Historical Saison Band 25

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WINTERMÄRCHEN FÜR MISS POLLY von ROLLS, ELIZABETH
Polly fühlt sich wie Aschenbrödel mit ihrem Prinzen, als Reverend Alex Martindale sie unter dem Mistelzweig zärtlich in die Arme nimmt und küsst. Wird für die mittellose junge Lehrerin etwa doch ein Märchen wahr?

ENTSCHEIDUNG BEIM WEIHNACHTSBALL von SCOTT, BRONWYN
Beim Weihnachtsball erhält Catherine einen Heiratsantrag von Channing Deverill - und ist hin- und hergerissen. Denn immer heißer brennt das Begehren, das sein Bruder Finn insgeheim in ihr weckt!

CAPTAIN ALEXANDERS ENGEL von MCPHEE, MARGARET
Stürmisch wie die winterliche Überfahrt von New York nach Plymouth sind Sarahs Gefühle für den geheimnisvollen Daniel Alexander. Kaum hat sie ihm ihr Herz geschenkt, muss sie fürchten, dass er sie betrügt.

LORD THEOS SCHÖNSTES GESCHENK von ASHFORD, LUCY
Auch wenn Jenna an Weihnachten unter Lord Theos heimlichen Küssen dahinschmilzt, sollte sie sich keine falschen Hoffnungen machen. Ein Mann wie er wird ein Dorfmädchen wie sie wohl niemals heiraten …

EIN HIGHLANDER ZUM WEIHNACHTSFEST von KAYE, MARGUERITE
Wie kann Laird Kilmun es wagen! Susanna ist schockiert, als sie den Grund für die überraschende Einladung auf seine Burg in den Highlands erfährt: Sie muss über die Feiertage seine Verlobte spielen!


  • Erscheinungstag 04.11.2014
  • Bandnummer 0025
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763107
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Rolls, Bronwyn Scott, Margaret PcPhee, Lucy Ashford, Marguerite Kaye

HISTORICAL SAISON BAND 25

ELIZABETH ROLLS

Wintermärchen für Miss Polly

Reverend Alex Martindales Welt steht Kopf, als er kurz vor Weihnachten die wunderschöne aber bitterarme Polly in der Pfarrei einstellt. Denn in ihrer Nähe erwacht in ihm ein sündiges Verlangen …

BRONWYN SCOTT

Entscheidung beim Weihnachtsball

Was für eine verführerische Schönheit! Catherine weckt in Finn Deverill heiße Sehnsucht – und zugleich empfindet er tiefstes Bedauern: weil sie in Kürze seinen Bruder heiraten wird!

MARGARET PCPHEE

Captain Alexanders Engel

Ein Weihnachtswunder? Als Daniel Alexander aus den Fluten des Atlantiks gerettet wird, erblickt er die betörende Sarah. Aber er muss aufpassen: Wenn er ihr zu nahe kommt, entdeckt sie sein Geheimnis.

LUCY ASHFORD

Lord Theos schönstes Geschenk

Lord Theo Dalbury erkennt sich selbst nicht wieder. Hat er sich etwa vor Londons lästigen Debütantinnen nach Northcote Hall zurückgezogen, nur um jetzt den Reizen des Dorfmädchens Jenna zu verfallen?

1. KAPITEL

Reverend Alex Martindale blickte auf das unschuldige Baby in seinen Armen herab und wappnete sich für den unvermeidbaren Sturm. Das Gesicht rot, die Augen zugekniffen, weil sie einige Tropfen des heiligen Wassers abbekommen hatten, brachte der Ehrenwerte Philip Martindale – Erbe beträchtlicher Güter und, was sehr viel wichtiger war, der Augapfel seiner ihn vergötternden Eltern – sein Missfallen lauthals zum Ausdruck.

Da er in den vergangenen zwei Jahren jedes Kind in seiner Gemeinde getauft hatte, war Alex den Lärm gewohnt. Dennoch warf er einen Blick über den vornehmen kleinen Schreihals hinweg zu dessen Vater, Viscount Alderley. „Schlägt ganz nach dir, Dominic, was das Temperament angeht.“

Der Viscount lachte. „Aber nein, lieber Cousin.“ Er blinzelte seiner Frau zu. „Wohl eher nach Pippa.“

Alex fuhr fort, seinen kleinen Neffen zu segnen, das Kind, das – Dank sei dem Herrn – ihn aus seiner Position als Dominics Erbe gedrängt hatte. Ein leichtes Zupfen an seinem Chorhemd ließ ihn nach unten schauen.

Seine Patentochter, die ältere Schwester des kleinen Philip, sah ihn ernst an. „Du hast ihm Wasser in die Augen gespritzt, Onkel Alex“, erklärte sie ernst. „Das nächste Mal ist es besser, wenn Mama oder das Kindermädchen ihn baden.“

„Ach so, das war es, meinst du?“, erwiderte er mit priesterlich unbewegter Miene. „Ich danke dir für den Hinweis, Emma.“

Die Tauffeier in der großen Halle auf Alderley war eine laute, fröhliche Angelegenheit. Auffällig nur durch die Abwesenheit des Ehrengastes und dessen Schwester, die sich beide schon früh in Begleitung ihres Kindermädchens in die Kinderstube zurückgezogen hatten.

Mit ebenso großer, wenn nicht größerer, Begeisterung wie seine Tischnachbarn stieß Alex auf die Gesundheit des Erben von Alderley an. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass die Feier, an der auch viele von Dominics Pächtern teilgenommen hatten, sich allmählich ihrem Ende zuneigte. Die weit weniger ausgelassene Versammlung des ortsansässigen Adels hatte im Salon stattgefunden, allerdings nahm Alex an, dass Dominic und Pippa, nachdem sie die illustren Gäste vorhin verabschiedet hatten, sich ebenso gern mit den Pächtern zusammentaten.

Gemächlich schlenderte er zu ihnen. Dominic legte Farmer Willet seine Hand auf die breite Schulter und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. „Ich werde mich erkundigen, was mit dem Bullen los ist“, versicherte er dem Mann und wandte sich lächelnd an Alex.

„Bleibst du zum Abendessen?“

Alex war in Versuchung, aber … „Nein, danke. Mrs Judd würde mich umbringen.“ Seine Haushälterin gehörte zu jener Sorte gutmütiger Tyrannen, die zu verärgern sehr unklug war. Woanders zu Abend zu essen, ohne sie vorher davon in Kenntnis zu setzen, würde zur Folge haben, dass er eine ganze Woche lang statt seiner geliebten pochierten Eier hart gekochte verzehren müsste.

Dominic schnaubte. „Warum zum Henker hast du ihr nicht einfach gesagt, dass du zum Dinner hier bleibst? Du musst doch gewusst haben, dass wir dich einladen würden.“

Das stimmte natürlich. Dominic war sein Cousin und engster Freund, aber Alex zog es vor, seine Gastfreundschaft nicht für selbstverständlich zu halten.

Pippa lächelte ihm zu, und ihr seltsam durchdringender Blick zeigte ihm, dass sie genau wusste, wie er sich fühlte, und ihn gut verstehen konnte. „Dann also morgen?“, schlug sie vor. „Wir müssen endlich über die Dorfschule sprechen, die du eröffnen möchtest.“

Erleichtert erwiderte er ihr Lächeln. „Morgen. Und vielleicht erweist ihr mir ja nächste Woche die Ehre.“

„Das wäre schön.“

„Willst du die Kutsche haben, Alex?“, fragte Dominic freundlich.

„Nein, danke. Ein Spaziergang wird mir guttun.“

Und der Spaziergang war wirklich angenehm. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und der aufgehende Mond ließ den knirschenden Raureif unter seinen Stiefeln aufschimmern. Ein weiteres Jahr ging zur Neige, es blieben nur noch vier Wochen bis Weihnachten. Morgen war der erste Adventssonntag, und eigentlich hätte Alex an seine Predigt denken sollen, doch stattdessen genoss er die klare, kühle, vom silbrigen Mondlicht erhellte Nacht. Der vertraute Weg, ein Pfad aus uralten Zeiten, war deutlich zu sehen. Manchmal dachte Alex an all die Menschen, die ihn vor ihm benutzt haben mussten – die Ahnen all jener Männer und Frauen, denen er jetzt als Seelsorger diente. Römer, Sachsen, Wikinger, Normannen: Alle waren als Eroberer gekommen und von diesem Land gezähmt worden, bis sie sich ihm alle unter einem Gott zugehörig gefühlt hatten, so wie auch das Land ihnen gehörte.

Nicht zum ersten Mal dankte Alex dem Herrgott für die Gelegenheit, ihm an einem solchen Ort dienen zu dürfen – einem Ort, den er sein ganzes Leben lang gekannt und geliebt hatte. Sein Onkel, Dominics Vater, hatte ihn und seine Mutter bei sich aufgenommen und ihn erziehen lassen wie einen eigenen Sohn, als gäbe es zwischen seinen Söhnen und dem verwaisten Neffen keinen Unterschied. Allerdings hatte der Onkel klug erkannt, dass es für den belesenen Alex besser war, wenn er von Mr Rutherford, dem Priester, unterrichtet wurde, und so hatte er ihn nicht mit seinen Söhnen nach Eton geschickt.

Alex wusste, wie glücklich er sich schätzen durfte. Gesegnet sogar. Und seine verwitwete Mutter hatte den Rest ihres Lebens in Sicherheit und Frieden zubringen dürfen. Ein solches Glück war nicht vielen Frauen in ihrer Lage – ohne Familie oder Vermögen – vergönnt.

Er weidet mich auf einer grünen Aue …

Dankbar für alles zu sein, was ihm der Herr geschenkt hatte, war eine Sache. Wollte er sich allerdings jetzt auf diese Auen legen, würde er sich den Tod holen, und Mrs Judd wäre mehr als erbost über die Vergeudung seines schönen Abendessens. Also beeilte er sich, nach Hause zu kommen.

Alex genoss sein einsames Dinner nicht halb so sehr wie den Spaziergang. Und das lag nicht an Mrs Judds Kochkünsten – die unbestreitbar ausgezeichnet waren –, sondern daran, dass er es mit niemandem teilte. Einige Jahre lang hatte er die Pfarrei zusammen mit seinem Vorgänger und Mentor Matthias Rutherford geführt, doch der alte Herr war zu Beginn dieses Jahres gestorben.

Rutherford hatte ihm das Amt schon im Jahr davor übergeben, war jedoch in der Pfarrei geblieben. Seine Gesundheit hatte immer mehr nachgelassen, doch sein Geist war wach gewesen wie eh und je. Für Alex hatte es sich angefühlt, als verlöre er seinen Vater ein zweites Mal. In gewisser Weise sogar schlimmer, da er dieses Mal genau gewusst hatte, was er verlor. Er hatte Rutherford sehr viel besser gekannt als seinen Vater. Und jetzt stand Weihnachten vor der Tür, das erste ohne den lieben alten Herrn. Trauer war kein neues Gefühl für Alex, er hatte seine Mutter begraben und seinen älteren Cousin, Dominics Bruder Richard. Und es gehörte zu seinen Aufgaben, die Hinterbliebenen zu trösten. Doch gelegentlich dachte er, wie schön es doch wäre, wenn der Tröster auch einmal getröstet werden könnte …

Sofort riss er sich zusammen, entschlossen, die Melancholie, die ganz allmählich Besitz von ihm ergriffen hatte, abzuschütteln. Kummer war eine Sache, Selbstmitleid eine ganz andere – eine der heimtückischeren Sünden. Außerdem gab es viele, die ihm ein Trost waren – Dominic, Pippa, selbst die Kinder, Emma und Philip. Er lachte leise bei der Erinnerung an Emmas Tadel wegen seiner vermeintlichen Ungeschicklichkeit bei der Taufe.

Dennoch wäre es gewiss ein großer Trost, Gesellschaft zu haben, einen Menschen, der das Pfarrhaus mit ihm teilte, mit dem er sich an ruhigen Abenden unterhalten und nach dem Dinner einen Brandy trinken konnte und der ihm bei der Gemeindearbeit half.

Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, was für ein Dummkopf er doch war, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein. Sein Blick fiel auf den Schachtisch und die Figuren, die dort seit zehn Monaten unverändert auf ihrer Position standen. Es lag doch auf der Hand! Er brauchte einen Hilfspfarrer, der eine anständige Partie Schach spielen und gleichzeitig den Posten des Schullehrers übernehmen konnte.

Wenn man Miss Hippolyta Woodrowes Meinung dazu hören wollte, so war Aschenputtel ein ausgemachter Hohlkopf. Natürlich hatte sie unglaubliches Glück gehabt. Allerdings hielt Miss Woodrowe es nicht für weise, sich auf das Glück zu verlassen. Oder auf den Märchenprinzen, der herbeigeritten kam, in der Hand den gläsernen Schuh, um die Jungfrau in Nöten zu retten.

Schon gar nicht, nachdem sie vor zwei Jahren so töricht gewesen war, ihrem Cousin Tom diese Rolle zu geben. Doch Polly Woodrowe hatte ihre Lektion gelernt. Denn seit sie mittellos war, zog es der Alles-andere-als-Märchenprinz vor, so zu tun, als gäbe es sie überhaupt nicht und als habe sie nicht das geringste Recht auf sein Herz.

Sie schnaubte undamenhaft. Es war leichter zu glauben, dass die Fee den Kürbis samt Ratte, Mäusen und Eidechsen in eine Kutsche mit Gespann verwandeln konnte, als sich einzubilden, der Märchenprinz hätte Aschenputtel auch dann noch geliebt, wenn sie in Lumpen vor ihn hingetreten wäre.

„Er hätte sie wahrscheinlich eher die Treppe des Palastes hinuntergeworfen“, murmelte Polly vor sich hin und stapfte weiter die Dorfstraße entlang. Andererseits schien es, als wäre Aschenputtel mit einem fast schon sträflich gutmütigen Wesen gesegnet, weil sie nicht nur nicht mit ihrem Schicksal haderte, sondern am Ende sogar ihren gemeinen Stiefschwestern vergab.

Ganz offensichtlich hatte Aschenputtel über einen sehr viel freundlicheren Charakter verfügt als Polly Woodrowe. Aschenputtel war geduldig gewesen, hatte in stoischem Schweigen gelitten und auf ihren Prinzen gewartet. Polly verspürte eher den Wunsch, jemand zu schlagen. Wenn nicht sogar mehr als einen Jemand.

In den zwei Jahren, seit der einzige verbliebene Treuhänder verkündet hatte, dass ihr Vermögen fort war, verspielt vom Sohn seines Partners, hatte Polly gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Sie fröstelte in der Kälte und beschleunigte ihren Schritt. Erst neulich hatte ihre jüngere Cousine Susan sich beschwert: „Hippolyta geht viel zu schnell. Eine Dame sollte nicht so große Schritte machen, Mama, nicht wahr?“ Nun, eine Dame, die in einem viel zu dünnen Umhang warm bleiben und ihr Ziel erreichen wollte, bevor ihr die Zehen abfroren, machte so große Schritte, wie sie nur konnte. Besonders wenn sie den ihr genehmigten Botengang zum Dorfladen dazu nutzen wollte, das, was sie wirklich im Sinne hatte, zu verschleiern.

Da kam schon ihr Ziel in Sicht – die Pforte zur Pfarrei. Pollys Magen zog sich zusammen, als sie daran dachte, was sie im Begriff stand zu tun. Aber vielleicht traf sie Mr Martindale gar nicht daheim an. Es war gut möglich, dass er seine Gemeindemitglieder besuchte oder … oder irgendjemanden begraben musste. Sie wurde langsamer. Ganz gewiss war er außer Haus. Sie würde ein anderes Mal wiederkommen. Oder überhaupt nicht. Er würde sie für dreist halten. Für aufdringlich. Ihre Tante jedenfalls hielt sie für aufdringlich. Als sie noch vermögend gewesen war, hatte es nichts ausgemacht, dass sie die Tochter eines Kaufmanns war. Doch jetzt legte sie angeblich Allüren an den Tag, und die Verbindung ihres Vaters mit dem Handel war ihren Verwandten zuwider …

Sie zögerte. Seit wann kümmerte es sie, was ein schlichter Pfarrer vom Land von ihr halten mochte? Allerdings hatte sie Alex Martindale immer bewundert. Als sehr viel älterer Schuljunge war er ihr als kleinem Mädchen, wenn sie ihre Cousins besucht hatte, stets ausgesprochen liebenswürdig begegnet. Manchmal, auf dem Weg zu seinem Unterricht in der Pfarrei, hatte er sie, zu ihrem großen Erstaunen, freundlich gegrüßt. Ebenso freundlich wie die Dorfkinder, und immer mit einem Lächeln in seinen grauen Augen. Der Alex Martindale von damals war niemand, der auf die Bedürftigen dieser Welt herabsah.

Aber natürlich änderten sich die Menschen. Oder vielleicht war es auch so, dass man sie nur besser kennenlernte, je älter man wurde. Fast bedauerte Polly das junge Mädchen von damals, das zweifellos ein tendre für den gut aussehenden Jungen gehegt hatte. Pflichtbewusst, wie sie jedoch erzogen war, hatte die folgsame junge Dame gehorsam ihre Aufmerksamkeit auf Cousin Tom gerichtet, der, wie die Tante versichert hatte, große Zuneigung zu ihr gefasst hatte.

Polly schnaubte geringschätzig und gab einem Erdklumpen vor ihren Füßen einen Tritt. Alex Martindale hatte sich bestimmt verändert. Jeder wurde erwachsen. Und ihre Idee war närrisch, ganz besonders, da sie gewiss ihrer Tante zu Ohren kommen und Polly in noch größere Schwierigkeiten bringen würde.

Sie hatte sich bereits wieder halb abgewandt von der Pforte, als ihr bewusst wurde, was sie da tat: Sie gab auf, ohne es überhaupt versucht zu haben, beugte sich widerspruchslos ihrem Schicksal, statt etwas dagegen zu unternehmen, wie sie gestern beschlossen hatte, als ihre Verwandten in der Kirche waren. Ihre Tante hatte Pollys Aufzug für zu schäbig befunden, als dass sie mit der Familie am Gottesdienst teilnehmen dürfe – andererseits nicht so schäbig, dass man sie heute nicht für einen Botengang ins Dorf schicken konnte. Und natürlich warteten haufenweise Sachen auf sie, die geflickt werden mussten. Falls Mr Martindale sie also für eine undankbare, habgierige, unerzogene – diese Bemerkung von Tante Eliot hatte sie besonders getroffen – aufdringliche Person hielt, die sich Allüren erlaubte, dann war es eben so. Der Stapel Flickwäsche hatte nach einer Woche ununterbrochener Kränkungen und Zurechtweisungen das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.

Entschlossen straffte sie die Schultern und drückte das Gartentor auf. Er würde ihr entweder zuhören oder nicht. Sie geringschätzen oder nicht. Eine Dame, die sich nur auf sich selbst verlassen konnte, durfte sich Skrupel dieser Art nicht erlauben. Und wenn nicht einmal sie eine gute Meinung von sich hatte, zählte die der anderen erst recht nicht.

„Miss Woodrowe möchte Sie sprechen, Herr Pfarrer.“

Alex sah von dem Brief auf, den er an den Bischof schrieb und in dem er seine Pläne für die Schule und seine Absicht, einen Hilfspfarrer einzustellen, darlegte. „Miss Woodrowe?“ Einen Moment wusste er nicht, von wem die Rede war. Dann fiel es ihm ein. Miss Hippolyta Woodrowe. Natürlich. Die Nichte Sir Nathan Eliots. Die reiche Miss Woodrowe, Erbin eines Fabrikbesitzers. Wahrscheinlich hatten die Gerüchte die Höhe ihres Vermögens übertrieben, aber sie war oft mit ihrer verwitweten Mutter im Dorf zu Besuch gewesen und bereits als Kind und junges Mädchen ein hochwillkommener und gefeierter Gast.

„Bitten Sie sie herein, Mrs Judd.“ Er legte die Schreibfeder ab und erhob sich, als Mrs Judd seinen Besuch einließ. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Vielleicht lag es am schwachen Licht. Es war ein trüber Tag, und nur der sanfte Schein der Argandlampe auf seinem Schreibtisch erleuchtete das Zimmer. Dennoch konnte Alex seine Erinnerung an die lebhafte, gut gekleidete kleine Miss Woodrowe, die immer ein schüchternes Lächeln für ihn übrig gehabt hatte, nicht mit dieser ernsten jungen Frau in dem tristen Umhang mit dem schmutzverkrusteten Saum in Einklang bringen. Vielleicht erinnerte er sich nicht an das richtige Mädchen?

„Miss Woodrowe. Treten Sie doch bitte ein. Mrs Judd, bringen Sie uns Tee, seien Sie so freundlich.“

Miss Woodrowe kam näher und zog die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf. Alex hielt den Atem an. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Es hatte den gleichen goldbraunen Farbton wie ihre von dichten dunklen Wimpern umkränzten Augen. Es war das Mädchen, an das er sich erinnerte. Schon damals hatte es ihn fasziniert, dass Haare und Augen eines Menschen von derselben Farbe sein konnten, eine Farbe, die an kostbaren Sherry denken ließ. Aber lieber Himmel, das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen!

„Guten Tag, Mr Martindale. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“

Mädchen wurden erwachsen, das wusste er natürlich, aber …

„Nein, nein, ganz und gar nicht.“ Was stellte man mit einer jungen Dame an, die ohne Begleitung bei einem erschien? „Äh … möchten Sie nicht ans Feuer kommen?“

„Vielen Dank.“

Er eilte ihr voraus und schob den Sessel an den Kamin. Das Möbelstück stieß scheppernd gegen das Kamingitter, und er verwünschte insgeheim seine Ungeschicklichkeit. „Sie besuchen die Eliots?“, fragte er, und sie nickte. „Wann sind Sie angekommen?“ Er schob einen weiteren Sessel an den Kamin.

„Vor einer Woche.“

Auch dieser stieß gegen das Kamingitter. „Vor einer Woche?“ Bevor er es sich anders überlegen konnte, fragte er: „Warum waren Sie dann neulich nicht mit Ihren Verwandten zur Taufe auf Alderley?“

Sie hob fast unmerklich das Kinn. „Ich war nicht eingeladen, Sir.“

„Unsinn.“ Er wischte ihre Erklärung mit einer Handbewegung fort. „Wenn Lord und Lady Alderley von Ihrem Besuch gewusst hätten, wären Sie selbstverständlich eingeladen worden. Sie und Pippa waren als Kinder doch gut befreundet. Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Er nahm ihr den feuchten Umhang von den schmalen Schultern. Ein zarter, angenehmer Duft umgab sie. Alex stockte der Atem. Er hatte vergessen, wie hübsch sie war – wenn er es überhaupt je bemerkt hatte. Sie war kaum mehr als ein Kind gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte … und jetzt war sie … nun, zum einen war sie größer, nicht sehr viel größer als damals, sie reichte ihm immer noch lediglich bis zu den Schultern, aber dennoch größer. Und … unwillkürlich packte er den Umhang fester. Jetzt, da sie das Cape nicht mehr trug, konnte er sehen, dass sie sich auch in anderer Hinsicht verändert hatte. Sie war so viel … voller, weiblicher geworden. Etwas verwirrt über die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, wandte er sich ab und hängte den Umhang an einen Haken neben dem Kamin. Dabei wäre er ihm fast heruntergefallen, so ungeschickt waren seine Finger plötzlich. Lieber Himmel! Was war nur los mit ihm? Entschlossen verdrängte Alex seine ungezogenen Gedanken und drehte sich zu ihr um.

„Was kann ich für Sie tun, Miss Woodrowe?“ So, das war besser. Jetzt klang er schon eher wie er selbst. Vernünftig und sachlich.

Sie hatte sich nicht gesetzt und musterte ihn mit noch immer leicht gerecktem Kinn, einen Ausdruck in ihren bernsteinfarbenen Augen, den Alex nicht recht entschlüsseln konnte.

„Ich möchte, dass Sie mich einstellen, Mr Martindale.“

Er schluckte. Zugegeben, er lebte nun schon eine ganze Weile allein und neigte manchmal dazu, Selbstgespräche zu führen. Allerdings glaubte er nicht, dass sein Verstand ernsthaft darunter gelitten hatte. Oder sein Gehör. „Ich bitte um Verzeihung, Miss Woodrowe?“

Jetzt errötete sie. „Ich brauche eine Stellung. Und wie ich höre, wollen Sie hier im Dorf eine Schule eröffnen, also …“

„Miss Woodrowe“, unterbrach er sie kopfschüttelnd, „soll das ein dummer Scherz sein?“ Er gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. „Vielleicht eine Wette mit Ihren Cousinen?“ Es wäre jedenfalls genau die Art idiotischer Schabernack, die Miss Susan Eliot großartig finden würde. „Sie sind …“ Er hielt sich gerade eben noch davon zurück zu sagen, was er dachte: Sie war eine Erbin. Und eine Erbin brauchte selbstverständlich keine Stellung.

Sie errötete noch heftiger. „Ich scherze nicht“, versicherte sie leise.

Ihr Ton ließ ihn stutzen. Alex musterte sie aufmerksam und bemerkte nicht nur die strahlenden goldbraunen Augen mit den dichten Wimpern und die verwirrenden körperlichen Veränderungen, sondern auch ihr Kleid.

Zwar konnte er nicht von sich behaupten, ein Kenner der Damenmode zu sein, aber selbst er erkannte ein altes, unmodisches, billiges Kleid. Und der Ausdruck in ihren Augen – als versuche sie sich gegen irgendetwas zu wappnen, als müsse sie sich einem Erschießungskommando stellen – zerriss ihm das Herz.

„Setzen Sie sich, Miss Woodrowe.“ Möglicherweise hatte sie nicht das Bedürfnis, sich zu setzen, er hingegen schon.

Sie kniff leicht die Augen zusammen und presste die weichen, rosigen Lippen zusammen. Betroffen verwünschte Alex seine Unhöflichkeit. Was war nur mit ihm geschehen, dass er sie nicht einmal freundlich bitten konnte, Platz zu nehmen? Doch sie folgte seiner Aufforderung, und er tat es ihr gleich.

„Miss Woodrowe …“, begann er und hielt sofort inne. Zum Henker! Es war unmöglich! Wie fragte man eine junge Dame, was aus ihrem Vermögen geworden war?

Sie ersparte ihm die Mühe.

„Mr Bascombe, dem Sohn des ältesten Freundes meines Vaters, wuchsen seine Spielschulden über den Kopf, und er bediente sich an meinem Vermögen, um seine Verluste wettzumachen.“ Sie sprach tonlos, als habe diese Tatsache nicht mehr die Macht, sie aufzubringen. „Er verlor alles. Sein Geld ebenso wie meins. Und danach nahm er den, wie alle meinten, ‚ehrenhaften‘ Ausweg aus seiner Misere.“

Verärgert presste Alex die Lippen zusammen. Seiner Meinung nach war nichts Ehrenhaftes daran, sich das Leben zu nehmen, um den Folgen der eigenen Selbstsucht zu entgehen. „Wann ist das geschehen?“, fragte er leise.

„Vor mehr als zwei Jahren.“

Das erklärte, warum er nicht davon wusste. Vor etwas über zwei Jahren hatte er für einige Monate zu Forschungszwecken den Kontinent bereist. Und es erklärte das fadenscheinige Kleid und den billigen Umhang. „Aber Sie kamen erst vor zwei Wochen zu Ihrem Onkel?“

Sie erstarrte. „Ich hatte eine Position als Gouvernante angenommen.“

Stolz. Das konnte er gut verstehen, aber dennoch … „Meinen Sie nicht, es wäre besser gewesen, sofort zu Ihrem Onkel zu kommen?“, fragte er sanft. „Ist er jetzt Ihr Vormund?“

Ihre Miene blieb ausdruckslos. „Ich bin einundzwanzig, Sir.“

Also volljährig. Aber sie hatte sich mit neunzehn allein in die Welt hinausgetraut? „Halten Sie es nicht dennoch für besser, in seiner Obhut zu bleiben?“ Die Vorstellung, dass sie versucht hatte, sich als Gouvernante allein durchzuschlagen, war haarsträubend! Wie in aller Welt hatte Sir Nathan so etwas erlauben können?

„Nein.“

Er räusperte sich in der Hoffnung, nicht allzu pedantisch zu klingen. „Miss Woodrowe, selbst wenn ich es für richtig hielte, Sie der Fürsorge Ihrer Verwandten zu entreißen, es geht nicht.“

„Warum nicht?“, verlangte sie zu wissen. „Ich habe Erfahrung im Unterrichten – zwei Jungen und ein Mädchen –, und ich wurde nicht wegen Unfähigkeit entlassen …“ Sie brach ab und biss sich betroffen auf die Unterlippe.

„Ich brauche einen Lehrer“, sagte er und überhörte taktvoll ihre letzten Worte. „Keine Lehrerin.“ Weswegen in aller Welt war sie dann entlassen worden?

Ihre Miene verfinsterte sich. „Warum? Ich kann die Kinder ebenso gut in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten wie jeder Mann. Darüber hinaus kann ich den Mädchen das Nähen und andere Kenntnisse für den Haushalt beibringen, wie zum Beispiel die Wirkung von Heilpflanzen, was ihnen bei der Suche nach einer Stellung helfen würde, und …“

„Sie können aber nicht hier wohnen!“, warf er ein.

„Hier?“

„In der Pfarrei. Der Lehrer wird hier untergebracht.“

„Aber das Cottage, das Sie als Schulhaus nutzen wollen, hat zwei Räume“, sagte sie. „Ich nahm an …“

„Nein. Er wird hier wohnen“, betonte Alex. Was nützte ihm ein Hilfspfarrer weit entfernt im Schulhaus? Und warum sollte der arme Mann jemanden zum Kochen und Saubermachen einstellen, wenn in der Pfarrei genügend ungenutzte Zimmer zur Verfügung standen, ganz zu schweigen von dem ungenutzten Schachspiel?

Miss Woodrowe runzelte die Stirn. „Aber Sir, wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?“

Er räusperte sich. „Miss Woodrowe, der Schullehrer soll gleichzeitig als mein Hilfspfarrer fungieren, sehen Sie.“

„Oh. Ich verstehe.“ Ihre ganze Entschlossenheit verschwand von einem Moment zum nächsten, und sie senkte den Blick. „Das … das war mir nicht bewusst.“

Sie presste die Hände zusammen, und bei dem, was er in ihrer Miene sah, ballte er seine Hände unwillkürlich zu Fäusten. Ihm wurde klar, wie sehr, wie verzweifelt sie den Posten gewollt hatte. Betroffen sagte er: „Meine Liebe, gewiss brauchen Sie doch nicht wirklich diese Arbeit. Sie haben eine Familie, die für Sie sorgt, und …“

Abrupt erhob sie sich, griff nach ihrem Umhang und legte ihn sich um die Schultern, noch bevor Alex hastig auf die Füße kam. „Entschuldigen Sie die Störung, Sir.“ Ihr Blick war kühl, der Mund entschlossen. „Machen Sie sich bitte keine Gedanken mehr über die Sache. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Alex blinzelte verblüfft. Er fühlte sich, als sei er gerade entlassen worden. In seiner eigenen Bibliothek. Hochmut kam natürlich vor dem Fall, aber Polly Woodrowe hatte diesen Fall bereits hinter sich. „Miss Woodrowe …“

Sie hatte die Tür schon fast erreicht, und er beeilte sich, ihr zuvorzukommen und sie zu öffnen.

„Ich danke Ihnen, Sir.“ Sie neigte höflich den Kopf.

Würde, sagte er sich. Nicht Hochmut. Plötzlich fiel ihm etwas ein. War es nicht gewissermaßen beschlossene Sache gewesen, dass Miss Woodrowe den ältesten Sohn Sir Nathans und Lady Eliots, Tom, heiraten sollte, und das schon seit ihrer Kindheit? Lady Eliot hatte es einmal erwähnt. Oder sogar mehrfach.

„Miss Woodrowe … was ist mit Ihrem Cousin?“

Sie wandte sich ihm zu, die zierliche Hand im fadenscheinigen Handschuh am Türrahmen. „Meinem Cousin? Welchem?“

Ihr Ton schien ihn zu warnen, aber Alex achtete nicht darauf. „Mr Tom Eliot. Gab es da nicht …“ Er zögerte. „Gab es da nicht eine gewisse Übereinkunft zwischen Ihnen?“ Tom war ein ganz liebenswürdiger Bursche, vielleicht ein wenig dumm und Wachs in den Händen seiner Mutter, aber doch gewiss eine bessere Wahl für Miss Woodrowe als die Arbeit als Gouvernante?

Sie sah ihn frostig an. „Ja, es gab eine Übereinkunft. Doch sie betraf mein Vermögen, nicht mich.“ Damit wandte sie sich ab, das Kinn leicht angehoben.

„Miss Woodrowe!“ Sie hatte doch ihren Cousin gewiss nicht aus Stolz abgewiesen? „Wenn Sie einen guten Menschen aus eigensinnigem Stolz abgewiesen …“

„Meinen Cousin abgewiesen, Mr Martindale?“ Ihre Stimme klang verbittert, und der Mund, der früher so gern gelacht hatte, verzog sich zum Zerrbild eines Lächelns. „Dazu müsste es etwas gegeben haben, das ich hätte zurückweisen können. Tom hat nie um mich angehalten. Guten Tag, Sir. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben.“

Alex atmete tief ein. Natürlich war es keine gute Idee, Miss Woodrowe zu dem eindeutig schmerzlichen Thema ihrer inexistenten Verlobung mit Tom Eliot zu befragen. Also geleitete er die junge Dame höflich hinaus und suchte umgehend seine Haushälterin in der Küche auf.

2. KAPITEL

Mrs Judd verschaffte ihm Aufklärung. „Miss Woodrowe, Sir? Oh, gewiss. Es war allgemein bekannt, dass sie Master Tom heiraten sollte. Lady Eliot hatte das bereits geplant, als die beiden noch Kinder waren. Als der alte Mr Woodrowe starb, wollte sie die kleine Miss Polly unbedingt zu sich holen, aber Mrs Woodrowe war dagegen, und Sir Nathan bestand nicht darauf.“

Alex wartete. Es gab keinen Grund, Mrs Judd zu drängen. Wenn sie erst einmal angefangen hatte, sich im Dorfklatsch zu ergehen, war sie nicht aufzuhalten. Normalerweise hütete er sich davor, sie überhaupt erst in Gang zu bringen, da er der Auffassung war, dass es ihm als Pfarrer nicht anstand, gewöhnlichem Tratsch zu lauschen. Es sei denn, er brauchte wie in diesem Fall dringend einige Informationen. Dann war Mrs Judd ein wahres Gottesgeschenk, und er tat sein Bestes, nicht auch noch Spaß daran zu finden. Doch da ihre Tochter als Köchin bei den Eliots arbeitete, war Mrs Judd die beste Informationsquelle, die er sich nur wünschen konnte.

„Dann hat sich natürlich alles geändert.“ Entschlossen rückte Mrs Judd dem Pastetenteig mit dem Nudelholz zu Leibe. „Dieser Vormund oder was immer er war hat Miss Pollys Vermögen verprasst, wie man so schön sagt. Und jetzt ist sie angeblich so arm wie eine Kirchenmaus.“

Sie sah ernst auf. „Lady Eliot traf fast der Schlag, als sie es hörte, sagt meine Tochter. Sie rechnete jeden Moment mit Miss Polly, aber sie kam nicht. Und dann hieß es, dass sie irgendwo als Gouvernante arbeitet.“ Mrs Judd schnaubte geringschätzig. „Lady Eliot meinte, es wäre besser so.“

„Und der junge Eliot?“ Alex biss die Zähne zusammen. Tom Eliot war fünfundzwanzig, also seit zwei Jahren volljährig. Was hatte ihn davon abgehalten, seine Pflicht seiner Cousine gegenüber zu erfüllen? Einer jungen Dame gegenüber, mit der er so gut wie verlobt gewesen war, selbst wenn er nie um sie angehalten hatte.

Ellie Judd hieb mit dem Nudelholz auf den Tisch, sodass die Katze neben dem Herd erstaunt den Kopf hob. „Ich nehme an, dass er genau das tat, was Ihre Ladyschaft ihm sagte. Genau wie Sir Nathan. So gab’s keinen Ärger.“ Mrs Judd siebte ein wenig Mehl über den Teig und deckte die Pastete damit ab. „Meine Tochter meint, Miss Polly ist dieser Tage wohl nicht mehr so willkommen im Herrenhaus.“

Blicklos sah Alex auf den Brief, den er verfasst hatte, um den Bischof über den Lehrer zu unterrichten, den er einzustellen gedachte. Er konnte das Verhalten der Eliots verstehen, missbilligte jedoch die weltliche Einstellung zur Ehe, die sich darin widerspiegelte. Tom Eliot und Miss Woodrowe waren nicht wirklich verlobt gewesen, aber es hatte eine stillschweigende Übereinkunft gegeben, dass er um sie anhalten würde, sobald sie alt genug war, um seinen Antrag anzunehmen. Damit blieb ihr Vermögen in der Familie und sicherte Tom eine wohlhabende Braut, die wie es ihm später auch erleichtern würde, seinen beiden Schwestern eine Mitgift zu finanzieren.

Da allerdings kein Vermögen mehr vorhanden war, galt die Partie als nicht mehr wünschenswert. Alex biss die Zähne zusammen. Die Eliots waren gewiss nicht die Einzigen, die so gehandelt hätten. Sicher wäre es auch recht unbehaglich für alle gewesen, Miss Woodrowe bei ihnen leben zu lassen. Aber nichts dagegen zu unternehmen, dass sie sich als Gouvernante verdingte, das konnte Alex nicht akzeptieren. Noch dazu vor zwei Jahren. Da war sie erst neunzehn gewesen, zum Henker! Und doch hatte man Miss Hippolyta Woodrowe einfach auf die Straße gesetzt, wo sie allein zusehen sollte, wie sie zurechtkam.

Er konzentrierte sich auf seinen Brief.

„… daher wäre ich sehr dankbar, wollte Euer Lordschaft mir jemanden empfehlen, der diese Pflichten so bald wie möglich im neuen Jahr …“

Miss Woodrowes entschlossenes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge.

Ich kann die Kinder genauso gut in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten wie jeder Mann

Hastig verdrängte er den Gedanken. Es war wichtig, einen gestandenen Mann für den Posten zu bekommen. Vielen Leuten missfiel die Vorstellung der Gemeindeschule, die die Kirche zu eröffnen wünschte, da sie glaubten, es sei gefährlich, die Armen besser zu erziehen, als ihrem Stand zukam. Der richtige Mann, der den Respekt jener Leute gewinnen könnte, würde einen großen Schritt vorwärts im Kampf gegen solche Vorurteile bedeuten. Die Welt veränderte sich. Niemand konnte den Kindern heutzutage garantieren, dass sie eine Stellung in der Gemeinde finden würden, in der sie geboren wurden. Sie brauchten eine Erziehung, die ihnen eine Chance gab.

Polly … Miss Woodrowe braucht auch eine Chance.

Wieder verdrängte er den Gedanken. Die Schule musste einfach gegründet werden. Und wenn er die Leitung in die Hände einer Frau legte, einer jungen Dame … deren Platz in ihrem Heim war, nicht in einer Position, in der sie selbst für ihren Unterhalt sorgen musste … die nicht dazu geschaffen war, unabhängig zu sein …

Und wenn man ihr Heim und Vermögen genommen hatte? Wenn ihr keine andere Wahl blieb?

Dann sollte ihre Familie sich um sie kümmern!

Genauso war es auch seiner Mutter ergangen. Düstere Erinnerungen überfielen ihn. Er war zehn gewesen, als sein Vater hoch verschuldet gestorben war; alt genug, um zu erkennen, dass die Trauer seiner Mutter von ihrer Angst überschattet wurde. Sie hatte zwar versucht, diese Angst vor ihm zu verbergen, während sie einen Brief nach dem anderen an ihre Familie gesandt hatte. Nach ihrem Tod waren ihm zufällig einige der Antwortbriefe in die Hände gefallen. Meist hatte man ihr vorgeschlagen, sie aufzunehmen – als unbezahlte Gouvernante oder Gesellschafterin. Doch keiner ihrer Verwandten war bereit gewesen, auch ihr Kind unterzubringen.

Nur Dominics Vater hatte der Witwe ein Zuhause für sie und ihr Kind geboten und sogar dafür gesorgt, dass der Sohn seines Bruders gemeinsam mit seinen eigenen Söhnen erzogen wurde. Als Kind war es Alex selbstverständlich erschienen. Doch heute wusste er, wie viel Glück sie gehabt hatten. Nicht jeder konnte oder wollte für eine verarmte Witwe und deren Kind aufkommen.

Was wäre aus seiner Mutter geworden, wenn Onkel David sie nicht bei sich aufgenommen hätte?

Miss Polly ist dieser Tage wohl nicht mehr so willkommen im Herrenhaus.

Das glaubte Alex gern, wenn sie ihr sogar erlaubt hatten, sich um die Stellung einer Dorflehrerin zu bemühen!

Sein gütiger Onkel hatte eine kleine Rente für seine verwitwete Schwägerin ausgesetzt und ihr so nicht nur ein Heim, sondern auch eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht.

Wieder nahm Alex die Feder in die Hand, tauchte sie in die Tinte und setzte das Schreiben mit einer höflichen Frage nach der Gesundheit des Bischofs und dessen Frau fort. Im nächsten Moment legte er die Feder hin, starrte finster auf den Brief und riss ihn mit einer heftigen Bewegung entzwei. Die Lippen fest zusammengepresst, griff er nach einem neuen Blatt Papier und begann einen zweiten Brief, dieses Mal ohne besondere Sorgfalt und an seinen Cousin Dominic, den Viscount Alderley, gerichtet.

Alex hatte um den richtigen Lehrer für seine Schule gebetet, und er glaubte fest, dass der Herrgott Gebete immer erhörte. Die Kunst bestand nur darin, auch eine unerwartete Antwort zu erkennen.

Polly stieß die Tür zum Dorfladen auf, heilfroh, dem kalten Wind für einen Moment zu entrinnen. Sie war trotz des Umhangs durchgefroren bis auf die Knochen. Bei ihrem Eintritt erhob Mr Filbert sich hinter dem glänzend sauberen Tresen. Einen Augenblick schaute er nur angestrengt, dann erschien das vertraute schelmische Lächeln auf seinen Zügen.

„Na so etwas, Sie sind es, Miss Polly!“

Polly erwiderte sein Lächeln. Mr Filbert gehörte zu jenen Bekannten, deren Benehmen ihr gegenüber sich nicht im Mindesten verändert hatte. „Guten Tag, Mr Filbert. Meine Tante schickt mich wegen neuer Stickgarne.“

Er blinzelte verwundert. „Miss Susan und Miss Mary waren vor wenigen Minuten hier, um welche für Lady Eliot zu besorgen. Sie erwähnten nichts davon, dass Sie sie begleitet haben.“

Wahrscheinlich weil dem nicht so war. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ihre Cousinen ins Dorf fahren wollten, und konnte nur hoffen, dass sie nicht beobachtet hatten, wie sie die Pfarrei betrat oder verließ.

„Ein Missverständnis“, meinte sie langsam. „Vielen Dank.“

„Sie sind zum Wirtshaus zurückgegangen“, sagte Mr Filbert hilfsbereit.

Der sowieso schon düstere Morgen verfinsterte sich noch ein wenig mehr. Ihre Cousinen waren dabei gewesen, als ihre Mutter ihr den Auftrag gegeben hatte, neue Stickseide im Dorf zu besorgen, und hatten nichts gesagt. Was, wenn sie von Mrs Filbert bedient worden wäre und ebenfalls Garn gekauft hätte? Polly zwang sich, die bitteren Gedanken zu verdrängen. Vielleicht hatten sie erst, nachdem sie aufgebrochen war, beschlossen, ins Dorf zu fahren. Sie war auf der Straße nicht von ihnen überholt worden, also hatten sie auch nicht die Gelegenheit gehabt, sie mitzunehmen.

„Ich danke Ihnen, Mr Filbert. Ich werde sie gewiss finden.“

Und so verließ sie den Laden und kam genau in dem Moment beim Wirtshaus an, als die Kutsche der Eliots aus dem Stallhof herausrumpelte.

„Susan! Mary!“ Wahrscheinlich hatten sie sie nicht gesehen. Doch John, der Kutscher, bemerkte sie und zügelte die Pferde. Polly beschleunigte ihre Schritte. Sie sah Susan die Stirn runzeln, sich vorbeugen und John einen Befehl geben. Er antwortete etwas und wies mit der Peitsche auf Polly. Daraufhin hob Susan leicht das Kinn und sagte etwas, das Polly nicht hören konnte. Sie vernahm nur den scharfen Ton ihrer Stimme. John zögerte sichtlich, warf Polly einen bedrückten Blick zu und trieb die Pferde an.

Fassungslos blieb Polly stehen und sah der davonfahrenden Kutsche nach. Wut schnürte ihr die Kehle zu, während sie sich langsam in Bewegung setzte. Der Raureif war im Laufe des Morgens getaut und der Boden aufgeweicht und matschig. Bevor sie auch nur die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte und ihr Rock bis zu den Knien mit Dreck bespritzt war, den sie selbst würde abbürsten müssen, fasste sie einen Plan. Nun gut. Ihre Tante weigerte sich, ihr ordentliche Referenzen zu geben, und Mr Martindale hatte sie bitter enttäuscht. Sie straffte die Schultern gegen den beißenden Wind. Also würde sie Pippa Martindale, Lady Alderley, um ein Zeugnis bitten.

Polly hatte das Tor zum Herrenhaus fast erreicht, als sie hinter sich das Rattern einer Kutsche hörte. Ein paar Minuten später holte das Gig sie ein und drosselte das Tempo, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen.

„Miss Woodrowe. Was in aller Welt tun Sie denn da?“

Die vertraute Stimme klang aufgebracht.

Polly blieb stehen, als das Gig neben ihr anhielt. Sie wandte den Kopf und begegnete Alex Martindales finsterer Miene. „Sir?“

„Was tun Sie da?“, wiederholte er stirnrunzelnd.

„Ich kehre hei… zurück zum Haus meines Onkels“, verbesserte sie sich. Ein Heim war ein Ort, an dem man sich willkommen fühlte. Ein Ort, an den man gehörte.

Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. „Aber … Sie gehen zu Fuß!“

„Ich kann schließlich nicht fliegen“, wandte sie vernünftigerweise ein. „Sicher ein Nachteil, aber so ist es nun einmal.“

Einen Moment lang starrte er sie nur wortlos an, und sie verwünschte insgeheim ihre lose Zunge. Würde sie denn niemals lernen, sie zu zügeln? So etwas hätte sich vielleicht jene andere Miss Woodrowe erlauben können, die reiche Miss Woodrowe. Bei ihr wäre es ein amüsantes, witziges Bonmot gewesen. Bei der verarmten Polly Woodrowe war es einfach nur eine Unverschämtheit.

Und dann lachte er, und seine grauen Augen blitzten erheitert auf, sodass auch Polly unwillkürlich sein Lächeln erwiderte. „Touché. Was für eine dumme Bemerkung. Darf ich Sie wenigstens bis zum Haus mitnehmen?“ Er reichte ihr die Hand, noch immer ein kleines schiefes Lächeln in den Mundwinkeln. Sie zögerte, während ihr Herz heftig zu pochen begann, und musste daran denken, dass er schon immer so liebenswert gelächelt hatte. Sie konnte seine Einladung guten Gewissens annehmen. Mr Martindale war schließlich der Pfarrer, die Kutsche offen und der Weg bis zum Haus wirklich kurz. Tante Eliot würde natürlich glauben, sie versuche, ihre Netze nach ihm auszuwerfen, und es würde wieder einen Streit geben, noch bevor sie eine neue Stellung gefunden hatte. Vielleicht nahm sie das Angebot lieber doch nicht an. „Es wäre ein Umweg für Sie, Sir“, wandte sie ein und versuchte, den kleinen Stich der Enttäuschung nicht zu beachten.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht. Nachdem Sie gegangen waren, wurde mir klar, dass ich etwas mit Ihrem Onkel besprechen muss.“

„Oh.“ Du liebe Güte, er würde sich doch nicht über sie beschweren wollen? „Es … es tut mir leid, falls es Sie verärgert hat, dass ich um die Stellung des Lehrers gebeten habe“, brachte sie mühsam hervor und versuchte, entsprechend zerknirscht auszusehen. „Es ist nicht nötig, den Vorfall meinem Onkel gegenüber zu erwähnen. Ich werde Sie auch nicht wieder belästigen.“

„Was?“ Er betrachtete sie verwundert. Polly war schon immer beeindruckt gewesen von seinen grauen Augen, dem dunklen Rand um die Iris und dem schwarzen, dichten Wimpernkranz … „Sie denken, ich will mich über Sie beschweren? Nein, Miss Woodrowe, das ist ganz gewiss nicht meine Absicht!“ Jetzt klang er wirklich verärgert.

Sie öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, aber er kam ihr zuvor.

„Nicht“, sagte er. „Kein Wort. Hören Sie?“

Sie nickte, obwohl sie innerlich kochte über seinen herrischen Ton.

„Gut. Und jetzt steigen Sie schon ein.“ Das war ein unverhohlener Befehl.

Schäumend vor Wut legte sie ihre Hand in seine und spürte den kräftigen Griff seiner langen Finger, als er sie stützte, um ihr auf das Gig zu helfen. Das Pferd blieb geduldig stehen, während er die Decke von seinen Beinen nahm und sie über Pollys ausbreitete.

„Sir …“

„Kein Wort!“

Dass Reverend Alex Martindale so böse klingen konnte, war erstaunlich. Während der gesamten restlichen Fahrt blieb Polly stumm.

Polly stand schweigend da und ließ Tante Eliots Tirade über sich ergehen. Früher hatte man sie als Mitglied der Familie betrachtet, das selbstverständlich die vertrauliche Anrede „Tante Aurelia“ benutzen durfte. Damals war sie ein willkommener Gast gewesen. Nun nicht mehr. Es lagen Welten zwischen der reichen Erbin eines Fabrikbesitzers und der verarmten Tochter eines Kaufmannes.

„Diese Dreistigkeit! Mitten auf der Straße laut zu rufen!“

„Ich dachte, sie hätten mich nicht gesehen, Tante.“ Sie schluckte. Wenn sie nur überlegt hätte, wäre ihr klar geworden, dass ihre Cousinen sie im vollen Bewusstsein ihres Tuns ignoriert hatten. Susan und Mary richteten sich in ihrem Benehmen ganz nach ihrer Mutter.

Lady Eliot überging den Einwand. „Und wo ist das Geld, das ich dir mitgegeben hatte?“

Kurz fragte Polly sich, was ihre Tante sagen würde, wenn sie ihr stattdessen ein paar Stränge Stickgarn geben würde. „Hier, Tante.“ Sie nahm die Münzen aus ihrer Tasche und hielt sie ihr hin. Missmutig schnaubend nahm Lady Eliot das Geld und zählte nach. „Du wirst nachher noch einmal gehen müssen. Miss Susan hat das blaue Garn vergessen.“

Es war wahrscheinlich das „Miss Susan“, das den Ausschlag gab.

Polly öffnete den Mund, um eine höfliche Antwort zu geben, aber stattdessen kam „Nein“ heraus. Das Wort war ausgesprochen, ehe ihr selbst bewusst wurde, was sie gesagt hatte. Sie wappnete sich gegen das, was unweigerlich kommen musste, doch sie würde nichts zurücknehmen. Nicht, wenn nun auch noch von ihr erwartet wurde, ihre Cousinen mit Miss Susan und Miss Mary anzusprechen.

Lady Eliot drohten die Augen aus dem Kopf zu fallen. „Was hast du gesagt?“

„Ich sagte nein, Tante. Ich bin heute einmal zu Fuß ins Dorf gelaufen und gehe kein zweites Mal. Schick Susan.“

„Na, hör mal, du undankbares, unverschämtes kleines …“

Polly ließ das Gewitter über sich ergehen. Wie seltsam, dass es ihr nichts ausmachte, obwohl sie wahrscheinlich vor nur einem Tag den Tränen nahe gewesen wäre und alles getan hätte, um ihre Tante zu beschwichtigen. Jetzt war es ihr gleichgültig.

Alex folgte seinem sichtlich verstimmten Gastgeber durch die Halle.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lady Eliot angetan sein wird von diesem Vorschlag, Martindale“, meinte Sir Nathan verschnupft. „Hippolyta steht hier jede Annehmlichkeit zur Verfügung, desgleichen die Liebe und der Schutz ihrer Familie.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Alex einlenkend. Er war versucht, sich zu entschuldigen und unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Denn ganz offensichtlich waren die Eliots keineswegs drauf und dran, Polly auf die Straße zu setzen, sondern er hatte die Situation völlig missverstanden und bloßem Klatsch zu viel Glauben geschenkt. Polly … Miss Woodrowe ging es wahrscheinlich recht gut mit ihrer Familie, und sie hatte ihn nur aus Stolz nach der Stelle gefragt. Doch Stolz war eine Sünde, die man besser nicht ermutigte, auch wenn Alex verstehen konnte, dass sie niemandem eine Last sein wollte.

Und wenn schon Sir Nathan beleidigt reagierte, dann war das nichts im Vergleich zu dem Unmut, den Lady Eliot an den Tag legen würde. In diesem Moment vernahm er eine schrille Frauenstimme, die vom anderen Ende des Korridors her an sein Ohr drang. Irgendjemand – eine anmaßende, undankbare Schlange – befand sich in nicht unerheblichen Schwierigkeiten. Es klang, als stünde einem der Hausmädchen eine höchst ungnädige Entlassung bevor. Sein Gastgeber, der ein wenig schwerhörig war, schien nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Er setzte seinen Weg zum Salon unbeeindruckt fort.

Alex zögerte, doch Sir Nathan meinte: „Lassen wir uns überraschen, was Ihre Ladyschaft dazu zu sagen hat“, und öffnete die Tür.

„Lady Eliot, Mr Martindale hat uns einen höchst befremdlichen Vorschlag zu machen.“

„… du schnöde, eingebildete Göre mit deiner gewöhnlichen Herkunft …“

Lady Eliots Tirade brach ab wie abgehackt.

Langsam folgte Alex Sir Nathan in den Salon. Im hohen Lehnsessel neben dem munter prasselnden Kaminfeuer thronte Ihre Ladyschaft und griff nach der einzelnen Teetasse auf dem schweren Silbertablett neben sich auf dem Beistelltisch.

Vor ihr stand kein Hausmädchen oder sonst irgendein Missetäter, sondern Polly, die erschrocken aufsah, als er eintrat. Nur mühsam unterdrückte Alex seinen Zorn. Demnach hatte Lady Eliot Polly beschimpft. Gewöhnliche Herkunft. Schnöde. Anmaßend.

Flammende Röte stieg Polly in die Wangen, als sie seinem Blick begegnete, aber sie hielt das Haupt stolz erhoben. Keine Scham also, sondern nur Verlegenheit.

„Mr Martindale … wie schön Sie zu sehen!“ Lady Eliots Stimme war nicht wiederzuerkennen. „Wollen Sie sich nicht setzen? Ich lasse Tee bringen.“ Die überschwängliche Liebenswürdigkeit zerrte an Alex’ Nerven. Ihre Ladyschaft wandte sich lächelnd an Polly. „Hippolyta, meine Liebe … ich halte dich dann nicht weiter auf. Wir sprechen nachher weiter.“

Hippolyta, meine Liebe? Was war aus der anmaßenden Schlange geworden?

„Tatsächlich wäre es mir lieber, wenn Miss Woodrowe bliebe“, warf er ein. „Mein Vorschlag geht schließlich vor allem sie etwas an.“

Er hörte Lady Eliots schockiertes „Ach wirklich!“ kaum, sondern sah nur das Aufleuchten in Pollys Augen und wie ihre vollen Lippen sich teilten. Hastig nahm er sich zusammen und fuhr fort: „Nun, ja. Sie wissen sicher, dass mein Cousin Lord Alderley …“ Er benutzte Dominics Namen ungern, um etwas zu erreichen, aber in diesem Fall blieb ihm keine andere Wahl. „… und ich die Absicht haben, eine Dorfschule zu gründen.“

Ihre Ladyschaft schnaubte. „Er erwähnte es bei der Taufe. Selbstverständlich habe ich nicht gezögert, meine Meinung dazu kundzutun.“

Selbstverständlich nicht.

„Ich halte es nicht für klug“, fuhr Lady Eliot ungefragt fort. „Die niedrigen Stände dazu zu ermuntern, eine höhere Stellung anzustreben als die, die der Herrgott für sie vorgesehen hat, muss notgedrungen zu Unzufriedenheit führen. Dabei sollen wir das Los akzeptieren, das Er für uns ausgesucht hat.“

Wieder fiel es Alex schwer, seinen Unwillen zu verbergen. Lady Eliot war gewiss nicht die Einzige, die so dachte. Für gewöhnlich stimmten ihr vor allem jene zu, deren Los nicht schwer zu tragen war. „Ich dagegen bin der Auffassung, Ma’am, dass die Wege des Herrn unergründlich sind. Wenn Er einem Menschen Talente geschenkt hat, sollten wir dafür sorgen, dass sie Gelegenheit erhalten zu erblühen.“

Lady Eliot wirkte alles andere als überzeugt, doch Alex ließ sich nicht beirren. „Obwohl mein Cousin und ich zunächst daran dachten, einen Lehrer einzustellen, meinen wir jetzt, dass es besser wäre, diese Aufgabe einer Frau anzuvertrauen.“ Dominic wusste zwar noch nichts von dieser neuesten Entwicklung, aber in dem Brief, den er in Kürze erhalten würde, hatte Alex ihm alles erklärt.

Sein Blick begegnete Pollys, und wieder drohte er die Fassung zu verlieren beim Anblick ihrer schönen, glücklich leuchtenden Augen und den weichen, leicht geöffneten Lippen. Lieber Himmel! Sein Herz setzte einen Schlag aus, es fiel ihm schwer, ruhig zu atmen, und ausgesprochen unfromme Fragen gingen ihm durch den Kopf. Wie es wohl sein mochte, diese Lippen zu küssen? Wie sie wohl schmecken mochten? Reif und süß? Ein heißes Sehnen breitete sich tief in ihm aus. Beunruhigend, denn obwohl die Empfindung ungewohnt war, wusste Alex sehr wohl, was sie bedeutete.

Er räusperte sich, aber es wollte ihm nicht gelingen, ein Wort hervorzubringen. Was in aller Welt war los mit ihm? Er war der Pfarrer, um Gottes willen. Im wahrsten Sinne des Wortes, um Gottes willen! Von ihm wurde erwartet, ein leuchtendes Beispiel für alle zu sein, und ganz gewiss nicht, die Frauen seiner Gemeinde zu begehren! Wieder räusperte er sich, und dieses Mal konnte er endlich sprechen.

„Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dass Miss Woodrowe …“ Er sah Polly an und verlor abermals kurz den Faden. „Dass Pol… ich meine, Miss Woodrowe Erfahrung als Gouvernante hat. Und daher wollte ich anfragen, ob sie es in Betracht ziehen würde, die besagte Position anzunehmen.“

„Also wirklich, Mr Martindale!“ Lady Eliot blähte empört die Nüstern. „Was für ein unglaublicher Gedanke! Sie können nicht ernsthaft …“

„Ich danke Ihnen, Sir“, warf Polly ruhig ein. „Ich stehe Ihnen jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung.“

„Ich höre wohl nicht recht. Lady Eliot starrte sie fassungslos an. „Hippolyta, du scheinst dir nicht darüber im Klaren zu sein, worauf du dich einlässt. Und selbst wenn, wirst du dich selbstverständlich dem Ratschlag deiner lebenserfahrenen Verwandten beugen!“

Polly presste die Lippen zusammen. „Ich bin volljährig, Tante, und somit mündig. Meine lebenserfahrenen Verwandten mögen mich beraten, aber leiten lasse ich mich nur von meinem Gewissen und meinem eigenen Urteilsvermögen.“

„Nun aber langsam, Hippolyta …“, mischte Sir Nathan sich vorwurfsvoll ein.

„Du wirst in der Obhut deiner Familie bleiben, Hippolyta“, fuhr Lady Eliot sie an. „Heute Morgen erhielt ich einen Brief von meiner Cousine Maria, Lady Littleworth. Sie ist noch immer bereit, dich als Gesellschafterin bei sich aufzunehmen, trotz deines törichten Entschlusses vor zwei Jahren, eine andere Stellung anzutreten. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“ Ihre Ladyschaft lehnte sich zurück. „Wie würde denn das aussehen!“, fuhr sie entrüstet fort, als habe sie sich selbst nicht zugehört, „eine junge Dame, die unter Sir Nathans Schutz steht, geht los und verdient sich ihren Lebensunterhalt als Dorfschullehrerin.“ Ihr Ton troff vor Verachtung.

„Höchst absonderlich.“ Sir Nathan nickte. „Und in der Tat völlig ausgeschlossen. Wie sollte sie denn hin und wieder zurückkommen?“

Bedächtig straffte Alex die Schultern. Er war nicht damit einverstanden, aber wenn eine unbezahlte Position bei Lady Littleworth die einzige Aussicht war, die sie hatte, begann er zu verstehen, warum es Polly Woodrowe so wichtig war, dieses Haus zu ihren eigenen Bedingungen zu verlassen.

„Selbstverständlich schließt das Angebot Miss Woodrowes Unterkunft im Schulhaus mit ein, sollte sie Interesse daran haben.“ In der Hoffnung, dass Polly bei ihrer Familie bleiben konnte, hatte er es Sir Nathan gegenüber nicht erwähnt, und nun glotzte der alte Herr ihn an wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Alex atmete tief ein. Es war Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. „Wenn Miss Woodrowe es möchte, hat sie die Stellung.“

„Also wirklich, Mr Martindale!“ Lady Eliot kniff erbost die Lippen zusammen. „Wir können unmöglich billigen …“

„Vielen Dank, Mr Martindale“, sagte Polly entschlossen. Sie sah mit strahlendem Blick zu ihm auf. „Wenn ich die Schlüssel haben dürfte, komme ich morgen ins Dorf und entscheide, was benötigt wird.“

Er runzelte die Stirn. Ins Dorf kommen? Zu Fuß? Den Teufel würde sie tun! „Was das angeht, Pol… Miss Woodrowe, habe ich die Schlüssel bei mir und wäre entzückt, Sie zu fahren.“

Abrupt setzte Lady Eliot sich auf. „Ich muss ein für alle Mal klarstellen, dass Sir Nathan seine Zustimmung nicht gegeben hat!“

Alex verbeugte sich knapp. „Das verstehe ich gut, Ma’am.“ Er wandte sich an Polly. „Holen Sie Ihren Umhang, Miss Woodrowe. Ich warte in der Halle auf Sie.“

Sprachlos sah Polly sich in dem zweiten Raum des Schulhauses um. Sie spürte, wie leise Panik in ihr aufstieg. Sie hatte nicht nachgedacht. Und sie hatte es natürlich auch nicht wissen können. Aber der Zustand des anderen Raums im Cottage war so ernüchternd wie ein Schwall Wasser ins Gesicht.

Der Unterrichtsraum war in Ordnung. Saubere Pulte in mehreren Reihen, ein Schrank mit den Schiefertafeln und anderen Hilfsmitteln. Dazu Bücher auf einem Regal, ein Pult für den Lehrer und ein wundervoller, großer Kamin. Vor dem Haus war ein riesigerHolzstapel aufgeschichtet. Ganz offensichtlich wurde weder vom Lehrer noch von den Schülern erwartet, dass sie froren. Dem Raum selbst hatte man erst kürzlich einen neuen Anstrich verpasst, der ihn hell und heiter wirken ließ.

Auch der zweite Raum war weiß getüncht worden. Mehr aber auch nicht. Ansonsten war er leer. Ganz und gar leer. Auf der einen Seite befand sich eine Nische mit einem breiten Brett, aber es gab weder eine Matratze noch Bettzeug. Auch keine Möbel. Es gab nichts. Polly schluckte mühsam. Doch selbst wenn Möbel da gewesen wären, so wurde ihr plötzlich voller Schrecken bewusst, sie hatte keine Ahnung, wie sie sich etwas zu essen kochen sollte. Zumal es nicht einmal einen Topf gab, nur eine Eisenstange mit einem Haken über der Feuerstelle im Kamin, an den man wohl einen Topf aufhängen konnte – wenn man einen hatte. Ein Topf kostete Geld, ebenso der Tisch, den sie ebenfalls brauchte, und ein Stuhl zum Sitzen und Bettzeug und …

Nein, aufgeben kam nicht infrage! Sie hatte die Stellung bekommen und würde sie, verflixt noch einmal, behalten! Ein wenig Geld besaß sie immerhin noch. Nicht viel, aber es reichte gewiss, um dieses Zimmer mit dem Nötigsten auszustatten.

Entschlossen hob sie das Kinn. „Ich brauche …“

„Es geht einfach nicht“, sagte Mr Martindale. Er drehte sich abrupt zu ihr um, die grauen Augen finster. „Sie können unmöglich hier leben! Ich muss von Sinnen gewesen sein, es vorzuschlagen.“

„Warum sollte es nicht gehen?“, fragte sie beunruhigt. Augenblicklich schossen ihr sämtliche Gründe durch den Kopf, die gegen diese verrückte Idee sprachen. Aber wenn sie sie ignorieren konnte, warum nicht auch er? „Ich … brauche nur einige Möbelstücke, einen Tisch und einen Stuhl. Vielleicht noch einen Sessel, um vor dem Kamin sitzen zu können. Und eine Matratze und … einen Topf.“

Er fixierte sie streng. „Polly, können Sie überhaupt kochen?“

Verärgert erwiderte sie seinen Blick. „Und Sie?“ Sie versuchte, nicht auf ihr schneller schlagendes Herz zu achten, darauf, dass ihr der Atem stockte, wenn er ihren Namen, ihren Kosenamen, aussprach. Zwei Jahre lang war sie nur Miss Woodrowe genannt worden. Ihre Tante und Cousinen bestanden auf Hippolyta. Niemand hatte sie Polly genannt, seit ihre Mutter gestorben war. Und auch er sollte es eigentlich nicht tun.

„Ich habe Mrs Judd“, erklärte er lächelnd.

„Und ich habe meinen Verstand“, konterte sie und wandte hastig den Blick von seinem sinnlichen Mund ab. „Und ich kann mir ein Kochbuch kaufen oder … oder um Rat fragen. Bitte.“ Oh, zum Kuckuck! Sie hatte sich doch geschworen, nicht zu betteln.

„Sie werden allein sein“, wandte er ein. „Eine junge Frau und allein.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Vorstellung gefällt mir ganz und gar nicht.“

„Nun, mir gefällt sie“, entgegnete sie trotzig. „Mein Onkel hat recht. Ich kann unmöglich täglich von seinem Haus hierher und wieder zurück fahren.“ Es war besser, den endgültigen Bruch herbeizuführen und ihre Unabhängigkeit klarzustellen. Tante Eliot würde ihr so viele Hindernisse in den Weg legen, wie sie nur konnte. Aber schon wieder rührte sich die Angst tief in ihr. Eine Frau war nicht für die Unabhängigkeit geschaffen. Es war falsch und gegen die Natur. Ein zweites Mal verscheuchte sie die entmutigenden Gedanken. Wie vielen Menschen mochte es unnatürlich erschienen sein, dass man King John zwang, die Magna Carta zu unterzeichnen? Und dennoch war der Himmel nicht eingestürzt.

Alex blickte finster vor sich hin, in Gedanken versunken. „Vielleicht wäre eine Unterkunft hier im Dorf …“

„Nein!“ Ihre Heftigkeit richtete sich mehr gegen ihre eigene Feigheit als gegen seinen Vorschlag. Polly errötete, als er die Augenbrauen hob. „Entschuldigen Sie, aber ich habe zwei Jahre lang mit fremden Menschen zusammengelebt. Ich …würde es genießen, allein zu sein.“ Unter dem Dach anderer Leute leben zu müssen, sich ihren Regeln unterzuordnen, hatte sie sehr gestört. Zwar würde sie für ihre Unterkunft zahlen und somit nicht abhängig sein, aber dennoch … „Ich möchte es gern versuchen.“

„Du meine Güte, Pol… Miss Woodrowe! Es ist Winter und …“

„Es gibt einen Stapel Holz vor dem Haus“, warf sie ein. „Und wie man ein Feuer anzündet, weiß ich.“ Die Frisinghams hatten ihrer Gouvernante erlaubt, ihr Zimmer sonntags zu heizen, obwohl Polly argwöhnte, dass es ihnen dabei eher darum gegangen war, die Feuchtigkeit aus dem Mauerwerk zu vertreiben. Die Behaglichkeit einer unbedeutenden Angestellten hatte sie gewiss nicht interessiert. Und da keiner der Diener dafür verantwortlich gewesen war, hatte Polly gelernt, selbst Feuer zu machen.

„Aber so ganz allein … werden Sie sich nicht einsam fühlen?“

Sie sah ihn erstaunt an. „Sie leben doch auch allein. Erzählen Sie mir nicht, dass Mrs Judd Ihnen an kalten Abenden die Hand hält. Fühlen Sie sich denn einsam?“

„Das ist etwas ande…“ Er hielt inne und lächelte wieder auf die ihr so vertraute Weise. „Na schön. Ja. Manchmal schon.“

„Oh.“ Seine Ehrlichkeit entwaffnete sie, doch sie fasste sich rasch. „Nun, ich glaube nicht, dass ich Schwierigkeiten damit haben werde.“ Sie mochte allein sein, aber das bedeutete nicht, dass sie sich einsam fühlen würde. Weniger jedenfalls als unter einem Dach mit Menschen, die es vorgezogen hätten, sie los zu sein – Menschen, von denen sie geglaubt hatte, sie würde ihnen etwas bedeuten. Doch Polly Woodrowe, die verarmte, auf Hilfe angewiesene Verwandte, war nicht mehr Polly Woodrowe, die reiche Cousine. Nur, wie sollte sie all das Alex Martindale erklären? Es würde lediglich wehleidig und bemitleidenswert klingen. Also sagte sie nur: „Es ist etwas anderes, ob man ein Gast und Familienmitglied ist oder abhängig.“

Er hob die Brauen. „Mit der Veränderung Ihrer Vermögensverhältnisse klarzukommen muss sehr schwierig für Ihre Verwandten gewesen sein.“

Das war zu viel. „Schwierig für sie?“ Sie schnaubte gereizt. „Aber sicher doch. Es muss unendlich schwierig gewesen sein zu erfahren, dass das Mädchen, das der Familie die längst eingeplante Mitgift bringen sollte, ruiniert war! Absolut tragisch. Und wenn Sie mir jetzt noch sagen wollen“, fuhr sie immer hitziger fort, „dass es meine Pflicht als gute Christin ist, klaglos das Schicksal anzunehmen, das der Herrgott mir zugeteilt hat, dann können Sie zum Teufel gehen!“

Er blinzelte verblüfft, und erst da wurde Polly bewusst, was sie gesagt hatte. Du lieber Himmel. Dieses Mal würde es einen Sohn des Hauses, der die Hände nicht bei sich behalten konnte, nicht brauchen, damit sie entlassen wurde. Dieses Mal würde sie gehen müssen, noch bevor sie ihre Arbeit begonnen hatte.

„Meine Bemerkung war sarkastisch gemeint“, beschwichtigte Alex sie sanft. „Und wenn mir tatsächlich etwas so haarsträubend Borniertes über die Lippen gekommen wäre, hätten Sie mich gern zum Teufel schicken können.“ Er musterte sie nachdenklich. „Sie sind also sicher, dass Sie es versuchen wollen? Wenn Sie einmal Ja gesagt haben, gibt es kein Zurück mehr, wissen Sie.“

Sie schluckte. „Das gibt es schon jetzt nicht mehr für mich.“ Sie hatte ihren Platz in ihrer Familie und in der Gesellschaft verloren. Sie würde sich einen neuen erkämpfen müssen.

„Ich denke, Sie werden hier zumindest sicher sein“, fuhr er langsam fort. „Immerhin wohnen Sie mitten im Dorf. Und das Haus gehört Dominic, also würde niemand es wagen, Schwierigkeiten zu machen.“ Seine Miene wurde finster. „Und er würde es mit mir zu tun bekommen.“ Er schwieg einen Moment, dann atmete er tief ein. „Nun gut. Fünfzig Pfund im Jahr, zu zahlen vierteljährlich.“

„Fünfzig?“, stieß sie ungläubig hervor.

Abermals hob er die dunklen Brauen. „Nicht genug?“

Dieses Mal erkannte sie die Belustigung in seiner Stimme. „Mehr … mehr als genug“, versicherte sie ihm hastig. „Ich … ich benötige einige Dinge für das Haus. Einen Tisch, vielleicht einen Stuhl. Wenn Sie mir einen kleinen Vorschuss geben könnten. Ziehen Sie ihn von meinem Gehalt …“

„Ganz gewiss nicht!“ Die Belustigung war verschwunden. Alex funkelte sie verärgert an. „Das Haus wird möbliert und mit allem Nötigen ausgestattet.“

„Mit allem Nötigen?“

Er machte eine vage Handbewegung. „Mrs Judd wird mir sagen, was Sie brauchen werden. Einen Topf wohl auch, nehme ich an. Und sonstige Kochgeräte.“ Er musterte sie nachdenklich. „Sind Sie wirklich sicher, dass Sie es wollen? Was ist mit Lady Littleworth?“

Polly zuckte die Schultern. „Was wird aus mir, falls sie stirbt oder zu dem Schluss kommt, dass ich ihr eine Last bin? Sie wird mir nichts zahlen, wissen Sie. Nein, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich muss Geld für meine Zukunft sparen. Um mir eine kleine Rente fürs Alter zu sichern.“

Er starrte sie verblüfft an. „Polly, Sie sind erst einundzwanzig!“

Und eines Tages würde sie einundfünfzig sein und mittellos. Gegen die Angst tief in ihr ankämpfend, konterte sie: „Sind Sie Lady Littleworth jemals begegnet?“

Lächelnd nickte er. „Ja, das bin ich tatsächlich. Ich verstehe, was Sie meinen. Nun, Sie haben die Stellung, Miss Woodrowe. Wann möchten Sie anfangen?“

3. KAPITEL

Was habe ich nur getan?

Es war der folgende Montag, und Polly starrte auf das Feuer unter ihrem Kochtopf und hoffte inständig, sie war nicht gerade dabei, ihr Abendessen zu verbrennen. Am Nachmittag hatte Mrs Judd ein Stück Hammelfleisch vorbeigebracht und ihr erklärt, wie sie es zubereiten musste. Es war Polly recht einfach erschienen, und der Duft, der aus dem Topf aufstieg, brachte ihren Magen dazu, auf äußerst undamenhafte Weise zu knurren. Sie sah sich in ihrem neuen Zuhause um. Ein Tisch und zwei Stühle standen in der Mitte des Raums, auf dem Brett in der Nische lagen eine Matratze und Bettzeug. Besteck und Geschirr befanden sich in ihrem neuen kleinen Schrank, und neben dem Kamin stand ein Sessel. Polly hatte das Kissen vom Bett herübergebracht, weil der Sitz nicht sehr weich gepolstert war, und sich in dem Sessel zusammengerollt. Ungeduldig wartete sie nun auf ihr Abendessen.

Im Unterrichtszimmer war alles vorbereitet für den morgigen Tag, an dem die Schule öffnen würde. Lord und Lady Alderley und Mr Martindale hatten sich angekündigt, um die Kinder zu begrüßen. Ein Dutzend Schüler für den Anfang, Mädchen und Jungen. Die meisten von ihnen hatte sie nach dem gestrigen Gottesdienst kennengelernt. Alex Martindale hatte großen Wert darauf gelegt.

Trotz des Knotens in ihrer Magengegend war Polly überzeugt, dass ihr die Arbeit als Lehrerin besser gefallen würde als die Position einer Gouvernante. Zum einen würde sie keine Mrs Frisingham ertragen müssen, die sich ständig in alles einmischte, das schlechte Benehmen ihrer Kinder rechtfertigte oder gegen jeden von Pollys Disziplinierungsversuchen umgehend Einspruch erhob. Und sehr viel wichtiger als das: Kein junger Mr Frisingham, Schwager der Hausherrin, würde ihr in den Gängen auflauern, um sie zu belästigen und anstößige Andeutungen zu machen. Polly erschauderte.

Das Herrenhaus der Eliots hatte sie ohne großes Aufhebens verlassen. Weder Susan noch Mary waren heruntergekommen, um ihr Lebewohl zu wünschen. Nur ihre Tante hatte sich bei ihrem Aufbruch eingefunden, die Lippen missbilligend zusammengepresst.

Ich bin überzeugt, dass du die Torheit deines Handelns schneller erkennen wirst als dir lieb ist.

Der Nachmittag neigte sich allmählich seinem Ende zu. Polly hatte die Fensterläden geschlossen und die Öllampe gelöscht. Das Licht des Kaminfeuers reichte aus, und sie konnte sich nicht leisten, Lampenöl zu verschwenden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich allein. Vollkommen allein. Und sie hatte das ungute Gefühl, dass sie die Einsamkeit im nächsten Moment anspringen würde.

Ein Klopfen an der Tür ließ Polly zusammenfahren. „Herein!“, rief sie und rappelte sich vom Sessel auf.

Mit finsterer Miene trat Alex Martindale in den Raum. „Warum haben Sie die Tür nicht verriegelt?“, verlangte er schroff zu wissen. Die Strenge seines Gesichtsausdrucks wurde ein wenig dadurch gemildert, dass ein noch nicht ganz ausgewachsener schwarzbrauner Setter-Welpe hechelnd und mit wild wedelndem Schwanz hinter ihm herein- und auf sie zugestürmt kam.

„Verriegelt?“, wiederholte Polly verwundert, während der Welpe ihr begeistert die Hände leckte. „Warum?“

„Warum?“ Alex sah sich um. „Ist die Lampe defekt?“

„Nein. Warum sollte ich meine Tür verriegeln? Es ist kaum fünf Uhr.“

„Es ist dunkel!“, erwiderte er. „Oder fast. Jeder könnte hier hereinkommen!“

„Jemand hat es ja auch getan“, stellte sie zutreffend fest und tätschelte dem Hund den Kopf.

„Wer?“ Alex runzelte unheilverkündend die Stirn.

Sie musterte ihn verwirrt. Was in aller Welt brachte ihn so auf?

„Sie natürlich“, antwortete sie. „Wer hätte sich sonst die Mühe gemacht?“

„Wer sonst?“, wiederholte er außer sich. „Polly … Miss Woodrowe, irgendein Landstreicher könnte vorbeikommen und das Licht sehen. Und womöglich beschließen herauszufinden, wer hier wohnt.“ Er schnaubte verärgert. „Und Sie wohnen hier ganz allein.“

„Oh.“ Sie errötete und kam sich plötzlich wie eine dumme Gans vor. „Ich verstehe.“

„Dem Himmel sei Dank. Würden Sie mir also versprechen, in Zukunft die Tür zu verriegeln?“

Die Sorge ihrer Familie hatte ausschließlich der Tatsache gegolten, dass ihre Handlungen ein schlechtes Licht auf sie werfen würden. Alex’ Besorgnis um ihre Sicherheit jedoch wärmte Polly das Herz.

Sie nickte. „Ja. Wenn Sie es für nötig halten.“ Die Erleichterung in seinem Blick nahm sie noch mehr für ihn ein.

„Gut.“ Er zögerte. „Ich hatte nicht vor, lange zu bleiben. Ich wollte Ihnen nur das hier geben.“

Er hielt ihr ein Päckchen hin, und sie nahm es mit bebenden Fingern entgegen. „Danke.“

Er nickte. „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Ja.“

„Und mit der Lampe auch?“

Sie errötete. „Ich wollte nur kein Lampenöl verschwenden.“

„Oh.“ Er wirkte betroffen. „Ich verstehe. Platz, Bonny!“

Die junge Hündin setzte sich tatsächlich, ohne mit dem Schwanzwedeln aufzuhören, dann schnaubte sie und streckte sich vor dem Kaminfeuer aus.

„Bonny?“

Alex lächelte. „Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von Lady Alderley. Sie fand, ein Hund könnte mir Gesellschaft leisten.“ Er bedachte den Welpen mit einem skeptischen Blick. „Wahrscheinlich stimmt es sogar, solange das Tier nicht meine Haushälterin vergrault. Mrs Judd ist skeptisch, was Bonny anbelangt, und ihre Katze ebenfalls.“

Polly lachte. „Aber Bonny ist hinreißend, und Hunde sind wirklich die beste Gesellschaft.“

„Stimmt. Fühlen Sie sich gewappnet für morgen?“

Sie schluckte betreten. „Ja. Alles ist vorbereitet.“

„Einschließlich Ihrer selbst?“

„Ja, einschließlich meiner eigenen Person.“ Zumindest hoffte sie das.

„Kein Bedauern?“

Die Frage gab ihr so viel Kraft, wie nichts sonst es vermocht hätte. „Nein.“ Und plötzlich wusste sie, dass es die Wahrheit war. Sie hatte keine Ahnung, wie dieses Unterfangen enden würde, aber ihre Entscheidung war getroffen. Freiwillig. Und selbst wenn ihre sämtlichen Hoffnungen sich als umsonst erwiesen – für einen kurzen Moment hatte sie sich unabhängig gefühlt, und das war ihr unendlich wichtig. Wenn Einsamkeit der Preis war, den sie dafür zahlen musste, dann war sie bereit, es zu tun.

„Darf ich mein Geschenk öffnen?“, fragte sie leise.

Zu ihrem Erstaunen errötete er. „Es ist nicht wirklich ein Geschenk. Nur ein Mitbringsel. Sie könnten es nützlich finden, denke ich.“ Er runzelte die Stirn. „Es ist nichts Besonderes. Wirklich nicht.“

Sie war schon eifrig damit beschäftigt, Kordel und Einwickelpapier zu entfernen, und schließlich enthüllte sie ein kleines, schlichtes Holzkästchen mit einem Schlüssel. Ein zartes Intarsienmuster aus winzigen Blumen zierte den Deckel.

„Oh.“ Ihr entfuhr ein entzückter Seufzer. Mit zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel in seinem kleinen Schloss um und hob den Deckel, unter dem sie zwei weitere Deckel mit kleinen Messingknöpfen entdeckte. Ein aromatischer Duft stieg ihr in die Nase, und sie wusste, was er ihr gebracht hatte.

Sie musste schlucken, ehe sie sprechen konnte. „Eine Teedose! Wie schön. Danke.“ Sie brachte nur ein Flüstern zustande.

„Es ist keine besonders gute“, antwortete er verlegen. „Nur ein Hobby von mir. Aber …“

„Sie haben sie selbst angefertigt?“ Fest schlossen sich ihre Finger um die Dose. Rührung schnürte ihr die Kehle zu. Sie musste sich zwingen, ihm in die Augen zu sehen. „Vielen Dank, Sir. Es ist das wundervollste Geschenk, das man mir je gemacht hat.“

Fast ehrfürchtig öffnete sie einen der inneren Deckel und sah einen kleinen Holzlöffel in den Teeblättern liegen. „Und diesen Löffel haben Sie auch gemacht?“ Sie holte ihn heraus, spürte, wie seidig und glatt sich das Holz anfühlte, und musste wieder schlucken, so sehr drohten ihre Gefühle sie zu überwältigen.

„Zwei“, sagte er mit rauer Stimme. „Einen für jedes Fach.“

Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie den kleinen Löffel wieder in die duftenden Teeblätter zurücklegte und den Deckel schloss. Sie würde nicht weinen. Sie würde nicht weinen! Behutsam stellte sie die Dose auf das Regal mit der Teekanne.

„Danke, Sir.“ Ihre Stimme klang zum Glück einigermaßen fest.

„Keine Ursache.“ Er musterte sie nachdenklich. „Ist alles in Ordnung, Miss Woodrowe? Werden Sie sich heute Abend bestimmt nicht einsam fühlen?“

„Bestimmt nicht.“ Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu ihrer neuen Teedose.

Alex marschierte die Dorfstraße entlang in Richtung der Pfarrei und zu der Abendandacht, die er noch halten musste. Ihm war auf wunderbare Weise warm ums Herz. Die Teedose hatte er schon im vergangenen Sommer gefertigt und sie eigentlich für Pippa vorgesehen. Aber irgendwie war sie ihm dann doch nicht ganz richtig für Dominics Frau erschienen, und so hatte er die Dose beiseite gestellt. An dem Morgen, als er Polly das Schulhaus gezeigt hatte, war ihm die Dose wieder ins Auge gefallen und plötzlich hatte er gewusst, warum er sie behalten hatte – sie war für Polly bestimmt gewesen. Doch dann hatte er unbedingt noch etwas nur für sie machen wollen, und zu einer Teedose gehörten schließlich auch Teelöffel, oder? Der nackte, düstere Raum im Cottage war ihm nicht aus dem Sinn gegangen, als er die Löffel geschnitzt hatte, doch ihre verzückte Miene beim Anblick des Geschenks hatte ihn das nüchterne Zimmer plötzlich in einem ganz anderen Licht sehen lassen: warm, gemütlich und überhaupt nicht mehr düster. Er schnippte mit den Fingern und pfiff nach Bonny, die den alten Schäferhund des Schmieds freundlich begrüßte.

Davey Fletcher kam heraus und rief seinen Hund. „’n Abend, Reverend. Mit Ihrer Miss Polly alles in Ordnung?“

„Äh … ja.“ Es gab keinen Grund zu leugnen, wo er gewesen war. Aber seine Miss Polly? War es nicht völlig selbstverständlich, dass er sich um Miss Woodrowes Wohlergehen sorgte?

„Da hat sie sich ganz schön viel vorgenommen, was?“, fuhr Fletcher bedächtig nickend fort. „Aber für die Kleinen ist es eine gute Sache.“ Er kraulte seinen Hund hinter dem Ohr. „Am besten halten wir alle ein Auge auf sie, was, Reverend?“

Die Schüler standen hinter ihren Pulten, die Gesichter sauber geschrubbt und die Blicke ernst auf Lord Alderley geheftet, der ihnen Polly vorstellte.

„Miss Woodrowe hat sich einverstanden erklärt, euch zu unterrichten, und ich weiß, dass ihr euer Bestes geben werdet für sie.“ Er gab Polly ein Zeichen vorzutreten. „In gewisser Weise ist sie wie ein Weihnachtsgeschenk, das ihr das ganze Jahr über habt. Wir möchten, dass ihr lesen und schreiben und rechnen lernt, damit ihr später gute Anstellungen bekommen und eure Arbeit ordentlich verrichten könnt. Und sobald Mr Martindale gleich das Gebet gesprochen hat, ziehen wir uns zurück und lassen Miss Woodrowe beginnen.“

Alex trat vor, und alle senkten den Kopf, als er sich an Gott den Herrn wandte und Ihm für die Kinder dankte, die Er ihnen geschenkt hatte, und für Miss Woodrowe – Polly errötete heftig –, die zu ihnen gekommen war, als sie um jemand gebetet hatten, der den Kindern Unterricht gab. Polly bezweifelte, dass sie wirklich dem Bild entsprach, das Alex Martindale und Lord Alderley im Sinn gehabt hatten – und übrigens wohl auch der Allmächtige selbst. Aber nun war sie hier, und die Kinder waren hier, und sie würde ihr Allerbestes für sie tun. Ohne sich darum zu kümmern, dass Tante Eliot und ihre Cousine Susan steif im hinteren Teil des Raums neben Lord und Lady Alderley standen. Dabei gab sie sich nicht dem Trugschluss hin, dass die Situation Lady Eliots Billigung fand. Ihre Tante war hier, weil Lady Alderley ihr Interesse an der Schule betont hatte und anwesend sein würde.

Alex beendete das Vaterunser und trat einen Schritt zurück, um Polly das Feld zu überlassen.

„Setzt euch, Kinder“, sagte sie freundlich.

Die Kleinen kamen der Aufforderung so eifrig nach, dass die Stühle scharrten.

„Kann jemand von euch lesen und schreiben?“

Man warf sich verstohlene Blicke zu, und nur ein kleines Mädchen hob die Hand.

„Ja?“ Polly lächelte ihr ermutigend zu.

„Ich kann meinen Namen schreiben.“

Von hinten hörte man Susan Eliot kichern.

Polly würdigte ihre Cousine keines Blickes, sondern konzentrierte sich auf das Kind. „Großartig. Du bist Maryann Perkins, nicht wahr?“

Maryann strahlte. „Ja, Miss.“ Und sie buchstabierte ihren Namen sorgfältig.

Susan lachte wieder. Dieses Mal sah Polly doch zu ihr hin, und Susan erwiderte den Blick so frech, dass Pollys Zorn die Oberhand gewann.

„Sehr schön, Maryann. Ich kannte einmal ein kleines Mädchen, das Susan hieß und eine Ewigkeit brauchte, um den eigenen Namen zu schreiben. Du wirst wahrscheinlich auch schneller rechnen lernen.“ Susan hatte die vielen Gouvernanten, die eine nach der anderen daran gescheitert waren, ihr etwas beizubringen, regelmäßig zur Verzweiflung gebracht.

Jetzt errötete Susan heftig, und Lady Eliot schoss Polly einen empörten Blick zu.

Rasch eilte Alex Martindale zur Tür. „Wir lassen Sie dann also in Ruhe weitermachen, Miss Woodrowe.“ Er klang, als versuche er, ein Lachen zu unterdrücken.

Doch Lady Eliot trat vor. „Ein Wort, Hippolyta …“

Alex kam ihr zuvor. „Nein, Lady Eliot. Miss Woodrowe ist beschäftigt. Ich bin sicher, sie wird entzückt sein, wenn Sie sie nach Schulschluss besuchen möchten.“ Er schenkte Polly ein so gewinnendes Lächeln, dass ihr Herz auf eine Weise zu pochen begann, die sich ganz bestimmt nicht schickte. „Guten Tag, Miss Woodrowe. Nach Ihnen, Ma’am.“ Und damit geleitete er Susan und Lady Eliot aus dem Raum. Lord und Lady Alderley folgten ihnen.

Zutiefst erleichtert verdrängte Polly jeden weiteren Gedanken an ihre Verwandten und machte sich an die Arbeit.

Als die Uhr halb drei zeigte, war Polly vollkommen erschöpft. Drei weitere Kinder konnten ihre Namen schreiben und buchstabieren, alle konnten das Alphabet und die Bibelstelle des Tages auswendig aufsagen und hatten angefangen, zu zählen und leichte Rechenaufgaben zu lösen. Beendet hatten sie den Unterricht mit einem Weihnachtslied, das die meisten Kinder schon kannten und begeistert mitsangen.

Immer wieder musste Polly an Lord Alderleys Worte denken – dass sie ein Geschenk für die Kinder sei. Ihre früheren Schützlinge hätten dem ganz sicher nicht zugestimmt, aber vielleicht war es sowieso umgekehrt und ihre jetzigen Schüler waren ein Geschenk für sie. Ohne sie würde sie noch immer im Haus ihres Onkels leben, eine verabscheute Last. Jetzt, da sie die Kinder betrachtete, wie sie sich in einer Reihe aufgestellt hatten und darauf warteten, aus dem Unterricht entlassen zu werden, erkannte sie, dass sie ihnen viel geben konnte – Wissen und vielleicht eine bessere Zukunft.

„Ich sehe euch dann morgen wieder, Kinder“, sagte sie sanft. „Die Schule ist aus. Fort mit euch.“ Sie riss die Tür weit auf und rechnete damit, dass alle sofort losrennen würden. Doch stattdessen gingen sie brav einer nach dem anderen hinaus, und jeder einzelne von ihnen blieb vor ihr stehen, verabschiedete sich und dankte ihr.

Maryann Perkins war die Letzte. „Der Reverend sagt, das Beste, was wir tun können, ist, Ihnen jeden Tag zu danken, weil wir großes Glück haben, dass Sie bei uns sind.“

Polly spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Geschenke kamen manchmal in ungewöhnlicher Verkleidung daher.

Sie hatte ausgerechnet, welche Ausgaben sie sich zumuten konnte. Unabdingbar waren die Kosten für Essen und Heizung, danach musste sie sehen, wie oft sie sich eine Kanne Tee leisten konnte. Kaffee kam natürlich nicht infrage, aber sie zog ohnehin Tee vor. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass eine Tasse Tee nach jedem Unterrichtstag ihr Budget nicht sprengte, wenn sie die Teeblätter immer zwei Mal aufbrühte.

Polly wartete, dass der Wasserkessel kochte, als es an der Hintertür klopfte. Sie ging öffnen und sah Alex Martindale auf der Schwelle stehen.

„Kommen Sie herein.“ Zweifellos wollte er wissen, ob er mit ihrer Einstellung einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte oder nicht.

„Ich brauche gar nicht zu fragen, wie es lief“, sagte er und zog den Kopf unter dem niedrigen Türsturz ein. „Ich bin einigen der Kinder begegnet. Sie hatten alle viel Spaß am Unterricht, und drei von ihnen sagten mir sogar die heutige Bibelstelle auf.“ Er lächelte, und Pollys Herz tat einen freudigen Satz. „Caleb Fletcher erklärte mir seine Rechenaufgabe. Gut gemacht.“ Er stellte ein Glas auf den Tisch. „Marmelade. Mrs Judd hat im Sommer Unmengen Brombeeren eingekocht.“

Polly errötete. Er wollte nur freundlich sein. Es hatte nichts zu bedeuten. „Vielen Dank.“ Sie liebte Brombeermarmelade. „Die Kinder waren alle sehr aufmerksam. Sie wollen lernen. Nicht wie …“ Sie hielt inne.

„Nicht wie Ihre früheren Schüler?“

Sie lächelte, als sie ihn zwinkern sah. „Nein, überhaupt nicht. Ich war keine besonders gute Gouvernante, fürchte ich.“

Alex schnaubte. „Das glaube ich nicht. Vielmehr …“

Schritte im Schulzimmer nebenan ließen sie beide aufblicken, und im nächsten Moment stolzierte Lady Eliot herein. „Hippolyta, ich muss doch sehr bitten …“ Sie bemerkte Alex und runzelte die Stirn. „Mr Martindale. Ich kann es nicht gutheißen, dass Sie sich ohne Anstandsperson mit Hippolyta in einem Raum aufhalten.“

„Ich wollte nur nachfragen, wie Miss Woodrowe zurechtkommt, Lady Eliot“, erwiderte er eisig. „Genauso wie ich mich um jedes andere meiner Gemeindemitglieder kümmern würde.“

Lady Eliot rümpfte die Nase, keineswegs überzeugt. „Nun, es macht jetzt auch nichts mehr aus. Ich wollte ohnehin auch mit Ihnen über den schändlichen Zwischenfall von heute Morgen sprechen.“ Sie bedachte Polly mit einem vernichtenden Blick. „Die arme Susan war zutiefst beschämt. Ich denke, eine Entschuldigung …“

„Aber nicht doch, Lady Eliot.“ Polly erschrak über Alex’ beißenden Ton. „Wenn Miss Susan begriffen hat, wie falsch es von ihr war, sich über Maryann lustig zu machen, brauchen wir nicht weiter darüber zu reden.“

Polly hielt den Atem an, Lady Eliot blieb der Mund offen stehen und Alex fuhr einfach fort, als wäre alles in bester Ordnung. „Ich bin sicher, sie sieht ein, dass die Verhöhnung eines Kindes ganz und gar nicht das ist, was Sie von ihr erwarten, also lassen Sie uns den Vorfall vergessen.“

Lady Eliots üppiger, in Samt gehüllter Busen hob und senkte sich heftig. Sie presste grimmig die Lippen zusammen. „Aha. Sie denken also nicht, dass die Verhöhnung von Respektspersonen …“

Autor

Margaret Mc Phee
<p>Margaret McPhee lebt mit ihrem Ehemann an der Westküste Schottlands. Ganz besonders stolz ist sie auf ihre Kaninchendame Gwinnie, die mit ihren acht Jahren eine alte Lady unter ihren Artgenossen ist. Als Wissenschaftlerin ausgebildet, hatte sie trotzdem immer eine romantische Ader. Ihrem Mann begegnete sie zum ersten Mal auf der...
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