherwood“, sagte Hugo und versuchte nicht mehr an den möglichen Ärger zu denken, den Lord Baguley, der mit pfeifendem Atem nach unten ging, dort anrichten würde. „Wenn Sie nicht mehr belästigt werden möchten, sollten Sie sich nur in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Hauses aufhalten.“

„Das ist ja … unerhört! Als wünschte sich irgendeine Frau, belästigt zu werden.“

Ihre Bemerkung versetzte ihm einen kleinen Stich, da er selbst auch gerade gedacht hatte, dass Hausangestellten dasselbe Recht auf respektvolle Behandlung zustand wie jedem Gast. Eine Magd sollte auf der Hintertreppe ebenso sicher sein wie eine Lady auf der großen Treppe.

Daher reagierte er gereizt.

„Aber Sie haben auf der Hintertreppe ja eigentlich nichts zu suchen. Wohin wollten Sie denn überhaupt schleichen?“

„Ich bin nicht geschlichen“, protestierte sie und nahm ihre Hand von seinem Ärmel. Sie richtete sich gerade auf, reichte jedoch trotzdem nur bis zu seinem Kinn. „Ich wollte lediglich das Haus ein wenig erkunden, während ich auf die Näherin warte, die mein Kleid für heute Abend ändern wird. Ich glaube, im Erdgeschoss ist eine schöne Bibliothek, in die ich gern einen kurzen Blick geworfen hätte. Und da Miss Fairclough mir sagte, dass meine derzeitige Kleidung einige Leute zu spöttischen Bemerkungen hinreißen würde …“ Sie machte eine indignierte Handbewegung zu ihrem graubraunen und äußerst unkleidsamen Kleid. Eigentlich hätte er sich denken können, dass alles, was sie unter dem unschönen fadenscheinigen Mantel trug, ebenso unmodisch sein würde. Allerdings hätte er nicht damit gerechnet, dass sie so etwas wie eine große Kittelschürze tragen würde.

Aber immerhin hatte ihr Ärger über ihn ein wenig Farbe auf ihre Wangen gebracht. Der weiße erschrockene Gesichtsausdruck nach Lord Baguleys Angriff hatte ihm nicht gefallen.

„Vielleicht sollten Sie bis dahin besser in Ihrem Zimmer bleiben“, schlug er vor. „Mich dünkt, Sie sind nicht sicher, wenn man Sie allein herumlaufen lässt. Sie haben nicht mehr Vernunft als ein …“

„Wie bitte?“ Nun funkelten auch ihre Augen. Er hatte bis heute nie verstanden, was andere Männer meinten, wenn sie behaupteten, wütende Frauen seien besonders attraktiv. Doch die aufgebrachte Miss Isherwood sah tatsächlich sehr interessant aus.

„Ich teile Ihnen hiermit mit, dass ich eine begabte und intelligente Frau bin. Ich kümmere mich üblicherweise um Mädchen, die nicht nur Erziehung brauchen, sondern auch Beratung und Mitgefühl. Das ist keine Arbeit, die jede beliebige Frau tun kann, wie ich Ihnen sagen muss!“

„Das mag ja so sein“, erwiderte er. „Und ich gebe zu, dass Sie innerhalb der Mauern Ihrer Schule wahrscheinlich sehr fähig sind. Jedoch“, fuhr er fort, „ist es heute bereits das zweite Mal, dass ich Sie vor den Folgen Ihrer eigenen Torheit retten musste. Sie traten vor die Hufe des Pferdes, ohne sich vorher umzuschauen. Und eben tänzelten Sie die Hintertreppe hinunter wie eine Dienerin – direkt in die Arme eines berüchtigten Wüstlings.“

„Wie können Sie es wagen anzudeuten, dass ich einen … irgendeinen … Mann zu meinem Schutz brauche! Vorhin wollte ich nur den Weg von einem Hindernis befreien, damit niemand über meine Tasche stolpern würde. Dieser Wachmann hatte sie einfach mitten auf den Hof geworfen“, protestierte sie. „Und was meine Wahl der Hintertreppe angeht, nun, wie konnte ich denn ahnen, dass es dort nicht sicher ist? Sie müssen wissen, dass ich noch nie an einem Ort wie diesem gewesen bin. Und außerdem“, sagte sie und zog die Augen zusammen, „Sie benutzen ja auch die Hintertreppe.“

„Nun, ja, weil ich nach meinem Ritt sehr schmutzig bin. Überdies …“

„Überdies was?“

„Nun“, gestand er, „so, wie männliche Raubtiere auf der Hintertreppe auf Beute lauern, so haben weibliche die Angewohnheit, auf der öffentlichen Treppe zu lauern.“

Sie runzelte die Stirn. „Was soll das denn nun wieder bedeuten? Oh. Sie glauben, dass Sie ein guter Fang sind und jede Frau sich um Ihre Aufmerksamkeit bemüht.“

„Es ist nur die Wahrheit“, beteuerte er. „Eine gewisse Art von Frauen versucht alles nur Mögliche, um eine Einladung zu einem Ereignis wie diesem zu ergattern. Nur um eine Ausrede zu haben, mich anzusprechen.“

Sie erstarrte. „Beschuldigen Sie mich etwa, Sie zu behelligen? Mir eine Einladung zu dieser Hochzeit erschmeichelt zu haben, weil ich Sie einfangen möchte?“ Sie schnaubte wie ein Pferd, das sich am Hafer verschluckt hat. In ihrem Fall zeigte es aber offenbar eher ihren Zorn an.

„Wenn ich wirklich auf der Jagd nach einem Mann wäre“, warf sie ihm an den Kopf, „… was ich nicht bin, weil ich mich sehr gut selbst versorgen kann, und zwar sowohl finanziell als auch … auf jede andere Weise … dann wären Sie der allerletzte Mann, den ich ins Visier nehmen würde.“

„So sah es für mich auch nicht aus“, sagte er und wunderte sich, warum er die Auseinandersetzung verlängerte, anstatt sich nur ironisch zu verbeugen und fortzustolzieren. Bei jeder anderen Frau hätte er sich gewiss anders verhalten.

Sie sah verblüfft aus.

„Ich meinte doch nur“, sagte er provozierend, „dass Sie nichts gegen meinen Arm hatten, obwohl Sie vor Lord Baguley offensichtlich zurückgeschreckt sind.“

„Sie sind“, sagte sie und schnappte empört nach Luft, „zweifellos der widerwärtigste, arroganteste und pedantischste Mann, den ich je kennengelernt habe!“

Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte zurück nach oben. Dorthin wo, wie er zufällig wusste, ihr Zimmer war. Dort war sie in Sicherheit.

Also Ziel erreicht. Sie hatte ihre Lektion gelernt. So schnell würde sie sich nicht mehr allein hervorwagen.

Wie schade, dass er sie dafür so verärgern musste.

5. KAPITEL

Einige Zeit später stand Clara vor dem großen Spiegel und betrachtete sich von oben bis unten. Diesen Luxus hatte sie bisher noch nicht gekannt.

Was sie sah, brachte ihr jedoch kein ungetrübtes Vergnügen. Die Näherin hatte darauf bestanden, dass dieses Kleid genau das richtige sei für ein Dinner bei einem Duke und seiner adligen Verwandtschaft. Doch Clara konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass es eher zu viel von ihr offenbarte. Es schmiegte sich so eng an ihren Körper, dass ihr Busen voller aussah, als sie vermutet hätte. Der Ausschnitt unterstrich diesen Eindruck noch, indem er tiefer war, als ihr angemessen erschien. Er war so tief, dass sie sich wunderte, dass sie nicht überall Gänsehaut hatte. Doch die hauchdünne Unterwäsche, die sie dank Bella trug, beschützte ihre unteren Gliedmaßen besser, als sie für möglich gehalten hätte.

Gerade begann sie zu überlegen, ob sie jemals genug Mut aufbringen würde, mit diesem tiefen Dekolleté ihr Zimmer zu verlassen, als nach kurzem Klopfen die Tür aufsprang und Bella hereinstürmte.

„Sie sind bereit! Gut“, rief sie. „Oh, und wie elegant Sie aussehen! Ich dachte mir, dass dieser Bernsteinton Ihnen gut stehen würde. Er passt zu Ihren dunklen Haaren und Augen. Und da ich wusste, dass Sie keine passenden Accessoires mitbringen würden, habe ich Ihnen ein paar Perlen zum Umlegen mitgebracht. Nur für den Fall, dass Sie nichts Eigenes haben.“

Sie zupfte an den Schnüren ihrer kleinen Samttasche, die Clara bisher nicht einmal aufgefallen war, und zog daraus eine Bernsteinkette hervor. „Nur ein bisschen Tand. Aber es wird perfekt zu diesem Outfit passen. Mein Onkel, Mr. Lyons – der Gatte meiner Tante Clarissa, die mich in die Gesellschaft einführte, als sie sich endlich wieder meiner Existenz besann –“, fügte sie in scharfem Ton hinzu, „schenkte sie mir zu diesem Anlass.“

„Das kann ich aber nicht …“

„Verderben Sie mir bitte nicht den Abend, indem Sie ablehnen. Es ist ja nur eine Leihgabe. Sie sollen nicht die Einzige unter all diesen juwelengeschmückten Ladys sein, die gar keinen Schmuck trägt.“ Bella legte die Perlenkette um Claras Hals und verhakte den Verschluss. „So“, sagte sie triumphierend und schaute auf ihre beiden Spiegelbilder. „Nun ist es perfekt.“

„Ich kann nicht widersprechen … irgendwie sehe ich nicht mehr so … ausgezogen aus wie vorher …“

Bella lachte. „Ich weiß, was Sie meinen. Als ich zum ersten Mal ein modisches Dekolleté trug, fühlte ich mich sehr sehr entblößt. Das liegt an der vielen freiliegenden Haut. Wenn man die Fläche mit einer Kette unterteilt, sieht es akzeptabler aus, stimmt’s?“

Clara war nicht so sicher. Aber sie konnte solch eine großzügige Geste nur schwer ablehnen. Es würde kleinlich klingen, wenn sie sich über das Kleid beschwerte – das feinste, das sie jemals getragen hatte – oder über die Leihgabe der Bernsteinperlen, die tatsächlich, wie Bella gesagt hatte, perfekt zu dem Kleid passten.

„I… ich …“

Bevor sie den Satz aussprechen konnte, umarmte Bella sie rasch. „Sie brauchen nichts zu sagen, liebste Miss Isherwood. Clara. Ich weiß, du bist es nicht gewöhnt, dass irgendjemand dir irgendetwas schenkt. Ich habe ja auch viele Jahre an dieser elenden Schule verbracht, oder? Und es ist mir eine so große Freude, jetzt in der Lage zu sein, dich ein wenig zu verwöhnen. Du hast mir so viel Freundlichkeit erwiesen, als ich dort war. Ohne dich … wüsste ich nicht, wie ich überlebt hätte. Also ist es nur richtig, dass ich dir ein wenig, nur ein ganz klein wenig, von dem großen Vermögen weitergebe, das mir zugefallen ist.“

„Nun, wenn du es so ausdrückst, sollte ich vermutlich …“

„Genau! Nun komm schon. Lass uns nach unten gehen. Der Zeitpunkt ist genau richtig. Nicht so früh, dass die Katzen die Gelegenheit bekommen, ihre Krallen an uns zu wetzen, aber lange genug vor dem Essen, dass der liebe Buttons sich keine Sorgen machen muss. Es gibt nichts“, sagte sie und zog Clara zur Tür, „worüber er sich mehr ärgert, als nicht mit dem Essen beginnen zu können, weil jemand zu spät kommt. Er ist dann besorgt, dass eine bestimmte Sauce verdirbt oder gerinnt oder … oder … nun ja, solche Dinge“, sagte sie vertraulich, als sie auf die Haupttreppe zu gingen.

Es war die Treppe, von der Clara vorhin gedacht hatte, sie habe nicht das Recht, sie zu benutzen. Darauf lagen prächtige Teppiche, die Geländer waren mit feinster Schnitzerei verziert. In kleinen Nischen standen wertvolle Kunstwerke zwischen so lebensecht gemalten Portraits, dass sie wie echte Menschen aussahen, die herabsahen auf Schullehrerinnen, die die Frechheit besaßen, sich als Gäste in ihrem Heim auszugeben.

Ohne zu zögern, führte Bella Clara in einen riesigen Raum, der fast aussah wie ein sehr breiter Korridor. Darin waren viele Stühle, auf denen aber keiner der prächtig gekleideten Menschen zu sitzen geruhte. Sie standen in kleinen Gruppen beieinander, unterhielten sich und schauten Clara missbilligend an. Vielleicht war es aber Bella, die sie beobac...

Autor

Joanna Johnson
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<p>Marguerite Kaye ist in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Ursprünglich hat sie einen Abschluss in Recht aber sie entschied sich für eine Karriere in der Informationstechnologie. In ihrer Freizeit machte sie nebenbei einen Master – Abschluss in Geschichte. Sie hat schon davon geträumt Autorin zu sein, als sie mit...
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Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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