Hochzeit im wilden Westen - Zwei Familien zwischen Liebe und Verzweiflung (10-teilige Serie)

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Entdecken Sie in dieser zehnteilige Serie die Geschichten von zwei Rancher-Familien, die für ihr Glück kämpfen.

AUF UMWEGEN INS GROßE GLÜCK
Was will diese Winnie Porter hier? Aidan ist außer sich, als die junge Frau plötzlich vor ihm steht: lächelnd, verlegen - und überaus sexy! Aber das darf ihn nicht interessieren, keinen weiteren Blick wird er an Winnies umwerfende Figur verschwenden! Denn die Besucherin ist die leibliche Mutter seinen Adoptivsohnes, und wenn sie so überraschend bei ihm auftaucht, kann das nur eines bedeuten ...

STARKE MÄNNER LIEBEN ZÄRTLICH
Er will sie nur vor den Traualtar führen, weil sie schwanger ist? Das kommt für Thea nicht infrage. Sie träumt von der großen Liebe. Und ist fest entschlossen, den freiheitsliebenden Rancher Johnny Griego davon zu überzeugen, dass auch starke Männer zärtlich lieben dürfen …

VOM GLÜCK ÜBERRUMPELT
Tess will sich beim Joggen eigentlich vom anstrengenden Familienalltag erholen, da prallt sie völlig unerwartet auf ihre große Jugendliebe. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Fast hätte Eli sie überfahren! Tess klopft das Herz bis zum Hals, als sie ihren Exfreund erkennt. Der inzwischen gefragte Möbeldesigner erscheint ihr größer und kräftiger als damals, aber unverändert lässig und unerschütterlich ...

DIE RÜCKKEHR DES COWBOYS
Ihre Kinder, das Haus, die Geldnot seit dem Tod ihres Mannes, ihre Schwangerschaft - Emma braucht Hilfe. Die sie überraschend erhält, als der Sänger Cash, ein alter Freund der Familie, vor der Tür steht. Aber instinktiv spürt die schöne Witwe, dass auch Cash etwas braucht: ein Zuhause …

ZUM VERZWEIFELN? ZUM VERLIEBEN!
Singledad Silas Garrett hat genaue Vorstellungen von seiner Traumfrau: Zielstrebig und ordentlich soll sie sein. Also das genaue Gegenteil von Jewel, der hübschen, aber chaotischen Lieblingsnanny seiner Söhne. Deshalb ist die magische Spannung zwischen ihnen Silas ein Rätsel …

EIN GERÜST AUS LIEBE UND HOFFNUNG
Zu Hause ist, wo das Herz heilt. Um sich nach einer Enttäuschung abzulenken, beschließt Roxie, den alten Familiensitz zu sanieren. Aber wieder droht Unruhe: Beim Arbeiten geht ihr Noah Garrett zur Hand - verboten sexy und leider mit ganz anderen Zielen im Leben als Roxie …

KÜMMERN ERLAUBT, VERLIEBEN VERBOTEN
"Pass auf sie auf!" Levi Talbot hat versprochen, sich um die Witwe seines besten Freundes zu kümmern - nicht, sich in sie zu verlieben! Doch Valerie ist einfach zu betörend. Vergeblich wehrt Levi sich dagegen, dass er die schöne junge Mutter mit jedem Tag heftiger begehrt …

SÜßE KÜSSE IM LICHTERGLANZ
So stark und gleichzeitig so verletzlich … Zach Talbot ist auf den ersten Blick fasziniert von Hollywood-Schönheit Mallory. Aber das Herz des Witwers ist noch nicht wieder frei für eine große Liebe. Daran kann auch Mallorys verheißungsvoller Blick nichts ändern …

SANTA CLAUS UND DIE LIEBE ?
Diese stillen Winternächte auf der Ranch! Deanna wird klar, sie hat in der Stadt den Zauber ihrer Heimat vermisst. Und Josh, der sie liebevoll empfängt. Doch seinen zärtlichen Küssen zu verfallen hieße auch, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Ist sie dazu wirklich bereit?

VERRÜCKT NACH MR. PERFECT!
Männer? Für Emily sind sie nach ihrer geplatzten Hochzeit tabu … bis der verwegen attraktive Colin Talbot sie auf der Ranch ihrer Cousine wieder zum Lachen bringt. Mit ihm fühlt sie sich wie in einem neuen Leben. Aber kann der rastlose Fotojournalist ihr geben, wonach sie sich sehnt?


  • Erscheinungstag 11.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738136
  • Seitenanzahl 1296
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Karen Templeton

Hochzeit im wilden Westen - Zwei Familien zwischen Liebe und Verzweiflung (10-teilige Serie)

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IMPRESSUM

BIANCA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG,

20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

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Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Christine Boness

Produktion:

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Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,

Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg

Telefon 040/347-29277

Anzeigen:

Christian Durbahn

 

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

© 2008 by Karen Templeton-Berger

Originaltitel: „A Mother’s Wish“

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

in der Reihe: SPECIAL EDITION

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: BIANCA

Band 1751 (21/2) 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Übersetzung: Stephanie Thoma-Kellner

Fotos: gettyimages

Veröffentlicht im ePub Format im 10/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN-13: 978-3-86295-087-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

BIANCA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Aus Liebe zur Umwelt: Für CORA-Romanhefte wird ausschließlich 100% umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet.

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:

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Karen Templeton

Auf Umwegen ins große Glück

1. KAPITEL

Winnie Porter stand auf der Türschwelle von der „Skyview Gas’n’Grill“ Imbissstube, trank starken Kaffee aus einem Styroporbecher und blinzelte im Licht der Morgensonne. Über die karge Landschaft von West-Texas toste ein unbarmherziger Oktobersturm hinweg.

Na, das passt ja, dachte Winnie. In ihren Cowboystiefeln trat sie von einem Fuß auf den anderen. Dann rieb sie sich mit ihrer verschwitzten Hand den Oberschenkel. Am Ausschnitt ihres Baumwolltops kitzelten ihre feuchten Haarspitzen im Nacken und auf den Schultern.

Annabelle, ihr Border Collie, stieß mit der Schnauze gegen ihr Bein und hechelte.

„Hier, bitte. Aber nicht schon alles aufessen, noch bevor du Amarillo erreichst.“

Winnie betrachtete die prall gefüllte Plastiktüte. „Danke“, sagte sie und wappnete sich gegen die Missbilligung, die beinahe unverhohlen in den fast schwarzen Augen ihres Gegenübers schimmerte. Sie nahm die Tüte und drehte sich um, als Elektra Jones geräuschvoll durch die Nase ausatmete.

„Da ist Miss Ida noch nicht mal ’ne Woche tot …“

„Ich weiß.“

„… und du hast nichts Besseres zu tun, als quasi darum zu bitten, dass man dir noch mehr wehtut.“

„Schlimmer als das, was ich die letzten neun Jahre durchgemacht habe, kann es auch nicht werden“, sagte Winnie mit leiser Stimme und schwang sich ihren Dufflebag über die Schulter. „Und fang jetzt gar nicht erst damit an, dass du mich hier brauchst. Du weißt genauso gut wie ich, dass du den Laden hier praktisch alleine schmeißt. Vor allem im letzten Jahr …“

Die Stimme versagte ihr. Sie warf einen Blick auf das Erbe, das Ida Calhoun ihrer einzigen Enkelin hinterlassen hatte – eine heruntergekommene Mischung aus Diner, Tante-Emma-Laden und Tankstelle. Seit ihrem zehnten Geburtstag war dieser Ort für Winnie sowohl Zufluchtsort als auch Gefängnis. Und jetzt gehörte das alles ihr.

Sogar vom Grab aus schaffte es die Alte, ihren Willen durchzusetzen.

„Du wirst mich nicht mal vermissen“, behauptete Winnie.

„Also, da liegst du total daneben“, sagte Elektra mit Tränen in den Augen. Als sie Winnie an ihren üppigen Busen zog, gab diese den Versuch auf, die Fassung zu bewahren.

„Um Himmels willen, es ist doch nur für eine Woche.“

„Trotzdem.“ Elektra drückte sie ein letztes Mal und packte sie an den Schultern. „Sei bloß vorsichtig, hörst du?“

Winnie konnte nicht antworten und nickte nur.

Ein paar Minuten später dröhnten die Dixie Chicks aus dem Lautsprecher ihres alten Pick-ups, und Annabelle hielt auf dem Beifahrersitz die Schnauze in den Wind. An ein paar großen Reklameschildern vorbei fuhr Winnie auf den Highway Richtung Westen. Dabei war sogar ihr klar, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine Irrfahrt handelte.

Stunden später kletterte Winnie vor einem winzigen, schlammfarbenen Haus aus ihrem Truck. Ein steiles Blechdach, das gar nicht zu dem Gebäude passen wollte, krönte das mitten im Wald gelegene Domizil. Freudig bellend schoss Annabelle ins dichte Unterholz aus buschigen Pinien und Lebens-Eichen. Die herbstgelben Blätter der Bäume raschelten in der Brise.

Winnie blinzelte im grellen Licht des strahlend blauen Himmels. Die abblätternde Farbe der Eingangstür hatte beinahe den gleichen Farbton. Hier lässt es sich aushalten, dachte sie und lächelte, als sie in der kalten Luft eine Gänsehaut bekam.

Winnie wandte sich wieder ihrem Auto zu, um ein langärmeliges Hemd vom Vordersitz zu zerren, als ein weißer Toyota Highlander knirschend neben ihr zum Stehen kam. Die Maklerin, dachte sie.

Einen Augenblick später wurde ihre Vermutung bestätigt, als eine hochschwangere, hübsche Frau mit dunklem Haar vorsichtig aus dem Auto stieg und ihr zurief: „Sie sind bestimmt Winnie! Ich bin Tess Montoya, wir haben miteinander telefoniert.“

Sie öffnete die Rücksitztür, um einen kleinen Jungen im Kindergartenalter aussteigen zu lassen. „Ich habe Sie ja vor zu großen Erwartungen gewarnt!“

„Soll das ein Witz sein?“ Winnie schlüpfte in ihr Hemd und lächelte dem entzückenden kleinen Jungen zu, der sich schüchtern am langen Rock seiner Mutter festklammerte. Dann drehte sie sich um und betrachtete eingehend die dunkelrosa blühenden Cosmeen auf beiden Seiten der Tür, das Paar kleine Fenster – mit blau gestrichenen Fensterrahmen, von denen ebenfalls die Farbe abblätterte …

„Ich bin jetzt schon ganz verliebt in das Haus!“, behauptete sie, nahm ihren Dufflebag und ihren Schlafsack und folgte der gesprächigen Maklerin ins Haus.

„Leider sind die elektrischen Leitungen und die Wasserleitungen manchmal unzuverlässig“, sagte Tess und rieb sich den Bauch.

Winnie wandte den Blick ab.

„Aber meine Tante – sie ist die Haushälterin des Eigentümers – hat hier eine Weile gewohnt. Daher weiß ich, dass es durchaus bewohnbar ist. Wenigstens für eine Woche! Wobei ich immer noch nicht begreifen kann, warum Sie in Tierra Rosa bleiben wollen. Also, wenn Sie Taos oder Santa Fe gesagt hätten …“

„Das ist toll. Ehrlich“, sagte Winnie und ließ ihr Gepäck auf den Boden fallen. Die Holzbohlen waren nicht gewachst und wiesen zahlreiche Schrammen auf. Langsam gewöhnten sich Winnies Augen an das milchige Licht im Inneren.

Sie sah sich um und registrierte rau verputzte, schmucklose weiße Wände, einen bienenkorbförmigen Kiva-Kamin, ein abgenutztes Ledersofa mit passendem Sessel im spanischen Missionsstil, einen überdimensionalen Schaukelstuhl und ein Doppelbett mit einem Kopfende aus Baumstämmen.

Die „Küche“ bestand aus einer alten Anrichte zwischen einem Ausguss voller Rostflecken und einem uralten Gasherd sowie einem ramponierten, weiß lasierten Tisch mit zwei Stühlen, die nicht zusammenpassten. Eine niedrige Tür führte in ein winziges Badezimmer mit einer antiken Wanne mit Vogelfüßen, die offenbar nachträglich eingebaut worden war.

Aber alles war blitzblank; weiche Handtücher hingen von schwarzen Eisenringen, und auf dem Waschbeckenrand lag ein neues Stück Seife für sie bereit. Und die dicke Decke mit den flauschigen Kissen auf dem Bett schienen nur darauf zu warten, ausprobiert zu werden. „Ich finde es … gemütlich“, sagte Winnie, und Tess lachte.

„Das ist eine freundliche Beschreibung. Es tut mir wirklich leid, aber ich muss los. Ich habe noch tausend Sachen zu erledigen. Hier haben Sie für alle Fälle meine Karte“, sagte Tess und legte ihre Visitenkarte auf den Tisch.

Dann schlurfte sie mit ihrem Babybauch mühsam zur offenen Haustür, durch die Kinderlachen hereindrang. „Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen. Oder meine Tante, die wohnt gleich da oben auf dem Berg. Ich habe ihre Nummer auch aufgeschrieben … oh! Miguel! Nein, lass den Wauwau in Ruhe!“

„Das ist wahrscheinlich eher umgekehrt“, sagte Winnie lachend und rief Annabelle zurück.

„Ich denke immer wieder darüber nach, ihm einen Hund zu schenken. Aber sein Vater ist momentan nicht hier, und in diesen Tagen kommt das Baby …“ Tess seufzte. „Jedenfalls … genießen Sie Ihren Aufenthalt. Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen!“

Winnie sah dem SUV nach, wie es die ungeteerte Straße entlangrumpelte. Dann ging sie wieder ins Haus.

Prompt sprang Annabelle aufs Bett, drehte sich dreimal um sich selbst und ließ sich fallen.

Winnie zog die Hintertür auf und trat auf die kleine Lichtung hinaus, die hier in den Wald geschlagen war. Die Brise spielte mit ihren losen Haarsträhnen. Ein schriller Vogelruf ließ sie gerade noch rechtzeitig aufschauen, um einen Blick auf blaue Flügel zu erhaschen.

Sie schloss genießerisch die Augen und lächelte. Auch wenn ihr Plan nicht aufgehen sollte, nach dem letzten Jahr – nach den letzten Jahren – gab es Schlimmeres, als eine Woche in diesem Paradies zu verbringen.

Doch als sie die Augen öffnete und die frischen Reifenspuren eines Fahrrads bemerkte, die zu einem Pfad führten, der zwischen den Bäumen verschwand, verflüchtigte sich ihr Lächeln. Stirnrunzelnd drehte sie sich um und betrachtete die Spuren, die kurz vor dem Haus endeten.

Hinter ihr im Wald knackte etwas.

Winnie fuhr herum. Die Nackenhaare standen ihr zu Berge. Doch dann war ihre Angst zumindest für den Augenblick vergessen, als Annabelle auf einer begeisterten Verfolgungsjagd im Unterholz verschwand …

Sein Atem ging stoßweise, ärgerlich keuchend. Fest umklammerte der kleine Junge die Griffe seines Fahrrads. Durch die Bäume hindurch beobachtete er die Frau und ihren Hund. Heißer Zorn explodierte in seiner Brust. Bleib bloß von meinem Haus weg!, wollte er rufen, aber der Schrei blieb ihm im Halse stecken.

„Robbie! Rob-bie!“

Robbie drehte den Kopf nach Floritas Stimme um. Wenn er nicht bald wieder zurückkam, würde sie sich ängstigen und seinem Dad Bescheid sagen, und dann würde sein Dad sich auch Sorgen machen. Und das wäre total doof. Nach einem letzten Blick auf die Frau drehte er um und trat so schnell in die Pedale, wie er konnte, um heimzufahren.

Die Hühner stoben in Panik auseinander und gackerten sich die Seele aus dem Hals, als er quer durch den Hof raste, sein Rad fallen ließ und nach hinten rannte.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Florita, als er die sonnige Küche betrat.

„Rumfahren, einfach nur so“, sagte Robbie keuchend. Er ging zum Kühlschrank, um sich eine Flasche Saft zu nehmen. Dabei konnte er spüren, wie Florita ihn von hinten mit ihren dunklen Augen ansah, fast als ob sie durch ihn hindurchschauen konnte. Er mochte Flo echt gerne. Aber auch wenn sie noch so nett war, sie war eben nicht seine Mom. Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals. Dann merkte er, dass Flo gerade etwas zu ihm gesagt hatte. „Hm?“

Flo verdrehte die Augen. „Solltest du irgendwann mal die Ohren aufsperren und gleich hören, was ich sage, falle ich vor Schreck tot um. Ich habe gesagt, dass dein Vater runter zu Garcia’s fährt, und dich gefragt, ob du mit willst.“

„Nein, ist schon okay“, sagte Robbie.

Flo warf ihm wieder so einen Blick zu. So einen Blick, der ihm sagen sollte, dass sie ihn verstand.

Seit seine Mom tot war, verbrachte sein Dad immer mehr Zeit im Studio beim Malen und immer weniger Zeit mit ihm. Jedenfalls nicht so wie früher. Flo sagte, dass sein Dad nur versuchte, mit seinen Gefühlen fertigzuwerden, weil seine Mom gestorben war. Das machte Robbie ein bisschen wütend. Er vermisste seine Mom doch auch. Sehr sogar. Und es tat weh, dass er nicht mit seinem Dad darüber sprechen konnte. Denn immer, wenn er das versuchte, wurde sein Dad ganz trübselig. Und das machte alles nur noch schlimmer.

Irgendwann hatte Robbie die Flinte ins Korn geworfen. Es hatte ja doch keinen Sinn, oder?

„Du darfst nicht aufgeben“, sagte Flo sanft.

Wenn er nicht ging, würde sie ihn nur weiter nerven. Daher trank er den Saft aus und schleppte sich die Treppe zu Dads Studio hinauf.

Als er sein Ziel erreicht hatte, musste er blinzeln, um sich an das helle Licht zu gewöhnen. Mit den vielen Fenstern an der Decke hatte man fast das Gefühl, draußen zu sein. Vor allem, weil die Wände so hoch waren. Robbie mochte den Geruch hier. Ölfarbe und Holz und das Zeug, das sein Dad benutzte, um Leinwände weiß zu grundieren, ehe er sie bemalte.

Die Jeans von seinem Dad und sein langärmeliges T-Shirt waren über und über mit Farbe verschmiert. Er war gerade dabei, einen seiner großen Pinsel zu reinigen, und betrachtete stirnrunzelnd das Bild, an dem er gerade arbeitete. Zumindest vermutete Robbie, dass er seine Stirn in Falten gelegt hatte – es war schwierig, das genau zu sehen, weil seinem Dad die dunklen Locken tief ins Gesicht fielen.

Robbie zupfte an seinem eigenen, viel helleren Haar herum. Es war fast genauso lang. Flo wollte immer, dass sie sich die Haare schneiden ließen, aber sein Dad sagte, das wäre eben ihr wilder Einsiedler-Look. Sein Dad rasierte sich nicht mal täglich. Dazu hatte Flo auch so einiges zu sagen.

Robbie schaute sich das Bild an. Die Farben waren ganz grell, Orange und Lila und Pink und Grün, so ähnlich wie der Blick aus seinem Fenster, wenn die Sonne unterging. Aber anstatt hübsch auszusehen, wirkten die Farben, als ob sie miteinander kämpften.

„Gefällt’s dir?“, fragte sein Dad. Er hörte sich anders an als alle anderen Leute hier, weil er aus Irland kam.

Robbie drehte sich um und sah, dass sein Dad ihn mit diesem traurigen Blick betrachtete, den er so hasste. Er wandte sich eilig wieder ab. „Für wen ist das?“

„Nur für mich“, antwortete sein Vater.

„Oh“, machte Robbie. Dann fügte er hinzu: „Flo hat gesagt, dass du zu Garcia fährst.“

„Ja, die haben heute eine Lieferung für mich bekommen.“ Sein Dad ließ sich Material und anderes Zeug oft an den Laden unten am Highway schicken und nicht nach Hause. Einerseits, weil es für die Lieferwagen manchmal schwierig war, hier hochzukommen. Aber auch, damit man ihn nicht finden konnten. Er konnte es nämlich nicht leiden, wenn fremde Leute ihre Nasen in seine Angelegenheiten steckten, sagte er. „Willst du mit?“

„Klar.“ Robbie tat, als ob das keine große Sache war. Als er dann wieder zu seinem Dad hinübersah, lächelte dieser. So ein bisschen. Zumindest so, dass er Grübchen bekam. Aber seine Augen sahen immer noch so aus, als wollte er sagen, wie leid ihm das alles tat. Als ob Moms Tod irgendwie Dads Schuld war.

Robbie wollte seinem Dad gerne sagen, dass er mit diesem Blödsinn aufhören sollte. Stattdessen fragte er: „Kann ich ein ‚Nutty Buddy‘-Eis kriegen?“

„Abgemacht“, antwortete sein Dad. Dann beugte er sich nach unten und hob Robbie hoch, genau wie früher.

Robbie klammerte sich an seinen Hals, und es machte ihm nicht mal etwas aus, dass das Gesicht von seinem Dad so pieksig war wie ein Stachelschwein.

Das Schild im Fenster war handgeschrieben: „Hunde und Kinder haben nur in Begleitung von Erwachsenen Zutritt.“ Eine Stadt, in der es solche Vorschriften gibt, muss man einfach lieben, dachte Winnie ironisch, als sie Annabelle vor dem Laden aus dem Truck ließ. Mit Stuckfassade und Säulenveranda verziert, stand das lang gestreckte Gebäude einsam und verlassen neben dem Highway. Dem größeren – aber trotzdem handgeschriebenen – Schild zufolge, das neben der Straße in der Erde steckte, handelte es sich außerdem um die einzige Tankstelle in Tierra Rosa.

Im Inneren entpuppte sich das Gebäude als modernes Gegenstück eines Kolonialwarenladens. Winnie sah sich kurz um und entdeckte alles nur Denkbare, von Angelhaken über Mikrowellenessen bis hin zu Motoröl, Levis Jeans und Rice Crispies. Abgesehen davon verkündete ein Schild an der Theke auch noch, dass es sich bei dem Shop um ein offizielles U.S. Postamt handelte, Postlagerung inbegriffen.

Winnie und Annabelle waren die einzigen Kunden. Neben der Kasse lehnte sich ein Mädchen im Teenageralter mit braunem Haar und extrem offenherzigen Ausschnitt über die Theke. Das Kinn in die Hand gestützt, blätterte sie ein Schulbuch durch und machte sich eifrig Notizen in einem Spiralblock.

Trotzdem ahnte Winnie irgendwie, dass sie eigentlich nichts gegen die Annäherungsversuche des großen, kräftigen Jungen mit dem kahlgeschorenen Schädel an ihrer Seite einzuwenden hatte. Ganz egal, wie viel Hausaufgaben sie zu erledigen hatte.

Winnie wandte sich seufzend ab. Sie musste sich zwingen, daran zu denken, dass nicht jedes Mädchen, das ein bisschen herumknutscht, gleich schwanger wird. Dass einige von ihnen intelligent genug waren, es nicht so weit kommen zu lassen. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass es keine Folgen hatte, wenn sie es doch taten.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief das Mädchen.

„Haben Sie Hundefutter?“

„Hinten an der Wand, rechts von Ihnen. Übrigens haben wir diese Woche Eis im Sonderangebot.“

„Danke“, sagte Winnie und schleppte einen Zehn-Kilo-Beutel Hundefutter zu ihrem Einkaufswagen. Dann steuerte sie die Tiefkühltruhen an, weil sich das Mädchen solche Mühe gegeben hatte, sie darauf aufmerksam zu machen. Vertieft in die Qual der Wahl zwischen Schokolade mit Minze oder Snickers-Eiscreme, hörte sie kaum, wie die Glocke über der Ladentür klingelte. Daher dauerte es auch eine Sekunde, bis die tiefe männliche Stimme mit dem irischen Akzent zu ihr durchdrang.

„Oh ja, Mr. Black“, sagte das Mädchen. „Das habe ich hier. Warten Sie, ich hole es Ihnen …“

Siedend heiß durchfuhr Winnie ein Adrenalinstoß. Einen Augenblick später tauchte ein kleiner Junge mit zotteligem hellblondem Haar auf, riss einen der Gefrierschränke auf und nahm sich ein „Nutty Buddy“-Eis. Als Winnie tief Luft holte, fuhr er herum und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Winnie dachte zurück an die vergangene Woche.

Nach fünf Minuten Internetrecherche hatte sie einen Zeitschriftenartikel mit dem Foto des zurückgezogen lebenden Landschaftsmalers und seiner Frau gefunden. Das offene Lächeln der sozial engagierten Textilkünstlerin war viel entspannter und freundlicher als das ihres wesentlich jüngeren Ehemannes.

In diesem mehrseitigen Artikel waren Fotos von dem wunderbaren Refugium aus Holz und Glas, das Aidan und June Black in den Bergen nahe des malerischen Dorfes Tierra Rosa im Norden New Mexicos gebaut hatten. Eine ganze Seite widmete sich ausschließlich dem Studio mit den hohen Wänden, das eigens für die überdimensionalen Leinwände des „irischen Cowboys“ errichtet worden war.

Dann war Winnie beim Anblick der Profilaufnahme des einzigen Kindes der Blacks das Herz stehen geblieben. Der Junge war adoptiert, aber der Artikel erwähnte das nicht. Vor zwei Jahren, als das Foto gemacht wurde, war der Junge sieben Jahre alt, und sein Haar wirkte fast engelsgleich im Sonnenlicht.

Die gleiche Farbe, die auch Winnies Haar in diesem Alter hatte …

„Wuff!“

Schwanzwedelnd streckte Annabelle sich vor dem Jungen aus. Stirnrunzelnd sah dieser von der Hündin zu Winnie, dann wieder zurück. Das Tier bebte vor Vorfreude.

„Schon okay“, sagte Winnie, obwohl sie nicht wusste, wie sie es überhaupt schaffte, weiterzuatmen. „Sie würde nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun.“

Langsam ließ sich der Junge auf ein Knie nieder, um Annabelle den Kopf zu tätscheln.

Die Hündin geriet außer Rand und Band und versuchte, ihn von oben bis unten abzulecken.

Aber nach einem kurzen Kichern rappelte sich der Junge auch schon wieder auf und richtete den Blick anklagend und argwöhnisch auf Winnie. Schmerzerfüllt. Seine Augen hatten fast die gleiche merkwürdig blaugraue Farbe wie ihre, nur hatte seine Iris goldene Flecken. „Du bist doch die Lady, die im ‚Alten Haus‘ wohnt, oder?“

Das „Alte Haus“. Als ob es sich dabei um einen Namen und nicht um eine Beschreibung handelte.

„Nur für kurze Zeit. Du … hast mich gesehen?“

„Ja. Vor ’ner Weile.“ Er reckte das spitze Kinn vor. „Zwischen den Bäumen. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs.“

Aha, dachte Winnie. Die Reifenspuren. „Spielst du gerne da?“

„Manchmal“, sagte er schulterzuckend.

Winnie kräuselte die Lippen. Sein langes Haar sah albern aus. Es reichte ihm fast bis zu den Schultern, glänzend und lockig wie bei einem Mädchen. Trotzdem war er von Kopf bis Fuß ein Junge, mit seiner Skater-Kluft und den Löchern an den Knien seiner Jeans. Allerdings, vermutete sie, lag es wahrscheinlich nur an seiner Größe, wenn er in der Schule nicht ständig verprügelt wurde. So sah er nämlich eher wie zehn oder sogar elf aus und nicht wie ein Neunjähriger.

Mit glühenden Wangen wandte sich sie wieder dem Gefrierschrank zu und schnappte sich eine Packung Erdbeer-Käsekuchen-Eis.

„Robbie? Wo bist du denn abgeblieben?“

Beide schauten auf, als Aidan Black – viel rauer und zotteliger, als Winnie ihn in Erinnerung hatte – am Ende des Ganges auftauchte.

Winnies Herz schlug Kapriolen. Ein zweiter Blick sagte ihr, dass er jedenfalls nicht mehr der lässige, lächelnde junge Mann war, den sie zwei Wochen vor der Entbindung des Babys kennengelernt hatte, welches dann sein Sohn geworden war. Die warmen, fröhlichen grünen Augen wirkten jetzt stumpf und verschlossen. Er sieht aus wie der Teufel höchstpersönlich, dachte sie.

Ganz egal, wie sehr sie sich zwischenzeitlich verändert hatte, er hatte sie sofort wiedererkannt.

Und darüber war er kein bisschen erfreut.

Sie hatte keine schwarze Punkfrisur mehr. Aber diese graublauen Augen, ihr Profil, wie ihre langen Arme und Beine kaum zu ihrem Körper zu gehören schienen, das war unverwechselbar.

Innerlich explodierte Aidan und fluchte.

In diesem Augenblick sagte Robbie: „Sie ist die Lady, die im Alten Haus wohnt.“

Und Aidan dachte: Ich bringe Flo um. „Wir müssen los“, murmelte er, packte seinen Sohn – seinen Sohn – an der Hand und zerrte den Jungen fast nach vorne, um das Eis zu bezahlen. Dabei hoffte er, dass die Botschaft bei „der Lady“ angekommen war …

Er warf Johnny Griegos Tochter ein paar Scheine aufs Kassenbuch und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Dann verfrachtete er Robbie auf den Beifahrersitz seines Trucks und stürmte zur Fahrerseite.

„Dad?“, fragte Robbie vorsichtig, als sie wieder auf dem Highway waren. „Was ist los?“

Womit soll ich anfangen?, dachte Aidan. „Gar nichts, Kerlchen“, brummte er und verspannte sich unwillkürlich, als sie an einer Weide vorbeifuhren, auf der ungefähr ein halbes Dutzend Pferde weidete … Aber vom Beifahrersitz war kein Mucks zu hören. Sie fuhren über eine Hügelkuppe. Auf der anderen Seite lag ein Feld voller Kürbisse.

Er warf kurz einen Blick zur Seite und versuchte herauszubekommen, ob Robbie sich wirklich so auf die Kürbisse konzentrierte, wie es den Anschein hatte.

„Wir können anhalten, wenn du willst“, schlug Aidan zögernd vor. Als Robbie stumm blieb, fügte er hinzu: „Zeitig zuschlagen, damit wir die beste Auswahl haben?“

Ein oder zwei Sekunden vergingen, ehe Robbie den Kopf schüttelte.

Aidan musste den Jungen nicht ansehen, um zu wissen, dass er Tränen in den Augen hatte.

Ihm war auch zum Heulen zumute. Aber sie fuhren einfach weiter, während ihn diese unendliche Traurigkeit zu verschlingen drohte.

Aidan wartete, bis er die gedämpften Pieptöne von Robbies Videospiel hörte, ehe er seine Haushälterin zur Rede stellte. „Und Sie sind nicht darauf gekommen, mal nachzufragen, wem Tess das Alte Haus vermietet hat?“

„Und wie hätten wir bitte wissen sollen, dass sie Robbies leibliche Mutter ist? Selbst wenn Tess mir ihren Namen gesagt hätte, hätte ich nichts damit anfangen können.“

Aidan ließ sich schwerfällig auf einen Küchenstuhl fallen und presste einen nach Terpentin riechenden Lappen zwischen seine Augenbrauen. Das stimmte schon. Flo hatte erst angefangen, für sie zu arbeiten, als Winnie Porter kein Thema mehr war. Insofern hatte es keinen Grund gegeben, ihr zu erzählen, wer Robbies leibliche Mutter war.

Aber jetzt hatte Flo sich ihm gegenüber niedergelassen und musterte ihn besorgt. Ihr Streit war bereits wieder vergessen. „Haben Sie Angst, dass die Frau Ihnen Schwierigkeiten bereiten will?“

„Angst habe ich nicht. Wütend bin ich. Dass sie einfach so reinschneit und …“ Er ballte die Hand zur Faust. „Sie hat kein Recht, so etwas zu tun.“

„Aber wenn es doch eine offene Adoption war …?“

„Eine Abmachung, die sie vor mehr als acht Jahren gekündigt hat.“

Flo schien einen Augenblick nachzudenken. „Glauben Sie, dass sie über Miss June Bescheid weiß? Dass sie jetzt aufgetaucht ist, weil sie weiß, dass Ihre Frau nicht mehr lebt?“

„Keine Ahnung“, sagte Aidan. Dann sprang er auf und nahm seine Wolljacke vom Haken. „Es ist doch kein Problem, noch etwas mit dem Essen zu warten, oder?“

„Wo wollen Sie denn hin?“

Aber Aidan war schon zur Tür hinausgerannt.

2. KAPITEL

Es lag Jahre zurück, seit Aidan bei dem achtzig Jahre alten Häuschen gewesen war, in dem er mit June gelebt hatte, als sie nach Tierra Rosa gezogen waren. Das Anwesen hatten sie wegen des Grundstücks gekauft.

Sie hatten zunächst im Alten Haus gewohnt, bis es mit Aidans Karriere gut genug lief, um das Neue Haus weiter oben auf dem Berg zu bauen. Das lag wesentlich weiter von der Zivilisation entfernt. Dabei waren weder Aidan noch June sonderlich berühmt. Damals nicht und heute auch nicht. Aidan und June legten ganz einfach Wert auf ihre Privatsphäre. Vor allem Aidan.

Obwohl er ordentlich durchgeschüttelt wurde, während sein Truck die von Lebens-Eichen gesäumte und mit gelb blühendem Hasenpinsel überwucherte Schotterstraße entlangschlingerte und holperte, schnürte es ihm die Kehle zu. Schließlich kam er mit einem Ruck vor dem Haus zum Stehen.

Der Border Collie, der auf einem sonnigen Fleckchen der niedrigen Veranda gedöst hatte, sprang sofort auf und bellte.

Einen Augenblick später wurde die Fliegengittertür aufgerissen, und Winnie Porter tauchte auf. Sie hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Im schwindenden Tageslicht wirkten ihre Gesichtszüge viel markanter, als Aidan sie in Erinnerung hatte. Allerdings war sie bei ihrer letzten Begegnung auch eine hochschwangere Achtzehnjährige gewesen, die laut June einen guten Teil ihrer Aufsässigkeit durch zu viel Wasser im Körpergewebe und zu viele schlaflose Nächte eingebüßt hatte.

Genau wie damals fiel Aidan besonders ihre Größe auf. In ihren Cowboystiefeln, die nur praktisch und gar nicht modisch waren, wirkte sie alles andere als weiblich. Nichts an ihr war sanft. Unordentliche weizenblonde Haarsträhnen flatterten um ein Gesicht mit schweren Augenlidern und ausgeprägten Wangenknochen.

„Ich habe ich mir schon gedacht, dass du bald hier auftauchen würdest.“

Sie blickte ihm geradewegs ins Gesicht.

Aidan kletterte aus dem Truck und näherte sich ihr gerade mal so weit, dass er mit ihr sprechen konnte. Nahe genug jedenfalls, um die Entschlossenheit in ihren Zügen zu erkennen. Sobald sie den Mund aufmachte, schnitt er ihr das Wort ab: „Verdammt noch mal, wie hast du uns gefunden?“

Winnie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr zurück.

Früher waren ihre Augen dick schwarz umrandet gewesen, und sie hatte mehr Ohrringe getragen als ein Country-Sänger Glitzerapplikationen auf dem Kostüm. Jetzt war sie völlig ungeschminkt. Und soweit Aidan das sehen konnte, trug sie überhaupt keinen Schmuck.

„Übers Internet“, sagte sie und brachte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Dieser Zeitschriftenartikel vor ein paar Jahren. Da stand zumindest drin, dass ihr in Tierra Rosa wohnt …“

„Du hast das Recht, an Robbies Leben teilzuhaben, vor acht Jahren aufgegeben. Als du uns gebeten – ja geradezu angefleht – hast, dir nichts mehr über ihn zu schicken.“

„Ich weiß. Aber wenn du mir noch eine Chance geben könntest …“

„Eine Chance wofür? Um das Leben eines Neunjährigen aus der Bahn zu werfen?“

„Nein!“ Sie schrie das Wort fast heraus. „Das hatte ich nie vor! Niemals“, bekräftigte sie.

Aber Aidan bemerkte etwas in ihren dunklen Augen, das ihm sagte, dass da mehr dahintersteckte.

Winnie strich sich die Ponyfransen aus der Stirn. „Wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, dich zu erreichen, dann hätte ich alles vorher mit June und dir abgesprochen …“

„Robbies Mutter ist tot.“

Sie taumelte buchstäblich rückwärts. „Oh mein Gott … ich hatte keine Ahnung …“

Aidan verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr verdammter Hund schlich sich heran und wedelte mit dem Schwanz, als ob er sie beide dazu bringen wollte, sich zu vertragen. „Also, warum bist du hergekommen?“

Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und schaffte es, gleichzeitig schuldbewusst und entschlossen auszusehen. „Ich wollte ihn nur … mal sehen. Das ist alles.“

Der Hund trottete zu ihr zurück, den Blick auf seine Herrin gerichtet.

Winnie bückte sich, um die Hündin zu streicheln. Das Dämmerlicht ließ ihre Gesichtszüge weicher erscheinen. Dann blickte sie wieder zu ihm auf, und ihre Stimme klang ganz weich, als sie sagte: „June ist noch nicht lange tot, vermute ich?“

Aidan spannte sich an, um dem Schmerz zu trotzen, auch wenn es nicht mehr so schlimm war wie anfangs. Und gerade deshalb taten die Schuldgefühle inzwischen manchmal mehr weh.

„Sie ist letztes Jahr im Juli gestorben. Als die Leute von der Zeitschrift hier waren, war sie schon krank.“ Er hielt inne, die Augen auf sie gerichtet. „Die letzten paar Jahre waren hart. Vor allem für den Jungen.“

Winnie sah zuerst weg, zum feurigen Glühen des Sonnenuntergangs jenseits der Bäume. „Das kann ich mir vorstellen“, murmelte sie, ehe sie ihn wieder ansah. „Meine Großmutter ist auch gestorben. Vor einer Woche ungefähr.“

Ein Ereignis, vermutete er sofort, das etwas mit Winnies plötzlichem Auftauchen zu tun hatte. Vor seinem geistigem Auge tauchte ein Bild auf: eine hochgewachsene, herrische Frau mit feuerrotem Haar und einem Blick, der einem durch Mark und Bein ging. „Mein Beileid.“

„Nicht nötig.“

„Warum bist du dann jetzt hier?“

„Als Ida starb, ist mir plötzlich klar geworden, dass ich niemanden auf der ganzen Welt habe, den ich als Familie bezeichnen kann“, gab Winnie zu. „Keine Tanten oder Onkel, keine Cousins oder Cousinen. Niemanden. Und vielleicht ergibt das nur für mich einen Sinn, aber ich habe irgendwie … mich einfach vergewissern wollen, dass es meinem Kind gut geht. Das ist alles. Nur zur Beruhigung meines eigenen Gewissens.“

„Schön“, sagte Aidan leise. „Du hast ihn gesehen. Dann kannst du jetzt ruhigen Gewissens nach Hause zurückfahren.“

Winnie streckte den langen Hals und legte den Kopf schief. Die gestuften Enden ihrer Frisur glitten über ihre Schulter nach vorn. „Sollte man meinen“, sagte sie traurig. „Du würdest wohl nicht in Erwägung ziehen, mir zu erlauben, etwas Zeit mit Robbie zu verbringen?“
 „Das meinst du doch wohl nicht ernst?“

Tränen drohten zu fließen. Nein, dachte sie. „Ich weiß, dass du mir nicht vertraust …“

„Und du verschwendest gerade unsere Zeit“, sagte Aidan, warf die Hände hoch und drehte sich zu seinem Truck um.

„Du könntest doch versuchen, mich kennenzulernen!“, schrie sie ihm nach. „So, wie ich jetzt bin. Nicht als unglücklicher Teenager, wie du mich damals genau ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hast. Und das für gerade mal eine Stunde.“ Als er die Hand nach der Fahrertür ausstreckte, rief sie: „Ich schwöre, ich würde niemals irgendetwas tun, was meinem Kind wehtun könnte!“

Aidan wandte sich um. „Vielleicht nicht mit Absicht. Aber das Ergebnis wäre das Gleiche.“

„Aidan, ich verspreche dir, dass ich genauso wenig Interesse wie du daran habe, das Rad zurückzudrehen. Ich werde es sogar respektieren, wenn du ihm nie gesagt hast, dass er adoptiert ist …“

„Natürlich weiß er das!“, rief Aidan. Seine langen Finger umkrampften den Griff der Autotür. „Aber er hat nicht nur keinerlei Interesse an seinen leiblichen Eltern gezeigt, er ist auch immer noch fix und fertig wegen des Todes seiner Mutter. Findest du nicht, das ist momentan genug Stress für einen Neunjährigen?“

„Ja, allerdings. Ich habe dasselbe durchgemacht. Daher weiß ich ziemlich genau, wie es Robbie jetzt geht.“ Sie hielt inne. „Verdammt, er schleppt den Schmerz mit sich herum wie eiserne Ketten. Das ist so offensichtlich“, sagte sie. Du doch genauso, dachte sie, schwieg aber. Sie schluckte. „Wenn du im Augenblick nicht willst, dass er erfährt, dass ich seine leibliche Mutter bin, dann bin ich damit einverstanden.“

Aidans Entschlossenheit geriet ins Wanken.

„Bitte“, sagte sie mit sanfter Stimme. Als sie kurz seinen Arm berührte, spürte sie seine angespannten Muskeln unter dem Jeansstoff. „Ich weiß, ich verlange sehr viel von dir, und du hast jedes Recht der Welt, Nein zu sagen …“

„Das tue ich auch“, sagte er. Der harte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück. „Sorry, Winnie“, fügte er hinzu, aber er hörte sich dabei überhaupt nicht an, als ob ihm irgendetwas leidtun würde. „Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.“

Unglaublich, wie weh ihr das tat. Vor allem, weil sie von vornherein keine besonderen Erwartungen gehabt hatte. Sie nickte und schaute weg. Dann trat sie einen Schritt zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. „Kennt er überhaupt meinen Namen?“

„Nein.“

Sie hob den Kopf wieder. „Hast du vor, ihm jemals von mir zu erzählen?“

„Nur wenn er mich fragt.“

Nach einem Augenblick nickte Winnie erneut. Sie hoffte bloß, dass sie es bis ins Haus schaffen würde, bevor sie in Tränen ausbrach.

„Dann fährst du also morgen wieder weg?“, hörte sie seine Frage von hinten.

„Vermutlich. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, es war ein langer Tag …“

„Gib acht auf die Stromleitungen, die sind etwas marode.“

Winnie drehte sich verwirrt um. „Hm, ja … Tess hat das schon erwähnt …“

„Und ich nehme an, du hast ein Mobiltelefon?“

„Lädt gerade auf …“

„Dann gib mir deine Nummer“, sagte Aidan und zog sein Handy aus der Hosentasche.

„Warum?“

„Du befindest dich auf meinem Grund und Boden. Ich bin für dein Wohlergehen verantwortlich. Also gib mir schon deine Nummer, verdammt noch mal.“

Kopfschüttelnd marschierte Winnie ins Haus, fischte einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb ihre Nummer auf eine Papierserviette vom Burger King der Raststätte bei Moriarty. Dann ging sie wieder hinaus und hielt ihm die Serviette hin. „Lass mir deine Nummer besser auch da. Falls in der Nacht ein Rudel tollwütiger Waschbären hier einfällt.“

Winnie notierte sich die Nummer auf einer zweiten Serviette, obwohl sie sich die Zahlenfolge sofort gemerkt hatte. Danach starrten sie sich ein paar Sekunden wortlos an, bis Aidan endlich die Autotür aufmachte und in seinen Truck kletterte.

„Warte!“, rief sie ihm zu, ehe er die Tür schließen konnte.

„Was ist denn nun noch?“

„Ich habe in meinem Leben ein paar wirklich dumme Entscheidungen getroffen. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich richtig lag, als ich dich und June als Eltern für mein Baby ausgesucht habe.“

Dann ging sie hinein und dachte bei sich: Denk da mal drüber nach, Kumpel.

Später saß Winnie in einer abgetragenen Jogginghose auf dem Bett und vertilgte ihre Eispackung in Windeseile. Während sie in die tanzenden Flammen im Kamin starrte, ging ihr auf, dass sie sich davor drückte, sich eine ganz bestimmte Frage zu stellen: Okay … und was nun?

Sie schnäuzte sich die Nase mit einer weiteren Papierserviette, und auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie auf den ersten Blick keine Liebe für Robbie empfunden hatte. Oh, sie hatte schon etwas gespürt. Sie wusste nur nicht, wie sie dieses Gefühl definieren sollte. Neugierig vielleicht. Und ein bisschen geschockt. Aber vor allem hatte sie gedacht: Wow. Das ist mein Kind.

Und was Gefühle anging … bildete sie sich das nur ein, oder sah Aidan ihr Auftauchen ebenso sehr als eine Bedrohung für sich selbst wie für seinen Sohn an? Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie auf diesen Gedanken kam, doch alles in allem war es daher wohl wirklich das Beste, wenn sie wieder abreiste. Man konnte schließlich nur ein gewisses Maß an Verrücktheit auf einmal ertragen …

„Ach, du lieber Gott!“, stöhnte sie, als plötzlich jemand an die Tür klopfte. Sie schaute zu ihrem Hund hinüber. Aber ihre Hündin gähnte nur und kuschelte sich noch tiefer ins weiche Deckennest, als ob sie sagen wollte: Ich bleibe hier und halte für dich das Bett warm, okay?

„Aber klar, ich wollte dich keinesfalls stören“, murmelte Winnie und schälte sich mit einem tiefen Seufzer aus der warmen Bettdecke. „Wer ist da?“, rief sie durch die glücklicherweise massive Haustür.

„Florita Pen“, antwortete eine warme Stimme mit starkem Akzent. „Die Haushälterin von Mr. Aidan. Ich … wollte nur nachsehen, ob Sie auch genug Handtücher und … alles andere haben?“

Hmm. Die Frau hörte sich ungefährlich an. Andererseits hätten manche Leute möglicherweise auch ihre Großmutter für harmlos gehalten – jedenfalls, wenn sie verrückt oder betrunken genug waren. Sie wappnete sich innerlich und öffnete die Tür.

Vor ihr stand eine Frau mittleren Alters in eng anliegender Kleidung. Winnie vermutete gleich, dass die Sache mit den Handtüchern nur eine Ausrede war. „Weiß Ihr Boss, dass Sie hier sind?“, fragte sie die Haushälterin.

Breite, knallrote Lippen verzogen sich in einem mit Feuchtigkeitscreme getränkten Gesicht zu einem Lächeln. „Sehe ich aus, als wäre ich von seinem Truck gefallen?“

„Ich mache mal Tee“, sagte Winnie und hielt die Tür auf. Dabei achtete sie darauf, mit den Füßen außer Reichweite der Stilettoabsätze zu bleiben.

„Und wo in aller Welt haben Sie sich gerade herumgetrieben?“, warf Aidan seiner Haushälterin an den Kopf, als sie sich durch die Küchentür wieder ins Haus schlich. „Als ob ich’s nicht erraten könnte.“

Nachdem Flo ihre goldfarbene Lederjacke ausgezogen und an einem Haken neben der Tür aufgehängt hatte, musterte sie Aidan und zuckte die Achseln. „Ich bin nicht Cinderella, Boss. Ihnen gegenüber muss ich für mein Kommen und Gehen keine Rechenschaft ablegen. Ich habe einfach beschlossen, mir die Lady selbst mal anzusehen.“

Dann – weil das eben so ihre Art war – ergriff sie einen Schwamm und begann, die bereits blitzblanken Arbeitsflächen noch einmal abzuwischen.

„Und?“, fragte Aidan betont geduldig.

„Sie hat schon echt ‚cojones‘ – Mumm“, sagte Flo anerkennend und zog die knochigen Schultern hoch. „Hier einfach so herzukommen, dazu gehört Mut.“

„Sie sind doch wohl hoffentlich nicht der Ansicht, dass ich ihr erlauben sollte, Robbie zu treffen?“

„Weiß ich nicht, Boss. Das ist auch nicht meine Entscheidung.“

Aidan stieß den Atem aus. „Winnie hat Stein und Bein geschworen, dass sie Robbie nicht sagen würde, wer sie ist. Aber was sollte sie daran hindern, sich das noch mal anders zu überlegen? Es braucht nur einen Ausrutscher, dann haben wir den Salat.“

Flo wusch gerade im Edelstahlabwaschbecken den Schwamm aus. Wortlos warf sie ihm einen Blick über die Schulter hinweg zu.

„Er hat doch noch nie nach seiner leiblichen Mutter gefragt, Flo …“

„Dazu ermutigen Sie ihn ja auch nicht unbedingt, oder?“

„Warum sollte ich das tun, wenn doch alles gut so ist, wie es ist?“

Die Haushälterin schleuderte den Schwamm neben den Wasserhahn und fuhr herum. Dann ergriff sie ein Geschirrtuch, um sich daran die Hände abzutrocknen.

„Gut?“ Sie gab ein bellendes Lachen von sich. „Noch nach einem Jahr schleicht Robbie ganz gedrückt hier herum und bleibt immer allein für sich … also, in meinen Augen ist das alles andere als gut. Dios mío – wann hat hier das letzte Mal jemand wirklich gelacht? Ich sage Ihnen wann!“, rief sie, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Als Miss June noch am Leben war. Wenn Sie das gut nennen, dann sind Sie verrückt.“

Aidan presste die Lippen zusammen. Es stimmte schon, Robbie und er redeten kaum noch miteinander. Sogar heute Abend waren seine unbeholfenen Versuche schiefgegangen, mit seinem Sohn ein Gespräch anzufangen. Und sein Angebot, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen, hatte Robbie kategorisch abgelehnt. Nein, es lief ganz und gar nicht gut. Aber …

„Sie hatte ihre Chance, Flo. Wir waren mehr als bereit, sie auf dem Laufenden zu halten. Und sie hat sich dagegen ausgesprochen. Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“

Flo verschränkte die Arme vor einer Brust, die so flach war, dass sie sich schon beinahe nach innen wölbte. „Ich will doch genauso wenig wie Sie, dass irgendjemand Robbie wehtut. Aber als Sie von Garcia zurückgekommen sind, ist er direkt ins Haus marschiert und hat angefangen, mich auszufragen, ob ich darüber Bescheid weiß, dass eine Lady im Alten Haus abgestiegen ist. Und wie es kommt, dass da bisher nie jemand gewohnt hat.“

Als sie innehielt, bemerkte Aidan ihre innere Zerrissenheit. Sie war mit sich in dieser Sache genauso wenig im Reinen, wie er es war.

„Ob ich weiß, wer sie ist“, fuhr Flo fort. „Ich habe Nein gesagt, aber es war ihm anzusehen, dass er weiter darüber nachgegrübelt hat. Und wenn er mal anfängt …“

„Aber Winnie reist morgen früh wieder ab“, sagte Aidan, „womit sich das Argument erledigt hat.“

„Meinen Sie, wenn sie weg ist, werden auch seine Fragen verschwinden?“ Als Aidan erneut das Gesicht verzog, fügte Flo hinzu: „Vielleicht sollten Sie sich mal überlegen, was Miss June tun würde? Und was sie gewollt hätte, was Sie tun?“

Ein paar Minuten später stand Aidan mit einer großen Dose Bier in der Hand draußen auf der Terrasse und schaute hinunter zum Alten Haus. Zwischen den Bäumen hindurch konnte man gerade noch die Lichtstreifen von den Fenstern des Hauses erkennen. Und in diesem Haus befand sich eine Frau, die den Mut hatte, um etwas zu bitten, auf das sie – wie sie selbst zugegeben hatte – kein Recht hatte.

Mit der Hüfte gegen das Geländer gelehnt, trank Aidan einen Schluck Bier und ließ sich ihr Anliegen noch mal durch den Kopf gehen. Winnies Anwesenheit war definitiv ein Ärgernis, das er nicht brauchen konnte. Jedoch … was würde June an seiner Stelle tun? Für wen würde sie Mitgefühl empfinden?

Was für eine dumme Frage. Er lachte kurz auf. So überglücklich seine Frau auch über Robbies Adoption damals war, gleichzeitig hatte sie sich auch Sorgen gemacht, wie Winnie damit fertigwurde. Ob sie jemanden hatte, mit dem sie reden konnte, jemanden, der verstand, was sie gerade durchlitt? Als Winnie dann den Kontakt zu ihnen abbrach, konnte er sich kaum vorstellen, dass sie diesen Schritt schwerer nehmen könnte als June.

In vielerlei Hinsicht war June unglaublich zäh gewesen. Sie hatte sich für Themen eingesetzt, mit denen sonst niemand etwas zu tun haben wollte. Falls nötig, hatte sie keine Skrupel gehabt, jemandem Schwierigkeiten zu bereiten. Aber sie hatte ein weiches Herz besessen. Sie war nicht nur einfach ein liebevoller Mensch gewesen. Es hatte eher den Anschein gehabt, als ob die Liebe ihr Daseinszweck gewesen war.

Dabei hatte sie die Augen nicht vor den Schwächen der Menschen verschlossen, sondern ihnen durch alle Fehler hindurch geradewegs ins Herz gesehen. Nur Dummheit hatte sie nicht ertragen können. Aber tief in ihrem Inneren hatte sie an das Gute im Menschen geglaubt.

Aidan sog tief die süßlich-scharfe Luft ein. Diese Mischung aus vermodernden Blättern und Kaminrauch würde ihn immer an seine Frau erinnern. Für sie war der Herbst und nicht der Frühling die Zeit für einen Neuanfang gewesen. In den leuchtenden Farben, in denen die Berge erglühten, hatte sie nicht den Tod, sondern Schönheit gesehen. Trost. Freude.

Und genau in diesem Augenblick spürte er ihre Gegenwart so deutlich, dass er kaum noch atmen konnte.

June hatte nie ausdrücklich über ihre Wünsche gesprochen, was Robbie und seine leibliche Mutter anging, doch wenn sie jetzt hier wäre …

Aber sie ist nicht hier, dachte Aidan bitter. Sonst wäre die Situation vollkommen anders. Seine oberste Pflicht war es, Robbie unter allen Umständen zu beschützen. Winnie Porter schuldete er jedenfalls absolut nichts.

Nun sei doch nicht so stur!, schien der Wind zu wispern.

Aidan fuhr so heftig zusammen, dass er beinahe die Balance verlor. Aber nur einen Augenblick später glaubte er Winnie zu hören. Ihre Stimme war genauso kräftig und entschlossen – sogar wenn sie ihn anflehte – wie Junes. Und dann noch ihre rauchblauen Augen und ihr furchtloser Blick. Aber die Frau war natürlich auch völlig übergeschnappt …

Und manchmal bedeutet das nur, dass jemand sehr mutig ist.

June schon wieder. Seine Nasenflügel blähten sich, als er tief Atem holte. Aidan kniff die Augen zusammen. Er erinnerte sich daran, was June gesagt hatte, nachdem sie Winnie getroffen hatten – wie ähnlich sie und Winnie sich waren.

„Da könntest du nicht weiter danebenliegen“, sagte Aidan laut und schüttelte den Kopf. Wer ist hier jetzt eigentlich verrückt?, war die Frage, die ihm dabei durch den Kopf ging.

Dann schauderte er, als der Wind ihm in den Rücken blies, wie zwei Hände, die ihn vorwärts schubsten. Noch beunruhigender war, dass der Wind eine Melodie zu pfeifen schien: Rede mit ihr. Nur diese drei Worte, immer und immer wieder. Bis Aidan das Gefühl hatte, noch verrückter zu werden, als er es ohnehin schon war.

Der Wind legte sich, als Aidan wieder ins Haus ging. Gott sei Dank, dachte er, warf seine Bierdose in den Müll und ging dann nach oben, um seinem Sohn Gute Nacht zu sagen. Aber Robbie schlief schon, ein Knäuel aus Bettdecke, langen Armen und Beinen, Spiderman und Transformers.

Aidan entwirrte Bettzeug und Jungen, so gut er konnte. Dann setzte er sich auf die Bettkante, um mit seiner ständig mit Ölfarbe verschmierten Hand das zottelige Haar seines Sohnes zurückzustreichen.

Das Gesicht des Jungen sprach im Schlaf eine viel deutlichere Sprache als während seiner wachen Stunden.

„Wir zwei sind ganz schön kaputt was?“, sagte Aidan mit sanfter Stimme. Die Leere in ihm schien sich auszudehnen. Man behauptete, dass es nach einem Jahr einfacher wurde. Er hatte jedoch gehofft, dass sie sich inzwischen mehr an ihre neue Lage gewöhnt hatten, als es anscheinend der Fall war.

Aidans Verlust war unwiederbringlich. Irgendwie, schien es ihm, lag gerade in dieser Hoffnungslosigkeit ein gewisser Trost. Aber für ein neunjähriges Kind …

Und für eine Frau, die vor neun Jahren wahrscheinlich ganz schön unter Druck gesetzt worden war …

Aidan stieß einen tiefen, leisen Seufzer aus, stand auf und ging aus dem Zimmer seines Sohnes. Beim Gehen griff er bereits nach seinem Mobiltelefon.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte Winnie mit einem spitzen Schrei auf den Lippen auf, als sich eine kalte Hundeschnauze gegen ihren Rücken presste. Nach dieser Nacht in einem ungewohnten Bett fühlte sie sich völlig verkatert.

„Oh, verdammt“, murmelte sie, als sie sich daran erinnerte, dass Aidan sie zum Frühstück eingeladen und sie die Einladung angenommen hatte. Und was für eine gemeine Kombination Einsamkeit und ein weicher irischer Akzent waren. Und …

Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn.

Ihr Handy klingelte. „Gut, du bist wach“, sagte Aidan, als sie das Mobiltelefon ans Ohr presste. „Ich dachte, ich habe dir Bescheid gesagt, dass wir um halb neun frühstücken?“

„Es ist jetzt …“ Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen Blick auf ihre Uhr. „Zehn nach acht. Also kein Problem.“

„Freut mich, das zu hören“, sagte Aidan und legte auf.

Das Dorf Tierra Rosa ist auf eine merkwürdige Art reizvoll, dachte Winnie, als sie ihren Truck auf der gewundenen Hauptstraße wie auf einer Achterbahn erst rauf, dann runter manövrierte. Eine Mischung aus historischer spanischer Siedlung, Filmset aus einem Hollywood-Western und Trailerpark.

„Nein“, sagte sie zu ihrem Hund, als sie ausstieg. „Du musst hierbleiben.“

Plötzlich wurde sie vor der Begegnung so nervös, dass sie beinahe in Ohnmacht fiel.

Das Café war fast voll. Die Gäste drängten sich um ein halbes Dutzend zufällig im Raum verteilter Tische und ebenso vieler Nischen. Handgemalte Bougainvillearanken schlängelten sich unter einer Decke mit schweren Holzbalken dahin.

Dann blieb ihr Blick an Aidan hängen, der gerade aufstand. Das Licht, das durch das Fenster neben ihm fiel, schien sich an seiner kantigen Erscheinung regelrecht zu brechen. Sein weißes Hemd, das genau einen Knopf zu weit geöffnet war, leuchtete beinahe.

Aidan legte leicht den Kopf schräg. Sein Stirnrunzeln sorgte nur dafür, dass er noch mehr wie eine Mischung aus keltischem Krieger und Cowboy aussah, mit seinem wirren Haar und dem Dreitagebart. „Hast du es endlich geschafft?“, fragte er mit einem noch finstereren Blick.

Dem sollte mal einer Manieren beibringen, dachte Winnie genervt, während sie sich einen Weg durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen bahnte und sich darauf konzentrierte, dass Aidan alle Trümpfe in der Hand hielt. Wenn sie auch nur einen Funken Verstand hätte, dann hätte sie ihre Hormone bei ihrem Hund im Auto gelassen.

Doch je näher sie kam, desto deutlicher nahm sie nicht nur seine Muskeln und sein attraktives Aussehen wahr, sondern auch den Schmerz, der hinter dem Ärger in seinen Augen verborgen lag.

Sie hatte auf einmal einen Bärenhunger und griff nach der Speisekarte. Dabei gab sie sich Mühe, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, knallte sie die Speisekarte auf den Tisch. „Warum hast du deine Meinung geändert?“, fragte sie als Erstes. Als ein Ausdruck der Überraschung über sein Gesicht glitt, konnte sie nicht anders, als ein gewisses Maß an Genugtuung zu empfinden.

In diesem Augenblick tauchte die Bedienung auf.

Aidan wartete, bis sie die Bestellung aufgenommen hatte und wieder in der Küche verschwunden war, bis er zurückfragte: „Wie kommst du darauf, dass ich meine Meinung geändert habe?“

„Sonst hättest du mich wohl nicht zum Frühstück eingeladen, oder?“ Winnie zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Ob sie es nun wollte oder nicht, sie konnte seinen Schmerz nachfühlen. „Ist das hier so eine Art Prüfung? Wie viele Fragen ich richtig beantworte, entscheidet darüber, ob ich Robbie sehen darf oder nicht?“

„So einfach ist das nicht.“ Bei diesen Worten wirkte er, als ob er sich nicht sehr wohl in seiner Haut fühlte.

„Nein“, sagte Winnie. „Vermutlich nicht.“

Als die Bedienung ihr Essen brachte, lehnte sie sich leicht zurück. Für den Augenblick schien es Aidan die Sprache verschlagen zu haben. Er wirkte wie gefesselt von Winnies Anblick, als sie ihr Omelett großzügig mit dickflüssiger, würzig riechender Salsa bestrich. „Vielleicht solltest du nicht so viel nehmen. Das ist keine Salsa für schwache Gemüter.“

„Ich glaube, damit werde ich schon fertig“, gab sie zurück und dachte, dass er möglicherweise sehr viel mehr meinte als nur die Salsa.

Sie nahm einen großen Happen – das Zeug hatte es in sich, aber sie hatte schon schärfer gegessen. „Wenn du mich wirklich kennenlernen willst, dann musst du mir ein paar Dinge einfach glauben. Denn mit einem halben Dutzend Leumundszeugen für meinen guten Charakter kann ich leider nicht aufwarten. Aber ich schwöre, ich bin nicht hierhergekommen, um irgendjemandem Schwierigkeiten zu machen.“

Die Salsa entfachte ein kleines Feuer in ihrem Magen. „Am allerwenigsten Robbie. Und außerdem …“

„Was?“

Winnie kaute einen Moment. Aidan wirkte sichtlich beeindruckt, dass sie kein halbes Glas Wasser hinunterkippen musste, um den Brand zu löschen. „Das trägt mir jetzt wahrscheinlich keine Pluspunkte ein, weil du sowieso schon denkst, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Aber ein paar Tage nach dem Tod meiner Großmutter …“

Sie stieß den Atem aus. „Es war fast so, als ob ich … eine Stimme hörte. Nur war es keine wirkliche Stimme, sondern … eher so etwas wie ein echt starkes Gefühl. Dass ich herkommen muss.“

Er sah sie an, als wollte er sagen: „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß. Elektra hat mich auch für verrückt erklärt. Insofern geht ein weiterer Punkt an dich.“

„Elektra?“

„Sie betreibt den Imbissladen meiner Großmutter. Oder wohl jetzt meinen.“

„Du klingst nicht gerade begeistert.“

„Na ja, es ist nicht so, als hätte ich gerade eine Kette von Fünfsternehotels geerbt. Ich weiß, ich sollte dankbar sein, aber … das ist … mein Problem.“

„Inwiefern?“

„Ich würde gern etwas mit Kindern machen – immerhin bin ich ausgebildete Lehrerin – aber ich habe noch keine fünf Minuten Ruhe gehabt, um darüber überhaupt nachzudenken.“

Dann stieß sie einen Laut aus, der irgendwo zwischen Seufzer und Lachen anzusiedeln war. „Und ich sollte zumindest versuchen, hier einen guten Eindruck zu machen. Aber weißt du was? Ich bin nun mal so, wie ich bin. Entweder du akzeptierst das oder nicht. Vielleicht hältst du mich für ein bisschen komisch, aber ich bin kein schlechter Mensch. Nicht mehr.“

„Nicht mehr?“

„Ach, jetzt komm schon – als wir uns kennengelernt haben, da habe ich doch sicherlich ausgesehen wie vom Teufel besessen. Jedenfalls habe ich mich manchmal auch so gefühlt. Aber ich habe mich geändert. Das musst du mir glauben, Aidan.“ Zitternd holte sie tief Luft. „Ich schwöre es.“

Aidan schaffte es nicht, einen Funken Mitgefühl zu unterdrücken. Oh, er konnte sich klar und deutlich an die Winnie von damals erinnern. Diese riesigen blauen Augen, die eine Mischung aus Wut und Angst und Bitterkeit ausgestrahlt hatten. Aber vor allem eine unermessliche Traurigkeit, die sogar damals irgendetwas in seinem Inneren berührt hatte. „Inwiefern hast du dich angeblich geändert?“

„Nun …“, sagte sie nach einer Gedankenpause, „ich habe aufgehört, mich zum Opfer meiner Wut zu machen. Hat allerdings eine Weile gedauert …“ Sie starrte ihren Teller an und atmete schwer. „Wer hätte gedacht, dass es so viel schwieriger sein könnte, mich selbst zu lieben als meine Großmutter?“

„Sie hat nicht gerade warmherzig auf mich gewirkt“, sagte Aidan mit ruhiger Stimme.

Winnie schnaubte. „Ida konnte nicht anders, als streng zu sein. So ist sie selbst erzogen worden. Aber jedes Mal …“ Sie drehte sich zum Fenster.

Aidan sah, wie sie schwer schluckte.

„… jedes Mal, wenn sie gesagt hat ‚Du bist genau wie deine Mutter‘, war ich mehr davon überzeugt, dass sie sowieso schon das Schlimmste von mir dachte. Da konnte ich ihre Erwartungen auch gleich erfüllen.“

Aidans Magen verkrampfte sich. „Und was hat sie damit gemeint?“

Winnie lachte bitter auf. „Was ich so mitbekommen habe, hat meine Mutter wohl einen echten Dickschädel gehabt. Hat sich bei jeder Gelegenheit gegen meine Großmutter aufgelehnt. Bis sie dann das Fass zum Überlaufen gebracht hat und mit meinem Vater durchgebrannt ist, kaum dass sie achtzehn war.“

Ihr Blick traf Aidan. „Soweit ich mich erinnere, war Daddy ein sympathischer, freundlicher Mann. Nur eben nicht sehr erfolgreich.“

Aidan war klar, dass Winnie ihm nichts vormachte. Trotzdem überkam ihn eine solche Wut, dass es beinahe wehtat. Verdammt noch mal, er wollte weder für Winnie Porter noch für sonst wen Mitgefühl empfinden. In seiner Ehe war June für Mitleid und andere Gefühle zuständig gewesen. Sie hatte das große Herz gehabt. Er stach mit der Gabel in seine erkalteten Eier. „Deine Abneigung erscheint mir durchaus angebracht.“

„Vielleicht. Aber sogar mir ist klar geworden, dass das nicht gesund war. Verbitterung mit sich herumzuschleppen, macht keinen Spaß, weißt du? Es war ja an sich nicht verkehrt, dass Ida sich etwas Besseres für ihre Tochter gewünscht hat. Und als diese gestorben ist, hat sie das fast mit umgebracht. Der Himmel weiß, dass es nicht angenehm war, mit einer Frau zusammenzuleben, die ihre Enttäuschungen wie preisgekrönte Orchideen gepflegt hat. Aber es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie krank geworden ist. Und wenn schon sonst nichts, habe ich doch viel von ihrem Beispiel gelernt.“

„Und was wäre das?“

„Man darf seinen Schmerz nicht an anderen Menschen auslassen. Am allerwenigsten an einem unschuldigen Kind.“

Nach einer langen Pause deutete Aidan auf ihren geleerten Teller. „Bist du fertig?“, fragte er. Als Winnie nickte, winkte er der Bedienung und zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche, um die Rechnung zu bezahlen. „Du hältst mich vermutlich für hartherzig, weil ich nicht will, dass Robbie erfährt, wer du wirklich bist.“

Sie wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Du bist sein Vater, Aidan. Wie du gesagt hast, habe ich alle meine Rechte in dieser Angelegenheit vor langer Zeit aufgegeben. Ich muss darauf vertrauen, dass du weißt, was am besten für deinen Sohn ist.“

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, was passiert, wenn er irgendwann nach dir fragt, nachdem er dich schon mal gesehen hat? Du hast mich in eine unmögliche Situation gebracht, das ist dir schon klar, oder?“

Sie lief scharlachrot an. „Es tut mir wirklich leid.“ Hastig stand sie auf und packte ihre Handtasche. „Da versuche ich dir zu erzählen, ich hätte gelernt, dass es nicht immer nur um mich geht. Und dann stellt sich heraus, dass ich genauso wie immer gehandelt habe.“

Sie straffte die Schultern und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich habe doch nur …“ Kopfschüttelnd wich sie zurück. Sie stolperte über einen leeren Stuhl, drehte sich um und ging zur Tür.

Jeder vernünftige Mensch hätte sie gehen lassen, mit ihrer ganzen Ernsthaftigkeit und ihrer Reue und diesen verdammt ausdrucksvollen Augen. Augen, die Aidan schon vor neun Jahren erschüttert hatten. Sogar, als er glücklich und verliebt gewesen war. Als wäre sie nichts weiter als das Mittel zum Zweck, Vater zu werden, für ihn gewesen. Beschämt und wütend kritzelte er seine Unterschrift auf den Beleg und rannte Winnie hinterher.

Sie hatte schon ihren Truck erreicht, als sie sich nach ihm umdrehte. Misstrauen und Scham lag in ihrem Blick.

Heftig atmend und verdammt wütend blieb er ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. „Na schön“, sagte er, fest entschlossen, ihr die Schuld an dem ganzen Schlamassel zu geben. „Ich bin immer noch überzeugt, dass es ein saublöder Zeitpunkt ist, um Robbie die Wahrheit zu sagen …“ Allein der Gedanke bereitete ihm Schmerzen, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum. „Aber vielleicht …“

Er wandte sich ab, um den Hoffnungsschimmer in ihren Augen nicht sehen zu müssen. „Wenn er dich erst mal ein bisschen kennenlernt, könnten wir es ihm vielleicht irgendwie schonend beibringen.“

Winnie runzelte die Stirn. „Bist du sicher?“

„Überhaupt nicht.“

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „In Wirklichkeit willst du doch, dass ich jetzt sage, dass ich meine Meinung geändert habe, oder?“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Sie schaute kurz weg und sah ihm dann direkt ins Gesicht. „Ich verspreche, dass ich ihm nichts sage. Nicht, bis du einverstanden bist.“

„Komm heute Abend zum Essen vorbei“, sagte er. Dabei hatte er das Gefühl, als ob der schwankende Boden, auf dem er sich seit einem Jahr bewegte, noch mehr nachgab. „So gegen sieben. Einfach der Straße am Alten Haus vorbei folgen.“

„Was willst du ihm sagen, warum ich hier bin?“

„Keine Ahnung. Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen.“

Sie nickte. „Danke.“

Aber Aidan wollte nicht, dass sie sich bei ihm bedankte. Er wollte mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben.

Winnies Nerven waren viel zu angespannt, um in das kleine Haus zurückzukehren und Löcher in die Luft zu starren. Daher beschloss sie, sich ein bisschen die Gegend anzusehen. Santa Fe entpuppte sich auf den ersten Blick als Reinfall. Die Stadt war zwar sehr hübsch, aber überlaufen. Stattdessen machte sie deshalb eine lange, gemütliche Fahrt durchs Hinterland.

Das Wetter war fast zu schön. Auf jeden Fall sorgte das Panorama aus endlos blauem Himmel und Bergen dafür, dass sich ihre Stimmung hob. Ganz abgesehen von dem klaren Kopf, den ihr dieser Blick verschaffte.

Wieder in der Stadt, war sie fast am Verhungern. Deshalb schaute sie noch mal bei dem Café vorbei. Als sie zu ihrem Truck zurückkehrte, musste sie erst mal Annabelle abwehren. Ihr Hund fand Burritos mit Steak und Käse nämlich auch sehr lecker.

Eigentlich hatte sie geplant, danach gleich zum Haus zurückzufahren und sich noch mal kurz hinzulegen. Auf keinen Fall hatte sie vorgehabt, bei dem Kürbisfeld anzuhalten, an dem sie morgens vorbeigefahren war. Aber wer konnte schon widerstehen, wenn die Nachmittagssonne Kürbisse in ihrer ganzen Pracht erstrahlen ließ, so weit das Auge reichte?

Sie jedenfalls nicht.

Als Winnie eine halbe Stunde später ein halbes Dutzend dieser riesigen Kürbisse von der Ladefläche ihres Trucks zerrte, hatte sie keinen blassen Schimmer, was sie mit ihnen anfangen sollte. Vor allem, weil sie lange vor Halloween wieder in Texas sein würde. Und als sie die Kürbisse endlich so aufgetürmt hatte, dass sie und Annabelle mit dem Ergebnis zufrieden waren, fiel ihr auf, dass die Farbe der Kürbisse überhaupt nicht zum leuchtenden Pink der Cosmeen passte.

Hungrig schlang sie ihren Burrito herunter, trank ein Glas Milch und ließ sich anschließend aufs Bett fallen. Sie schaffte es gerade noch, die Stiefel abzustreifen. Im nächsten Moment war sie schon eingeschlafen. Und wer weiß, wie lange sie geschlafen hätte, wenn nicht ungefähr eine Stunde später jemand geklopft hätte. Beim zweiten Klopfen tappte Winnie zur Tür.

Vor ihr auf der Veranda stand ein miesepetriger, neunjähriger Junge in einem staubigen Kapuzenshirt. Sein Fahrrad lag ein paar Schritte entfernt auf der Erde.

„Wer bist du eigentlich?“, fragte Robbie so genervt, als ob er schon eine ganze Weile darüber nachgedacht hatte.

Robbie wusste selbst nicht, warum es ihn so störte, dass jemand im Alten Haus wohnte. Vor allem, weil die Frau doch gesagt hatte, dass sie nur für eine Woche bleiben würde. Und als er sie im Laden getroffen hatte, da hatte sie eigentlich einen ganz netten Eindruck gemacht. Aber warum wohnte sie ausgerechnet hier?

Denn hier konnte er über seine Mom nachdenken, so viel er wollte. Manchmal redete er sogar mit ihr – obwohl er wusste, dass er nicht wirklich mit ihr sprechen konnte; er war ja kein dummes kleines Kind mehr, das an Geister glaubte. Aber so konnte er Sachen loswerden, die er seinem Dad nicht zu erzählen wagte. Zum Beispiel, wie sehr er sie immer noch vermisste. Hier durfte er auch weinen, weil keiner da war, der ihn sehen konnte.

Den ganzen Tag in der Schule musste er daran denken, dass es sich anfühlte, als ob sich diese Frau zwischen ihn und seine Mom drängte. Obwohl er wusste, dass das dämlich war. Sobald er aus dem Schulbus gestiegen war, entschloss er sich, die Frau einfach selbst zu fragen.

Doch als er sein Vorhaben in die Tat umsetzte, kam er sich albern vor. Vor allem, als die Frau ihn so komisch ansah.

„Ich heiße Winnie“, sagte sie lächelnd und trat auf die Veranda heraus. „Du bist Robbie, nicht?“

Er nickte. Dann fragte er: „Warum bist du hergekommen?“

„Ich habe einen Artikel über Tierra Rosa gelesen. Und das klang so schön, dass ich mich entschlossen habe, herzukommen. Und weil es hier keine Motels oder so gibt …“

„Ich will nicht, dass jemand hier wohnt“, sagte Robbie. Sein Gesicht wurde ganz heiß, und er wandte den Kopf ab.

Annabelle kam zu ihm und leckte ihm die Hand. Als ob das Tier wusste, wie schlecht er sich fühlte.

Statt sich aufzuregen oder wütend zu werden, steckte Winnie nur die Hände in die Hosentaschen. „Das hier ist dein Zufluchtsort, was?“

Robbies Gesicht wurde noch heißer. „So was in der Art.“

„Das habe ich nicht gewusst“, sagte Winnie mit sanfter Stimme. Dann rief sie den Hund zu sich. Einen Augenblick schwieg sie, dann meinte sie: „Ich bleibe auch nicht lange hier, das verspreche ich.“

„Im Laden hast du doch ‚eine Woche‘ gesagt.“

„Kann sein, dass ich sogar früher wieder abreise. Ich habe mich noch nicht entschieden.“

Irgendetwas an ihrem Gesicht gab Robbie das Gefühl, er würde in einen Spiegel schauen. Als ob sie genauso traurig war wie er und sich sehr darum bemühte, das nicht zu zeigen. Da fühlte er sich schlecht. Denn es war ja nicht ihre Schuld. In diesem Augenblick bemerkte er die Kürbisse. „Wenn du nicht hierbleibst, warum hast du dann die ganzen Kürbisse?“

Winnie lachte. „Das war so ein spontaner Einfall.“

Robbie starrte die Kürbisse an. „Halloween war der Lieblingsfeiertag meiner Mom.“

„Echt? Das ist auch mein Lieblingsfeiertag.“

„Schneidest du auch Fratzen in die Kürbisse?“

„Wahrscheinlich. Aber erst, wenn ich wieder zu Hause bin und erst ein paar Tage vor Halloween. Wenn ich jetzt anfange, verschrumpeln die zu schnell.“

„Ja, ich weiß.“ Er hielt inne. „Meine Mom ist gestorben. Kurz vor Halloween letztes Jahr.“

„Oh, du Armer … das tut mir leid“, sagte sie, als ob sie es tatsächlich meinte. „Meine Eltern sind auch gestorben, als ich ungefähr so alt war wie du.“

Er sah sie neugierig an.

„Wie denn?“

„Bei einem Autounfall“, sagte sie leise.

„Oh.“

Robbie hatte noch nie jemanden gekannt, der auch als Kind seine Eltern verloren hatte. Vielleicht war das der Grund, warum die Frau sich nicht so dämlich benahm – so peinlich berührt – wie viele andere Leute. Die waren alle entweder viel zu nett zu ihm, oder sie trauten sich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Ehe er sich genau überlegt hatte, was er eigentlich tat, hatte er sich neben sie auf die Veranda gesetzt. Der Hund brachte einen Stock.

„Wie heißt sie?“

„Annabelle. Aber manchmal nenne ich sie auch Dummbell.“

Robbie musste beinahe lachen. Er warf den Stock. Dann hörte er sich sagen: „Als Mom krank war, bin ich oft hergekommen.“

„Um allein zu sein?“

„Ja. Und jetzt ist es fast …“

„Wie?“

Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass er ihr beinahe von seinem Gefühl erzählt hatte, seine Mutter könnte jetzt hier sein. „Nix“, sagte er und zuckte die Achseln.

„Magst du eine Banane? Oder einen Müsliriegel?“

Er überlegte. „Kann ich auch beides haben?“

„Klar.“ Winnie stand auf. Als sie dem Hund befahl, draußen bei Robbie zu bleiben, zitterte ihre Stimme leicht.

Ihre Augen brannten, als sie sich an die Wand neben der Tür lehnte und darum kämpfte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. So war das nicht gedacht. Das sollte sie sich alles nicht so zu Herzen nehmen …

Sie holte tief Luft, griff sich ein paar Bananen und einen Müsliriegel vom Tisch und ging wieder nach draußen. Als sie auf die Veranda trat, hatte Robbie gerade erneut den Stock für Annabelle geworfen.

Er nahm sich eine Banane und begann sie zu schälen.

Winnie ließ sich wieder neben ihm nieder und machte sich an ihre Banane.

„Danke“, sagte er.

„Gern geschehen.“

„Hast du Geschwister?“, fragte er mit vollem Mund.

„Nein.“

Er starrte sie an. „Das heißt, du bist echt ganz allein auf der Welt?“

„Jawohl.“

Einen Augenblick starrte Robbie die Banane stirnrunzelnd an, dann biss er wieder ab. „Ich habe noch eine Mam und einen Pap in Irland. So nennt man da die Großeltern. Aber ich habe sie nur ein paarmal gesehen. Und einmal, gleich nachdem ich adoptiert worden bin, also zählt das nicht richtig.“

Das Obst lag Winnie wie ein Stein im Magen. Bitte sag jetzt nichts weiter darüber, dass du adoptiert worden bist, flehte sie innerlich. „Das sehen die bestimmt anders.“

„Vielleicht.“ Robbie aß seine Banane auf, dann riss er die Verpackung des Müsliriegels auf. „Mit Schokoladestückchen! Cool!“

Der Junge knabberte an seinem Müsliriegel und runzelte die Stirn. „Weißt du, was echt doof ist?“

Winnie hielt den Atem an. „Was denn?“

„Die Leute sagen, dass mein Dad irgendwann wieder heiratet. Und dann kriege ich eine andere Mutter.“ Als er sie ansah, konnte sie erkennen, dass er den Tränen nahe war. Der Anblick brach ihr fast das Herz. „Das ist doch dämlich, oder?“

„Ziemlich“, stimmte sie zu und hoffte, dass er nicht merkte, wie feucht ihre Augen jetzt waren. „Schließlich kann niemand anders jemals den Platz deiner Mom einnehmen, oder?“

„Nie. Und mein Dad würde nie wieder heiraten. Er ist viel zu traurig. Außerdem sagt Florita, er ist so ein Griesgram, dass ihn sowieso keine Frau nehmen würde.“

Winnie konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Trotzdem sagte sie: „Manchmal, wenn Menschen sehr unglücklich sind, bekommen sie schlechte Laune. Es kann sein, dass es deinem Dad nicht für immer so geht.“

Robbie rieb sich mit dem Oberarm über die Augen. Dann blinzelte er und murmelte: „Ich muss los.“ Mit einem Satz sprang er von der Veranda. Er zerrte sein Fahrrad hoch und stieg in den Sattel. „Kann ich dich vielleicht morgen wieder besuchen?“

Winnie verkrampfte die gefalteten Hände, bis es wehtat. „Ich habe gedacht, du willst nicht, dass ich hier bin?“

Der Junge wurde vor Verlegenheit rot. „Das geht schon klar, wenn du hierbleibst.“

„Oh. Wow. Danke. Aber …“ Plötzlich verlor sie all ihren Mut. „Ich glaube, ich reise morgen früh wahrscheinlich ab.“

„Aber du kommst doch wieder, oder?“

„Oh, mein Lieber …“ Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Und wenn schon! Mach doch, wozu du Lust hast!“, entfuhr dem Jungen ein ärgerlicher, verletzter Aufschrei.

Im selben Augenblick hörten sie die wütende Stimme seines Vaters: „Robbie! Was zum Teufel treibst du hier?“

Winnie sprang auf, und Robbie zuckte zusammen. Da kam Aidan auch schon aus dem Wald neben dem Haus. Trotz ihren mühsam zurückgehaltenen Tränen konnte sie erkennen, dass er aufgebracht war.

Aidan nahm kaum wahr, wie Winnie sich verstohlen die Augen abwischte, ehe er seine Aufmerksamkeit seinem Sohn zuwandte.

Robbie wirkte eher verwirrt als schuldbewusst. „Nichts. Ich habe nur …“ Er schaute erst Winnie an, dann Aidan. „Ich wollte nur rausfinden, wer sie ist. Das ist alles …“

„Ist schon okay“, setzte Winnie an.

Aber Aidan warf ihr einen Blick zu, der sie überraschenderweise zum Verstummen brachte. Dann wandte er sich wieder an Robbie. „Du weißt genau, dass du nirgends hingehen sollst, ohne vorher mit Florita oder mir zu sprechen“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Flo war ganz außer sich vor Sorge. Also, mach dass du nach Hause kommst, aber schnell. Und du solltest dir mal für die nächsten drei Tage abgesehen von deinem Schulweg keine Ausflüge vornehmen.“

„Dad! Das ist gemein!“

„Ab mit dir.“

Murrend machte sich der Junge auf den Weg.

Winnie kramte in ihren Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch und schnäuzte sich. „Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass du nicht gewusst hast, wo er steckt …“

„Hast du allen Ernstes geglaubt, ich hätte ihm erlaubt, hierherzukommen?“

„Verdammt, woher soll ich das wissen? Du hast mich schließlich für heute Abend zum Essen eingeladen.“

„Hast du es ihm gesagt?“

„Dass ich seine leibliche Mutter bin? Natürlich nicht“, sagte sie. „So dumm bin ich nicht. Oder so selbstsüchtig. Er hat gefragt, wer ich bin, und ich habe ihm meinen Namen genannt. Ich habe gedacht, das kann doch nichts schaden. – Vielleicht ist das mit dem Abendessen heute doch keine so gute Idee“, fügte sie hinzu und sah ihn unschlüssig an.

„Und da schwörst du, dass du dich geändert hast“, sagte Aidan vorwurfsvoll.

Ihre Augen weiteten sich. „Ich habe ehrlich nicht geglaubt, dass ich eine echte Verbindung fühlen würde.“ Sie war sichtlich erstaunt. „Nicht nach so vielen Jahren. Und ganz sicher nicht nach zwei kurzen Gesprächen.“

Sie rieb sich die Nase. „Anscheinend bin ich wieder genau da, wo ich vor achteinhalb Jahren war.“ Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. „Er ist wirklich ein prächtiger Junge.“

Aidan schluckte. „Dafür kannst du June danken.“

Sie musterte ihn so lange, dass er spürte, wie seine Wangen heiß wurden. „Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt.“

„Du hast deine Chance gehabt.“

„Ich weiß“, sagte Winnie leise. „Morgen früh fahre ich ab. Ich werde dich nicht wieder belästigen.“

Aidan war längst nicht so erleichtert, wie er erwartet hatte. Aber das ging ihm zurzeit mit allem so. Er nickte nur stumm. Als er die Kürbisse bemerkte, die auf der Veranda aufgereiht waren, runzelte er die Stirn. „Hat Robbie sonst noch irgendetwas gesagt?“

Winnie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

„Ehrlich gesagt, ich auch nicht. Er ist nur so … ich weiß einfach nicht mehr, was er denkt …“ Die Worte kamen ihm ganz gegen seinen Willen über die Lippen.

„Wenn du wissen willst, worüber wir gesprochen haben, solltest du ihn vielleicht selbst fragen“, schlug Winnie behutsam vor.

Dann verschwand sie im Haus, noch bevor Aidan die Gelegenheit hatte, ihr eine gute Fahrt zu wünschen.

Das ferne Krähen eines Hahnes begleitete Winnie, als sie am nächsten Morgen die Kürbisse auf die Ladefläche ihres Trucks wuchtete. Am liebsten hätte sie gleich am Vorabend ihre Siebensachen in den Truck geschmissen und wäre davongedüst. Doch Gott sei Dank behielt die Vernunft die Oberhand. Winnie merkte, dass sie emotional viel zu ausgelaugt war, um die lange Rückfahrt zu überstehen, vor allem in der Nacht.

„Komm!“, rief sie ihren Hund herbei. Dann kletterte sie in den Truck und setzte sich ans Steuer.

„Was zum Teufel ist das denn?“, schimpfte sie, als sie den Schlüssel im Zündschloss drehte und sich nichts … aber auch gar nichts tat. Kein Grummeln, kein Dröhnen, kein einziger Mucks.

Sie versuchte es noch einmal. Wieder nichts.

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und fluchte. In technischen Dingen war sie zwar kein Genie, aber sogar sie erkannte eine kaputte Batterie, wenn sie eine hörte. Oder vielmehr, nicht hörte. Aber wie konnte das sein? Vor der Reise hatte sie erst eine Wartung durchführen lassen, und das Licht hatte sie auch nicht angelassen …

Das war’s dann wohl mit ihrem dramatischen Abgang. Okay, sowieso nicht besonders dramatisch – schließlich hatte sie keinerlei Zeugen, abgesehen von ihrem Hund und den Kürbissen.

Winnie seufzte resigniert, fischte ihr Handy aus der Hemdtasche und wählte Aidans Nummer. Ebenfalls keine Reaktion, nicht mal seine Voicebox ging an. Und sie hatte keine Ahnung, wie seine Festnetznummer lautete. Oder ob er überhaupt einen normalen Telefonanschluss hatte.

Sie stieß einen zweiten Seufzer aus. Dann machte sie die Tür auf, ließ sich auf den Boden gleiten, wartete auf ihren Hund und machte sich auf den langen Weg die laubbedeckte Schotterstraße hinauf.

4. KAPITEL

„Verd…ammt“, keuchte Winnie zwanzig endlos lange Minuten später. Vor ihr lag Aidans Gebirgsrefugium: ein mehrstöckiges Gebäude aus Holz und Glas mit einem Metalldach inmitten einer von Hühnern bevölkerten Lichtung. Alle Oberflächen des Hauses verschmolzen entweder mit der Umgebung oder spiegelten sie wider. Um sie herum begackerte das Federvieh aufgeregt die Anwesenheit eines Border Collies.

Sie erklomm eine Steintreppe, die zu einer Veranda aus breiten Holzbohlen führte, und drückte auf die Türklingel. Während sie darauf wartete, dass Florita die Tür aufmachte, drehte sie sich um und bewunderte die Aussicht. Ein paar Sekunden später hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging, gefolgt von eisigem Schweigen.

Keine Florita.

„Du hast Hühner?“

„Flo hält Hühner“, knurrte Aidan.

„Da wir gerade von ihr sprechen … wo ist sie denn?“

„Nicht da. Einkaufen. Mit ihrer Nichte.“

„Tess? Die Schwangere …?“

„Was willst du?“

„Du bist ein echter Morgenmuffel, was?“

Aidan warf ihr einen finsteren Blick zu und schwieg.

Winnie seufzte und versuchte zu ignorieren, wie eng sich das farbverschmierte Henley-Hemd an seinen Oberkörper anschmiegte. Sein Haar war noch feucht vom Duschen. „Die Batterie von meinem Auto ist kaputt“, sagte sie. „Ich brauche ein Telefonbuch. Oder die Nummer von einem Automechaniker.“

„Hast du das Licht angelassen?“

„Nein“, sagte sie. Was soll das, dachte sie, wird das jetzt eine Quizshow, oder was?

„Dann hast du dich einfach in deinen Truck gesetzt und bist den ganzen Weg hierhergefahren, ohne vorher zu überprüfen, ob mit dem Fahrzeug auch alles in Ordnung ist?“

Winnie fragte sich, ob er irgendeine Ahnung hatte, dass er kurz davor war, sich eine Ohrfeige einzufangen. „Natürlich habe ich den Truck in der Werkstatt gehabt, bevor ich losgefahren bin. Und die Batterie ist neu. Die habe ich vor der Fahrt erst einsetzen lassen. Ich habe keine Ahnung, warum die kaputt ist. Also, wenn du mir jetzt einfach das Telefonbuch geben würdest …“

„Du bist den ganzen Weg vom Alten Haus raufgelaufen?“

Während sie sich fragte, was für Lösungsmittel er wohl über die Jahre hinweg eingeatmet hatte, murmelte sie: „Abgesehen davon, dass ich natürlich auch Annabelle hätte satteln können, war das die einzige Möglichkeit, herzukommen … Was machst du denn da?“

Aidan war dabei, sich eine Jeansjacke anzuziehen. Dann trat er auf die Veranda hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Er ging einfach an Winnie vorbei und drehte sich erst um, als er schon halb die Treppe unten war, um sie anzufahren: „Was ist jetzt? Kommst du nun, oder kommst du nicht?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Entschuldigung – aber bin ich gerade für eine Sekunde ohnmächtig geworden und habe einen Teil unserer Unterhaltung verpasst? Wohin soll ich bitte mitkommen?“

Daraufhin stöhnte er genervt. „Zurück zu deinem Truck, natürlich.“

„Und … warum willst du mich dahin bringen?“

Noch ein Seufzer. „Damit ich ihn mir selbst mal ansehen kann.“ Angesichts ihres verständnislosen Blickes fügte er hinzu: „Ich will ja schließlich nicht, dass du losgehst und irgendeinem Nichtsnutz teures Geld für nichts und wieder nichts in den Rachen wirfst.“ Anscheinend wurde sein Akzent stärker, je mehr er sich aufregte.

„Irgendwie machst du auf mich nicht den Eindruck, als wärst du technisch begabt“, wandte Winnie ein.

„So kann man sich täuschen. Wollen wir jetzt endlich mal los? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Gib mir einfach das verdammte Telefonbuch, damit ich einen Automechaniker anrufen kann …“

„Keine Ahnung, wo das ist“, sagte Aidan und ging weiter auf seinen Truck zu.

Seufzend folgte ihm Winnie.

Zehn Minuten später verkündete Aidan sein Urteil. „Das Problem ist nicht deine Batterie“, ertönte seine gedämpfte Stimme aus den Eingeweiden ihres Trucks. „Es liegt an der Lichtmaschine.“

„Soll das ein Witz sein?“ Winnie stellte sich neben ihn, um selbst einen Blick in den Motorraum zu werfen. Sie konzentrierte sich so stark auf das Innenleben ihres Trucks, dass sie das leise, stetige Summen der Hormone in ihren Adern ignorieren konnte. „Also, das hat meiner Batterie den Garaus gemacht?“

„Sieht ganz so aus.“

Nicht, dass Winnie sich so absolut sicher war, was sie da eigentlich vor sich hatte. Aber zumindest hatte sie eine Ahnung, wozu die Lichtmaschine gut war.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hatte, verkündete Aidan: „Die gute Nachricht ist, dass ich beides für dich auswechseln kann und du so eine Stange Geld sparst.“ Dabei hörte er sich nicht so an, als ob das unbedingt eine gute Nachricht für ihn wäre.

„Und die schlechte Nachricht?“

Er knallte die Motorhaube zu und wischte sich die Hände an einem alten Lumpen ab, den er im Auto gehabt hatte. „Warum glaubst du, dass es eine schlechte Nachricht gibt?“

„Vielleicht wegen deiner düsteren Miene?“

Einen langen Augenblick starrte er sie an, dann stöhnte er auf – wie ein Mann, dessen Geduld schon arg strapaziert war. „Wenn wir jetzt gleich nach Santa Fe fahren, schaffen wir es noch, die Ersatzteile zu besorgen, und du kannst nach dem Mittagessen losfahren.“

„Ich will dir keine solchen Umstände machen …“

„Wir können den ganzen Morgen hier stehen bleiben und endlos diskutieren. Oder du hörst auf, dich so stur zu stellen, und wir fahren los.“

„Kann Annabelle auch mitkommen?“

Noch ein Seufzer. „Ja, Annabelle darf auch mit.“

„Du kannst es echt nicht erwarten, bis ich verschwunden bin, oder?“, fragte sie. Widerwillig umrundete sie den Truck und kletterte hinter Annabelle auf den Beifahrersitz.

„Im wahrsten Sinne des Wortes“, brummte Aidan vom Fahrersitz aus. Dann legte er mit Karacho den Rückwärtsgang ein.

Du hast ja keine Ahnung, dachte Aidan, als sie auf den Highway nach Santa Fe fuhren, wie sehr ich mir wünsche, dass du endlich weg bist. Weißt du überhaupt, wie viel Schaden diese großen blauen Augen und dieser verführerische Mund anrichten? Er hatte sich nie für einen Beschützer von Frauen gehalten. Es verhielt sich ja auch nicht so, dass Winnie hilflos war. Auch wenn sie offensichtlich nicht in der Lage war, einen ordentlichen Automechaniker zu finden. Ganz und gar nicht. Trotzdem, diese Frau hatte etwas an sich …

„Weißt du wirklich, wie man eine neue Batterie und eine Lichtmaschine einbaut?“, fragte sie von der anderen Seite der viel zu kurz geratenen Sitzbank.

… was ihn noch vor dem Mittagessen in den Wahnsinn treiben würde, wenn er nicht aufpasste.

„Ja, wirklich. Die Familie meiner Mutter besteht seit Generationen aus Bauern. Schon mit vierzehn Jahren war ich ein alter Hase im Reparieren von Traktoren und Landmaschinen. Und ganz abgesehen davon: Wenn man so abgeschieden lebt wie ich, dann lernt man, sich selbst um seine Sachen zu kümmern und sich nicht darauf zu verlassen, dass irgendjemand das für einen tut.“

„Oh“, sagte sie und verstummte, in Gedanken versunken.

Für Aidan fühlte es sich fast wie ein Schlag in den Magen an, als er merkte, dass ihr Schweigen noch viel schlimmer war als ihr Geplapper. Verzweifelt versuchte er die Stille zu durchbrechen: „Was willst du tun, wenn du wieder zu Hause bist?“

„Bitte zwing mich jetzt nicht zu einer höflichen Konversation“, sagte Winnie müde. „Ich weiß, dass dich das nicht wirklich interessiert.“

Ihre Zurückweisung traf ihn mehr, als er erwartet hatte. Obwohl sie da absolut recht hatte. „Tut mir leid wenn ich etwas … schroff wirke. Das ist wohl ein Risiko, wenn man so oft allein ist.“ Als sie nicht antwortete, warf er einen verstohlenen Blick auf ihr Profil. „Und eine bessere Entschuldigung habe ich nicht zu bieten, falls du mehr erwartet hast …“

„Oh mein Gott. War das etwa ein Versuch, witzig zu sein?“

„Nein.“

Sie lachte. Und Aidan seufzte. Tief in seinem Inneren war er ja kein schlechter Kerl. Nur eben sehr verschlossen.

„Da sind wir“, sagte er erleichtert.

Er fuhr vom Highway und bog auf den Parkplatz vom Autoteile-Shop ein. Sie stiegen aus und knallten die Autotüren beinahe gleichzeitig zu.

Winnie ging weiter zum Eingang. Sie riss die Tür zum Laden auf, bevor Aidan das für sie tun konnte.

Seltsamerweise hatte sie keinerlei Schwierigkeiten damit, dem kahlen Verkäufer mit dem Bierbauch genau zu erklären, was sie brauchte. Eines musste man dem Mann lassen: Er wartete, bis Winnie kurz wegschaute, ehe er sich mit einem Blick bei Aidan vergewisserte, ob ihre Angaben stimmten. Dann verschwand er im Lagerraum, um einen Augenblick später wieder aufzutauchen. Mit nur einer Batterie in den Händen.

„Sorry, wir haben keine Lichtmaschine vorrätig. Aber ich kann Ihnen anbieten …“ Er fing an, etwas in den Computer vor ihm einzutippen. „… wenn das für Sie in Ordnung ist, kann ich bis morgen eine Lichtmaschine aus einer Filiale aus Albuquerque kommen lassen.“

Noch einen Tag.

Das werde ich auch überstehen, sagte sich Winnie auf der Rückfahrt nach Tierra Rosa.

Während der Rückfahrt warf sie einen verstohlenen Blick auf Aidans Profil – die zusammengebissenen Zähne, die grimmige Miene, der starr geradeaus gerichtete Blick –, und versuchte herauszufinden, warum in Gottes Namen sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte.

Oh, klar, er sah gut aus – sofern man den Werwolf-Stil mochte. Aber das allein reichte nicht, damit sie jemanden attraktiv fand. Jedenfalls nicht mehr. Es musste schon endlos lange zurückliegen, dass sie das letzte Mal wegen durchtrainierter Muskeln und eines unwiderstehlichen Lächelns den Verstand verloren hatte. Nicht, dass Aidan über so ein Lächeln verfügte. Falls er überhaupt jemals lächelte.

Obwohl sie sich dunkel daran erinnern konnte, dass er bei ihrer ersten Begegnung oft gelächelt hatte, als er sich so sehr bemühte, sie davon zu überzeugen, dass June und er die idealen Eltern für ihr Baby sein würden …

„Ja?“, sagte Aidan gerade neben ihr. Die abgehackten Antworten, mit denen er den Anruf auf seinem Handy erwiderte, hatten Winnie aus ihren sinnlosen Gedanken aufgeschreckt. „Ich bin gerade im Auto, Robbie. Wenn die Polizei mich erwischt, gibt’s Ärger … Nein, Flo hat mir nicht Bescheid gesagt. Sie hatte vermutlich auch keine Ahnung … Ja, natürlich, ich komme gleich vorbei.“

Er knallte das Handy in den Dosenhalter und sah Winnie kurz an, und sie bekam sofort ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Anscheinend hat Robbie vergessen, irgendjemandem Bescheid zu sagen, dass er heute früher Schulschluss hat. Flo kommt erst spät wieder nach Hause, also muss ich ihn abholen.“

Er kratzte sich am Kinn. „Er hat schon fünfzehn Minuten gewartet.“ Seine Finger spannten sich um das Lenkrad. „Und die Schule liegt auf dem Weg. Wenn ich dich zuerst absetze, kostet mich das noch mal zehn Minuten …“

„Kein Problem“, sagte Winnie. Dabei schnürte es ihr die Kehle enger zusammen, als sie es für möglich gehalten hatte.

Erneut krampften sich seine Finger ums Lenkrad. „Bist du sicher?“

„Na hör mal, Aidan. Ich bin kein Kind mehr. Ich werde damit fertig, okay?“

Zumindest würde sie ihr Allerbestes tun.

Sobald sie auf den Parkplatz der Schule einbogen, kam Robbie auf sie zugerannt. Sein Rucksack schlug ihm bei jedem Schritt ins Kreuz, und sein Haar war vom Wind zerzaust. Doch sobald er Winnie und vermutlich auch Annabelle bemerkte – die ihre Schnauze aus dem Fenster gestreckt hatte, um ihre Lebensfreude winselnd und bellend zum Ausdruck zu bringen –, blieb er wie angewurzelt stehen.

Erst als er näher kam, bemerkte Winnie die Tränenspuren auf seinen Wangen. Angesichts des Schocks über das unerwartete Wiedersehen mit Winnie schien seine Bestürzung jedoch zunächst vergessen zu sein.

Doch nur lange genug, um ihnen ein zutiefst beleidigtes „Wieso hat mich keiner abgeholt?“ entgegenzuschleudern, als er zum Hund auf den Rücksitz kletterte.

„Weil keiner gewusst hat, dass du heute eher Schluss hast“, sagte Aidan ruhig. Dann wendete er den Truck und kehrte auf die Straße zurück.

Winnie versuchte, sich auf den Blick nach vorn zu konzentrieren und nicht völlig die Fassung zu verlieren, weil sie hinter sich die Stimme ihres Kindes hören und gleichzeitig neben sich den Geruch seines Vaters wahrnehmen konnte.

„Ich dachte, du wolltest wegfahren?“, fragte Robbie fast vorwurfsvoll.

„Mein Truck ist heute Morgen nicht angesprungen. Also muss ich es morgen noch mal versuchen.“

Robbie streckte den Kopf nach vorne, was ihm eine geknurrte Ermahnung einbrachte: „Robbie! Anschnallen!“

Während er seinen Sitzgurt festzurrte, fragte der Junge: „Ist es in Ordnung, wenn Jacob später rüberkommt? So gegen zwei? Er hat gesagt, seine Mutter erlaubt es ihm, wenn du einverstanden bist.“

Winnie sah, wie Aidan die Augen verdrehte und das Gesicht verzog. Sie konnte beinahe hören, was in ihm vorging: Da hatte er schon den ganzen Morgen mit dieser blöden Autopanne vertrödelt. Und jetzt, nachdem Robbie unerwartet früh von der Schule nach Hause kam und Florita nicht da war, konnte er auch noch seinen Nachmittag abschreiben.

Aber er nickte nur. „Sicher. Warum nicht?“

So viel zum Thema Hausarrest, dachte Winnie lächelnd – bis Robbie auf einmal sagte: „Kann Winnie auch kommen? Jetzt gleich, meine ich. Nicht später.“

Sie war sich nicht sicher, wer sich bei diesen Worten mehr anspannte, Aidan oder sie.

„Hm …“, machte er.

Robbie bettelte: „Bitte!“

Winnie drehte sich um und sagte: „Ich weiß nicht … ich habe deinen Vater jetzt schon so viel Zeit gekostet, er muss wahrscheinlich wieder an die Arbeit …“

„Ist schon okay“, murmelte Aidan.

Als Robbie dann auch noch versprach, selbst für seinen Lunch zu sorgen, falls sein Dad beschäftigt sein sollte, seufzte Winnie. Was können ein paar Stunden schon schaden?, dachte sie und sagte: „Das wäre toll.“ Daraufhin ließ Robbie hinter ihr einen Hurra-Schrei ertönen, der ihr gleichzeitig das Herz wärmte und ihr einen Stich versetzte.

Was geht bloß in ihrem Kopf vor?, fragte sich Aidan, als er Winnie und Robbie von Zimmer zu Zimmer folgte. Immerhin musste er zugeben, dass er beeindruckt war, wie Winnie es schaffte, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Zu lächeln und zu lachen, obwohl er ernsthaft bezweifelte, dass sie sich auch nur ein bisschen fröhlich fühlte.

Gleichzeitig überlegte er, dass es nichts Besseres als einen Überraschungsgast gab, um sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen. Obwohl das Wohnzimmer und Junes Loft darüber nicht mehr die Kommandozentrale für Junes gerade aktuelle Kampagne waren, herrschte in dem Raum immer noch ein ständiges Chaos. Spielzeug und Zeitschriften und Junes riesige Kunsthandwerkssammlung lagen überall verstreut. Die Möbel schienen überhaupt nicht zusammenzupassen.

Und Winnie entging nicht das kleinste Detail.

Aidan war erstaunt, wie viel es ihm bedeutete, was sie dachte. Zweifellos suchte sie – wenn auch vielleicht nur unbewusst – nach einer Bestätigung dafür, dass sie damals eine gute Wahl für Robbie getroffen hatte.

Vor allem, wenn es um Robbies Zimmer ging. Würde Winnie die überladenen Bücherregale und seine riesige Sammlung Dinosauriermodelle und seine mit Sternbildern bemalte Zimmerdecke als Beweis dafür ansehen, dass June und er Robbie ein Leben geboten hatten, was sie sich nie hätte leisten können … oder würde sie denken, dass sie ihn zu sehr verwöhnt hatten? Dass er gut bei ihnen aufgehoben war oder … zu isoliert?

Betrachtete sie Aidans Wunsch, Robbie nicht die Wahrheit über sie zu sagen, zu Recht als Versuch, Robbie zu beschützen … oder als übertrieben fürsorglich? Wie eine Glucke?

„Dad!“, schreckte Robbie seinen Vater auf. „Musst du uns überall nachlaufen?“

Diese Abfuhr tat völlig unangemessen weh.

Winnie wurde rot und murmelte: „Weißt du, mein Lieber, deinem Dad ist wahrscheinlich nicht wohl bei dem Gedanken, dich mit mir allein zu lassen. Ich bin schließlich fast noch eine Fremde.“ Dann traf ihr Blick Aidan, und sie zog die Augenbrauen hoch, als ob sie sagen wollte: Das ist ganz allein deine Entscheidung, Kumpel.

In den Augen seines Sohnes bemerkte Aidan ein Flehen, das er nicht ganz verstand, und das ihn ziemlich beunruhigte. Irgendwann hatte er die Kontrolle verloren … June hatte die Dinge eher so genommen, wie sie eben kamen, und dem Schicksal vertraut … Gerade dieser Charakterzug hatte auf ihn so überaus anziehend gewirkt. Vielleicht war es auch diese Haltung, die er seit Junes Tod am meisten vermisste.

Daher war er äußerst erstaunt, als er sich sagen hörte: „Kein Problem. Ich gehe dann mal und kümmere mich um den Lunch. Mögt ihr überbackenen Käsetoast und Dosensuppe? Ich bin nämlich nicht unbedingt ein Meisterkoch.“

In Winnies Augen entdeckte er eine Mischung aus Dankbarkeit und Mitgefühl, die ihn völlig verunsicherte und eine tief sitzende Verspannung in seinem Inneren löste.

„Suppe und Käsetoast sind klasse“, sagte Winnie und lächelte ihn an – freundlich und nachsichtig und geduldig.

In Aidans Augen behandelte sie ihn, als sei er eine echte Nervensäge.

Nachdem Aidan verschwunden war, um sich ums Essen zu kümmern, dauerte es eine Weile, bis Winnie sich wieder auf das konzentrieren konnte, was Robbie ihr gerade erzählte. Ganz offensichtlich machte Aidan sich Sorgen darüber, was passieren könnte, wenn sie sich versprach oder Robbie aufregte.

Selbstverständlich brauchte er sich um Ersteres keine Sorgen machen – trotz des beständigen Schmerzes in ihrer Brust. Aber Winnie konnte natürlich nicht vorhersagen, wie ein Kind reagieren würde, das vor Kurzem oder auch vor längerer Zeit einen Verlust erlitten hatte.

Was würde Robbie aus der Fassung bringen? Schon aus diesem Grund wollte sie Aidans Wünsche auf jeden Fall respektieren. Ganz egal, ob er ihr vertraute oder ihr glaubte oder nicht.

Nur noch ein Tag …

„Und da oben auf den Regalen“, verkündete Robbie, „das habe ich alles aus Lego gebaut. Cool, was?“

Sie sah nach oben und nickte. „Sehr cool sogar“, sagte sie. Dabei dachte sie: Junge, Junge – du hast wirklich mächtig Glück gehabt. Sonnenlicht strömte durch ein paar riesige Fenster in ein Zimmer, das wie ein wahr gewordener Kindertraum aussah. Es war dreimal so groß wie Winnies Zimmer zu Hause und wirkte wie eine Mischung aus Spielhalle, Museum und Bibliothek.

Sie bildete sich nicht ein, dass Robbie irgendeine Ahnung davon hatte, wie viel Glück er hatte. Schließlich hatte er keinen Vergleich. Er hatte auch keine Ahnung, was ihm fehlte, wenn sie …

Oh …

Sie blieb vor einem großen Foto von Robbie und seinen Eltern stehen, das vor einigen Jahren aufgenommen worden war. Wie bei einer dieser russischen Puppen umarmte Aidan June lächelnd von hinten, während June mit strahlendem Gesicht Robbie im Arm hielt, der ganz offensichtlich kicherte. Winnie betrachtete alle drei. Aber ihr Blick verweilte ein bisschen zu lange bei Aidan.

„Das ist meine Mom“, sagte Robbie neben ihr. Er hielt einen Flugapparat aus unzähligen winzigen Plastikteilchen in der Hand.

„Das habe ich mir schon gedacht. Wie alt warst du damals?“

Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Fünf? Sie war noch nicht krank, das weiß ich.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sich mit einem Plumps aufs Bett fallen. Eine Wolldecke mit breiten geometrischen Mustern in strahlenden Orange-, Gelb- und Rottönen bedeckte die breite Matratze. „Mom hat die Sterne und alles an meiner Zimmerdecke selbst gemalt.“

Folgsam schaute Winnie nach oben. „Wow. Dafür muss sie ja ewig gebraucht haben.“

„Hat sie wohl. Ich war mit Blinddarm im Krankenhaus. Als ich wieder nach Hause kam, hatte sie alles fertig.“

Winnie fühlte sich, als wenn jemand ihr ein stumpfes Messer in den Bauch gerammt hätte. Ihr Sohn hatte eine Blindarmoperation gehabt, und sie hatte nichts davon gewusst. Nur weil sie zu feige gewesen war. Ärgerlich und aufgewühlt betrachtete sie die Bücherregale. „Das sind aber eine Menge Bücher. Hast du die alle gelesen?“

„Ein paar. Mom und Dad haben mir die anderen vorgelesen. Vor allem Mom.“ Er zögerte. „Sogar als sie schon zu krank war, um noch viel aufzustehen, hat sie mir noch vorgelesen.“

Der Schmerz in seiner Stimme trieb Winnie die Tränen in die Augen. Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, worum es hier ging. „Es tut gut, über deine Mom zu reden, oder?“

Eine Weile drehte Robbie sein Spielzeugflugzeug immer wieder in den Händen um. Schließlich nickte er und bestätigte ihren Verdacht, als er sagte: „Dad mag es nicht, wenn ich über sie spreche.“

„Warum denkst du das?“

Der Junge zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß es einfach.“

Winnie ließ sich neben ihm nieder. „Was ist mit Flo?“, fragte sie sanft. „Oder vielleicht jemand in deiner Schule?“

„Flo sieht immer so aus, als ob sie gleich anfängt zu weinen. Und in der Schule …“ Er stieß heftig den Atem aus, legte das Flugzeug weg und sah sie an. „Seit Mom gestorben ist, behandelt mich da keiner mehr normal. Die Erwachsenen tun alle so, als ob ich gleich ausflippen würde. Und die anderen Kinder … manchmal denke ich, sie haben Angst, wenn sie etwas zu mir über Moms Tod sagen, dass ihnen das auch passieren könnte.“ Mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: „Das nervt.“

„Allerdings.“ Winnie war es nach dem Tod ihrer Eltern ganz ähnlich ergangen. Vor allem erinnerte sie sich daran, wie es war, nicht normal behandelt zu werden. Dabei wollten Kinder in dieser Situation am allermeisten, dass alles wieder wie bisher war – und zwar so bald wie möglich.

Sie zögerte. „Du solltest wirklich mit deinem Dad darüber sprechen, wie du dich fühlst.“

„Kann ich nicht.“

„Klar kannst du das.“ Sie senkte den Kopf, um sein Gesicht sehen zu können. „Möchtest du, dass ich für dich etwas zu ihm sage? Würde dir das helfen?“

Ein Schulterzucken.

„Aber wenn du mit mir darüber reden kannst …“

„Das ist etwas anderes.“

„Warum?“

Noch ein Schulterzucken.

Von unten rief Aidan sie zum Lunch.

„Robbie“, sagte Winnie sanft und stand auf. „Ich bin nicht …“ Sie hielt inne, denn sie hatte einen Kloß im Hals. „Ich bin nicht mehr lange hier. Du musst jemanden finden, mit dem du reden kannst, okay? Und nachdem nun einige Zeit seit dem Tod deiner Mutter vergangen ist, ist dein Dad vielleicht eher bereit darüber zu reden, als du annimmst?“

„Dad hat uns gerufen, wir sollten jetzt gehen“, wich Robbie aus. Er legte das Flugzeug auf seine Matratze und rannte zur Tür.

Winnie ließ er zurück.

In mehrfacher Hinsicht.

5. KAPITEL

Aidan füllte gerade Suppe in drei bunt bemalte Schalen, als Winnie hereinkam. Allein. Er sah auf. „Wo ist Robbie?“

„Hände waschen.“ Sie wich seinem Blick aus.

„Also … wie ist es gelaufen?“

„Lass mir eine Minute Zeit“, bat sie sanft. Sie nahm die Teller mit den Sandwichs, die auf der Arbeitsplatte bereitstanden, und stellte sie auf den massiven Holztisch, der den größten Teil des Raumes einnahm. Dann streckte sie die Hand aus, um an einem Gesteck aus Trockenblumen herumzuzupfen, das da schon seit einer Ewigkeit stand.

Seufzend richtete sie sich auf und steckte die Hände in die Taschen ihres Sweatshirts. Ihr Blick glitt zu den Terrassentüren und dem Wald draußen. „Wunderbares Haus.“

„Soll das ein Versuch sein, das Gespräch in sicherere Bahnen zu lenken?“

Er hörte ein kurzes, humorloses Lachen. „Im Augenblick habe ich das Gefühl, als ob ich ein Loch im Herzen habe, das ungefähr so groß ist wie Montana. Also tu mir den Gefallen. Ich sage: Wunderbares Haus. Und du sagst: Danke. Oder irgendetwas. Ist ganz egal.“

Obwohl Aidan keinerlei Grund hatte, auch nur einen Funken Mitleid für sie zu empfinden – schließlich wäre nichts von alledem passiert, wenn sie in Texas geblieben wäre – war er doch einfühlsam genug, um auf Winnie einzugehen. Jedenfalls für den Augenblick. „Ich fürchte, es ist ein bisschen unaufgeräumt …“

„Mach dir keine Gedanken, es sieht doch nur so aus, als ob tatsächlich jemand hier lebt. Das ist alles. Miss Ida hat jedes Mal einen hysterischen Anfall bekommen, wenn ihr Haus nicht wie geleckt aussah. Aber ich habe das ganze Saubermachen und Polieren und Aufräumen für reine Zeitverschwendung gehalten. Warum soll man Sachen wegräumen, die man sowieso in ein paar Stunden wieder braucht?“

„Genau“, sagte Aidan und fühlte sich gleich besser.

Im Bad fing Robbie an, aus vollem Halse zu singen, und übertönte das Geräusch des laufenden Wassers.

Winnie lächelte. „Tut er das immer?“

„Früher jedenfalls“, sagte Aidan, während er Robbies Glas mit Milch füllte und ihnen beiden Tee einschenkte. „Die ganze Zeit. Was ihm an Talent fehlt, macht er durch Begeisterung wett.“

Sie lachte leise und spielte für einen Moment verlegen an ihrem Ärmel herum. „Also … wenn es helfen würde, bleibe ich gerne hier, solange Robbies Freund da ist. Bis Flo wieder zurückkommt, meine ich. Damit du wieder an deine Arbeit kannst.“

„Das könnte ich nicht …“

„Nur um sicherzugehen, dass die Jungs keinen Unfug anstellen. Glaub mir, die wollen auf keinen Fall, dass ihnen so ein weibliches Wesen wie ich in die Quere kommt. Ich habe bestimmt keine Hintergedanken, das schwöre ich“, sagte sie und errötete. „Außerdem das ist doch wohl das Mindeste, was ich tun kann, nachdem du mir mit meinem Truck geholfen hast.“

Aidan sah sie einen Moment lang an. Dann sagte er mit leiser Stimme: „Das ist das erste Mal seit Junes Tod, dass Robbie einen Freund eingeladen hat, weißt du das?“

„Oh mein Gott … nein. Das habe ich nicht gewusst.“

„Von daher macht es mir auf keinen Fall etwas aus, noch ein Kind im Haus zu haben. Allerdings …“

„Lass mich raten. June hat sich immer um die Kinder gekümmert, richtig?“

Jetzt wurden ihm die Wangen heiß. „Ich weiß nie, was ich mit ihnen anfangen soll. Ehrlich gesagt … ich bin dir sehr dankbar für dein Angebot.“

„Gut. Und ich will auch wirklich nicht geheim halten, worüber Robbie und ich geredet haben. Es ist nur …“ Sie zog einen Stuhl vom Tisch zurück, ließ sich darauf fallen und krempelte die Ärmel hoch. „Er sagt, dass er mit dir nicht über June reden kann.“

„Was?“ Aidan zog heftig die Augenbrauen zusammen. „Natürlich kann er mit mir reden!“

„Nun, er sieht das anders. Kinder sind wahnsinnig sensibel, Aidan“, sagte sie behutsam. „Wenn es für dich unangenehm ist, über June zu sprechen, dann merkt er das. Ich weiß … ich stecke da gerade meine Nase in Angelegenheiten, die mich nichts angehen. Aber sonst hätte ich dir gar nichts sagen dürfen. Es ist jedenfalls auf gar keinen Fall als Kritik gemeint, glaub mir.“

„Das soll keine Kritik sein?“

„Natürlich nicht. Jeder Mensch hat seine eigene Art und Weise, mit Trauer umzugehen. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich mich auch in mich selbst zurückgezogen. Ich musste damit allein fertigwerden. Und meine Großmutter …“ Winnie schnaubte und stieß ein freudloses Lachen aus. „Anscheinend konnte Ida nur mit dem Tod ihrer Tochter umgehen, indem sie sich ständig daran erinnerte, was für eine Enttäuschung diese Tochter für sie war.“

Winnie streckte eine Hand nach einem Löffel aus und rückte ihn gerade. „Aber Robbie ist da anders. Er braucht jemanden zum Reden, um Erinnerungen auszutauschen. Wenn das für dich zu schmerzvoll ist, solltest du vielleicht darüber nachdenken, jemanden zu finden …“

„Moment mal … willst du damit sagen, dass er mit dir über seine Mutter redet?“

Einen Augenblick später nickte Winnie. „Ironie des Schicksals.“

„Aber ich bin sein Vater, um Himmels willen!“

„Genau“, sagte Winnie über den Lärm hinweg, den Robbie machte, als er in seinen Turnschuhen den Flur entlangrannte. Sie schaffte es gerade rechtzeitig, sich umzudrehen und zu lächeln, als der Junge hereinstürmte.

Das Licht im Studio war schon fast zu schlecht zum Arbeiten, als Aidan Flos Absätze hinter sich klackern hörte, gefolgt von den Worten: „Und wie kommt es, dass Winnie in meiner Küche zusammen mit Robbie und einem Jungen, den ich noch nie zuvor gesehen habe, Pizza macht?“

„Höchste Zeit, dass Sie wieder da sind“, nörgelte Aidan, halb zu Flo und halb zu seinem Gemälde gewandt, während er seinen Pinsel auf einem Lappen abstreifte. „Und bei dem Jungen handelt es sich um Jacob. Den Sie übrigens schon mal gesehen haben, weil ich ihn auch schon kenne.“

„Nach einer Weile sehen die alle gleich aus“, sagte Flo. Das Klackern ihrer Schuhe – und die Duftwolke ihres Parfüms – kamen näher. „Das Rot da drüben“, sagte sie und wedelte mit der Hand vor der rechten Seite des Bildes auf und ab. „Das passt nicht zum Rest.“

„Sie vergessen gerade unsere Abmachung.“ Aidan hasste es, wenn ihm Leute bei der Arbeit zusahen und ein unvollendetes Werk kommentierten. Es fiel ihm schwer genug, mit Kritik umzugehen, wenn er eines der verdammten Bilder beendet hatte – und dann konnte er sowieso nichts mehr daran ändern –, aber vor Abschluss einer Arbeit waren Kommentare strengstens verboten.

Sogar June, die einmal einem Filmemacher erlaubt hatte, ihr im Studio eine ganze Woche lang Gesellschaft zu leisten – ein Gedanke, der bei Aidan Sodbrennen hervorrief –, hatte akzeptiert, dass Aidan nicht nach Anweisung malte. Aber seine Haushälterin musste das erst noch lernen.

In der Tat zuckte Flo jetzt mit den Schultern und meinte: „Und wie kommt es, dass die Frau, die Sie gestern noch auf den Mond schießen wollten, heute das Abendessen kocht und auf Ihr Kind aufpasst?“

„Ihr Auto ist kaputt. Ich habe versprochen, es zu reparieren. Aber das Ersatzteil kommt erst morgen.“

„Und das reicht als Grund, um sie mit Robbie allein zu lassen? Vertrauen Sie ihr so schnell?“

„Ja.“ Aidan starrte stirnrunzelnd sein Gemälde an. „Glauben Sie wirklich, dass da zu viel Rot ist?“

„Soll das ein Witz sein? Das sieht aus, als ob da ein Schwein geschlachtet wird. Und ich weiß nicht, was Sie denken, aber ich brauche keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass es nur Probleme geben wird. Oder haben Sie nicht bemerkt, wie sie Robbie ansieht?“

Natürlich war ihm das nicht entgangen. Als er Winnies Miene beobachtet hatte – eine Mischung aus Überraschung und Bedauern – drehte sich ihm der Käsetoast im Magen um. Und er hatte keinen blassen Schimmer, warum er ihr vertraut hatte und bereit war, dieses Risiko einzugehen. Aber … wenn sie den Mut hatte, das Geschenk dieses einen Tages anzunehmen, warum sollte er ihr das nicht gönnen? Mit ihr zu teilen, was sie June und ihm so großzügig geschenkt hatte?

„Wie geht es Tess?“, wechselte er das Thema. Er stand auf und drehte dem Gemälde den Rücken zu. „Es ist bald so weit, oder?“

„Noch zwei Wochen bis zum errechneten Geburtstermin. Ich habe ihr geholfen, das Zimmer für das Baby einzurichten. Sie hat ja gehofft, dass Rico von der Armee Heimaturlaub bekommt, damit er hier sein kann, wenn das Baby kommt. Aber im Augenblick sieht es nicht so aus …“

„Redet Robbie jemals mit Ihnen über June?“

Flo machte den Mund zu. Dann öffnete sie ihn wieder, um zu sagen: „Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen – am Anfang, wissen Sie, auch wenn es mir schwergefallen ist – aber er ist nicht darauf angesprungen. Irgendwann habe ich mir dann gedacht, wenn er darüber reden will, wird er das schon tun. Warum?“

„Nur so“, sagte Aidan. Geistesabwesend starrte er sein Bild an. „Vielleicht könnten Sie einen Salat zur Pizza machen?“

„Geht klar, Boss“, sagte Flo. Ihr Tonfall klang auf einmal merkwürdig. „Ich werde mich darum kümmern.“

Aidan sah ihr stirnrunzelnd nach und dachte: Was zur Hölle soll das denn jetzt …?

Keiner Frau auf der Welt, dachte Winnie – während sie zwei Paar kleine Hände dabei überwachte, großzügig schwarze Oliven und Peperonistückchen auf dem mit Soße bestrichenen Pizzateig zu verteilen –, würde entgehen, dass Flo das Gefühl hatte, ihr Revier verteidigen zu müssen. Dabei konnte Winnie nicht sagen, ob das jetzt mehr daran lag, dass sie mit Robbie zusammen war oder daran, dass sie sich in Flos Küche befand. Wahrscheinlich an beidem.

„Oh nein, die Mühe müssen Sie sich doch nicht machen!“, rief Winnie, als die Frau hinter ihnen anfing, mit lauten Seufzern, Augenrollen und Schmuckgeklimper das Mehl von den Schneidbrettern zu kratzen und diverse Zutaten wieder in den Kühlschrank zu räumen. „Wir machen alles sauber, sobald die Pizza im Ofen ist.“

„Das ist keine Mühe, sondern mein Job“, sagte Flo.

„Ist die Pizza jetzt fertig?“, fragte Robbie erwartungsvoll.

Winnie hatte das Gefühl, ihr Herz würde vor Stolz platzen. „Jawohl.“

Dann war die Pizza im Ofen, und Winnie schickte die Jungs mit dem Hund zum Spielen, bis die Pizza fertig war. Sie nahm den Schwamm und fing an, den einen Schmutzfleck abzuschrubben, den die Haushälterin übersehen hatte. „Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber es ist spät geworden, und die Jungs waren hungrig …“

„Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?“

Winnie blinzelte. „Abendessen machen?“

„Spielen Sie keine Spielchen mit mir“, sagte Flo und streckte einen Finger mit einem besonders langen Nagel in Winnies Richtung. „Warum wickeln Sie Robbie um Ihren Finger, wenn Sie doch wissen, dass Sie wieder weggehen und ihm das Herz brechen werden?“

Als Winnie die Sprache wiederfand, entgegnete sie: „Was zum Teufel meinen Sie damit? Ich bin gerade mal einen Nachmittag hier! Da kann ich mir kaum vorstellen …“

„Dann sollten Sie vielleicht ein bisschen besser nachdenken. Vor allem, bevor Sie handeln.“

Winnie verschränkte die Arme über ihrem klopfenden Herzen. „Es ist ja nicht so, als ob ich vorhätte, heute hier zu sein! Heute früh war ich schon aufbruchsbereit, aber dann ist mein dämlicher Truck nicht angesprungen, weil die Lichtmaschine ihren Geist aufgegeben hat. Ich bin bloß hergekommen, weil es unten im Haus kein Telefonbuch gibt. Und wo sollte ich denn sonst hin? Aber dann hat Aidan gesagt, er weiß nicht, wo das Telefonbuch ist …“

„Genau hier!“, rief Flo gereizt aus und zeigte auf etwas, was tatsächlich wie ein Telefonbuch aussah und genau unter dem Telefon lag, das an der Wand neben dem Kühlschrank angebracht war. „Wo es liegt, seit ich angefangen habe, hier zu arbeiten!“

„Ich kann nur wiedergeben, was er mir gesagt hat“, erwiderte Winnie und dachte: Männer. „Jedenfalls“, fuhr Winnie fort, jetzt, wo sie schon einmal dabei war, „hat er dann angeboten, mir das Auto zu reparieren. Er ist mit mir nach Santa Fe gefahren, um ein Ersatzteil zu besorgen. Leider war es nicht vorrätig, sondern wird erst morgen geliefert. Dann haben wir Robbie von der Schule abgeholt, weil Aidan anscheinend keine Ahnung hatte, dass Robbie früher Schulschluss hatte, und Sie ja nicht da waren. Der Junge wollte, dass ich zum Lunch komme. Ich hätte die Einladung abgelehnt, aber Aidan hat gesagt, es geht klar, okay? Aidan, und nicht ich.“

Sie holte tief Luft. „Als ich hier war, habe ich dann angeboten, auf die Kids aufzupassen, damit er noch etwas arbeiten konnte, wo er doch schon den halben Tag wegen dieses dämlichen Ersatzteils vergeudet hatte. Und dabei ist es spät geworden, und ich habe einfach Abendessen gemacht, weil mir das irgendwie logisch erschien. Also, wenn das in Ihren Augen gegen mich spricht, tut mir es wirklich leid!“

Florita starrte sie ein paar Sekunden lang an. Dann brach sie in Gelächter aus und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich mache mir einfach Sorgen um die beiden, wissen Sie? Und wenn ich sehe, wie Sie sich hier einschleichen, in meiner Küche Pizza machen, da musste ich denken, die hat keine eigene Familie, also …“

„Glauben Sie etwa, ich will mich hier ins gemachte Nest setzen?“ Als Flo mit den Achseln zuckte, seufzte Winnie erneut und rief sich in Erinnerung, dass diese hartnäckige Haushälterin eigentlich ihr geringstes Problem war. „Nichts liegt mir ferner. Ich wollte wirklich einfach nur Abendessen machen. Und morgen repariert Aidan meinen Truck, und dann seid ihr mich alle endlich los.“

Flo warf ihr einen prüfenden Blick zu, drehte sich zu dem riesigen Kühlschrank um und holte die Zutaten für einen Salat heraus. „Haben Sie die Pizza ganz und gar selbst gemacht?“

Wenn das ein Versöhnungsangebot von Flo sein sollte, konnte Winnie vielleicht für einige Minuten von ihrem eigenen hohen Ross heruntersteigen. Sie rutschte auf einen Hocker gegenüber von Flo, stemmte einen Stiefel gegen die Fußstütze unten an der Frühstückstheke und verschränkte die Arme. „Ich nehme an, dass June auch von hier war?“

Ein Schatten glitt über das Gesicht der Haushälterin. „Beinahe. Aus dem Nachbarort. Aber ihre Familie lebt inzwischen nicht mehr.“ Langsam schnitt sie mit dem Messer eine Tomate durch und fügte dann hinzu: „Manchmal kann ich noch beinahe ihre Gegenwart spüren.“

„Was für eine Gegenwart? Die von June?“

„Ja. Vor allem um den Día de Los Muertos herum. Wissen Sie, was das ist?“

„Der Tag der Toten? Klar. Na ja, halbwegs. Einige mexikanische Familien feiern diesen Tag, wo ich herkomme. Wirklich verstanden habe ich das aber nie.“

„Sie glauben, das ist gruselig, was?“ Flo grinste. „Aber so ist das für uns gar nicht. Für uns ist das ein Fest. Vielleicht machen wir nicht so viel Aufhebens darum, wie das in Mexiko üblich ist. Aber es ist trotzdem ein wichtiger Feiertag. Wir kommen zusammen und erinnern uns an die Menschen, die uns schon verlassen haben. Wir lachen und erzählen Geschichten. Wir zeigen ihnen, dass wir sie nicht vergessen haben, und dass sie in unserer Erinnerung und in unseren Herzen weiterleben. Insofern kommen die Toten also tatsächlich zurück, um uns zu besuchen, verstehen Sie?“

Sie wurde ernst. „Es ist auch eine Gelegenheit zu zeigen, dass man keine Angst vor dem Tod hat. Denn der Tod kann uns die Menschen, die wir lieben, nicht wirklich nehmen. Jedenfalls nicht, wo es am meisten darauf ankommt.“

„Oh. So betrachtet, leuchtet das wirklich ein. Aber was wenn …?“

Flo hob den Kopf und begegnete ihrem Blick. „Was?“

„Nichts“, sagte Winnie. Das Selbstmitleid sollte nicht die Oberhand gewinnen. Sie würde jetzt nicht darüber nachgrübeln, was mit Menschen passierte, die starben, ohne eine Familie zu hinterlassen.

„Wissen Sie“, sagte Flo gerade, „alle haben Miss June geliebt. Sie konnte einen mit drei Worten zur Schnecke machen, wenn man es verdient hatte. Aber Dios mío, ich habe niemals jemanden kennengelernt, der ein größeres Herz hatte.“ Flos Lippen wurden schmal. „Ich weiß, dass die Leute manchmal geredet und hässliche Sachen gesagt haben. Weil Miss June so viel älter war als der Boss. Aber was hat Liebe schon mit Alter zu tun?“

„Nichts“, pflichtete Winnie ihr bei. „Sie nennen ihn ‚den Boss‘?“

Flo lächelte. „Miss June hat ihn manchmal so genannt, nur um ihn aufzuziehen. Wenn sie über irgendetwas gestritten haben, sah sie ihn ganz belustigt an und sagte: ‚Ganz wie du meinst, B-Boss …‘“

Die Haushälterin brachte kaum die letzten Worte heraus, als sie auch plötzlich in Tränen ausbrach.

Winnie war mit einem Schritt bei ihr und nahm Flo in den Arm. Dabei hatte sie auf einmal das merkwürdige Gefühl, dass June verdammt sauer wäre, wenn sie wüsste, wie alle hier ihretwegen Trübsal bliesen.

Und dass Winnie, solange sie hier war, vielleicht versuchen sollte, daran etwas zu ändern.

6. KAPITEL

Winnie Porter ist schon ein seltsamer Mensch, dachte Aidan, als er ihr gegenüber am Esstisch saß. Frauen zu verstehen war sowieso schon schwierig genug. Aber eine Frau wie Winnie …

„Was sagt die Null zur Acht?“, fragte Robbie, den Mund voll würziger Pizza mit geschmolzenem Käse.

„Keine Ahnung“, sagte Winnie und zwinkerte Aidan zu.

„Schicker Gürtel!“, rief Robbie.

Jacob und er brachen in schallendes Gelächter aus. Daraufhin fing Annabelle an zu kläffen und sich wie verrückt im Kreis zu drehen.

Winnie musste genauso lachen wie die Kinder. Gelächter und Gebell schwollen zu einem solchen Crescendo an, dass Aidan befürchtete, die Küche würde gleich in die Luft fliegen.

„Dad! Dad! Rate mal, was Winnie uns beigebracht hat?“

„Rot gewinnt?“, fragte Aidan trocken.

Robbie fragte „Hmm?“, während Winnie protestierte: „Also ehrlich, Aidan, ein bisschen mehr kannst du mir schon zutrauen!“

Und Robbie rief triumphierend: „Nein – Schach!“

Aidan starrte Winnie an. „Schach?“

„Ja, er hat dieses wunderschöne Schachspiel im Regal stehen. Da habe ich ihn gefragt, ob er weiß, wie man es spielt. Und als er verneinte, habe ich es ihm beigebracht. Ihm und Jacob“, sagte sie.

Aidan schluckte den aufwallenden Ärger herunter. Das „Harry Potter“-Schachspiel hatte June kurz vor ihrem Tod für Robbie bestellt und Aidan ausdrücklich angewiesen, es ihrem Sohn beizubringen.

„Das ist so cool“, sagte Robbie. „Fast so cool wie Mario Galaxy – hey!“, quietschte er, als er von einem Stückchen Olive auf der Nase getroffen wurde. „Wer war das?“

„Wer war was?“, fragte Winnie, die Unschuld in Person, und trank einen Schluck von ihrem Eistee.

Aidan öffnete den Mund, nur um ihn wieder zuzuklappen. Denn er konnte nicht zulassen, dass er sich …

… lebendig fühlte?

„Jemand hat eine Olive nach mir geworfen!“

„Das warst du!“, rief Jacob und zeigte mit dem Finger auf Winnie. „Ich hab’s genau gesehen!“

„War ich nicht“, widersprach Winnie. Sie klaubte ein Stück Salami von ihrer Pizza und warf es nach Jacob, was nur noch mehr Lachsalven hervorrief. Dann traf ein Pilz Aidan an der Stirn, und die beiden Jungen bogen sich vor Lachen.

Am anderen Ende der Küche rang Florita die Hände und knurrte etwas auf Spanisch, was Aidan nicht ganz verstand.

Als er zu Winnie hinüberschaute, funkelten ihre Augen voller Übermut. Nein, dachte er. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wären seine Lebensgeister aus einem langen Dornröschenschlaf erweckt worden.

Mach einfach mit …

Aidan hob den geworfenen Pilz auf. „Hast du etwas verloren?“, fragte er.

Winnie grinste. Selbstsicher. Süffisant. Gefährlich. „Betrachte es als Geschenk“, meinte sie.

Als er ihr den Pilz an den Kopf warf, prustete sie vor Lachen.

Eine Stunde später schaute Aidan verstohlen zu Winnie. Sein Truck holperte den Berg hinunter, weil er Winnie und Annabelle zurück zum Alten Haus und dann Jacob nach Hause bringen musste.

Hinter ihm quietschten die beiden Jungen jedes Mal um die Wette, wenn der Truck über eine Unebenheit rumpelte.

Winnie lächelte, tief in geheime Gedanken versunken.

Hastig wandte Aidan sich ab. Er hatte kein Interesse. Weder an ihren Gedanken … noch an irgendetwas anderem, was mit ihr zu tun hatte.

Vor zwei Jahren hätte Aidan es nicht für möglich gehalten, dass er irgendwann auf Sex verzichten könnte. Bis June krank geworden war. Sein Leben hatte sich geändert – und Aidan hatte seine Libido mehr oder weniger auf Eis gelegt.

Dann war June gestorben. Und welchen Sinn hätte es da noch gehabt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?

Vor dem Alten Haus kam der Truck mit einem Ruck zum Stehen. Als Winnie die Tür öffnete, befahl Aidan den Jungs, still sitzen zu bleiben, weil er gleich wiederkommen würde.

Er war bereits ausgestiegen, bevor er Winnies Blick bemerkte.

„Meinst du nicht, dass es ein bisschen übertrieben ist, mich bis zur Haustür zu begleiten?“

„Ich … ich wollte mich nur bei dir dafür bedanken, dass du auf die Jungs aufgepasst hast. Und für die Pizza, die war klasse.“

„Gern geschehen.“

„Und dass du es geschafft hast, Robbie aus der Reserve zu locken.“

Ihr Lächeln war verhalten. „Tja, es geht doch nichts über eine ordentliche Essensschlacht, um ein bisschen Leben in die Bude zu bringen. Auch wenn Flo vielleicht nie wieder ein Wort mit uns redet.“

Aidan lächelte zurück. „Sie wird es schon überleben.“

Dann seufzte er und fuhr sich durchs Haar, das langsam wirklich zu lang wurde. „Ich hätte Robbie Schachspielen beibringen sollen.“ Er zögerte. „Ich hätte ihn wieder zum Lachen bringen sollen.“

„Entschuldige, ich wollte dir wirklich nicht in die Quere kommen, ehrlich …“

„So habe ich das nicht gemeint. Ich glaube, June hätte sich darüber gefreut.“

Winnie sah auf. Ihre Augen glitzerten im schwachen Licht, als sie nickte. Dann wandte sie sich ab, um die Tür aufzuschließen. „Also, wann soll ich mich morgen früh bereithalten?“

„Dann fährst du also wirklich ab?“

„Ich hatte heute einen Wahnsinnsspaß, Aidan. Wirklich. Aber es war nicht einfach.“

„Nein, das war es wohl nicht“, gab er zu. Es erschreckte ihn, wie sehr er sich danach sehnte, sie zu umarmen. Ihr den Rücken zu streicheln und zu versichern, dass alles gut wird. „Nun ja. Ist acht Uhr zu früh?“

„Nein, das passt schon …“

„Ich werde es ab jetzt bei Robbie besser machen, Winnie. Egal, was in mir vorgeht, er ist schließlich ein Kind. Und ich weiß, dass das Leben für ihn weitergehen muss.“

Winnie zögerte einen Augenblick. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie zitterte ein bisschen, und Mitgefühl schimmerte in ihren Augen. „Das ist jetzt nur ein Vorschlag, okay? Aber Flo hat mit mir über den ‚Tag der Toten‘ gesprochen, und dass es bei diesem Feiertag eigentlich darum geht, die Verstorbenen zu feiern. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, mit Robbie so etwas wie eine Gedenkstunde für June zu halten? Möglicherweise hilft die Erinnerung ja, den Schmerz zu bewältigen?“

Eine plötzliche Böe rauchgeschwängerter Luft brannte Aidan in den Augen. „An der Idee könnte etwas dran sein.“ Er drehte den Kopf weg und wechselte abrupt das Thema. „Heute Nacht wird’s kalt. Hast du genügend Feuerholz?“

Winnie verzog den Mund zu einem leichten, viel zu verdammt verständnisvollen Lächeln. „Mehr als genug, danke. Also … dann sehen wir uns morgen“, sagte sie. Mit diesen Worten schlüpfte sie ins Haus und schloss die Tür, bevor er sich noch mehr zum Narren machen konnte, als er es sowieso schon getan hatte.

Als Winnie am nächsten Morgen aus dem Badezimmer kam, winselte Annabelle aufgeregt an der Eingangstür. Draußen ertönte gedämpft das Klappern von Werkzeug.

Winnie vergaß, dass sie nur Idas schäbigen, alten Chenille-Morgenmantel trug, und öffnete schwungvoll die Tür. „Was machst du denn da?“, fragte sie stirnrunzelnd.

Aus den Tiefen des Motors ertönte dumpf Aidans Stimme. Er murmelte, dass er schon mal wegen des Ersatzteils in die Stadt gefahren war. Dann richtete er sich auf und knallte die Motorhaube zu. Heute ganz im Holzfällerlook, trug er eine karierte Jacke und eine Mütze, die er tief über seine Locken gezogen hatte.

Zu spät bemerkte Winnie, dass die Mütze seine Gesichtszüge noch markanter wirken ließ, und sein Mund … noch mehr ihren Blick auf sich zog. „Ich bin fertig. Du kannst dich jetzt jederzeit auf den Weg machen.“

Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie fast am Erfrieren war, und eilte ins Haus, um sich warm anzuziehen, mindestens zehn Lagen Stoff übereinander. Als sie die Stiefel anzog, überlegte sie, ob sie sich Sorgen um ihre geistige Gesundheit machen sollte. Robbie zu verlassen, war verdammt übel. Je eher sie es hinter sich brachte, desto besser. Doch sich von seinem Vater zu verabschieden, sollte keinen Funken Bedauern in ihr auslösen. Keine Enttäuschung. Kein Kribbeln …

Als sie wieder rausging, telefonierte Aidan gerade.

„Das war Flo“, sagte er und klappte das Handy zusammen. Entschlossen eilte er zu seinem Truck zurück. „Die Hälfte war auf Spanisch. Aber ich glaube, es ging darum, dass bei Tess die Wehen eingesetzt haben. Auf dem Weg zum Auto ist ihr eingefallen, dass sie Robbie zur Schule bringen sollte. Bei dem Versuch, ihr Handy aus der Handtasche zu ziehen, hat sie nicht auf die Hühner und ihre dämlichen hochhackigen Schuhe geachtet. Sie ist gestolpert und gestürzt. Und jetzt kann sie ihr Handgelenk nicht mehr bewegen.“

„Oh nein!“

„Ich muss zum Haus zurück und Robbie und Flo einsammeln“, murmelte Aidan und riss die Tür seines Trucks auf. „Dann bringe ich Robbie zur Schule und fahre anschließend zu Tess …“

„Aidan!“

Er unterbrach sich mitten im Satz. „Was?“

„Nicht einmal du kannst drei Leute gleichzeitig an drei verschiedenen Orten abliefern.“

Ein Muskel zuckte in seiner Wange. „Robbies Schule liegt auf dem Weg zum Krankenhaus, und da müssen die beiden hin …“

„Aber wenn ich mich richtig erinnere, werden Handgelenke normalerweise nicht auf der Entbindungsstation behandelt. Außerdem, wer kümmert sich um Miguel?“

„Oh verdammt, den habe ich ganz vergessen …“

„Das habe ich gemerkt.“ Winnie streckte die Hand aus. „Gib mir meine Autoschlüssel. Ich hole Robbie und Flo. Und du fährst schon mal los und holst Tess und Miguel. Wir treffen uns dann auf der Entbindungsstation.“

„Aber du wolltest doch zurück nach Texas fahren!“

„Das kann ich morgen immer noch.“

„Wenn das kein Zeichen ist“, erklärte Elektra ein paar Stunden später übers Handy, „dann weiß ich es auch nicht.“

„Das ist kein Zeichen“, widersprach Winnie. Sie lehnte sich in einem Stuhl im Wartezimmer zurück. Miguel hatte sich an sie gekuschelt und schlief tief und fest. Aidan war unterwegs, um Robbie von der Schule abzuholen.

In der Zwischenzeit war Florita in einem Zimmer am anderen Ende des Gangs damit beschäftigt, ihrer Nichte fröhlich während der letzten Phase der Entbindung beizustehen. Ein Eisbeutel kühlte ihr schwer verstauchtes Handgelenk, und dank der Schmerzmittel, die sie bekommen hatte, war Florita jetzt ganz high. „Das ist kein Zeichen, das ist ein Witz.“

Am entgegengesetzten Ende des Flurs gingen die Türen zur Entbindungsstation auf, und Aidan und Robbie kamen herein. In der karierten Jacke, der schwarzen Wollmütze und dem gleichen selbstsicheren Gang wie Aidan wirkte Robbie wie ein kleines Abziehbild seines Vaters. Obwohl es ihr bei diesem Anblick die Kehle zuschnürte, musste Winnie lächeln.

„Jemand versucht dir zu sagen, dass du nicht wegfahren sollst“, sagte Elektra gerade. „Jedenfalls nicht, bis du deine Aufgabe erfüllt hast.“

„Und die wäre?“

„Wie soll ich das wissen? Wenn ich eine von diesen magischen Kristallkugeln hätte, meinst du nicht, ich hätte schon längst die richtigen Zahlen im Lotto getippt?“ Allenfalls ein Erdbeben konnte Elektra daran hindern, ihren wöchentlichen Lottoschein auszufüllen. „Oh, da kommt Kundschaft. Wir reden später weiter …“

Aidan ließ sich auf den Stuhl neben Winnie fallen, als sie ihr Handy wieder in die Tasche steckte.

Robbie dagegen steuerte zielsicher die Kinderecke mit den Spielsachen auf der anderen Seite des Raumes an.

„Gibt’s was Neues?“, fragte Aidan.

„Nein“, sagte sie. „Ist aber eine Weile her, seit Flo das letzte Mal hier war, um uns auf dem Laufenden zu halten. Ich denke, es ist bald so weit.“

Winnie fragte sich, ob Aidans Gedanken in die gleiche Richtung gingen wie ihre, zurück zu dem Tag, an dem Robbie geboren worden war.

Aidan und June waren beide mit im Zimmer gewesen. June hatte sogar die Nabelschnur durchgeschnitten. Sie hatte auch das Baby als Erste im Arm gehalten.

Aidan hatte inzwischen seine Jacke ausgezogen und saß jetzt mit ausgestreckten Beinen da, die Hände über dem Bauch gefaltet, und schaute stirnrunzelnd in Robbies Richtung. „Ich muss daran denken, wie er auf die Welt gekommen ist“, sagte Aidan. Ohne sich umzudrehen, fügte er leise hinzu: „Ich glaube, ich habe mich nie bei dir bedankt.“

Tränen brannten in Winnies Augen. „Aber natürlich hast du das. June …“

„Ich weiß, was June getan hat. Aber jetzt rede ich von mir. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie schwierig das für dich gewesen sein muss.“

Winnie schwieg für einen Augenblick. Dann sagte sie genauso leise wie er: „Ich danke dir. Aber ich bereue meine Entscheidung nicht.“

„Nicht einmal im Nachhinein?“

Winnie streichelte Miguels Lockenschopf. „Ich habe gewusst – und ich weiß es immer noch –, dass ich es als alleinerziehende Mutter nicht gepackt hätte. Nicht damals …“

„Sie ist da!“, rief Flo ihnen vom Ende des Flurs aus zu. In ihren hochhackigen Stiefeln stakste Flo auf sie zu. „Dreitausenddreihundertzweiunddreißig Gramm!“ Dann kniete Flo sich vor den kleinen Sohn von Tess hin und weckte ihn auf. „Willst du mitkommen und deine kleine Schwester sehen?“

„Ist das Baby jetzt nicht mehr in Mommy drin?“, fragte der Kleine, als er sich aufsetzte und die Augen rieb.

Flo lachte. „Nein, sie ist jetzt hier, und wir können sie anschauen!“ Sie stand auf und streckte ihre gesunde Hand aus. „Also, komm schon!“

Gähnend ließ sich der Junge vom Stuhl gleiten und ergriff die Hand seiner Großtante.

„Ihr drei auch!“, befahl Flo.

Während die beiden Jungen das winzige Baby mit seinem zerknitterten Gesicht und dem verfilzten schwarzen Haar anstarrten, blieb Winnie im Hintergrund. Natürlich hatte sie seit Robbies Geburt mehrere Babys zu Gesicht bekommen, meistens die Kinder von Freundinnen. Und zu einem gewissen Grad war das immer schmerzhaft gewesen. Aber noch nie so wie jetzt.

Der Anblick von Tess, die so glücklich aussah, Robbies und Aidans Anwesenheit, dann noch die Erinnerungen … unerträglicher konnte es kaum sein.

Aber wie immer schaffte Winnie es, die folgenden Minuten zu überstehen: Mit einem strahlenden Lächeln, den üblichen, entzückten Komplimenten und fest entschlossen, keinerlei Selbstmitleid zuzulassen. Wenigstens, bis sie unbemerkt aus dem Zimmer schlüpfen konnte. Sie hielt die Tränen zurück, bis sie die glücklicherweise leere Damentoilette erreichte.

Als sie sich das Gesicht gewaschen, ihr Make-up neu aufgelegt und ihre Haare gebürstet hatte, holte sie tief Luft und ging zurück zu den anderen, mit hoch erhobenem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen – auch wenn Letzteres ein bisschen schief ausfiel. Sie sagte sich, dass sie sich Aidans Stirnrunzeln bei ihrem Anblick nur einbildete.

Jedenfalls, bis sie sich auf den Heimweg machten, und Aidan sie beiseitenahm.

Im selben Augenblick, als Winnie verschwunden war, wusste Aidan, dass etwas nicht stimmte. Fünfzehn Minuten später tauchte sie wieder auf und sah aus wie eine reparierte Puppe. Ihre Wangen waren ein bisschen zu rosa, ihr Lächeln ein wenig zu fröhlich. Und wem glaubst du, dachte er, kannst du so etwas vormachen?

„Hör mal“, sagte er leise, während Flo mit den Jungen vorausging, „jetzt ,wo wir die Krise überwunden haben, bin ich sicher, dass wir zurechtkommen. Also, wenn du los willst, verstehe ich das.“

In einem Augenblick der Schwäche – und weil Flo nicht viel helfen konnte, solange ihr Handgelenk verletzt war – hatte Aidan angeboten, dass Mutter und Baby bei ihm bleiben konnten, bis Tess sicher war, dass sie allein zurechtkommen würde. Nur hatte Flo Winnie sofort gefragt, ob es ihr etwas ausmachen würde, für sie einzuspringen. Bloß für einen Tag oder zwei? Damit hatte Flo sie ganz schön in die Enge getrieben.

Aidan konnte ihr zumindest einen Ausweg anbieten.

Winnie seufzte. „Wenn du wirklich auf keinen Fall willst, dass ich hierbleibe, dann sag es einfach …“

„So habe ich das nicht gemeint.“ Er packte ihren Arm, damit sie ihn ansehen musste. „Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du vorhin abgehauen bist? Tess und das Baby, das alles hat dich doch offensichtlich mitgenommen.“

„Na und? Dann hatte ich eben einen sentimentalen Augenblick! Jetzt geht’s mir prächtig. Also hör bitte auf, da mehr hineinzuinterpretieren!“

„Und du hörst gefälligst auf, so zu tun, als ob ich blind, taub und blöd wäre!“, warf Aidan ihr an den Kopf. „Du musst nicht die ganze Zeit vorspiegeln, als ob alles wunderbar ist, Winnie! Vor allem nicht mir gegenüber!“

„Dad?“

Aidan drehte ruckartig den Kopf und erblickte Robbie am anderen Ende des Flurs. „Was macht ihr denn so lange?“

„Wir sind gleich da“, sagte Aidan. Dann sah er Winnie wieder an. „Wenn ich jemand anders um Hilfe bitten könnte …“

„Aber da gibt es niemanden, oder? Also solltest du vielleicht dankbar sein, dass ich gerade hier bin. Sonst hättest du jetzt ein echtes Problem.“

Da war er, dieser entschlossene Gesichtsausdruck, den Aidan seit neun Jahren kannte. Nur von einem anderen Gesicht. „Wir sollten besser zusehen, dass wir endlich loskommen“, brummte Aidan und schickte sich an, seinem Sohn zu folgen. Mehr als in diesem Augenblick konnte er wohl kaum in Schwierigkeiten stecken.

„Ich fürchte, da oben ist es ein bisschen staubig“, sagte Aidan auf der Wendeltreppe, die zum Loft – Junes Arbeitszimmer – führte. „Aber sonst ist es ganz in Ordnung. Zumindest für ein paar Tage.“

„Ich bin sicher, dass ich mich wohlfühlen werde.“

Als Winnie sich in dem vollgestopften, gemütlichen Raum umsah, fühlte sie sich hier oben sogar äußerst wohl. Trotz der spitzwinkligen Decke war genug Platz für einen Webrahmen, eine professionelle Nähmaschine, einen Arbeitstisch, ein Futonbett mit verschiedenen Quilts und alle möglichen Regale, die dicht an dicht mit bunten Garnen und Stoffen gefüllt waren.

Hinter sich konnte sie Aidans Anspannung spüren. Als ob sie neugierige Kinder waren, die sich herumtrieben, wo sie nichts zu suchen hatten. „Du bist seit Junes Tod nicht mehr hier oben gewesen, oder?“, fragte Winnie mit ruhiger Stimme.

„Sogar ein paar Monate länger. Flo drängt mich schon seit ewigen Zeiten, dass ich die Maschinen verkaufen und die Wolle und das ganze Zeug der Kirche fürs Frauenhaus spenden soll.“

„Würdest du irgendetwas davon jemals benutzen?“

Er lachte beinahe. „Ich? Nein.“

„Dann solltest du ernsthaft über ihren Vorschlag nachdenken“, sagte Winnie.

Von unten konnte man hören, wie die Jungen kreischten, Flo die beiden noch lauter zur Ordnung rief und Annabelle fröhlich bellte.

Als Winnie einen Augenblick später Aidans Blick begegnete, sah sie nicht den Nörgler, sondern einen einsamen Mann mit Problemen, der nach einer Antwort suchte. Auch wenn er das nicht einmal sich selbst gegenüber zugab.

Ihr Herz tat ihr weh vor Mitgefühl, denn sie wusste genau, wie ihm zumute war. „Als meine Eltern starben, war ich das unglücklichste Kind auf der ganzen Welt. Dass ich dann auch noch bei jemandem leben musste, der mich ständig als Belastung empfand und mir nicht einmal erlaubt hat zu trauern …“

Sie schüttelte den Kopf. „Also, das war die Hölle. Trotzdem ging das Leben weiter, und ich habe neue Freunde gefunden. Die Leute von der Imbissstube sind für mich zur Ersatzfamilie geworden. Aber was am wichtigsten ist … ich habe entdeckt, dass ich viel stärker bin, als ich gedacht hatte. Es ist wie in diesem alten Kirchenlied ‚Die Nacht lang weinen wir, aber die Freude kommt des Morgens zurück zu dir‘.“

„Und wenn es nie mehr Morgen wird?“

Winnie stand da und wusste nicht, ob sie Aidan umarmen oder ihm einen Nasenstüber verpassen sollte. „Es gibt immer einen neuen Morgen. Aber wenn du es nicht aus dem Bett schaffst, um das Rollo hochzuziehen, wirst du das nie herausfinden!“

Irgendwann mitten in der Nacht wachte Aidan auf. Vage bemerkte er ein silbriges Flackern am Rande seines Blickfelds. Den Geruch von Popcorn. Und ein Geräusch, als ob jemand erfolglos versuchte, Gelächter zu unterdrücken.

Er schnappte sich den Morgenmantel vom Fußende des Bettes und ging den Flur und halb die Treppe hinunter. Von dort aus konnte er sie sehen.

Winnie verschwand beinahe unter einem von Junes Quilts. Zusammengerollt saß sie in der Sofaecke, sah fern und stopfte sich dabei eine Handvoll Popcorn nach der anderen in den Mund.

Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. „Was machst du da?“, fragte er, als er den Fuß der Treppe erreichte. Sein Gast, ihr schlafender Hund und das Popcorn stoben in alle Richtungen auseinander.

„Einen Herzanfall bekommen“, antwortete Winnie und wand sich aus der Steppdecke, um das verstreute Popcorn aufzusammeln. Zumindest das, was der Hund – jetzt hellwach und eifrig bei der Sache – nicht vor ihr fand. „Du bist wie eine gottverdammte Katze, so wie du hier rumschleichst!“

„Ich bin nicht geschlichen. Und du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich konnte nicht schlafen. Da muss ein Baum oder irgendetwas an die Außenwand gleich neben dem Futon stoßen. Also bin ich runtergekommen und habe deine DVD-Sammlung durchsucht.“

Nachdem sie das Popcorn eingesammelt und wieder in die Schüssel gefüllt hatte, ließ sie sich aufs Sofa fallen und kuschelte sich wieder in die Decke. „Als ich ‚Duck Soup‘ einlegen wollte, lag schon ‚Monty Python und die Ritter der Kokosnuss‘ drin.“ Sie streckte eine Hand aus der Decke und reckte den Daumen nach oben.

„Daraus schließe ich, dass du Monty Python magst?“

„Ein Typ, mit dem ich ein paarmal ausgegangen bin, hat mich darauf gebracht. Er ist schon lange aus meinem Leben verschwunden, aber uns bleibt immer noch ‚Das Leben des Brian‘.“

Leise fing Winnie an, den Refrain von „Always Look on the Bright Side of Life“ zu singen, nur um sich gleich darauf zu unterbrechen: „Hey – wenn du schon auf bist, wie wär’s, wenn du uns noch eine Portion Popcorn machst?“

Gehorsam ging Aidan in die Küche. Aber nur, weil er selbst auch Popcorn wollte.

„Die Monty-Python-Sammlung hat June gehört“, sagte er, steckte eine Popcorn-Packung in die Mikrowelle und gab die Zeit ein. „Je bizarrer die Filme waren, desto besser haben sie ihr gefallen.“ Er drehte sich wieder um.

Winnie hatte die Decke eng um die Schultern gezogen und kletterte auf einen Barhocker auf der anderen Seite der Frühstückstheke. „June hat immer gesagt, dass sie unbedingt lachend sterben will.“

Winnie lächelte, doch dann seufzte sie. „Ganz anders als meine Großmutter. Die wollte offensichtlich, dass alle Menschen sich genauso mies fühlten wie sie.“

Sie umklammerte den Quilt, der ihr von den Schultern zu rutschen drohte. Dadurch fiel Aidan auf, um welchen es sich handelte. Winnie bemerkte seinen Blick. „Es tut mir leid … Wenn du nicht willst, dass ich die Decke benutze, dann …“

„Nein, das ist schon in Ordnung. Dafür hat June sie ja gemacht.“ Er wandte sich ab. Um das Popcorn aus der Mikrowelle zu nehmen. Um eine Schüssel dafür zu holen. Um sich von der Erinnerung abzulenken, dass dieser Quilt zu dem Bett gehört hatte, das er mit June geteilt hatte. Und daran, dass er das Ding nach Junes Tod in den Loft geschafft hatte, weil es so verdammt wehgetan hatte, allein darunter zu schlafen, ja, es auch nur anzusehen. Und von der Tatsache, dass es ihm nicht halb so viel ausmachte, diese Decke jetzt um Winnie gewickelt zu sehen, wie er gedacht hätte.

„Wer kümmert sich jetzt eigentlich um die Imbissstube, während du weg bist?“ Er schüttete das Popcorn in eine Schüssel und stellte sie in die Mitte der Theke.

„Elektra. Sie arbeitet da schon seit, herrje, lange vor meiner Zeit. Wenn du mich fragst, hätte Ida ohne sie keine Chance gehabt, den Laden am Laufen zu halten.“

Aidan holte zwei Dosen Malzbier aus dem Kühlschrank und reichte Winnie eine davon. „Dann bist du also praktisch im Diner aufgewachsen?“

Winnie fing einen Tropfen Malzbier mit ihrem Daumen auf und leckte ihn ab. „Ida hat mir klargemacht, dass ich ihr für das Dach über meinem Kopf meine Arbeitskraft ‚schulde‘. Also habe ich alles gemacht, was gerade anfiel – ich habe gekellnert, die Kasse bedient und gekocht, sobald ich alt genug dafür war. Geputzt. Zumindest, wenn ich nicht in der Schule war. Eines muss ich der Alten lassen: Sie hat darauf bestanden, dass ich meinen Schulabschluss mache.“

Sie trank einen Schluck und stieß leise auf. „Vor allem, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, dass ihre Enkelin eine Versagerin sein könnte. Aber dann bin ich natürlich schwanger geworden, und damit war ihr guter Ruf doch noch zum Teufel. Wenigstens hat die Robe für die Abschlussfeier den Babybauch verdeckt. Zum größten Teil.“

„Und … danach?“, deutete Aidan an.

Winnie steckte sich noch einen Krümel Popcorn in den Mund. „Diesen ‚Ausrutscher‘ hat sie mich nie vergessen lassen.“

„Aber sie hat dir doch immerhin erlaubt, aufs College zu gehen.“

Darauf reagierte sie mit einem trockenen Lachen. „Erst als Ida zu dem Schluss kam, dass ich mich so von meiner sündigen Vergangenheit ‚reinwaschen‘ und ihren guten Ruf wiederherstellen könnte, hat sie mir das College erlaubt.“

„Langsam fange ich an, diese Frau ernsthaft zu verabscheuen“, bemerkte er. „Und was willst du jetzt mit dem Diner anstellen, wo er dir gehört?“

„Keine Ahnung.“

„Vielleicht kannst du ja den Laden verkaufen.“

„Klar. Nenn mir nur einen Menschen, der eine runtergekommene Imbissstube mit Tankstelle am Ende der Welt kaufen würde. Und ich kann den Laden nicht einfach dichtmachen. Schließlich hängt da das Auskommen von ein paar Leuten dran.“ Winnie runzelte die Stirn. „Aber das ist mein Problem, nicht deines. Also zerbrich dir nicht den Kopf darüber, okay?“

Adrian wollte schon sagen, dass er das selbstverständlich nicht tat, als ihm klar wurde, wie nahe er dran war, nun ja, zumindest besorgt zu sein. Er wechselte das Thema. „Dann hast du deinen Collegeabschluss nie gebraucht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Als ich fertig war, sind Idas Drohungen, eines Tages krank zu werden, wahr geworden. Da hat sie darauf bestanden, dass ich auf das Geschäft aufpasse. Sogar, nachdem ich ihre Pflege fast Tag und Nacht übernommen habe.“

„Du hast gleichzeitig deine Großmutter gepflegt und ein Geschäft geführt?“

„Ist schon erstaunlich, was man alles schaffen kann, wenn man ohne Schlaf auskommt.“ Ihr Mund wurde schmal. „Das hört sich jetzt vermutlich etwas verbittert an, wie?“

„Um Himmels willen, Winnie – warum sollte es sich anders anhören?“ Sein plötzlich scharfer Tonfall ließ Winnie aufblicken. „Ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob ich dich für dein Durchhaltevermögen bewundern oder lieber übers Knie legen soll, dass du deine Interessen nicht besser durchgesetzt hast.“

Beinahe musste sie lächeln. „Ich habe mich freiwillig entschieden, meine Großmutter zu pflegen, Aidan.“

„Warum in aller Welt?“

„Weil … vielleicht, weil sie sonst niemanden hatte. Weil sie mich gebraucht hat. Und weil mich sonst niemand auf der ganzen Welt gebraucht hat.“

„Wir sind wohl heute ein bisschen pessimistisch drauf, was?“

Sie legte den Kopf schräg. „Wow. Das hört sich an, als ob da jemand richtig sauer ist.“

„Verdammt, Winnie – du hast wirklich etwas Besseres verdient. Dein eigenes Leben …“ Aidan hielt inne. Sein Herz hämmerte. Ihm war klar, dass er drauf und dran war, einen Weg einzuschlagen, von dem er gedacht hatte, dass er ihn nie wieder gehen würde. „Du hast wirklich verdient, was auch immer dich glücklich macht“, sagte er und machte damit den ersten, erschreckenden Schritt. Und dann noch einen: „Und deine Großmutter hätte dir dabei helfen sollen. Wenigstens, bevor sie krank geworden ist. Ich kann mir nicht vorstellen …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, Robbie in seiner Entwicklung einzuschränken und ihn davon abzuhalten, seine Träume zu verwirklichen. Unglaublich, wie du das alles unbeschadet überstanden hast.“

Sie lachte kurz auf. „Also, unbeschadet wohl kaum, Aidan! Ich habe Ida oft von ganzem Herzen verabscheut. Und dann gab es Zeiten, da war ich so erschöpft, dass ich ganz abgestumpft war. Aber irgendwann habe ich beschlossen“, sie unterdrückte ein Gähnen, „dass es mir auf lange Sicht eher helfen würde, mit mir ins Reine zu kommen, wenn ich Gutes tue und mich bemühe, ein guter Mensch zu sein.“

„Und? Hat das funktioniert?“

„Schon. Allerdings“, sie gähnte wieder, „waren meine Motive nicht ganz uneigennützig. Ehrlich gesagt bin ich auch bei Ida geblieben, weil ich eine winzige Hoffnung hatte, doch noch ihre Anerkennung zu erringen.“

„Mit Erfolg?“

„Wenn man bedenkt, dass sie mir alles hinterlassen hat, vermutlich schon. Ich weiß, dass man Gutes ohne Hintergedanken tun soll, aber … es wäre wirklich schön gewesen, auch nur ein einziges Mal ein ‚Danke‘ zu hören, weißt du? Oh, Gott … ich muss müder sein, als ich dachte. Ich höre mich schon wie eine richtige Heulsuse an.“ Sie rutschte von dem Barhocker. „Macht es dir etwas aus, wenn ich den Rest der Nacht auf dem Sofa verbringe? Wegen der Zweige?“

„Gar nicht.“

Winnie gähnte noch einmal. Dann drehte sie sich um und ging mit unsicheren Schritten zurück zum Sofa, wo sie sich in den Quilt kuschelte und sofort einschlief. Die DVD war immer noch auf Pause geschaltet. Annabelle sprang auf die Couch und rollte sich zu Winnies Füßen zusammen.

Eine Weile blieb Aidan stehen und beobachtete Winnie, ohne sich zu rühren. Verwirrt. Erschrocken. Warum hatte er dieses verrückte Bedürfnis, in ihre Vergangenheit einzugreifen und alles wieder in Ordnung zu bringen? Irgendwie dafür zu sorgen, dass in Zukunft alle oder doch die meisten ihrer Wünsche in Erfüllung gingen?

Das wühlte ihn mehr auf, als er zugeben wollte. Er ging zum Fernseher und schaltete das Gerät ab. Annabelle wedelte mit dem Schwanz, als er im kühlen Zimmer die Decke über Winnies Schultern hochzog. Spontan strich er Winnie eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Doch da kam angesichts dieser Anwandlung von Zärtlichkeit Ärger in ihm hoch.

Weil er zu verdammt nahe dran war, sie an sich heranzulassen und wieder etwas für eine Frau zu empfinden.

Das darf auf keinen Fall passieren, dachte Aidan, als er das Licht in der Küche ausmachte und wieder nach oben ging.

7. KAPITEL

Dank des neugeborenen Babys habe ich wenigstens keine Zeit, zu viel über launische Iren mit feurigen Augen nachzudenken, überlegte Winnie, während sie erschöpft mit Honig glasierten Schinken und mit Chilipfeffer gewürzten Käse für den Lunch auf ein Vollkornbrot türmte. Erst entrüstete der Typ sich ihretwegen ganz fürchterlich. Und dann mied er sie die nächsten zwei Tage wie die Pest.

Dazu kam noch, dass jede Minute, die sie mit Robbie verbrachte, sich anfühlte wie Salz in einer offenen Wunde. Alles in allem wurde ihr Sinn für Humor auf eine harte Probe gestellt.

Energisch zwang sie sich dazu, nicht mehr an Mr. Griesgram zu denken, und noch viel mehr, nicht eifersüchtig zu werden, wenn sie Tess mit ihren Kindern beobachtete. Jetzt fragte sie die junge Mutter – die mit der kleinen Julia in eine Sofaecke gekuschelt dasaß, während Miguel mit Robbies Riesensammlung Matchbox-Autos auf dem Boden zu ihren Füßen spielte – nach ihrem Befinden.

„Heute kann ich sogar sitzen, ohne ständig vor Schmerzen zusammenzuzucken“, erwiderte die braunhaarige Frau mit einem strahlenden Lächeln. „Das ist doch ein Fortschritt, oder?“

Winnie konnte nur nicken.

„Aber ich vermisse Rico schon sehr“, gab Tess zu, während sie mit der Hand ihres schlafenden Babys spielte.

Und Winnie dachte, dass niemand im Leben vollkommen glücklich war.

Ein paar Sekunden vergingen, dann meinte Tess: „Von der Entbindung bin ich noch ganz wirr im Kopf. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich dir schon gesagt habe, wie unermesslich dankbar ich dir für deine Hilfe bin. Du bist echt unglaublich.“ Lachend fügte sie hinzu: „Du passt wirklich fantastisch gut in dieses Irrenhaus hier!“

„Das werte ich jetzt mal als Kompliment“, lachte Winnie. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Als sie Aidan beim Frühstück gefragt hatte, wann er gerne Lunch hätte, hatte er nur geknurrt, sie sollte sich seinetwegen keine Umstände machen. Das hatte sie übersetzt als: „Nerv mich nicht“.

Flo hatte ihr bereits gesagt, wie sehr er es hasste, bei der Arbeit gestört zu werden. Es ist ja auch nicht so, dass ich das nicht respektiere, dachte Winnie, als sie sich tapfer aufmachte, um den Bären aus seiner Höhle zu locken. Aber der Mann musste doch essen. Wenigstens irgendetwas.

Ein verglaster, überdachter Durchgang verband das Atelier mit dem Haus. Auf der einen Seite davon lag der Wald, auf der anderen bot sich Winnie ein fantastischer Ausblick ins Tal. Die Tür zum Atelier stand offen. Kaltes Licht, klassische Musik und der scharfe, durchdringende Geruch von Farbe und Terpentin drangen zu ihr hinaus.

„Aidan?“, rief sie und klopfte an.

Keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür und bereitete sich innerlich darauf vor, angeknurrt zu werden. Stattdessen fand sie sich vollkommen allein in einem großen, hellen, sehr unordentlichen Raum wieder. Der Fußboden war voller Farbkleckse. Überall waren Leinwände aufgestapelt. Ein Luftzug, der durch die halb geöffnete Glastür auf der anderen Seite des Raumes hereinwehte, kühlte ihr Gesicht.

Als unbefugter Eindringling eilte sie durchs Zimmer und achtete nicht auf die Gemälde. Außerdem hatte sie sowieso keinen blassen Schimmer von Kunst. Die Glastür führte auf eine Art Terrasse hinaus, die mehr schlecht als recht mit Steinplatten gefliest war.

Aidan war allerdings nirgends zu sehen. Winnie zog ihr Kapuzenshirt enger über ihrem dünnen Top zusammen und rief erneut nach ihm. Nichts. Dann kannst du von mir aus auch verhungern, dachte sie und ging wieder hinein.

Und verschluckte sich plötzlich beinahe an der eigenen Spucke.

Die Landschaft war atemberaubend. Die zerklüfteten Berge, die im Licht der untergehenden Sonne erglühten, setzten sich scharf vom tosenden Graublau des stürmischen Himmels ab. Die gegensätzlichen Schattierungen prallten in riesigen, rauen Flächen dicker Farbe aufeinander.

Wow, dachte Winnie. Also hier ist sein ganzes Testosteron abgeblieben …

„Was machst du hier?“

Erschrocken fuhr Winnie herum. Beim Anblick von Aidans wütend blitzenden grünen Augen begann ihr Herz wie wild zu klopfen. Er trug ein zerlumptes Sweatshirt und Jeans. Beide Kleidungsstücke waren mit Ölfarbe verschmiert. Vor zwei Tagen hatte er sich zwar sogar rasiert, aber ein Bartschatten war schon wieder sichtbar. „Ich bin nur reingekommen, um dir zu sagen, dass das Essen fertig ist.“

„Und ich habe gesagt, du sollst dir keine Mühe machen.“

Winnie ignorierte ihn. Stattdessen wandte sie sich wieder der Leinwand zu. „Wow. Wie heißt das Bild?“

„Sonnenuntergang über dem Jemez.“

„Oh. Ich hätte eher an was in der Art gedacht wie, ich weiß nicht … wütender Sex?“

„Was?“

Sie drehte sich um und verspürte mehr als bloß ein bisschen Befriedigung angesichts seines verdutzten Gesichtsausdrucks. „Sorry. Aber das war mein erster Gedanke, als ich es gesehen habe.“

Es dauerte eine Weile, aber schließlich siegte die Verwunderung über seinen Ärger und seinen Schock. Er fuhr sich mit einer kräftigen, farbverschmierten Hand durchs weiche, zottelige Haar. Das war eine Geste, die Winnies Hand zum Kribbeln brachte.

„Du sprichst wohl immer aus, was dir gerade durch den Kopf geht, was?“ Dann musterte er das Bild mit zugekniffenen Augen und seufzte. „So sehen die momentan alle aus.“

„Wie wütender Sex?“

„Ich hatte das bisher noch nicht so konkret in Worte gefasst, aber … ja.“

Dann ließ er seinen grüblerischen Blick über sie gleiten, und sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Oh, verdammt. „Gott sei Dank sind meine Kunden nicht annähernd so tiefsinnig wie du.“

„Oh, ich weiß nicht“, sagte Winnie. Dabei dachte sie: Du hast selbst schuld. Warum musstest du auch unbedingt losziehen, um ihn zum Lunch zu holen? „Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als von einem Landschaftsgemälde erregt zu werden. Das ist doch eine ganz neue Perspektive, was erotische Kunst angeht, oder?“

Aber anscheinend war der unbefangene Moment vorbei, und Aidans innere Dämonen waren wieder aufgetaucht.

Winnie wusste genau, dass es falsch war, sich deswegen zu ärgern. Manche Menschen konnten nun einmal nicht aus ihrer Haut. Aber es nervte sie trotzdem.

Aidan hätte erkennen müssen, dass er ihr nicht einfach aus dem Weg gehen und so die Qual beenden konnte, sich etwas zu wünschen, was für ihn unerreichbar war. Und dabei ging es ihm nicht nur um die Nähe und die Wärme von zwei nackten Körpern – auch wenn ihn dieser Gedanke in den letzten beiden Nächten mehr als einmal beim Schlafen gestört hatte.

Nein, er sehnte sich nach ihrer unbezähmbaren Persönlichkeit, nach ihrer Stärke und ihrer Ehrlichkeit; nach ihrer Entschlossenheit, seine abgestorbene Seele wiederzubeleben. „Möglicherweise können nicht alle Menschen die ganze Zeit solche Frohnaturen sein wie du.“

Winnie warf ihm einen finsteren Blick zu.

Aidan versuchte zu ignorieren, wie das Licht aus den Deckenfenstern über ihr glänzendes Haar strömte und ihre Schultern, Brüste und langen Beine umschmeichelte. Das alles erinnerte ihn viel zu sehr daran, wie lange es her war, seit er eine Frau berührt hatte.

„Es besteht ein Unterschied dazwischen, sich mit seinem Schmerz auseinanderzusetzen und sich darin zu suhlen. Ich habe das Gefühl, du fürchtest dich davor, wieder glücklich zu sein.“

Schwer atmend betrachtete Aidan das Gemälde, wie seine ganze unbefriedigte, wütende sexuelle Energie auf der Leinwand pulsierte. Nur June hatte gewusst, wie sehr ihn seine Arbeit erregte, und den Mut gehabt, ihn wegen seiner Launen ins Gebet zu nehmen. Nur sie hatte die Geduld gehabt, ihn aus der Reserve zu locken. Wie konnte eine andere Frau so mutig sein …

„Du kennst mich nicht“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Du kennst mich überhaupt nicht.“

„Glaubst du. Wenn du dich da bloß nicht irrst“, sagte Winnie.

Sein Blick begegnete ihrem, und Einsamkeit und lang unterdrückte Bedürfnisse schlugen ihm so heftig entgegen, dass er die Hände zu Fäusten ballte. Sie konnte unmöglich wissen, warum er sich die vergangenen zwei Tage so oft in seinem Atelier verkrochen hatte. Weil es für ihn nahezu unerträglich geworden war, ihr Lachen zu hören und sie mit dem Baby und Miguel und Robbie zu beobachten.

Oh, Aidan hatte seine sterbende Ehefrau natürlich mit halbherzigen Versicherungen beschwichtigt, dass er zumindest für den Gedanken offen war, wieder eine Partnerin zu finden. Obwohl er wusste, wie unwahrscheinlich es war, einem zweiten Menschen zu begegnen, der ihn so verstand wie June.

Es war ja schon schlimm genug, dass Winnie mit ihrem unerschütterlichen Optimismus das Glas stets halb voll sah. Und ihre unermüdliche Fröhlichkeit tat ein Übrigens, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Aber wie sie gleichzeitig mühelos seinen Wesenskern erfasst hatte …

„Ich kann mich nicht ändern, bloß um dir einen Gefallen zu tun“, sagte er. Aber er sah sie nicht an.

„Als du mich mit June vor der Geburt besucht hast, um mich kennenzulernen, da konnte ich wahrscheinlich nicht klar denken. Aber nur weil ich wütend und verwirrt und verängstigt war, heißt das noch lange nicht, dass ich euch beide nicht genau beobachtet habe, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was ihr für Menschen seid. Was für Eltern ihr sein würdet …“

„Ich weiß, dass …“

„Lass mich ausreden. Ich bin noch nicht fertig. Du hast sicherlich nicht gewusst, dass ich vorher eine Liste mit Eigenschaften aufgestellt hatte, die mir wichtig waren …“

„Wie Reichtum?“

„Nein“, sagte sie übertrieben geduldig. „Und du hast mich gerade schon wieder unterbrochen. Ich rede von Eigenschaften wie Liebenswürdigkeit. Anstand. Großzügigkeit. Aber weißt du, was ganz oben auf der Liste stand?“ Als er den Kopf schüttelte, antwortete sie: „Sinn für Humor. Ich wollte sicher sein, dass mein Baby in einem fröhlichen Zuhause aufwächst. Und bei eurem Besuch … woran ich mich am meisten erinnere, ist, wie viel ihr gelacht habt.

Ich weiß, dass Junes Tod dich total umgehauen hat“, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, „aber es ist allerhöchste Zeit, dass du dich wieder aufrappelst. Lass deinen Frust an deinen Bildern aus, so viel du willst. Aber nicht an Robbie. Und auch nicht an dir selbst. Ich bin mir nämlich sicher, dass er seinen alten Dad wiederhaben will …“

„Das habe ich doch versucht, Winnie!“, schleuderte Aidan ihr entgegen. „Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, sich mir anzuvertrauen. Aber er wollte nicht. Was soll ich denn deiner Meinung nach noch alles tun?“

„Gib dir mehr Mühe“, sagte sie, drehte sich um und verschwand.

Und mit ihr die Großzügigkeit, Gutmütigkeit und Gradlinigkeit, die Aidan so schmerzhaft an sein früheres Leben erinnerten. Bevor ein Haufen außer Kontrolle geratener, mutierter Zellen ihn gelehrt hatte, wie grausam und launenhaft das Schicksal sein konnte.

Das alles versetzte ihn in eine noch miesere Stimmung als vor ihrer Ankunft.

Denn in nur vier Tagen hatte Winnie Porter es geschafft, seine Welt völlig auf den Kopf zu stellen, verdammt noch mal … genau wie June vor all den Jahren.

Sein Magen meldete sich vernehmlich. Aidan schaute zur Tür. Fast konnte er hören, wie ihn June ziemlich unsanft wegen seiner chronischen Sturheit tadelte.

Als Aidan die Küche betrat, sah Winnie hinter der Frühstückstheke zu ihm auf. Ihre Überraschung wich einem einladenden, ehrlichen Lächeln, das ihn an ein anderes Lächeln erinnerte, dem er auch nicht hatte widerstehen können. Und das er immer noch jeden Tag vermisste.

Noch während des Essens wurde ihm klar, dass er mehr Abstand von diesem Wahnsinn brauchte, als er in seinem Atelier finden konnte. Wie es der Zufall wollte, fingen alle drei Frauen an, darüber zu reden, dass sie dies und jenes brauchten. Aidan ergriff die Gelegenheit beim Schopf und schlug vor, für die drei einkaufen zu gehen.

Ein Angebot, das seiner Haushälterin beinahe einen Schock versetzte. „Seit wann haben Sie denn Ihre Allergie gegen das Einkaufen überwunden?“

„Seit ich Robbie sowieso abholen muss“, erwiderte Aidan. Als er die verschiedenen Einkaufslisten einsammelte und in die Tasche seiner Jeansjacke stopfte, wich er Winnies Blick aus. „Soll ich Miguel mitnehmen? Dann seid ihr Frauen ungestört.“

Gerade als Aidan auf dem Parkplatz von Garcia’s den Motor ausgemacht und er mit Miguel zusammen Robbie von der Schule abgeholt hatte, parkte ein hellroter Pick-up zwei Parkplätze neben ihm.

Eine Sekunde später kletterte Rachel Griego aus dem Auto und marschierte zum Laden, den Rucksack über die Schultern geschlungen. Wenn Aidan Glück hatte, würde ihr Vater Johnny ihn nicht bemerken …

„Hey, Johnny!“, rief Robbie, kletterte aus dem Truck und rannte davon, um Aidans bestem Freund in Tierra Rosa die Hand zu schütteln. Einem Freund, den Aidan seit Monaten nicht getroffen hatte. Er hatte allerdings auch keinen Kontakt zu ihm gesucht.

Aber Johnny Griego ließ sich nicht so leicht von mürrischen Iren abwimmeln. Dem Pferdezüchter und -trainer hatte es noch nie etwas ausgemacht, Aidan so zu nehmen, wie er nun mal war. „Meine … Güte“, sagte Johnny jetzt. Seine dunklen Augen strahlten, während er Aidan breit anlächelte. „Ich habe schon gedacht, du hast dich in Luft aufgelöst. Und jetzt sehe ich dich gleich zweimal in einer Woche hier in der Stadt.“

Aidan runzelte die Stirn. „Du hast mich gesehen?“

„Ja, im Café, neulich Morgen. Du warst mit einer Blondine da.“ Er verstrubbelte Robbies Haar. „Was für ein weltbewegendes Ereignis führt dich von deinem Berg ins Tal herunter, um dich unter uns Normalsterbliche zu mischen?“

„Frauen und ihre Einkaufslisten“, knurrte Aidan und zog die Listen aus seiner Tasche.

„Frauen? Mehr als eine?“

„Flo hat sich das Handgelenk verstaucht, gerade als bei Tess die Wehen einsetzten. Deshalb spiele ich jetzt für eine Woche oder so Krankenschwester, bis es einer von ihnen oder allen beiden besser geht.“

Johnnys Lächeln verwandelte sich in ein spitzbübisches Grinsen. „Ach?“

„Ich habe aber Unterstützung“, sagte Aidan und musste sofort denken: Wie soll ich ihm das bloß erklären?

„Die Blondine?“

Aidan zuckte zusammen. „Woher …?“

„Wir leben hier in einem Dorf“, meinte Johnny schulterzuckend. „So etwas spricht sich rum. Scheint ein nettes Mädchen zu sein, dein Gast, was man so hört. Wie heißt sie doch gleich?“

„Sie heißt Winnie!“, warf Robbie ein und strahlte. „Sie kann Pizza machen! Und Toffee!“

„Dann ist sie Gold wert“, sagte Johnny und wandte sich wieder an Aidan. „Alle wundern sich nur, warum in aller Welt jemand zum Urlaub ausgerechnet nach Tierra Rosa kommt. Ich meine ja nur.“ Er nahm seinen Cowboyhut ab und fuhr sich durchs dicke dunkle Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde. „Wir sind nicht unbedingt eine Touristenhochburg.“

„Da war wohl so ein Artikel in einer Zeitschrift“, antwortete Aidan und zuckte ebenfalls die Schultern.

„Dad?“, fragte Robbie und zupfte ihn am Ärmel. „Gehen wir irgendwann mal wieder zum Reiten?“

„Klar“, sagte Aidan und lächelte gezwungen. „Irgendwann.“ Als Aidan gerade die Flucht ergreifen wollte, hielt ihn sein Freund auf. „Übrigens muss ich sowieso mit dir sprechen. Über die Pferde. Hast du einen Augenblick Zeit?“

Aidan wandte sich an seinen Sohn. „Wie wär’s, wenn du mit Miguel schon mal reingehst und dir ein Eis aussuchst?“

Als die beiden Jungen in den Laden gestürmt waren, sah Aidan wieder zu Johnny. In seinen braunen Augen zeichnete sich eine Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis ab. „Den Pferden geht’s doch hoffentlich gut, oder?“

„Ja, klar, denen geht’s prima“, sagte Johnny.

„Wo liegt dann das Problem?“

„Du weißt verdammt genau, was das Problem ist. Hin und wieder versuchen wir sie zu reiten. Aber es ist einfach nicht dasselbe, wie wenn du mit dem Jungen rauskommst, so wie früher. Die Pferde vermissen dich.“

Da Aidan seine ganze Kindheit mit Pferden verbracht hatte, wusste er, dass es keinen Sinn hatte, Johnnys Worte abzustreiten. Trotzdem … „Ich habe einfach die Lust am Reiten verloren, das ist alles.“

„Und das verstehe ich auch. Aber Robbie ist ein Naturtalent. Begabter, als meine eigene Tochter es jemals war, so viel steht jetzt schon fest. Es wäre eine Schande, diese Begabung im Keim zu ersticken.“

Aidan rieb sich über den Mund. Seine Bartstoppeln kratzten an der Handfläche. „Ich werde ihn bald mal wieder vorbeibringen. Versprochen.“

„Und was ist mit dir?“ Als Aidan nicht antwortete, fuhr Johnny fort: „Ich habe diesen Kunden, der sich nach Maggie erkundigt hat. Er ist auf der Suche nach einem großen, gut zugerittenen Pferd für seine Tochter. Die ist vierzehn und …“

„Maggie ist nicht zu verkaufen“, fuhr Aidan ihn an. „Und ich will nichts mehr davon hören. Ist das klar?“

Johnny verschränkte gelassen die Arme über seiner Jeansjacke und sah Aidan direkt in die Augen. „Völlig klar. Und wie schon gesagt, du weißt, dass ich mich so gut um sie kümmere, wie ich nur kann. Aber ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich sage …“ Er holte tief Luft. „Mein Freund, das Leben geht weiter … Robbie ist gerne geritten, Aidan. Du bist gerne geritten. Und June auch. Also verdammt noch mal – wozu soll es gut sein, wenn du dir und deinem Kind etwas vorenthältst, was euch glücklich macht?“

„Glücklich gemacht hat, Johnny. Das war einmal.“

Eine Zeit lang starrten sie sich gegenseitig an. Dann schüttelte Johnny den Kopf, ging zu seinem Truck zurück, stieg ein und fuhr davon.

„Dad?“, fragte Robbie und streckte den Kopf zur Ladentür heraus. „Miguel will auch ein Eis für seine Mom mitnehmen. Ist das okay?“

„Aber sicher“, sagte Aidan. Als er in den Laden ging und seine Einkäufe tätigte, versuchte er die Unterhaltung zu vergessen.

Aber das Gespräch blieb ihm wie eine hartnäckige Klette im Gedächtnis hängen.

„Ich frage mich, was für eine Laus ihm jetzt wieder über die Leber gelaufen ist“, murrte Flo, als Aidan fast zwei Stunden später wieder nach Hause kam.

Er ging in die Küche und packte seine Einkäufe aus. Tatsächlich wirkten seine Bewegungen heftiger als sonst. Plötzlich drehte er sich zu Winnie um und fragte: „Reitest du?“

„Was?“

„Kannst du reiten? Ich spreche von Pferden“, fügte er gereizt hinzu, als ob sie hoffnungslos schwer von Begriff war. Wenn er nicht so unglaublich frustriert ausgesehen hätte, hätte sie vielleicht an seinem Verhalten Anstoß genommen. „Es ist schon eine Weile her, aber ja …“

„Gut. Ich habe einige Pferde auf einer Ranch in der Nähe. Die müssen ausgeritten werden. Wir nehmen die Jungs mit, damit Flo und Tess sich nicht um die beiden kümmern müssen. Übermorgen“, fügte er hinzu. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Einkaufstüten und polterte zur Küche hinaus.

Winnie drehte sich zu Flo um. „Er hat Pferde?“

Als Flo aufblickte, hatte sie Tränen in den Augen. „Miss June und er sind fast jedes Wochenende ausgeritten. Sie haben auch ein Pony für Robbie. Aber als Miss June dann zu krank war, ist der Boss auch nicht mehr reiten gegangen. Nicht ein einziges Mal. Soviel ich weiß, hat er seither kein einziges Mal nach den Pferden gesehen.“

„Oh“, sagte Winnie, gefolgt von einem zweiten, bedeutungsschweren „Oh!“, als ihr die Tragweite der Situation bewusst wurde. Nur dass …

„Ich bin gleich wieder da.“

Sie fand Aidan auf der hinteren Veranda, wo er die ersten Anzeichen des Sonnenuntergangs mit finsteren Blicken bedachte.

„Da, wo ich herkomme“, sagte Winnie und brachte ihn dazu, sich zu ihr umzudrehen, „ist es üblich, dass man eine Frau fragt, ob sie Lust hat, etwas zu tun. Wie zum Beispiel reiten zu gehen. Also.“ Sie verschränkte die Arme. „Wollen wir das Ganze noch einmal versuchen?“

Aidan schaute wieder zur untergehenden Sonne zurück. „Ich habe daran gedacht, am Sonntag auszureiten. Hättest du vielleicht Lust mitzukommen?“

„Liebend gerne“, sagte Winnie, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.

8. KAPITEL

„Weißt du“, sagte Winnie freundlich, während sie auf dem Rücken von Junes riesiger Stute gemächlich den sonnigen Waldweg entlangtrabte, „du könntest wenigstens so tun, als ob du Spaß hast.“

Aidan hielt Miguel sicher vor sich im Sattel von Strike. Jetzt sah er zu Winnie. Unter der breiten Krempe ihres Hutes erhaschte er einen Blick auf ihre Augen, in denen ihr schelmischer Humor funkelte. Er starrte wieder geradeaus. „Ich amüsiere mich großartig. Merkst du das denn nicht?“

„Wie sollte ich?“, gab sie zurück. Dann zuckte sie zusammen, als das Pferd eine leichte Steigung nahm. „Oh, du lieber Himmel … das wird mir morgen noch leidtun. Da werden bei mir Körperteile gedehnt, von denen ich schon gar nicht mehr wusste, dass ich sie habe.“

„Dann lassen wir es langsam angehen“, meinte Aidan. „Ich hatte sowieso nicht vor, etwas Anstrengendes zu unternehmen, wo die Kinder dabei sind.“

Der Pfad war wirklich mehr als anspruchslos. In sanften Serpentinen führte er den Berghang hinauf zu einer Lichtung mit einer wunderbaren Aussicht, wo sie Picknick machen und dann wieder zurückreiten würden.

Robbie ritt auf seinem Apfelschimmelpony namens Patches, für das er schon fast zu groß war, ein kurzes Stück vor ihnen her. „Miguel! Da sind Kaninchen!“, rief Robbie ihnen zu. Dadurch scheuchte er natürlich die Tiere zurück ins Dickicht. Aber der Vierjährige schnappte begeistert nach Luft … und Aidan wurde es warm und gleichzeitig weh ums Herz, als er sich an Ausritte mit Robbie erinnerte, als sein Sohn noch klein war, und an all das, was diese Erinnerung in ihm aufwühlte.

Stirnrunzelnd drehte er sich um, weil er sich daran erinnerte, dass er auch ein Auge auf Winnie haben sollte. Sie hatte das letzte Mal als Teenager auf einem Pferd gesessen.

An diesem Tag war die Sonne sogar hier oben noch warm. So sehr, dass Winnie ihren Pulli ausgezogen und um die Taille gebunden hatte. Ihr langärmeliges Strickhemd hatte sie noch einen Knopf weiter geöffnet. Das Haar hatte sie unter den Reiterhelm gestopft …

Komisch, ihm war noch nie aufgefallen, was für einen langen, schlanken Hals sie hatte. „Du hast einen guten Sitz“, sagte er und schaute weg.

„Wie bitte?“

„Im Sattel. Deine Körperhaltung. Du siehst nicht aus, als ob du fünfzehn Jahre nicht im Sattel gesessen hast.“

„Der Eindruck täuscht. Wie kommt es eigentlich, dass du reitest?“

„Meine Eltern züchten Vollblüter. Ich bin schon geritten, bevor ich laufen konnte.“

Er spürte, wie ihr Blick zu Robbie wanderte. „Robbie hat erzählt, dass er sie nur ein paarmal getroffen hat.“

Einen Moment oder zwei war nichts zu hören außer dem Hufgetrappel der Pferde und dem Brummen eines Sportflugzeugs über ihnen.

Dann sagte Winnie ruhig: „Ich weiß, es nervt dich tierisch, dass ich so entschlossen bin, positiv zu denken. Aber ich gehe nun mal den Leuten lieber mit meiner Fröhlichkeit auf den Geist, als mit ihnen Trübsal zu blasen.“

„Deine Fröhlichkeit geht mir nicht auf die Nerven, Winnie“, erklärte er gereizt.

„Du bist einfach unglaublich“, sagte sie.

Ihr verdammtes Lachen war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören, als sie ihren Hut ins Gesicht schob, um die Augen besser vor der Sonne zu schützen.

„Dad?“, rief Robbie über seine Schulter zurück. „Können wir bald anhalten? Meine Beine tun weh.“

„Wir sind gleich da. Siehst du die Lichtung da vorne?“

Als sie anhielten, saß Aidan ab und half dann dem kichernden Miguel vom Pferd, der sofort zusammen mit Robbie in das lichte Wäldchen neben dem Pfad rannte.

„Hast du vor, da oben zu bleiben?“, fragte Aidan, während er Strike lose an einer nahen Lebens-Eiche festband.

Sie presste die Lippen zusammen. „Ich glaube, meine Beine sind an dem Pferd festgewachsen.“

„Na, dann komm“, sagte Aidan und streckte die Hände nach ihrer Taille aus. „Du musst die Füße aus den Steigbügeln nehmen …“

„Ja, ich glaube, daran kann ich mich gerade noch erinnern“, sagte sie trocken und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Schultern ab, damit er sie vom Pferd heben konnte. Doch sobald ihre Füße den Boden berührten, knickten ihr die Knie ein.

Aidan hielt sie natürlich fest. Bei einer Szene wie aus einem kitschigen Liebesfilm mache ich aber nicht mit, dachte er, gerade als Winnie anscheinend das Gleiche durch den Kopf ging. Jedenfalls versuchte sie, sich von Aidan abzustoßen. Nur Maggie – die sich normalerweise niemals bewegte, wenn ihr Reiter beim Absteigen war – verlagerte ihr Gewicht nach links und schubste Winnie wieder direkt in seine Arme.

Merkwürdigerweise hatte er längst nicht so viel Lust, Winnie loszulassen, wie er gedacht hatte.

Noch seltsamer war jedoch, dass es Winnie anscheinend genauso ging. Sie war allerdings mehr oder weniger zwischen dem Pferd und ihm eingeklemmt, sodass sie nicht anders konnte, als sich auf seine Brust zu stützen.

Trotz des Pferdegeruchs nahm Aidan Winnies Duft nach Shampoo und Seife und Holzrauch wahr … Dann spürte er, wie sie sich anspannte. Mit einem fragenden Ausdruck in den Augen blickte sie ihn an … und er lächelte. „Verdammtes Pferd“, sagte er mit sanfter Stimme.

Sie erwiderte sein Lächeln.

In ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie sich nicht wehren würde, wenn er sie jetzt küsste.

Der Schreck über diese Erkenntnis fuhr ihm durch alle Glieder. Er wich zurück und ließ sie los.

Eine halbe Stunde später, als Winnie von dem glitzernden Bach jenseits der Lichtung zurückkam, wünschte sie sich, die Erinnerung an den Beinahe-Kuss so leicht abschütteln zu können wie das Wasser von ihren Händen. Zwar könnte sie ihre weichen Knie damit erklären, dass sie so lange nicht mehr im Sattel gesessen hatte. Aber eigentlich hatte das Pferd nicht viel damit zu tun.

Und der Himmel wusste, dass das Pferd rein gar nichts mit den Schmetterlingen in ihrem Bauch und ihren prickelnden Lippen zu tun hatte. Gar nicht zu reden von anderen Körperteilen, die nur allzu bereit für Spiel und Spaß waren …

Oh Mann.

Hinter ihr kreischten und quietschten die Jungen, unterstützt von Annabelles begeistertem Gebell, während sie Steine übers Wasser hüpfen ließen. Obwohl sich ihre Beine fast wieder normal anfühlten, ließ Winnie sich dankbar auf den Boden fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen knorrigen Baumstamm.

In einer Entfernung von ungefähr fünf Schritten hatte sich Aidan ebenfalls an einen Baum gelehnt. Die Beine ausgestreckt, die Hände über dem Bauch gefaltet, hatte er sein Gesicht der Sonne zugewandt.

Er denkt wahrscheinlich an das letzte Mal, als er mit June hier oben war, vermutete Winnie. Das stimmte sie überraschend traurig, wenn man bedachte, dass sie ein Eindringling war.

„Hast du dich inzwischen ein bisschen erholt?“

„Mehr oder weniger.“ Sie betrachtete ihn von der Seite. Er hatte die Augen immer noch geschlossen. „Du siehst jetzt fast … friedlich aus.“

„Das ist nur das Licht“, behauptete er und fasste sich ans Kinn, um sich die Bartstoppel zu kratzen und dann die Hände wieder zu falten. „Das geht vorbei.“ Er grinste. Mit Grübchen und allem Drum und Dran.

Sie zögerte. „Übrigens … Ich bin echt stolz auf dich.“

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Stolz?“

„Dieser Ausflug, das ist bestimmt nicht einfach für dich.“

„Ich musste es tun“, sagte er nach einer langen Pause und machte die Augen auf. „Auch wenn ich das nicht zugeben wollte.“ Dann meinte er: „Aber für dich kann das auch nicht leicht sein, Robbie zu beobachten … Warum ist es eigentlich so verdammt schwierig, unsere Ängste zuzugeben, verdammt noch mal?“

„Vielleicht … muss man erst den richtigen Menschen finden, dem man sie anvertrauen kann“, sagte sie.

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie sich sein Mund grimmig verzog. Und wenn du weiter so mit mir redest, dachte sie, dann verliebe ich mich noch in dich. Und wo soll das nur hinführen?

Sie hatte schon einige Beziehungen mit Männern gehabt, die nicht gut für sie waren. Wenn sie ehrlich war, hatte es sich meistens von Anfang an falsch angefühlt.

Aber dieser Mann hier, der war echt. Ja, vielleicht hatte er ein paar Schrauben locker, aber bei wem war das schon anders? Und überhaupt, lockere Schrauben musste man einfach nur festziehen. Das war alles. Abgesehen davon war er so solide wie ein Fels. Genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, wurde ihr mit einem Mal schmerzhaft klar.

Hier saß sie also, und zwar neben jemandem, der sich richtiger anfühlte als jeder andere Mann, den sie zuvor getroffen hatte … und der zweifellos alles war, aber nicht der Richtige.

Plötzlich sagte er etwas, was sie beinahe umhaute: „Ich habe nachgedacht, wie wir Robbie die Wahrheit sagen könnten.“

„Die Wahrheit? Du meinst, über …“

„Ja.“

„Wann hast du deine Meinung geändert?“

„Ich habe nie geglaubt, dass wir es lange geheim halten können“, sagte er und spielte mit einem langen, trockenen Grashalm herum. „Wir müssen nur noch die günstige Gelegenheit und die richtigen Worte finden.“

Wärme durchströmte Winnie, und sie blickte zum Bach. „Das überlasse ich ganz dir. Aber dir ist klar, dass ich übermorgen abreise, oder?“

„Übermorgen?“

„Flo erholt sich schnell, und Tess meint, sie ist so weit, dass sie nach Hause kann. Es gibt keinen Grund für mich, noch länger hierzubleiben.“

Aidan wandte sich ab und starrte geradeaus. „Ich sage dir Bescheid, wenn ich weiß, wie und wann ich es ihm sage.“

„Gut.“ Dann fragte sie: „Wie hast du June eigentlich kennengelernt?“

Als einige Augenblicke verstrichen waren, ohne dass er antwortete, drehte sie sich zu ihm um. Er betrachtete sie, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Ich habe gedacht, hier geht es darum, dass ich darüber wegkommen soll?“

„Und wann begreifst du endlich, dass man über so einen Schicksalsschlag wegkommt, indem man darüber redet? Ich bin … froh, dass ich dich ein bisschen besser kennengelernt habe. Wegen Robbie, weißt du? Also, wenn June hier wäre …“ Dann würde ich mich jedenfalls nicht in dich verlieben, verdammt noch mal. „Wenn June noch am Leben wäre, dann würde ich sie gerne auch besser kennenlernen. Das ist alles, was ich sagen will. Und jetzt“, sie nahm einen Apfel, der vom Picknick übrig war und biss hinein, „bist du dran.“

So war das nicht gedacht. Du solltest dich nicht so verdammt gut in ihrer Gesellschaft fühlen, dachte Aidan. Es sollte sich nicht so anfühlen wie … jedenfalls nicht so.

Dann tu einfach, worum sie dich gebeten hat, überlegte er, und rede über June. Die Erinnerungen werden Winnie aus deinen Gedanken vertreiben. „Vor fünfzehn Jahren“, begann er, „habe ich in Dublin gelebt. Du weißt schon, die ganze Geschichte mit der sogenannten brotlosen Kunst.“ Er rieb sich den Nacken. „Meine Eltern hatten mich mehr oder weniger enterbt, weil ich mich für die Kunst und gegen die Pferdezucht entschieden hatte.“

„Oh nein …“

„Inzwischen haben wir uns versöhnt – wegen Robbie – aber eine Zeit lang stand das echt auf Messers Schneide. Jedenfalls … June und eine Freundin hatten eine Rundreise durch die britischen Inseln gemacht. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin ihr zufällig in einem Pub begegnet. Ehrlich gesagt hatte ich nicht viel übrig für die Amerikaner, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Aber sie war anders. Und sie hat mich sofort fasziniert. Mehr als jede andere Frau, die ich je getroffen hatte. Natürlich habe ich mich wie ein Idiot gefühlt, als mir der Altersunterschied zwischen uns klar wurde. Aber …“

Er lachte leise. „Aus irgendeinem Grund hat sie mich nie als Jungspund betrachtet. Und ich habe ihr Alter überhaupt nicht wahrgenommen.“ Er sah Winnie an. „Ihre Freundin ist weitergereist. June ist dageblieben. Zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung haben wir geheiratet.“

Gelächter klang vom Bach zu ihnen herauf und unterbrach Aidans Gedankengang. Er drehte sich um, und nur einen Augenblick später kletterten die Jungen und der Hund den Hügel herauf. Alle drei waren nass und schmutzig. Sie zitterten vor Kälte, aber sie strahlten übers ganze Gesicht.

„Annabelle hat uns mit Wasser bespritzt!“, rief Robbie. Er konnte kaum still stehen, weil er so lachen musste.

Aidan sog heftig den Atem ein. Vor ein paar Minuten hatte er ein Versprechen abgegeben, das höchstwahrscheinlich die Welt seines Sohnes auf den Kopf stellen würde. Lange bevor Robbie oder Aidan dafür bereit waren.

„Ja“, fügte Miguel hinzu und nickte heftig mit dem Kopf. Er lächelte noch breiter als sein neuer bester Freund. „Mann, wir sind total nass!“

Annabelle bellte fröhlich. Dann schüttelte sie sich noch mal und schleuderte Schlamm in alle Richtungen.

Lachend holte Winnie trockene Kleidung für die Jungen aus ihrer Satteltasche. „Irgendwie hatte ich so eine Ahnung, dass ich ein paar Extraklamotten für euch zwei mitnehmen sollte“, sagte sie. Das Sonnenlicht schimmerte in ihrem Haar, als sie Robbie saubere Sachen zuwarf. Dann kniete sie sich hin, um Miguel beim Umziehen zu helfen.

„Hilfe!“, ertönte ein erstickter Schrei. „Kann mir mal jemand helfen? Ich stecke fest!“

Aidan kümmerte sich um Robbie, der im Kreis herum stolperte. Sein Kopf war nicht zu sehen, während er mit seinem feuchten Kapuzenshirt kämpfte. Aidan packte den herumwirbelnden Derwisch und zerrte ihm das Shirt über den Kopf. Mit glühenden Wangen grinste Robbie ihn glücklich an.

„Das war der schönste Tag in meinem Leben!“, rief er mit der gedankenlosen Ehrlichkeit eines Kindes, um dann – sobald er wieder angezogen war – zusammen mit Annabelle und Miguel auf der Suche nach neuen Abenteuern davonzurennen.

Aidan drehte sich um und beobachtete, wie Winnie den beiden Jungen versonnen nachsah.

„Es wird Zeit umzukehren“, sagte er, und sie fuhr herum.

Immer noch lächelnd kam sie zu ihm. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich wieder um und rief so laut nach den Jungen und dem Hund, dass die Vögel aus den Baumwipfeln aufflogen.

9. KAPITEL

„Oh mein Gott, Elektra … das ist nicht dein Ernst?“

„Doch, Winnie, mein voller Ernst! Unglaublich, was? Ich habe sechzigtausend Dollar gewonnen!“

Winnie lächelte und rollte sich auf dem Futon im Loft auf die andere Seite. „Nach all den Jahren, Elektra. Da hat sich der Geburtstag deiner Mutter doch noch rentiert.“

„Aber das ist ja das Komische“, sagte Elektra. „Ich habe gar nicht ihren Geburtstag getippt. Ich war dabei, meine Zahlen einzusetzen, so wie immer, da kam mir auf einmal eine völlig neue Zahlenfolge in den Sinn. Einfach so, aus dem Nichts. Und richtig eindringlich, als ob sie mir jemand ins Ohr flüstern würde. 11, 12, 19, 30, 4.“

Winnies Hand krampfte sich um das Telefon. „Was hast du gesagt?“

„11, 12, 19, 30, 4. Warum?“

„Lieber Himmel, Elektra … Das ist Miss Idas Geburtstag.“

„Was? Ach du heiliger Strohsack …“

Mindestens zehn Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Dann brach es aus Elektra heraus: „Meinst du, das ist so etwas wie eine Nachricht aus dem Jenseits?“

„Also, ich glaube, das ist einfach nur ein gruseliger Zufall. Mehr nicht.“

„Du klingst aber nicht sehr überzeugt.“

Winnie seufzte. „Ich weiß in letzter Zeit sowieso nicht mehr, was ich überhaupt noch glauben soll. Was willst du denn mit dem Geld anfangen?“

„Ich habe keine blasse Ahnung. Vielleicht kannst du mir einen Rat geben, wenn du wieder da bist?“

„Aber sicher“, versprach Winnie. Lächelnd streichelte sie Annabelles zotteliges Fell. „Nur noch ein paar Tage, dann komme ich zurück …“

Sie klappte das Telefon zu. Für Aidan und Robbie hatte der vergangene Tag Wunder gewirkt, und darüber freute sie sich unbändig. Was der Tag ihr angetan hatte allerdings …

Darüber wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken.

Auf der Rückfahrt von der Ranch hatte Robbie sie gefragt, ob sie am nächsten Tag Kürbisse schnitzen könnten. Die Bitte hatte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit vorgetragen, dass Winnie es nicht fertiggebracht hatte, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Aber ehrlich gesagt wollte sie nur noch hier weg, bevor ihr das Herz brach.

Nur noch ein Tag, dachte Winnie. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals, lag da und starrte durch das kleine Fenster über dem Futon hinaus in die schwarze, sternenglänzende Nacht. Nur … noch … ein … Tag …

„Wie sieht der aus, Winnie?“

Robbie drehte seinen halb fertigen Kürbis um, damit Winnie ihn sehen konnte.

„Gruselig“, sagte sie lächelnd und schaufelte das Kürbisfleisch in die große Plastikschüssel auf dem Tisch. Ihre Hände waren glitschig und mit Kürbiskernen bedeckt, aber das machte ihr überhaupt nichts aus.

Es war noch über eine Woche bis Halloween. Robbie wusste, dass die ausgehöhlten Kürbisse bis dahin ganz faulig und eklig sein würden. Aber wenigstens hatte er so die Gelegenheit, sie zusammen mit Winnie zu schnitzen.

Er dachte nicht gerne über Winnies Abreise nach. Und so, wie sein Dad Winnie ansah, vermutete Robbie, dass es ihm vielleicht auch so ging.

„Hey.“ Winnie berührte seinen Arm. „Alles okay?“

„Musst du unbedingt wegfahren?“ Als sie nichts sagte, musterte Robbie sie prüfend.

Winnie starrte ihren Kürbis an und biss sich fest auf die Unterlippe. „Ja, mein Lieber“, sagte sie schließlich. „Das muss ich. Ich habe einen Laden in Texas und bin nur auf Urlaub hier, das weißt du doch.“ Dann lächelte sie. „Aber ich freue mich sehr, dass du mich hierbehalten willst.“

Er spürte, wie sein Gesicht heiß anlief. „Es ist nur … so viel lustiger, seit du da bist … fast wie Weihnachten. Bloß ohne Geschenke.“

Winnie setzte sich. Sie war so damit beschäftigt gewesen, Kürbisse für Robbie aushöhlen, dass sie noch keinen eigenen geschnitzt hatte. „Weißt du“, sagte sie, nahm eine schwarze Kreide und fing an, eine Fratze auf ihren Kürbis zu malen, „vielleicht solltest du dir das genauso vorstellen, als ob mein Besuch hier wie ein Feiertag ist. Eine besondere Zeit, die nicht ewig dauert. Du musst sie eben auskosten, so gut du kannst.“

„Ja, aber ich finde es auch total doof, wenn Weihnachten vorbei ist. – Wann fährst du denn wieder nach Hause?“

„Morgen, mein Lieber“, sagte sie mit sanfter Stimme.

„Ich wette, du hast zu Hause einen festen Freund, oder?“

Sie verschluckte sich fast vor Lachen. „Nein, ich habe keinen Freund. Warum fragst du?“

Robbie zuckte die Achseln und zupfte an dem Kürbisfleisch von einem Zahn herum, den er gerade geschnitzt hatte. „Mom hat mir mal vor langer Zeit erzählt, wie sie mich ausgesucht haben“, sagte er und fragte sich, warum Winnie so lange brauchte, um „Oh!“ zu sagen.

Winnie hatte gelesen, dass man im Durchschnitt fünfzigtausend Gedanken am Tag hat. Schon vor einiger Zeit war sie zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Kinder jeden dieser Gedanken laut aussprachen. Und zwar in völlig zufälliger Reihenfolge. Der Beweis dafür war der weggetretene Gesichtsausdruck vieler Eltern, die mit kleinen Kindern unterwegs waren, wenn sie in die Imbissstube kamen.

„Zombie an Bord“ nannte Winnie dieses Phänomen bei sich. Sie zweifelte nicht daran, dass Robbie diesen Effekt problemlos in zwanzig Sekunden oder weniger herbeiführen konnte.

Allerdings hatte sie das Gefühl, dass seine Themenwechsel ganz und gar nicht zufällig waren, sondern er sich nicht nur genau überlegte, was er sagen würde, sondern auch wann.

Warum er jedoch dieses Thema ausgerechnet mit ihr und gerade jetzt besprechen wollte, war ihr ein Rätsel. Hatte er die Spannung gespürt, die in der Luft lag? Hatte er irgendwie Verdacht geschöpft, dass sein Vater und sie ihm etwas zu sagen hatten? „Ja“, sagte der Junge. Mit zusammengezogenen Augenbrauen konzentrierte er sich auf seine Kürbisschnitzerei. „Mom hat gesagt, dass meine leibliche Mutter total nett ist. Aber sie hätte es echt schwer gehabt, sich um mich zu kümmern. Weil sie noch so jung war und ganz allein und so. Also hat sie Mom und Dad für mich ausgesucht. Mom hat gesagt, dass Dad und sie schon lange nach einem Baby gesucht haben. Aber als sie mich dann bekommen haben, da haben sie verstanden, warum sie so lange warten mussten.“

Obwohl es ihr das Herz brach, lächelte Winnie. „Das ist wahr. Sie haben großes, großes Glück gehabt, dich zu bekommen.“

Als der Junge nichts sagte, blickte Winnie auf und sah, wie Robbies Unterlippe zitterte. Sie streckte die Hand aus und umfasste sein Handgelenk. „Deine Mutter hat dich sehr, sehr lieb gehabt. Wahrscheinlich von der Sekunde an, als sie dich zum ersten Mal gesehen hat“, fügte sie hinzu, trotz des schmerzhaften Stichs, den sie dabei verspürte. „Ich bin sicher, das tut sie immer noch. Wo immer sie jetzt ist. Ich wette, dass sie immer noch auf dich aufpasst und sich nur das Beste für dich wünscht.“

„Ich glaube aber nicht an den lieben Gott.“

„Das ist okay, das musst du nicht.“

„Dad sagt, dass noch keiner bewiesen hat, dass es den Himmel gibt.“

„Das Gegenteil hat aber auch noch niemand bewiesen“, sagte Winnie sanft. „Manchmal ist der Glaube am wichtigsten.“

„Was bedeutet das?“

„Auf etwas zu vertrauen, was du weder sehen noch berühren kannst. Etwas, was du nur in deinem Herzen spürst. Wie Liebe. Auch wenn du deine Mom nicht mehr sehen oder mit ihr sprechen kannst, kannst du dich immer noch an ihre Liebe erinnern. Nichts und niemand kann dir das jemals wegnehmen. Niemals.“

Robbie schaute zweifelnd, aber er widersprach nicht. Stattdessen beschäftigte er sich wieder mit seinem Kürbis, nur um einen Augenblick später urplötzlich zu fragen: „Meinst du, dass Tess Julia weggeben könnte?“ Winnie fuhr so schnell herum, dass sie sich beinahe den Hals verrenkte.

„Warum in aller Welt denkst du so etwas?“

„Weil sie doch auch ganz allein ist.“

„Oh. Nun, das ist ein bisschen anders … Tess ist verheiratet, auch wenn ihr Mann bei der Armee ist und zu weit weg, um zu Besuch zu kommen. Und sie hat Flo. Und einen Job. Und ein Haus …“

„Und sie hat ihr Baby viel zu lieb, um es wegzugeben, stimmt’s?“

Winnie wurde ganz flau im Magen. Sie stand auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte, sagte sie: „Weißt du … ein Baby zur Adoption freizugeben, heißt nicht unbedingt, dass eine Frau ihr Baby nicht lieb hat. Das ist oft eher umgekehrt. Denn die Frau glaubt, dass sie dem Baby nicht alles geben kann, was es braucht. Genau wie deine Mom es dir erklärt hat … als sie mit dir über deine leibliche Mutter sprach.“

Der Junge schien darüber eine Weile nachzudenken. „Ich wette, wenn du ein Baby hättest, würdest du es nie im Leben weggeben, oder?“

Winnies Herz setzte für einen Schlag aus.

Genau in diesem Augenblick betrat Aidan die Küche.

Aidan sah Winnie nur eine Sekunde lang an. Aber das reichte, um die Schuldgefühle in ihren Augen zu sehen.

„Robbie“, sagte er und zwang sich, seinen Sohn anzusehen, „warum gehst du nicht eine Weile mit Annabelle Gassi?“

„Aber ich bin mit meinem Kürbis noch nicht fertig!“

„Den kannst du später fertig machen. Schau mal, Annabelle sitzt schon vor der Tür …“ Als die Tür hinter dem Jungen und dem Hund ins Schloss fiel, sagte Winnie mit zitternder Stimme: „Wir können nicht länger warten, Aidan.“

„Das habe ich schon mitbekommen.“ Er seufzte. „Aber was in aller Welt hat euch auf dieses Thema gebracht?“

„Wer weiß? Tess und ihr Baby vielleicht?“ Sie runzelte die Stirn. „Hast du gewusst, dass June mit ihm über mich gesprochen hat? Ohne Namen zu nennen, offensichtlich. Aber über die Umstände seiner Adoption.“

„Nein. Wann?“

„Ich weiß es nicht, das hat er nicht gesagt.“ Die Handflächen auf die Oberschenkel gestützt, starrte sie bitter auf ihren Kürbis. „Ich hatte keine Ahnung, dass diese Sache noch schwieriger wird, als ihn zur Adoption freizugeben.“

Aidan ging zum Küchenfenster, als ob er draußen nach dem Rechten sehen wollte. Tatsächlich konnte er den Schmerz in Winnies Augen nicht sehen.

„Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Wenn ich nicht hergekommen wäre, bliebe mir das alles erspart.“

Er drehte sich um. Seine Gefühle waren zu verworren, um sie einordnen zu können.

Winnie presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Mit einer Fingerspitze streichelte sie über die Kürbisschale. „Du weißt, das Letzte was ich will, ist Robbie wehzutun. – Oh Gott, Aidan.“ Sie verzog schmerzlich das Gesicht.

Aidan spürte, wie ihn Mitleid überkam. So stark, dass ihm ganz schwindelig wurde.

„Das wollte ich doch alles nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass es ihm gut geht, und wieder verschwinden. Wenn ich nur gewusst hätte …“ Sie öffnete die Augen. Tränen schimmerten auf ihren Wimpern. „Ich habe nie gewollt, dass sich das zu so einem Schlamassel entwickelt.“

Du hast ja keine Ahnung, dachte Aidan. Das Bedürfnis, Winnie in die Arme zu nehmen, war beinahe unerträglich. „Dafür bist du nicht allein verantwortlich. Ich habe genauso viel Schuld wie du. Vielleicht sogar mehr.“

„Wie kommst du denn auf die Idee?“

Die Hände in den Jackentaschen vergraben, ließ er sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen und sah sie an. „Als du angeboten hast, hierzubleiben, hätte ich Nein sagen können. Und das habe ich nicht getan.“

Ein paar Augenblicke später fragte sie sehr, sehr leise: „Warum hast du das denn nicht getan?“

„Weil ich egoistisch bin und nur an mich gedacht habe“, sagte er und stand wieder auf. „Weil ich, wenn auch nur für kurze Zeit, so tun wollte, als ob alles normal wäre. Als ob ich normal wäre. Aber dadurch habe ich nur einen Narren aus mir gemacht.“

„Weil du dich normal fühlen willst?“

„Nein, weil ich in den letzten paar Tagen vergessen habe, dass es hier nur um Robbie geht. – Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht gemerkt hast, was sich gestern zwischen uns abgespielt hat.“

„Dann habe ich mir es nicht nur eingebildet?“

„Dass ich dich küssen wollte?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das war keine Einbildung.“

„Warum hast du es dann nicht getan?“, fragte sie.

Aber er wagte nicht, das Geschenk anzunehmen, das in ihren Worten lag. „Weil ich weiß, dass ich nie wieder normal sein oder mich normal fühlen werde“, sagte er unglücklich. „Und so zu tun als ob, das reicht doch nicht. Oder?“

Winnie saß so lange still da, dass Aidan sich beinahe fragte, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Dann seufzte sie schließlich. „Zumindest bist du nicht mehr da, wo du noch vor einer Woche warst.“

Einen Moment lang beobachtete sie ihn. Dann stand sie auf und ging ins Wohnzimmer. Beiläufig hob sie einen Santo – eine kleine Heiligenfigur – auf, einen grob geschnitzten Sankt Michael. Die strahlenden Farben der Figur waren im Laufe der Jahrhunderte und durch die Berührung vieler Hände verblasst.

Winnie stellte den Santo wieder hin. „Lass uns wieder zum Thema zurückkommen und uns darauf konzentrieren, dass es hier nicht darum geht, was wir beide empfinden. Oder für uns wollen. Es geht um einen neunjährigen Jungen, der sich wahrscheinlich mehr als alles andere auf der Welt ein normales Leben wünscht. Und dieses Leben wird June nie wieder so wie vorher einschließen, Aidan“, sagte Winnie so sanft, dass er beinahe zurückzuckte. „Aber wenn ich Robbie auch nur einen Bruchteil von dem geben könnte, was June ihm gegeben hat, würde mir das unendlich viel bedeuten.“

Ihre Worte trafen Aidan direkt ins Herz. „Wir sagen es ihm nach dem Abendessen, in Ordnung?“, schlug er vor.

In diesem Augenblick fragte Robbie hinter ihm: „Was wollt ihr mir sagen?“

In ihre Unterhaltung vertieft, hatten sie gar nicht gemerkt, dass Robbie mit Annabelle wieder hereingekommen war. Auch nicht, wie lange er in der Küche gestanden und zugehört hatte.

Aber er hat dabei zumindest genug mitbekommen, um zu merken, dass es um ihn geht, vermutete Winnie.

„Worüber habt ihr geredet?“, fragte Robbie und kam langsam ins Wohnzimmer. Mit einer Hand klammerte er sich an Annabelles Mähne. Sein Blick wanderte zwischen Winnie und Aidan hin und her.

Winnie warf Aidan einen kurzen Blick zu. Als er nickte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Robbie zu. Ganz ruhig, dachte sie und überlegte ihre Worte sorgsam. „Robbie … wir haben doch vorhin über deine leibliche Mutter geredet?“

„Ja …“

„Das … das bin ich.“

„Du?“, fragte Robbie und zog die hellblonden Augenbrauen zusammen. Langsam, immer noch stirnrunzelnd, kniete er sich neben dem Hund hin. Sogar als Annabelle beschloss, dass sein Gesicht dringend sauber geleckt werden musste, zeigte er keine Reaktion.

Während ihr Herz zum Zerspringen klopfte, schaute Winnie schnell wieder zu Aidan hinüber. Der konzentrierte sich vollkommen auf seinen Sohn.

„Robbie?“

„Das hast du gewusst, oder?“, fragte Robbie und schaute auf.

„Robbie, ich …“

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragte der Junge. Vorwurfsvoll wandte er sich an Winnie und sprang auf. „Als ich zum Alten Haus gekommen bin, um dich zu treffen. Warum hast du es mir da nicht gesagt?“

„Weil ich sie darum gebeten habe“, sagte Aidan und versuchte, Robbies Ärger auf sich zu lenken.

Aber Robbie fiel darauf nicht herein. „Du bist nicht meine Mom!“, schrie er. Dicke Tränen standen ihm in den Augen. „Meine Mom ist tot! Und du … du …“ Unbeholfen wich er zurück und stieß gegen eine Ecke des Küchentischs. „Mir ist egal, was Mom gesagt hat. Du hast mich nicht gewollt. Du hast mich weggegeben. Und … und du kannst jetzt nicht einfach zurückkommen und so tun, als ob alles in Ordnung ist!“

„Nein, Robbie, das kann ich nicht …“ Tief getroffen machte Winnie einen Schritt auf ihn zu. „Ich versuche auf keinen Fall, den Platz deiner Mutter einzunehmen. Ich habe nur gedacht …“

„Du hast mich angelogen! Ihr habt mich beide angelogen! Nein!“, kreischte Robbie, als Aidan versuchte, ihn zu umarmen. „Lass mich los!“ Sobald Aidan das tat, stürmte Robbie zur Treppe und rannte beinahe Flo über den Haufen, die gerade von unten kam.

„He, pass auf, wo du hintrittst, Freundchen!“, rief sie. Dann musste sie Aidan ausweichen, als er seinem Sohn nach oben nachrannte. Mit gefurchter Stirn schaute sie zu Winnie hinüber. „Dios mío“, flüsterte Flo und bekreuzigte sich. „Ihr habt es ihm gesagt.“

„Wir hatten die Entscheidung bereits gefällt“, murmelte Winnie. „Ich hatte nur gehofft …“ Sie presste die Lippen zusammen, um nicht zu weinen. Oben konnte man Robbie heulen hören. „Ach, du meine Güte“, sagte Flo. „Ich glaube nicht, dass ich ihn jemals so habe weinen hören.“

„So war das nicht gedacht. Verdammt, Flo“, sagte Winnie und blinzelte heftig. „Ich weiß, dass alles außer Kontrolle geraten ist, aber …“

„Wo willst du hin?“, rief Flo ihr nach.

Winnie stieß einen schrillen Schrei aus, als Flo ihre langen Fingernägel in Winnies Arm bohrte und sie herumzerrte.

„Herrgott noch mal … meinst du nicht, dass du genug angerichtet hast? Lass den Jungen in Ruhe“, bat Flo. „Bitte. Lass sie alle beide in Ruhe.“

Winnie zögerte nur einen Augenblick, ehe sie ihren Arm wegzog. „Bald“, sagte sie und ging zur Treppe.

„Robbie?“

Beim Klang von Winnies Stimme drehte sich Aidan um.

Er saß auf Robbies Bettkante und hatte die Hand auf den Rücken seines untröstlichen Sohnes gelegt.

„Ich w-will nicht mit d-dir reden!“, ertönte Robbies gedämpfte, stotternde Antwort.

„Das musst du auch nicht“, sagte Winnie sanft. Sie kam gerade weit genug ins Zimmer, um sie sich seitlich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. Ihr Blick traf Aidan. Entschlossen. Trotzig.

„Nur eine Minute“, formte sie stumm mit den Lippen. Einen Augenblick später nickte Aidan. Dann schaute er weg. Er wusste, es würde schwierig genug sein, ihr zuzuhören. Er konnte sie nicht auch noch ansehen.

„Okay, Robbie“, sagte sie, „ich weiß, dass du jetzt gerade so richtig wütend auf mich bist. Und da mache ich dir auch keine Vorwürfe. Ich habe richtig Mist gebaut.“

Als Aidan herumfuhr, hob sie abwehrend die Hand. „Es ist nur so … ich glaube, ich wollte einen Fehler wiedergutmachen, den ich vor langer Zeit gemacht habe. Nur, wenn man das versucht, wird manchmal alles noch viel schlimmer.“

Unter seiner Hand spürte Aidan, wie Robbie sich beruhigte, wie seine Tränen sich in abgehacktes Schniefen verwandelten.

„Ich weiß, was du jetzt denken musst. Wenn eine Mutter ihr Baby genug lieb hat, findet sie immer einen Weg, um es zu behalten. Aber in Wirklichkeit ist das viel schwieriger. Denn wenn die werdende Mutter weiß, dass sie sich nicht ordentlich um ihr Kind kümmern kann und es trotzdem behält … dann ist das keine Liebe, sondern nur selbstsüchtig. Manchmal ist es einfach nicht genug, sein Baby lieb zu haben. Dann muss man sehr schwere Entscheidungen treffen, um das Richtige zu tun. Entscheidungen, die ganz furchtbar wehtun.“

Sie räusperte sich und schwieg einen Augenblick. „Und jetzt kommt das Allerschwierigste. Der Teil, den ich dir am liebsten gar nicht erzählen würde. Aber jetzt wo ich dich kenne, da hast du es verdient, die ganze Wahrheit zu erfahren. Keine Lügen mehr, okay?“

Nach ein paar Sekunden nickte Robbie.

Weil Aidan wusste, dass Winnie das nicht sehen konnte, nickte er ebenfalls, um ihr ein Zeichen zu geben.

„Okay“, sagte sie und holte noch mal tief Luft, ehe sie fortfuhr, „also, deine Mom und dein Dad und ich hatten ursprünglich vor, dass ich ein Teil von deinem Leben sein sollte. Kein wichtiger Teil. Aber wir sollten uns kennen, uns hin und wieder Briefe schicken. Vielleicht hätte ich dich sogar manchmal besuchen dürfen. Bloß … ich habe das nicht fertiggebracht. Ich habe gedacht, ich würde damit zurechtkommen, nur ein bisschen von dir zu haben … Aber das hat einfach zu wehgetan. Wenn deine Mom mir Bilder von dir geschickt hat und ich dich nicht in den Armen halten konnte …“

Sie setzte sich auf ihre Hände, den Blick starr auf ihren Schoß gerichtet. „Damit bin ich nicht fertiggeworden, Robbie. Ich habe das einfach nicht geschafft. Deshalb habe ich darum gebeten, dass wir damit aufhören, als du sechs Monate alt warst. Ich war verdammt feige. Inzwischen weiß ich auch, dass mein Plan nicht funktioniert hat. Denn ich glaube, es ist noch kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe und mich nicht gefragt habe, wie es dir geht.“

Sie stieß den Atem aus. „Und dann, vor ein paar Wochen, hatte ich auf einmal diese fixe Idee, dass ich dich unbedingt sehen muss, nur ein einziges Mal. Das war alles … ich wollte dich nur sehen. Und … na ja, du weißt ja, was dann passiert ist.“

Sie zog die Hände unter ihren Oberschenkeln hervor und schaute Robbie an, der sich immer noch nicht rührte. Erschöpft stand sie auf. „Ich fühle mich sehr mies, Robbie. Glaub mir bitte, dass ich dir nie wehtun wollte. Und ich weiß genau, dass ich niemals für dich sein könnte, was deine Mom für dich war. Aber ich habe dich lieb, hörst du? Ganz egal, ob dir das recht ist oder nicht. Selbst wenn wir nie wieder ein Wort miteinander reden, werde ich mich für den Rest meines Lebens über die letzten paar Tage freuen.“

Sie zögerte kurz, bevor sie sich zu Aidan umdrehte. Ihr Blick sagte: Das gilt auch für dich. Dann ging sie aus dem Zimmer.

10. KAPITEL

„Was soll das heißen, sie ist weg?“

„Genau was ich gesagt habe.“ Flo reichte Aidan ein Stück Papier. „Viel steht da nicht. Nur, dass es ihr leidtut. Und wenn sie irgendetwas vergessen hat, soll ich ihr das an diese Adresse nachschicken.“

„Ich kann selbst lesen“, blaffte Aidan. Nachdem er einen Blick auf die kurze Nachricht geworfen hatte, stürmte er aus dem Haus. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er auf seinem Mobiltelefon Winnies Nummer wählte. Er erreichte nur ihre Voicebox und war unglaublich genervt.

Wenige hektische Minuten später stand er vor dem Alten Haus. Er hatte keinen blassen Schimmer, warum er hier war, oder was er suchte. Eine starke Windböe schlug die unverschlossene Vordertür auf, als ob sie Aidan hereinbitten wollte.

Das Bett war abgezogen, stellte er fest, die Küche blitzblank und der Kühlschrank leer. Als ob sie nie hier gewesen war. Aber als er dastand und lauschte, wie der Wind draußen in den Bäumen heulte, so wie er es schon tausendmal getan hatte, als June und er dort noch lebten, wurde ihm klar, dass sich auch von seiner verstorbenen Frau keine Spur mehr in diesem Haus fand.

Es ist nichts weiter als ein altes, leeres Haus, dachte er. Nur zerrissene, empfindliche Spinnweben seiner Erinnerungen waren noch da.

Hartnäckig versuchte er noch mal, Winnie zu erreichen. Diesmal mit einer SMS. Er nahm kaum wahr, wie Robbies Fahrrad hinter ihm gegen die Veranda schepperte. „Dad? Was machst du denn hier?“

„Winnie ist weg“, sagte Aidan und drehte sich um.

„Ich weiß.“ Robbie kam herein. „Flo hat’s mir gesagt.“

Dann reckte er das Kinn – Winnies Kinn. Der Trotz konnte den Schmerz nicht ganz überspielen. Schmerz, an dem Aidan und Winnie schuld waren. „Ich bin immer noch böse auf dich, weißt du.“

„Ja, das kann ich gut verstehen. Ich bin im Augenblick auch nicht gerade stolz auf mich.“

„Lügen sind das Allerletzte“, behauptete Robbie. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber wir brauchen Winnie nicht, oder?“

Das stimmte doch, oder? Wer brauchte schon Ärger und aufgewühlte Gefühle? Oder eine Fremde, die einen dazu brachte, über Dinge nachzugrübeln, an die man nicht denken wollte, und über Gefühle, die man nicht haben wollte? Gequält lächelnd zog Aidan seinen Sohn an sich. „Nein, mein Junge, das tun wir bestimmt nicht“, sagte er und ignorierte die Tatsache, dass seine Worte genauso leer waren wie das Haus.

Irgendwann im Laufe des Vormittags schlug Winnie die Tür zur Imbissstube mit einem Knall auf und ließ ihren Dufflebag fallen. Dann stolperte sie fast über Annabelle, als sie auf die Kuchentheke zusteuerte, um ein Stück Zitronenkuchen zu stibitzen.

„Ich bin wieder da“, sagte sie zu Elektra.

Diese stand hinter dem Tresen und starrte Winnie entgeistert an. „Das sehe ich.“

„Alles okay?“, fragte Winnie und ließ sich auf einen Hocker neben Elektra fallen, den Mund voll herber Zitronenfüllung und süßem, luftigen Baiser.

„Das hängt davon ab, was du mit ‚alles‘ meinst.“ Elektra bückte sich, um Annabelle zu streicheln. Dann richtete sie sich stöhnend wieder auf. „Der Diner steht noch, ich lebe noch, und einen Tornado hat es auch nicht gegeben.“

„Ich merke schon, der Lottogewinn hat dich nicht verändert.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich es noch gar nicht fassen kann. Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt, dass du auf dem Weg bist? Und hast du unterwegs vergessen, wie man eine Gabel benutzt?“

„Ich brauche keine“, murmelte Winnie und stopfte sich den nächsten Bissen in den Mund. Dann starrte sie finster auf den Ziehharmonikaordner mit den Belegen der letzten Woche, den Elektra ihr reichen wollte. Sie wischte sich die klebrigen Finger an den Jeans ab und blätterte widerwillig die Papiere durch. Dabei stellte sie fest, dass die Umsätze der vergangenen Woche überaus erfreulich gewesen waren. Aber diese Erkenntnis rief keinen Funken Begeisterung bei ihr hervor. Nicht einmal Befriedigung.

Sie hatte jedenfalls genug Gründe, um sich beruflich zu verändern. Jetzt brauchte sie nur noch einen Anstoß, um diese Idee in die Tat umzusetzen.

„Und hör auf, mich so anzustarren“, sagte sie und wischte einen Fleck Zitronenfüllung von der Ecke eines Bons.

„Sobald du mir erzählt hast, was passiert ist.“

Winnie stopfte die Quittungen wieder in den Ordner. „Ich habe ein paar Dinge über mich gelernt, das ist passiert. Vor allem, dass ich keine impulsiven Entscheidungen mehr treffen will. Zweitens, wenn man fünfzehn Jahre nicht auf einem Pferd gesessen hat, ist ein langer Ausritt keine gute Idee. Drittens …“ Seufzend sah sie sich in der Imbissstube um. „Ich werde den Diner verkaufen.“

Elektras Augenbrauen schossen in die Höhe. „Und wann hast du diese Entscheidung getroffen?“

„Ungefähr dreißig Sekunden, bevor ich durch diese Tür gekommen bin.“

„So viel zum Thema impulsive Entscheidungen.“

Winnie ergriff Elektras Hand und hielt sie fest. „Ich verspreche, dass ich an niemanden verkaufe, der dich nicht übernimmt. Und ich werde dafür sorgen, dass der neue Besitzer dich nach Leistung bezahlt, was Miss Ida bestimmt nie getan hat. Aber wenn ich hierbleibe, werde ich irgendwann noch genau wie sie. Und das will ich auf keinen Fall.“

„Ich verstehe. Gut zu wissen, dass dein Selbstbewusstsein trotz deiner Probleme auf der Reise nicht gelitten hat.“

Winnie steckte sich den Rest Kuchen in den Mund. „Leider machen auch kluge Menschen mit viel Selbstvertrauen hin und wieder dumme Fehler.“ Sie schluckte. „Wie zum Beispiel, die falschen Menschen zu lieben.“

Elektras Miene wurde ganz weich und mitleidig. „Oh … redest du von dem Jungen?“

Winnie berichtete von den Ereignissen der vorigen Nacht. Als sie fertig war, sagte Elektra: „Also bist du wie ein Angsthase davongerannt, anstatt zu warten, bis das Kind wieder vernünftig wird.“

Winnie wollte widersprechen, doch Elektra ließ sie nicht zu Wort kommen. „Damit ein Kind jemanden wirklich hasst, muss schon sehr viel passieren. Höchstwahrscheinlich ist der Junge einfach nur sauer. Und vermutlich durcheinander. Darüber kommt er hinweg. Obwohl du das jetzt natürlich nie herausfinden wirst. Du hast ganz recht – das war dämlich. Noch viel dümmer, als überhaupt erst dorthin zu fahren.“

„Nur gut, dass ich keine Probleme mit meinem Selbstwertgefühl habe.“

„Wie du selbst gesagt hast, auch kluge Menschen können Dummheiten machen.“

„Dabei weißt du das Schlimmste noch gar nicht. Ich habe mich nämlich …“ Winnie holte tief Luft. Sie konnte kaum glauben, was sie als Nächstes sagen würde. „Ich habe mich nicht nur in meinen Sohn verliebt.“

„Oh verdammt“, stöhnte Elektra auf. „Sag, dass es nicht wahr ist.“

„Jawohl. Hals über Kopf.“ Winnie nahm sich noch ein Stück Kuchen. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und klickte ein Foto an, das sie von Aidan und Robbie gemacht hatte, als sie zusammen beim Reiten waren. Den Mund voll Kuchen, hielt sie einfach nur das Mobiltelefon hoch.

„Verdammt“, sagte Elektra.

„Allerdings“, erwiderte Winnie, klappte das Telefon zu und ließ es vor sich auf den Tresen fallen.

Ihr Handy fing an zu klingeln und zu vibrieren.

„Gehst du nicht ran?“, fragte Elektra und betrachtete das Gerät, als ob sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie die Fliegenklatsche holen und draufschlagen sollte.

„Nein“, sagte Winnie und stopfte sich noch einen Bissen Kuchen in den Mund. „Ich weiß ja, wer es ist …“

Elektra kniff die Augen zusammen. „Jetzt sag bitte nicht, dass du ohne einen Ton zu sagen einfach auf und davon bist?“

„Ich … wollte früh aufbrechen und niemanden wecken.“

Elektra hatte die Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. „Weißt du was, ich glaube, du bist ein richtiger Feigling. Du solltest dich doch auf deiner kleinen Abenteuerreise finden und nicht verlieren!“

„Elektra, ich …“

„Als Teenager warst du immer die große Rebellin. Wie oft hast du Miss Ida mit voller Absicht zur Weißglut getrieben … Was ist bloß aus diesem Mädchen geworden?“

„Sie ist erwachsen geworden.“

„Nicht, soweit ich das beurteilen kann“, sagte Elektra. Sie drehte sich um und lächelte das junge Paar an, das gerade hereingekommen war.

Weil eines der Mädchen von der Mittagsschicht krank war und eine andere Bedienung eine Stunde zu spät zur Abendschicht auftauchte, war es fast sieben Uhr, bis Winnie es zurück zu ihrem – zu Idas – Haus schaffte.

Zu diesem Zeitpunkt wurde ihr auch endlich klar, dass es albern und kindisch war, Aidans Anrufe nicht zu beantworten. Und außerdem wahrscheinlich unfair. Deshalb rollte sie sich auf dem giftgrünen Sofa zusammen und rief ihn an, obwohl ihr dabei ziemlich übel war.

„Wo zum Teufel hast du gesteckt?“, blaffte er in den Hörer, ohne auch nur Hallo zu sagen. „Ich habe dir eine SMS geschickt und unzählige Nachrichten auf deiner Voicebox hinterlassen …“

„Ich bin Auto gefahren. Da konnte ich nicht ans Telefon. Und hier musste ich dann für zwei Bedienungen einspringen …“

„Du bist mitten in der gottverdammten Nacht abgehauen, bevor ich Gelegenheit hatte, dir zu erklären …“

„Es gibt nichts zu erklären! Und außerdem konnte ich nicht schlafen.“ Sie hielt inne, um die Kontrolle über ihre Stimme wiederzuerlangen. „Verdammt, Aidan“, sagte sie leise. „Eine Woche lang war ich jetzt tapferer, als ich es je für möglich gehalten hätte. Das mag nicht besonders viel sein, aber ich habe alles gegeben. Und ich musste einfach weg, bevor …“ Bevor ich völlig die Beherrschung verloren hätte. „… bevor alles noch schlimmer geworden wäre. Robbie ist wütend auf mich …“

„Nicht nur auf dich, sondern auf uns beide.“

„Ja, vermutlich. Mit gutem Grund. Ich hätte nie kommen sollen.“

„Nein, ich hätte mich nicht vor der Wahrheit fürchten sollen. Ich frage mich dauernd, ob die Situation auch so außer Kontrolle geraten wäre, wenn ich von Anfang an ehrlich gewesen wäre.“ Er hielt inne. „Wenn ich nur meine Probleme nicht an dem Jungen ausgelassen hätte.“

Tränen stiegen in Winnies Augen auf. „Wie wäre es, wenn wir uns darauf einigen, dass wir beide Mist gebaut haben, und es dabei belassen?“

„Ist mir recht. Oh, Winnie …“, stöhnte er. „Ich weiß, dass wir … dass ich mich nicht besonders geschickt verhalten habe. Aber ich bin sicher, dass Robbie dich irgendwann wiedersehen will.“

„Das wird dauern. Und selbst wenn … ist das so eine gute Idee?“

„Warum nicht? Er ist dein Sohn, um Himmels willen!“

„Nein, er ist dein Sohn! Dein Sohn und Junes Sohn! Ich bin nur …“

„Verletzt. Und nicht nur wegen Robbie.“

„Sollte das der Fall sein“, sagte Winnie einen Augenblick später, „ist das ganz allein meine Schuld. Es gibt unzählige Gründe, warum ich nie die Kontrolle über meine Gefühle hätte verlieren dürfen. Aber es ist nun mal passiert.“

„Es tut mir so leid …“

„Warum? Warum sollte dir irgendetwas leidtun? Schließlich bin ich doch diejenige, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ihren Sohn zu suchen. Ich habe mich in euer Leben gedrängt …“

„Daran waren wir beide beteiligt, Winnie. Und das weißt du verdammt genau.“

„Bis zu einem gewissen Punkt, vielleicht. Aber diesen Punkt habe ich überschritten. Und die Sache ist die … ich verstehe dich, Aidan. Wirklich. Ich habe June kennengelernt, das weißt du doch. Und sie ist überall auf deinem Berg. Ich kann sie einfach spüren. Als ob die Liebe, die sie für dich und Robbie empfunden hat, nie gestorben ist. Natürlich liebst du sie noch. Wie könnte es auch anders sein? Und es war vielleicht unvermeidlich, dass ich Robbie lieben würde. Aber mich in dich zu verlieben, davon war nie die Rede!“

Die Stille dehnte sich zwischen ihnen aus, bis Aidan sagte: „Ich will dich nicht hinhalten oder dir falsche Hoffnungen machen. Halbe Sachen sind nicht mein Ding. Früher nicht und jetzt auch nicht. Der Himmel weiß, dass ich mich zu dir hingezogen fühle. Aber es ist irgendwie, als ob bei mir zwar theoretisch alles abfahrbereit wäre, aber die Lichtmaschine ist ausgefallen …“

Winnie stieß ein kurzes Lachen aus. „Also geht der Motor nicht an. Ich verstehe.“

Er lachte auch. Dann sagte er leise: „Du bist eine tolle Frau, Winnie. Total verrückt, aber wundervoll. Viel zu gut für so einen armen Tropf wie mich. Anfangs habe ich mich dagegen gewehrt, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, diesen Schmerz irgendwann noch einmal durchzumachen. Und vielleicht ist das immer noch ein Teil des Problems. Keine Ahnung. Aber eines weiß ich … ich bin nicht darauf aus, jemanden zu verletzen.“ Er hielt inne. „Vor allem dich nicht.“

Nachdem er aufgelegt hatte, rollte sich Winnie auf der Seite zusammen und weinte in die Polster. Kurze Zeit später klingelte ihr Festnetzanschluss. Sie griff nach dem schnurlosen Telefon und murmelte ein müdes „Hi?“ in den Hörer.

„Ich will den Imbiss kaufen.“

„Elektra?“ Winnie setzte sich auf. „Was in aller Welt hast du da gerade gesagt?“

„Mit meinem Lottogewinn. Dann muss ich mir keine Sorgen mehr machen, ob mir irgendwer auch mein Gehalt auszahlen wird, denn als Inhaberin bin ich selbst dafür verantwortlich. Ich weiß, das Geld reicht nicht ganz. Aber wenn es dir recht ist, könnte ich ja den Rest ratenweise vom Geschäftsgewinn abzahlen …?“

Als die Pause sich hinzog, wurde Winnie klar, dass Elektra auf eine Antwort wartete. „Oh! Ob mir das recht ist?“ Sie lachte. „Das ist die beste Idee, die ich jemals gehört habe!“

„Meinst du, wir könnten morgen zum Anwalt gehen und die Sache ins Rollen bringen?“

„Sobald sie morgen die Kanzlei aufmachen“, sagte Winnie lächelnd.

Sie legte auf. Annabelle stupste sie mit der Schnauze am Knie. „Elektra wird den Diner kaufen“, sagte Winnie, stemmte sich hoch und ließ den Hund in den Garten. Dann stand sie gähnend auf der hinteren Veranda und schaute zum wolkenlosen, sternenbedeckten Himmel über Texas hinauf. Und plötzlich wurde ihr klar, dass es bald nichts mehr geben würde, was sie hier in Skyview festhielt. Endlich war sie frei und konnte ihr Leben so gestalten, wie sie es wollte.

Ihre Unterlippe zitterte, aber nur einen Augenblick lang.

Schließlich war sie inzwischen eine erwachsene Frau, die wusste, was sie wollte. Jeden Tag ein bisschen mehr.

11. KAPITEL

Die Hände in die hinteren Hosentaschen gestopft, bedachte Aidan die drei Landschaftsmalereien, die aufgereiht an der hinteren Wand seines Ateliers lehnten, mit finsteren Blicken. Seine Gedanken waren in Aufruhr, während ihm die letzte hitzige Auseinandersetzung mit Flo durch den Kopf ging.

Wie so viele Künstler hatte auch er seine Lieblingsmotive. Vor allem hatten es ihm Landschaften angetan, weil sie je nach Licht, Wetter und Jahreszeit immer wieder anders aussahen. In diesem Fall hatte jedoch Aidans Stimmung die drei Gemälde wesentlich mehr geprägt als irgendwelche äußeren Umstände.

Der Sonnenaufgang im Schnee, den er vor Junes Krankheit gemalt hatte, verkörperte Zufriedenheit und Verheißung; das zweite Bild, ein Sonnenuntergang, der seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte, war starr, stumpf und leblos – die Farben des Himmels wirkten ausgelaugt, die Berge vergrämt und ergraut.

Dann war da noch das Bild mit den sich finster auftürmenden, schwarzen Sturmwolken, die den Sonnenuntergang zu überwältigen drohten. Das Gemälde, das Winnie „Wütender Sex“ getauft hatte.

Aidan rieb sich die Schläfen, ließ sich auf die Trittleiter sinken und betrachtete die Leinwand. An dem Tag, als Winnie abgefahren war, hatte Flo bestimmt hundertmal gesagt: „Gut, dass sie weg ist.“

Doch in der letzten Woche hatte sie sich ständig darüber beschwert, wie viel griesgrämiger Aidan seit Winnies Abreise war. Und wenn er stur darauf bestand, dass es ihm gut ging, bekam er zur Antwort, dass „gut“ mehr war, als einfach nur weiterzuatmen. „Die Frau hat Sie zum Lachen gebracht, Boss“, sagte Flo. „Jetzt hat man das Gefühl, als ob schon wieder jemand gestorben ist.“

Verdammt frech.

Und obwohl er es vielleicht schaffen würde, seine Haushälterin zu ignorieren, konnte nur ein Dummkopf die Augen vor der Botschaft seiner Gemälde verschließen. Er konnte bis zum jüngsten Tag darauf beharren, dass er seine Gefühle für Winnie überwunden hatte, wenn doch völlig offensichtlich war, dass sie ihn immer wieder einholten.

Gerade in diesem Augenblick kam es ihm vor, als sei alles Leben aus ihm herausgepresst worden. Nach Winnies Abreise hatte er sich vergeblich eingeredet, dass er sie überhaupt nicht vermisste. Verdammt – sie fehlte ihm. Vielleicht nicht ganz so sehr wie damals seine verstorbene Frau. Aber immerhin doch so, dass er nicht anders konnte, als …

… als zu merken, dass seine Sehnsucht nach ihr nur schlimmer werden würde. Denn Winnie war am Leben. Und sie hatte ihn zum Lachen gebracht und dazu, sich wieder lebendig zu fühlen.

Aidan stand auf und trat näher an das Gemälde heran, das vor Feuer und Wut und Leidenschaft und Angst und Frust nur so brodelte. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Vor seinem inneren Auge sah er Winnies Gesicht. Er stöhnte.

„Dad?“

Wieder erblickte er Winnie, nur diesmal in seinem Sohn – in ihrem Sohn – in seinen Augen und seinem Haar und seinem störrischen Kinn.

Und solange sich Robbies Gefühle zu Winnie nicht änderten, war es ganz egal, was Aidan für Winnie empfand.

Vor zwei Tagen hatten sie nach Flos Anweisungen eine Art „Tag der Toten“-Zeremonie für June abgehalten. Im Wohnzimmer hatten sie so etwas wie einen Altar errichtet, mit Kerzen, bunt gekleideten Skeletten, einem Teller Käseenchiladas – Junes Leibgericht – und allen Fotos von ihr, die sie auftreiben konnten. Dann hatten Robbie und er Junes Lieblingslieder gesungen und Erinnerungen an June ausgetauscht. Sie hatten Junes Leben gefeiert – ihr gemeinsames Leben – und nicht ihren Tod betrauert.

„Du hast versprochen, dass wir heute reiten gehen!“, sagte Robbie gerade. „Aber wenn wir jetzt nicht gleich losfahren, wird es zu spät!“ Wieder spürte Aidan, wie er sich verkrampfte. Und einmal mehr hatte er das Gefühl, er konnte June sagen hören: Tu es für ihn, Darling.

Nach Winnies Abreise nahm sich Robbie vor, ärgerlich zu bleiben. Denn wenn er wütend war, spürte er keinen Schmerz. Das hatte auch einigermaßen funktioniert. Jedenfalls, bis ihm klar wurde, dass er jetzt nur noch verwirrter war als vorher. Vor allem nach der Zeremonie zum „Tag der Toten“, die er mit seinem Dad vor ein paar Tagen für seine Mom abgehalten hatte. Da hatte er das Gefühl gehabt, als ob ihm jemand sagen wollte, dass er loslassen sollte. Und an diesem Morgen war er aufgewacht und hatte gedacht: Jetzt ist es so weit. Einfach so.

Als sie auf der Farm ankamen, war er völlig geschockt, als Johnny und sein Dad beschlossen, dass seine Beine inzwischen lang genug waren, um Maggie und nicht Patches zu reiten. Zuerst war es ziemlich unheimlich, so hoch oben zu sitzen. Aber er hatte sich schnell daran gewöhnt. Vor allem, weil es cool war, neben seinem Dad herzureiten und ihm in die Augen sehen zu können, wenn sie sich unterhielten.

„Zuerst habe ich gedacht, ich wäre einfach nur sauer auf Winnie und dich“, sagte Robbie und beobachtete, wie Maggies Kopf sich hob und senkte, während sie die Pferde im Schritt gehen ließen. „Vor allem, weil ihr es mir nicht gesagt habt. Ich habe doch gemerkt, dass ihr etwas vor mir geheim haltet.“

Sein Dad nahm seinen Cowboyhut ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann setzte er den Hut wieder auf. „Ach, Robbie … manchmal unterschätzen Erwachsene die Kindern einfach.“ Er seufzte. „Ich hätte dir zutrauen sollen, mit der Wahrheit über Winnie fertigzuwerden. Ich hatte nicht das Recht, meine Wut auf sie an dir auszulassen.“

Robbie runzelte die Stirn. „Warum warst du denn so wütend?“

„Vor allem, weil sie einfach so ohne Vorwarnung aufgetaucht ist. Weil … sie damals ihre Meinung geändert hat und keinen Kontakt mehr zu dir haben wollte. Ich habe Angst gehabt, dass sie dir wieder wehtut. Ich wusste doch, dass du immer noch unter Moms Tod leidest … Sollen wir mal eine Pause machen, damit sich deine Beine erholen können?“

„Klar.“

Sie saßen ab und machten die Pferde an den unteren Zweigen einer Pinie fest. Dann gingen sie zu einem Aussichtspunkt. „Weißt du, was echt nervt?“, fragte Robbie. „Das hat alles kaputt gemacht, dass ich jetzt weiß, wer Winnie ist.“

Er stolperte, als sein Dad einen Arm um seine Schultern legte und ihn an sich zog. „Und warum ist das so?“

„Keine Ahnung.“

Aidan dachte kurz nach. „Weil du denkst, dass sie dich nicht gewollt hat, meinst du?“

Robbie nickte mit zusammengekniffenen Augen.

„Du erinnerst dich doch sicher noch daran, was sie zu dir gesagt hat?“

„Na und? Das ändert gar nichts“, behauptete Robbie. Er versuchte immer noch, wütend zu bleiben.

„Weißt du, wie viele Paare Winnie geprüft hat, bevor sie deiner Mom und mir erlaubt hat, dich zu sich zu nehmen?“, fragte sein Dad. Seine Stimme war ganz leise. „Über ein Dutzend. Da siehst du mal, wie wählerisch sie war, wem sie erlauben würde, ihren kleinen Sohn großzuziehen. So verhält sich kein Mensch, dem sein Kind egal ist, Robbie. Auch wenn sie sich nicht um dich kümmern konnte. Ich bitte dich, mir – und Winnie – einfach zu glauben. Denn ich fürchte, ich kann das nicht so erklären, dass du es verstehst.“

Robbie ging zurück zu den Pferden, um Maggies weiche Nase zu streicheln. Schnaubend senkte die Stute den Kopf. „Ich fühl mich ganz einfach irgendwie … als ob da zu viele Gedanken in meinem Kopf sind.“

Hinter ihm lachte sein Dad leise. „Wem sagst du das!“

Robbie sah überrascht aus. „Geht dir das auch so?“

„Oh ja. Allerdings.“

Robbie schaute zum Pferd zurück. „Ich glaube, ich habe ein paar echt gemeine Sache gesagt. Vor allem dass ich denke, Winnie wollte Moms Platz einnehmen.“

„Wenn man wütend ist, sagt man Dinge, die einem hinterher leidtun. Ich glaube nicht, dass Winnie dir das übel nimmt.“

„Aber sie ist weggefahren.“

„Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass sie keine andere Wahl hat.“ Ein Augenblick verging, bevor sein Dad hinzufügte: „Keiner von uns beiden hat ihr einen Grund gegeben, hierzubleiben, oder?“

Robbie dachte eine Weile nach. Dann gab er zu: „Ich vermisse sie wirklich.“

„Da bist du nicht der Einzige“, sagte sein Dad stirnrunzelnd und tätschelte Maggies Nacken.

„Aber … ich glaube, ich bin so durcheinander, weil ich gemerkt habe, dass ich Winnie mag. Nicht nur als Freundin. Eher so wie eine Mom. Und ich weiß nicht, ob das okay ist oder nicht.“

Sein Dad räusperte sich. „Ja. Das ist okay.“

„Meinst du, das würde Mom etwas ausmachen?“

„Glaubst du das?“

Robbie überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Weißt du was? Ich glaube, Winnie hätte ihr gefallen.“

„Sie hat Winnie gemocht“, sagte sein Vater. „Als sie sich kennengelernt haben. Kurz bevor du geboren worden bist.“

„Gut“, sagte Robbie. „Ich kann doch auch Winnie mögen und gleichzeitig Mom lieb haben? Und es ist ja auch nicht so, dass es Mom zurückbringt, wenn ich Winnie wegschicke.“

Sein Dad streckte die Hand aus, um Robbies Haar zu zerzausen. „Kluger Junge“, sagte er mit seltsam belegter Stimme. Als Robbie aufblickte, schaute sein Vater mit einem ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck in die Ferne.

„Versteh mich nicht falsch“, sagte Robbie tapfer. „Ich bin immer noch verdammt sauer, dass mir keiner die Wahrheit gesagt hat. Und es ist auch nicht so, dass Winnie jetzt auf einmal meine Mom ist. Ich habe nur eine Mom, okay? Aber ich habe Winnie gemocht, bevor ich wusste, dass sie meine richtige Mutter ist …“ Er schaute weg und schüttelte den Kopf. „Warum soll ich jetzt anders fühlen?“

Eine lange Zeit standen sie da und beobachteten, wie der Wind ein paar heruntergefallene Blätter herumwirbelte, bis sein Vater schließlich sagte: „Glaubst du wirklich, dass wir sie weggeschickt haben?“

„Aber es fühlt sich so an.“

Aidan stieß Robbie am Arm an, bis der Junge zu ihm aufblickte. „Also, was denkst du, was wir jetzt tun sollten?“

„Keine Ahnung. Vielleicht … sie anrufen? Ihr sagen, dass es uns leidtut?“

Aidan versetzte dem Pferd einen Klaps und sah Robbie lächelnd an. „Wie wäre es mit einem Ausflug nach Texas?“

Robbie war der Meinung, dass es sich dabei um eine großartige Idee handelte, wie sein Dad immer so schön sagte. Und dann blies ihm ein sanfter Windhauch ins Gesicht, der sich irgendwie ganz furchtbar wie ein …

… wie ein Abschiedskuss anfühlte.

12. KAPITEL

„Ich gebe dir fünfzig Mäuse für den ganzen Kram“, sagte Bessie Jenkins, die Knopfaugen auf die zusammengewürfelte Sammlung aus Porzellan und Glas gerichtet. Winnies Großmutter hatte die Sachen behandelt, als ob sich Jesus höchstpersönlich am Jüngsten Tag danach erkundigen würde. Das Glitzern in Bessies Augen veranlasste Winnie zu der Vermutung, dass die Frau einen Schatz darunter entdeckt hatte. Doch das war ihr egal.

„Abgemacht“, sagte sie. „Aber unter einer Bedingung: Du musst das Zeug gleich mitnehmen. Ich habe Inez Montoya versprochen, dass sie alles, was ich bis vier Uhr nicht verkauft habe, für den Gebrauchtwarenladen der Kirche haben kann.“

Bessie drehte sich um. „Warum um vier?“

„Weil ich heute Abend nach Amarillo fahre.“

„Amarillo?“, fragte die ältere Frau, als ob Winnie erklärt hätte, dass sie nach China ziehen würde und nicht nur fünfzig Meilen die Autobahn runter.

„Brauchst du einen Karton? Ich habe mehr als genug in der Garage.“

Winnie interpretierte Bessies schwaches Nicken als Erlaubnis, schnell nach draußen verschwinden zu dürfen. Dort kam Annabelle mit einem Tennisball im Maul angerannt, als wollte sie fragen, ob die Leute endlich weg waren, und sie wieder reinkommen durfte.

„Noch nicht“, sagte Winnie. Seit dem Morgen war der Ansturm zum Glück deutlich kleiner geworden … und glücklicherweise auch die Anzahl der Möbel.

Ab heute Abend würde diese Stadt nicht länger ihr Zuhause sein.

Während Winnie in der Garage Schachteln und Zeitungspapier herauskramte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie das alles heute wirklich hinter sich lassen würde. Aber nachdem Elektra und sie den ganzen Papierkram bewältigt hatten – und als Winnie dann den ersten wunderbaren Scheck in den Händen hielt – da hatte sie gedacht: … warum eigentlich hierbleiben?

In der Tat, warum? Bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte, konnte sie bei Elektras Tochter und ihrem Mann wohnen. Sie hatte genug Geld, um sich über Wasser zu halten, bis sie einen Job hatte. Und Lehrerstellen gab es praktisch überall. Wenn sie sich mit ganzer Kraft in diesen Neubeginn stürzte, würde sie vielleicht irgendwann all das vergessen, woran sie im Augenblick ständig denken musste.

Ungeschickt mit Kartons und flatterndem Zeitungspapier beladen, machte Winnie sich auf den Rückweg durch den Garten.

Annabelle nutzte die Situation aus, flitzte an ihr vorbei und schlich zur Hintertür ins Haus.

Winnie fluchte leise. „Annabelle!“, rief sie, aber zu spät.

„Annabelle!“, rief eine viel zu vertraute Kinderstimme.

Die Hündin bellte freudig, das Kind lachte, und Winnie stolperte ins Wohnzimmer. Schachteln und Zeitungen fielen ihr aus den Händen, und ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie Robbie und ihren Hund erblickte, wie sie sich lachend auf dem Fußboden in den Armen beziehungsweise Pfoten lagen.

Ganz anders als der irische Cowboy, der ungefähr zehn Schritte von ihr entfernt stand.

„Wohin in aller Welt willst du jetzt abhauen?“, fragte er leise, mit starrer Miene und funkelnden Augen.

Bessie quietschte.

Aber Winnie brach in Tränen aus.

Das ist jetzt nicht unbedingt die Reaktion, auf die ich gehofft habe, dachte Aidan, als Winnie aus dem Zimmer stürzte und er hinter ihr herrannte. Er holte die schluchzende Winnie schließlich im hässlichsten Garten auf Gottes weiter Welt ein. Und bei diesem Urteil zog Aidan durchaus in Betracht, dass es November war und irgendwo viel blühte.

Es war der Garten eines Menschen, überlegte er, für den Zuwendung ein Fremdwort war. Der Gedanke, dass Winnie – die clevere, lustige Winnie – hier einen Großteil ihrer Kindheit hatte verbringen müssen …

„Winnie“, flüsterte er und ging zu ihr, um sie in die Arme zu nehmen. Er küsste ihr Haar, ganz ähnlich, wie er es bei Robbie gemacht hatte, wenn sein Sohn als Kleinkind einen Weinkrampf hatte.

„Es tut mir leid“, murmelte Aidan, als Winnie sich endlich entspannte. „Ich wollte dich nicht anschnauzen. Aber ich habe zuerst beim Imbiss angehalten. Elektra hat gesagt, dass ich Glück hätte, wenn du nicht schon weg wärst. Da bin ich in Panik geraten, dass ich zu spät kommen und dich verlieren könnte.“

„Mich verlieren …?“, fragte sie und sah ihn mit tränennassen Augen an. Aber weiter kam sie nicht.

Denn Aidan umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie, dass ihr Hören und Sehen verging.

„Winnie?“, fragte Robbie hinter ihnen.

Hastig rieb sich Winnie über das verweinte Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln.

Da kam Robbie auch schon mit dem Hund durch den Garten auf sie zugerannt, um sich ihr in die Arme zu werfen. „Es tut mir leid, Winnie!“, rief er mit gedämpfter Stimme, das Gesicht in ihrem Sweatshirt vergraben. „Ich wollte dir nicht wehtun!“

„Oh, Robbie“, sagte sie, schniefte, kniete sich hin und streichelte ihm das Haar aus dem Gesicht, immer und immer wieder. „Das hast du nicht. Ich habe doch dir wehgetan. Wahrscheinlich hätte ich gar nicht erst kommen sollen, ohne vorher deinen Dad um Erlaubnis zu fragen …“

„Nein, ich freue mich, dass du gekommen bist“, sagte der Junge.

Aidan konnte Robbie ansehen, wie der Junge verzweifelt versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Schließlich schniefte er, wischte sich die Nase am Ärmel ab und wiederholte einfach: „Ich bin froh, dass du gekommen bist. Das schwöre ich.“

„Und ich auch“, sagte Aidan mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene erkannte.

Winnie begegnete seinem Blick mit rot geränderten Augen.

Aidan konnte Hoffnung darin erkennen. Angst. Ungläubigkeit. Vielleicht ein bisschen Beschämung.

Sie sah wieder zu Robbie. „Dann … bin ich auch froh, dass ich zu euch gekommen bin“, sagte sie und lächelte schwach, bevor sie ihren Sohn in die Arme nahm und festhielt, die Augen geschlossen.

„Ich habe dich lieb, Robbie“, flüsterte sie. „Ganz egal, was du von mir denkst, ganz egal was passiert …“, sie ließ ihn los, nur um ihn an den Schultern zu packen, „… ich habe dich lieb. Ich werde dich immer lieb haben.“ Sie duckte sich ein bisschen, um ihm in die Augen sehen zu können. „Und das habe ich auch immer getan. Glaubst du mir das?“

„Ich arbeite daran“, sagte er.

Winnie lachte. „Mehr kann ich nicht erwarten“, meinte sie. Dann blickte sie fragend zu Aidan auf.

Diese Schlacht ist wenigstens schon mal halb gewonnen, dachte er. Aber die zweite Hälfte … „Also“, erkundigte er sich, „dann schmeißt du hier alles hin und fängst irgendwo anders noch mal von vorne an?“

Winnie saß auf der Ladefläche ihres Trucks, ließ die Beine baumeln und zuckte mit den Schultern. Sie bemühte sich, gefasster zu wirken, als sie war. Versuchte, Aidans Duft nicht einzuatmen – was gar nicht so einfach war, schließlich saß er neben ihr. Sie widerstand der Versuchung, an ihn heranzurutschen, bis ihre Oberschenkel sich berührten. Denn sie wusste, sobald sie ihn spürte oder ihn wirklich ansah … wäre sie verloren.

Den Jungen und den Hund hatten sie bei Elektra gelassen. Deshalb parkten sie jetzt nur zu zweit in der Mitte eines abgeernteten Feldes. Das ferne Heulen der Kojoten war ihre einzige Gesellschaft. „Das ist mein Plan, genau“, sagte Winnie und zog den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch, um sich vor dem Wind zu schützen.

Sie hatte Aidan schon von Elektras Lottogewinn erzählt, von dem merkwürdigen Zufall, dass es sich bei den Gewinnzahlen um Miss Idas Geburtsdatum handelte, und dass der Imbiss wieder in Winnies Eigentum übergehen würde, falls Elektra pleiteging. Insofern konnte sie bei dem Geschäft gar nicht verlieren. Außerdem wusste Winnie, dass es dazu nicht kommen würde. Damit war dieser Teil ihres Lebens endlich vorbei.

Aidan versuchte ihre Hand zu nehmen, aber Winnie zog sie weg. Stattdessen stützte er sich auf einen Ellbogen, während er das andere Handgelenk gegen sein hochgezogenes Knie presste.

Vor ihnen ging die Sonne eindrucksvoll am Horizont unter. „Skyview – Himmelblick – ist auf jeden Fall ein passender Name für diesen Ort. Ich sollte mal zurückkommen, um das zu malen“, überlegte er laut.

„Ich habe mir schon gedacht, dass es dir gefallen würde“, murmelte Winnie. Sie hatte das Gefühl, das Herz würde ihr brechen.

Er beugte sich vor und strich ihr das Haar über die Schulter zurück. „Ich habe dich auf dem falschen Fuß erwischt, und jetzt bist du sauer“, sagte er mit sanfter Stimme.

Und das brach ihr nur noch mehr das Herz. „Ich bin nicht ärgerlich, sondern vollkommen verwirrt.“ Endlich drehte sie sich zu ihm um und erblickte in seinen freundlichen grünen Augen alles, was sie sich jemals gewünscht hatte, auch wenn ihr das erst in diesem Moment bewusst wurde. Gerade das machte ihn auch so gefährlich für sie. „Ich weiß nicht, was du willst. Warum du hier bist.“

Er setzte sich wieder aufrecht hin. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich bin bestimmt nicht wegen des Himmels hier, ganz egal, wie großartig der Blick ist. Nicht einmal, um Robbie herzubringen.“

Autor

Karen Templeton
<p>Manche Menschen wissen, sie sind zum Schreiben geboren. Bei Karen Templeton ließ diese Erkenntnis ein wenig auf sich warten … Davor hatte sie Gelegenheit, sehr viele verschiedene Dinge auszuprobieren, die ihr jetzt beim Schreiben zugutekommen. Und welche waren das? Zuerst, gleich nach der Schule, wollte sie Schauspielerin werden und schaffte...
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