Keine Braut für Lord Baynton?

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Alle guten Dinge sind drei? Schon zwei Mal platzte für Gavin, Duke of Baynton, die Hochzeit. Dabei muss er dringend standesgemäß heiraten und einen Erben zeugen! Doch dann sieht er im Theater die geheimnisvolle Schauspielerin Sarah Pettijohn, die man "die Sirene" nennt, und ist wie verzaubert. Unmöglich könnte diese rothaarige Schönheit seine Duchess werden! Aber die erotische Anziehungskraft zwischen ihnen ist so überwältigend, dass sie eine leidenschaftliche Affäre beginnen. Da präsentiert seine Mutter ihm eine weitere adelige junge Dame für den dritten Heiratsversuch … und ein echter Duke muss nun mal eine echte Lady zu seiner Duchess machen, oder? Und er wollte nicht einfach irgendeine Frau. Er wollte sie. Er brauchte sie.""


  • Erscheinungstag 25.01.2019
  • Bandnummer 110
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758622
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Geri Krotow

Schritt für Schritt, Wort für Wort …

Ich bin reich in meinen Freunden.

Die Sirene kehrt zurück!

Das herrliche Geschöpf, das London einst im Sturm eroberte und dann verschwand, wird erneut die Bühne beehren.

Theater am Bishop’s Hill

Dienstag, den 7. Juli 1812

Ein Abend, zugeschnitten auf Herren von erlesenem Geschmack und zu ihrem besonderen Vergnügen

Besuchen Sie unsere Frivole Nummernrevue!

Eine heimliche Vorstellung!

Der aufsehenerregendste Theaterabend Londons kehrt zurück!

Gelächter, Applaus, Begeisterungsstürme garantiert!

Nur ein Abend

Charmante Damen, Gesang und Tollerei!

Spezielle Logen in Bühnennähe vorhanden.

Ein Abend, den man um keinen Preis versäumen sollte.

Wir bitten freundlich um Diskretion.

1. KAPITEL

Sarah Pettijohn hatte sich geschworen, nie wieder die Rolle der Sirene zu spielen … und nun saß sie hier, hoch oben über der Bühne hinter dem Vorhang, damit das Publikum sie nicht sah, in einem Nichts von Kostüm, und wartete auf ihren Auftritt. Von ihrem Ausguck aus beobachtete sie das Gewimmel männlicher Zuschauer unter ihr, das für sie nichts Gutes verhieß.

Die Betreiber des Theaters, Geoff und Charles, waren beide wahre Meister darin, Staub aufzuwirbeln. Das Theater war bis auf den letzten Platz besetzt von Männern aller gesellschaftlichen Schichten. Reiche, arme, alte, junge und dumme Männer, sie alle hatten ihre vier Shilling entrichtet, weil Männer eben, wie Geoff es formulierte, von blanken Busen niemals genug bekommen konnten. „So teuer es sie auch zu stehen kommt, sie schauen eben gern hin.“

Sarah gab ihren „blanken Busen“ nicht preis. Unter ihrem hauchdünnen Kostüm trug sie ein hautfarbenes Unterkleid. Zugegeben, darunter hatte sie nicht mehr viel an, doch im Vergleich zu den anderen Frauen der Truppe war sie wohlbedeckt. Darauf hatte sie bestanden. Vor sechs Jahren war sie schon einmal gezwungen gewesen, als Sirene aufzutreten, und wusste, dass die männliche Vorstellungskraft alle Details zu ergänzen vermochte, ob diese nun zu sehen waren oder nicht.

Wie beim letzten Mal war es ihr auch jetzt sehr wichtig, ihre Identität geheim zu halten. Zu diesem Zweck trug Sarah eine juwelengeschmückte Maske und pfundweise Schminke und Puder, die sie in ein feminines fantastisch anmutendes Wesen mit langen Wimpern und goldenem Teint verwandelten. Eine schwarze, zu einem dicken Zopf geflochtene Perücke verbarg ihr rotes Haar. Sie hatte sich auch geweigert, an den Proben teilzunehmen, und es vorgezogen, ihre Nummer im Geheimen zu üben. Sie war nicht stolz auf das, was sie da tat. Sie hatte einen Ruf, den es zu schützen galt.

Schließlich war sie nicht nur Schauspielerin, sie war auch Theaterautorin.

Sie hatte sich bereit erklärt, die Sirene zu spielen, weil Geoff und Charles versprochen hatten, ihr Stück zu inszenieren.

Ihr Stück.

Jahrelang hatte Sarah die Texte von Männern umgeschrieben und geglättet, die nur ihr Talent ausnutzten und ihr für ihre Leistung keinerlei Anerkennung zukommen ließen. Colman vom Haymarket Theatre, dessen Ensemble sie seit Jahren angehörte, hatte ihr letzten Sommer versprochen, eines ihrer Stücke zu produzieren, doch als es dann so weit war, hatte er seine Zusage zurückgezogen und stattdessen eines seiner eigenen Stücke aufs Programm gesetzt. Ein Stück, das Sarah für ihn umgeschrieben hatte.

Daraufhin hatte Sarah gekündigt. Hocherhobenen Hauptes hatte sie das Ensemble verlassen – und mit leeren Taschen.

Das war der Moment gewesen, in dem Geoff und Charles sie angesprochen hatten.

Sie waren beide begabte Theaterleute, die die erste Frivole Nummernrevue auf die Beine gestellt hatten, um Geld für das Theater am Bishop’s Hill aufzutreiben. Wie jetzt war es eine einmalige Veranstaltung gewesen. Sarah hatte damals unbedingt Geld gebraucht, um der verwaisten Tochter ihrer Halbschwester ein Heim zu bieten. Ihren Busen hatte sie damals auch nicht präsentiert, hätte aber das und noch mehr getan, um Charlene zu helfen.

Niemand hatte damit gerechnet, dass sie als Sirene bei ihrem männlichen Publikum einen beinahe legendären Ruf erlangen würde. Selbst Sarah war verblüfft darüber gewesen, und sie war dankbar, dass man sie aufgrund ihrer Kostümierung nicht hatte erkennen können. Noch Monate nach der ersten Revue erschienen in den Gazetten Anzeigen von Männern, die entweder baten, die Schauspielerin, welche die Sirene verkörpert hatte, möge sich doch bei ihnen melden, oder um Informationen über sie nachsuchten. Glücklicherweise bewahrten die wenigen Personen, die es kannten, Sarahs Geheimnis.

Nun, nachdem sie ihr Theater einige Jahre lang geleitet hatten, waren Geoff und Charles tief verschuldet. Die beiden liefen Gefahr, das Theater am Bishop’s Hill zu verlieren, und hofften, dass ihre Revue beim zweiten Mal ebenso Früchte tragen würde wie beim ersten Mal.

„Jeder will die Sirene sehen“, hatte Charles erklärt. „Wenn Sie für uns die Sirene spielen, bringen wir Ihr Stück auf die Bühne. So bekommt jeder, was er will.“

Widerstrebend hatte Sarah eingewilligt. Eigentlich war ihr gar nichts anderes übrig geblieben. Um das Stück selbst aufzuführen, fehlten ihr die Mittel. Charlene war inzwischen glücklich verheiratet und wohnte in Boston, einen ganzen Ozean weit weg. Für Sarah war die Zeit gekommen, ihr eigenes Leben zu führen.

Wenn sie erreichte, was sie sich wünschte, indem sie sich beinahe nackt auf die Bühne stellte und sang und tanzte, war es eben so. Eine alleinstehende Frau musste oft zu drastischen Mitteln greifen, um zu überleben – und wenn Sarah etwas war, dann eine Überlebende.

Sie verlagerte das Gewicht auf dem schmalen Brett und umklammerte die Seidenkordel fester, an der sie auf die Bühne heruntergelassen werden sollte. Die Sirene sollte der letzte Auftritt dieses Abends sein. Sie wartete nun schon eine Stunde in ihrem Versteck hinter dem Vorhang.

Unter ihr verließen gerade zwei Gladiatorinnen mit Schwertern in Phallusform die Bühne. William Millroy, ein irischer Tenor, trat auf und begann von einem Seitensprung seiner Frau zu singen. Die Zuschauer beachteten ihn nicht weiter. Sie wollten die Frauen sehen. Jemand warf mit einem Kohlkopf nach Will, doch der wich geschickt aus. Zum Entzücken des Publikums kam weiteres Gemüse und Obst geflogen. Besonders groß war die Freude, wenn die Geschosse trafen. Unter dem Gejohle des Publikums stolperte William von der Bühne.

„Wo ist die Sirene?“, rief jemand. Ein Sprechgesang setzte ein. „Sirene! Sirene!“ Sarah schüttelte den Kopf. Männer konnten wirklich albern sein. Schon den ganzen Abend riefen sie immer wieder nach ihr.

Ein paar als Schafe verkleidete barbusige Tänzerinnen kamen auf die Bühne, worauf der Sprechgesang verstummte, und die Männer beifällig zu johlen begannen. Ein Gentleman sprang aus einer Loge auf das nächstbeste Schaf. Sarah kannte das Mädchen. Irene. Sie kreischte und schob seine Hände von ihren Brüsten weg, gerade als die beiden Schläger, die Geoff und Charles angeheuert hatten, herbeigeeilt kamen und den Mann ins Parkett warfen. Die Zuschauer quittierten die wohlverdiente Strafe mit Gelächter und derben Bemerkungen.

Dann setzte die Musik ein, und die Schafe tänzelten über die Bühne, während ein Schäfer zwischen ihnen hin und herlief und sie mit seinem Stab in den Hintern pikste. Immer wenn er ein Schaf erwischte, schrie es: „Mäh!“, und binnen Kurzem hatte das Publikum das „Mäh!“ aufgegriffen und durch etwas Obszönes ersetzt.

Sarah unterdrückte das dringende Bedürfnis, sich auf die Bühne zu begeben und den Männern Manieren beizubringen. Wenn sie derart ungezügelt weitermachten, würde ihr Auftritt recht kurz ausfallen.

Sie würde ihn in jedem Fall kurz halten.

Sie würde ein Lied singen und aus dem Theater fliehen, ohne dass irgendwer erfuhr, wer sie wirklich war, und dann konnte sie sie ihr Leben so weiterleben, wie sie es wollte. Sie würde ihr Stück aufführen, Die unbeständige Witwe: Eine Komödie über die menschliche Dummheit, und beweisen, dass sie ebenso talentiert war wie jeder x-beliebige männliche Dramatiker, und …

Ihre wilde Entschlossenheit erfuhr einen abrupten Dämpfer, als ihr Blick auf einen der Männer fiel, der in einer der sündhaft teuren Logen vorne an der Bühnenseite saß.

Es war er. Die breiten Schultern und der arrogant geneigte Kopf waren nicht zu verkennen.

Der Duke of Baynton, dieser Moralapostel, der Unvergleichliche, der Politiker, befand sich tatsächlich in ihrer Frivolen Nummernrevue.

Verblüfft lehnte Sarah sich zurück und atmete tief durch.

Wer hätte das gedacht? Baynton war auch nur ein normaler Sterblicher.

Vielleicht war er auch nur zufällig hierhergeraten? Nein, das war kaum vorstellbar.

Sie erinnerte sich genau, wie er ihr kühl erklärt hatte, er gehe niemals ins Theater. Nun ja, bis auf die eine oder andere Shakespeare-Aufführung.

Der heutige Abend war mit Shakespeare nicht zu vergleichen.

Aber es war interessant, ihn hier zu sehen.

Der Duke hatte ihrer Nichte Charlene den Hof gemacht. Als Charlene mit einem anderen durchgebrannt war, tatsächlich seinem Zwillingsbruder, hatte Baynton sie verfolgt. Sarah hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, damit sie ihre geliebte Nichte beschützen konnte.

Am Ende hatte Baynton die Dame nicht erobert, Charlene hatte den Mann geheiratet, den sie liebte, und der Duke hatte sich doch noch einigermaßen nachsichtig gezeigt – jedem gegenüber, nur Sarah nicht. Anscheinend wusste er freimütige Frauen nicht zu schätzen.

Sie hatte für ihn auch keine große Bewunderung empfunden. Ihre zweitägige Fahrt nach Schottland hatte sie zu dem Schluss kommen lassen, dass Baynton der unerträglichste und selbstgerechteste Mann auf Erden war. Bei ihrem Abschied hatte sie darum gebetet, ihn nie wiedersehen zu müssen. Allerdings war das hier eine wahre Freude. Ein Augenblick, den es auszukosten galt.

Von wegen nichts als Shakespeare. Was für ein Heuchler.

Wenn sie einen Schuh getragen hätte, hätte sie ihm den auf der Stelle an den Kopf geworfen. Sollte er doch glauben, das wäre Gottes Strafe für ihn, weil er einen derart unmoralischen Ort aufgesucht hatte. Sarah hätte es genossen, den Ausdruck in seinem attraktiven Gesicht … er war wirklich attraktiv. Sarah war ja nicht blind. Was ihr nicht gefiel, das war das, was aus seinem Mund kam.

Aber ihn einfach anzusehen, nun ja, das war schon erfreulich.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Als er Charlene zum ersten Mal aufgesucht hatte, war sie hocherfreut gewesen. Sie hatte sich für ihre Nichte nur das Beste gewünscht, und der Duke of Baynton war das Beste gewesen, was London zu bieten hatte. Er war wohlhabend, angesehen und allseits geachtet, und Charlene hätte eine wunderbare Duchess abgegeben.

Sarah konnte sich sogar noch an die letzte Bemerkung des Dukes erinnern. Baynton hatte Sarah für die Heimreise von Schottland lieber eine private Kutsche gemietet, um nicht länger mit ihr in einem Wagen sitzen zu müssen. In Hörweite hatte er daraufhin erklärt, dass es gut angelegtes Geld sei, da sie viel zu rechthaberisch sei. Obwohl sie von ihm ebenfalls die Nase voll gehabt hatte, hatte Sarah die Bemerkung erstaunlich verletzend gefunden.

Die Schafe waren fast am Ende ihres allzu langen Auftritts angekommen. Die Zuschauer riefen schon längst keine Kraftausdrücke oder Mähs auf die Bühne mehr und wurden allmählich unruhig. Das war das Problem bei derartigen Veranstaltungen. Sie beflügelten niemals die Fantasie – nicht auf die Weise, wie es ein gut geschriebenes Bühnenstück konnte.

Die Sirene war als Nächste an der Reihe.

Eben noch hatte Sarah sich vorgenommen, ihren Auftritt so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Doch das war, ehe sie Seine Aufgeblasenheit im Publikum entdeckt hatte.

Sie stand auf und wickelte sich das seidene Band um die Hand und machte sich bereit, von ihrem Podest zu steigen, sobald die Tänzerinnen die Bühne verlassen hatten. Sie fühlte sich stark und mächtig und bereit, den Auftritt ihres Lebens hinzulegen.

So etwas wie die Sirene hatte er bestimmt noch nicht gesehen.

2. KAPITEL

Wenn er sich nicht Sorgen um seinen Freund Rovington gemacht hätte, hätte Gavin Whitridge, Duke of Baynton, die Frivole Nummernrevue auf der Stelle verlassen.

Oh, blanke Busen gefielen ihm wie jedem anderen Mann auch – und hier gab es genügend davon zu sehen. Große Brüste, kleine Brüste und alle Größen dazwischen hüpften und schaukelten ihm so lange vor der Nase herum, dass es irgendwann langweilig wurde.

Nun ja, ihm zumindest. Die anderen Männer im Theater schienen gar nicht genug davon bekommen zu können. Sie drängten nach vorn zum Orchestergraben, wo die Musik – zwei Geigen, ein Pianoforte – aufspielte, und versuchten, die Bühne und all die tanzenden Brüste zu erstürmen.

Und was es für eine Menschenmenge war! Da das Theater von Unmengen von Kerzen nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum erleuchtet wurde, hatte Gavin bereits drei Richter und offenbar sämtliche Mitglieder des Unterhauses entdeckt. Der über achtzigjährige Lord Bradford war in seiner Sänfte hereingetragen worden und genoss die Vorstellung zusammen mit den Trägern. Väter wurden von ihren Söhnen begleitet. Ganze Schiffsladungen von Matrosen tummelten sich im Parkett, und Lords, Gentlemen, Schurken und offenkundige Verbrecher grölten und pfiffen begeistert durcheinander.

Beinahe ebenso barbusige Schankmädchen schoben sich mit Bierkrügen durch die Menge, für die sie jeweils eine halbe Guinee berechneten und anstandslos bezahlt bekamen.

Oh ja, es war ein rauschender Theaterabend, und er erinnerte Gavin daran, warum er dergleichen kaum ertragen konnte. Er hasste Menschenmengen. Aber er war ja auch nicht wegen der Unterhaltung hier.

Nein, er war hier, weil er glaubte, dass sein Vertrauen in Rovington, in dessen privater Loge er nun saß, missbraucht wurde.

Vor einigen Monaten war Rovs Frau Jane zu Gavin gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten. Rov hatte sich immer als Spieler betrachtet, nur dass er sich damit nun anscheinend völlig übernommen hatte. Jane behauptete, er sei erledigt, pleite. Ruiniert. Er hatte sich an ein paar Geldverleiher gewandt und würde nun einen Teil der Ländereien verlieren, die nicht unter Fideikommiss standen. Da sein Vater, ebenfalls ein Spieler, mit seiner Verantwortung nicht gerade weise umgegangen war, gab es davon eine ganze Reihe.

Gavin zählte Rov zu seinen ältesten Freunden. Sie kannten sich seit der Schule. Natürlich hatte er ihm helfen wollen, und so hatte er Rov den lukrativen Posten des Ausschussvorsitzenden im Oberhaus zugeschanzt.

Er hatte es aus mehreren Gründen getan: Erstens hatte Rov stets einen guten Draht zum bürgerlichen Teil der Bevölkerung gehabt, und in dieser Stellung musste man gute Beziehungen zum Unterhaus pflegen. Der Ausschussvorsitzende im Oberhaus hatte erheblichen Einfluss auf die gesamte parlamentarische Gesetzgebung. Und das war der zweite Grund, warum Gavin ihn dort installiert hatte – er erwartete, dass Rov seinen Vorschlägen folgte. Dafür würde ihn das Einkommen, das er für diese Stellung bezog, aller Geldsorgen entledigen.

Leider war diese Entscheidung nicht von Erfolg gekrönt.

Ja, Rov kam gut mit den Angehörigen des Unterhauses zurecht – wie sich an der Anzahl von Abgeordneten erkennen ließ, die an diesem Abend in seiner Loge vorbeischauten. Aber er ließ sich nicht kontrollieren. Er ignorierte Gavins Empfehlungen und handelte nach eigenem Gutdünken … und Gavin beschlich allmählich der Verdacht, dass Rov möglicherweise ein doppeltes Spiel spielte oder sich sogar bestechen ließ.

Das Einkommen hatte ihm auch nicht geholfen. Rov spielte exzessiver denn je. Erst an diesem Nachmittag hatte Jane Gavin einen Besuch abgestattet, um ihn um Hilfe zu bitten. Anscheinend hatte Rov in ganz London Wetten darüber abgeschlossen, dass er eine Frau ins Bett bekommen würde, die als Sirene bekannt war.

„Er ist völlig vernarrt in sie“, hatte Jane gesagt. „Er hat sie vor Jahren bei einem Auftritt gesehen und sie nie vergessen können.“

„Aber Wetten darauf abzuschließen, dass er sie ins Bett kriegt?“, hatte Gavin ungläubig gefragt.

„Überzeuge dich selbst davon. Mein Ehemann ist ein Narr.“

Damit hatte sie recht.

Mit ein wenig Nachforschen hatte Gavin erfahren, dass Rov ein Vermögen auf seine Bettwette gesetzt hatte. Außerdem hatte er fünfhundert Pfund für die Privatloge am Bühnenrand ausgegeben, auch dann eine exorbitante Summe, wenn ihnen auf der Bühne echte Schauspielkunst präsentiert worden wäre.

Und Rov vertrat seine Wette mit unglaublicher Dreistigkeit. Den ganzen Abend hatten irgendwelche Männer vorbeigeschaut, um ihren Einsatz zu erhöhen. Gavin wusste, dass Rov eine Vorliebe für Schauspielerinnen hatte. Er mochte Jane und hoffte, sie würde nie von Rovs zahllosen Geliebten erfahren, die vermutlich mehr vom Geld ihres Mannes erhielten als sie selbst.

Alles in allem, dachte Gavin, ist es keine gute Entscheidung gewesen, Rov zu vertrauen. Er hörte förmlich, wie sich sein Vater über ihn lustig machte. Sein Vater hatte Gavin immer gewarnt, er solle sich von Spielern fernhalten. Allerdings hatte sein Vater selbst die eine oder andere schlechte Investition getätigt, und war das nicht vielleicht auch eine Form von Glücksspiel?

Außer Rov und Gavin saßen in der Loge noch Admiral Alexander Daniels und Lord Phillips, ein Mitglied des Kanzleigerichts. Beide Männer waren ziemlich angeheitert, Phillips schlimmer als der Admiral. Dazu kam Rovs Cousin Sir John Harmond, ein weithin geachteter Mathematiker, der bei jedem Akt kicherte wie ein junges Mädchen. Daneben hatten sich zwei gerissene Burschen eingefunden, die ganz offenkundig Gauner waren und die beunruhigenden Gerüchte über seinen Freund bestätigten, die Gavin zu Ohren gekommen waren.

„Das sind Harris und Crowder“, hatte Rov die beiden lässig vorgestellt.

„Euer Gnaden“, hatte Crowder für beide gesagt, aber nicht mit der Ehrerbietung, die Gavin gewohnt war. Sie benahmen sich, als hätten sie schon zu viel von der Menschheit und ihren Schattenseiten gesehen, um sich von einem schlichten Duke beeindrucken zu lassen. Rovington war für sie nicht mehr als eine Zielscheibe, ein Mann, der seiner eigenen Spielsucht zum Opfer gefallen war, und wenn ihm nicht noch seine Freunde zu Hilfe eilten, würden sie ihn bei lebendigem Leib auffressen.

Gavin hatte nicht viele enge Freunde, gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechts. Sein Titel hinderte ihn ebenso daran, Freundschaften zu schließen, wie die vielen Pflichten, die einen Großteil seiner Zeit in Anspruch nahmen. Sein Vater hatte ihm eingebläut, dass ein Mann in seiner Stellung größere Anforderungen an sich selbst stellen müsse als an seine Umgebung.

Während seine Standesgenossen ihren Vergnügungen nachgingen, setzte Gavin sich an die Arbeit. Er fühlte sich seinem Land verpflichtet. Er nutzte seinen beträchtlichen politischen Einfluss, um die richtigen Anliegen zu unterstützen und den Anforderungen gerecht zu werden, die mit seinem Titel einhergingen. Er hielt sich zugute, zu den Leuten zu gehören, die aus der Masse herausragten.

Das alles hielt ihn in Atem und ließ ihm kaum Zeit für persönliche Freundschaften. Vielleicht war dies der Grund, warum er Rov zu sehr vertraut hatte. Während er den halbnackten Schafen auf der Bühne beim Tanzen zusah, wälzte er in Gedanken das Problem, wie er seinen Freund davon abhalten konnte, sich zu ruinieren …

Beinahe hätte er das Getränk in seinem Becher verschüttet, als er einen scharfen Stoß in die Rippen bekam. „Ich hab’s dir doch gesagt, dass das eine riesige Sache wird, was?“, fragte Rov mit funkelndem, erregtem Blick. Er war etwas kleiner als Gavin und auch dünner und hatte blonde Haare. In seinem hübschen Gesicht zeigten sich erste Spuren des ausschweifenden, alkoholseligen Lebensstils, dessen er sich befleißigte. „Ich sagte, genau das ist es, was du brauchst, Baynton. Anstatt über den Berichten für das Parlament und Whitehall zu brüten. Ein Mann muss sich auch mal entspannen können. Du musst den Wolf in dir loslassen.“ Er betonte die letzten Worte, indem er Gavin gegen die Schulter boxte. „Vor allem, bevor du dir Ehefesseln anlegen lässt.“

Damit meinte er Gavins Suche nach einer Ehefrau.

„Wenn ich eine Frau wie deine hätte, würde ich meine Entspannung zu Hause suchen“, erwiderte Gavin unverblümt, wenngleich in mildem Ton.

Rov lachte. „Jane ist ein braves Mädchen, aber man langweilt sich doch als Mann, wenn man Abend für Abend dieselbe Mahlzeit serviert bekommt. Irgendwann merkt man, dass man weich wird, alt … und wünscht sich etwas Abwechslung. Du weißt gar nicht, was für ein Glück du hast, noch keine Ehefesseln zu tragen …“

„Heda, was redet Ihr denn da?“, fragte Admiral Daniels angesäuselt und beugte sich zwischen die beiden. „Ist der Duke etwa immer noch auf Brautschau?“

„Ich habe ihm eben gesagt, dass es die Mühe nicht wert ist“, entgegnete Rov.

„Ist es auch nicht“, meinte Daniels. „Lieber eine Geliebte als eine Ehefrau. Mir gefällt das blonde Mädel da oben auf der Bühne. Nettes Ding. Eine ordentliche Handvoll.“ Er machte eine Bewegung mit der Hand, als drückte er eine imaginäre Brust zusammen.

Rov lachte, Sir John kicherte, und Gavin wünschte sich weit weg. Dass alle Welt über seine persönlichen Angelegenheiten Bescheid wusste, war ihm zutiefst zuwider. Nachdem ihm zwei Frauen nacheinander den Laufpass gegeben hatten, war der Klatsch natürlich unvermeidlich gewesen.

Ebenso die guten Ratschläge.

Und die Heiratsanträge.

Jeder, wirklich jeder pries ihm seine Tochter, Schwester, Kusine, ja sogar Tante an und gelobte dazu, dass seine Kandidatin selbstverständlich die Richtige sei. Gleichzeitig spürte Gavin, dass diese so gepriesenen jungen Frauen sich fragten, was mit ihm wohl nicht stimmte, nachdem ihn zwei Frauen hatten stehen lassen. Demütigend.

Aber er hatte nicht die Absicht, von jemandem wie Daniels gute Ratschläge anzunehmen.

Bevor er noch Gelegenheit hatte zu einer bissigen Antwort, kam ein Schankmädchen mit rosigen Wangen herein, um ihnen die bestellten Getränke zu bringen. Lord Phillips streckte den Arm aus und knallte den leeren Krug auf ihr Tablett.

„Vorsicht, bitte“, rief das Mädchen.

Phillips sah sie verblüfft an. „Weißt du, wer ich bin?“

„Ein Trunkenbold“, gab sie zurück, als hätte sie an diesem Abend schon zu viele von seiner Sorte gesehen. „Hier kommt Nachschub.“ Sie reichte ihm den vollen Krug.

Phillips nahm ihn entgegen, bedachte das Mädchen dann jedoch mit einem anzüglichen Grinsen und goss ihm den Inhalt über das tief ausgeschnittene Kleid, noch ehe Gavin sich im Klaren darüber war, was er vorhatte.

Das Bier spritzte durch die ganze Loge, auch auf Gavin. Phillips setzte diesen Mätzchen dann noch die Krone auf, indem er vorwärtstaumelte und das Gesicht ins Dekolleté des Schankmädchens schob. Dabei schüttelte er heftig den Kopf und schlang ihr die Arme um die Taille.

Das Mädchen kreischte auf und verlangte, dass er sie sofort loslasse. Sie schlug ihm mit dem Tablett auf den Rücken und wand sich in seinem Griff. Sämtliche Männer ringsum brüllten vor Lachen. Ein paar stellten sich auf die Bänke oder Stühle in ihren Logen, um besser sehen zu können. Sie hielten das alles für einen großartigen Spaß und feuerten Phillips so laut an, dass sie das Bühnengeschehen übertönten.

Gavin fand es kriminell. Er sprang auf, packte Phillips beim Kragen und dem Hosenboden und riss ihn hoch. „Laufen Sie“, sagte er zu dem Mädchen, das sich dies nicht zweimal sagen ließ.

Dann schwenkte er Phillips zu sich herum und sagte: „Morgen stehen Sie einer Ausschusssitzung mit dem Prinzregenten vor. Sehen Sie zu, dass Sie bis dahin nüchtern sind.“

Phillips sah Gavin an, grinste wie der Idiot, der er war, und rülpste. Angeekelt von dem Geruch, ließ Gavin ihn fallen, worauf Phillips vor Harris und Crowder zu Boden ging und sich nicht mehr rührte.

„Hab doch gesagt, dass er der Erste sein wird, der aus den Latschen kippt“, sagte Rov zu Daniels. „Wenn ich zur Kasse bitten dürfte.“

„Morgen bekommen Sie einen Schuldschein“, erwiderte der Admiral sorglos.

„Musst du denn auf alles eine Wette abschließen?“, fragte Gavin seinen Freund ebenso überrascht wie entsetzt.

„Nur wenn ich weiß, dass ich gewinne“, versicherte Rov ihm, lehnte sich zurück und legte die Beine übereinander. „Zum Beispiel läuft eine Wette, dass ich die Sirene noch vor jedem anderen Mann hier ins Bett kriege.“

„Diese Wette ist ja völlig albern“, meinte Gavin, froh über diese Gelegenheit, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen.

„Findest du?“, fragte Rov unbeeindruckt. Er holte die Schnupftabaksdose heraus und nahm eine Prise. „Vielleicht möchtest du gegen mich wetten?“ Er nieste.

„Ich habe kein Interesse an unmoralischen Frauen“, entgegnete Gavin.

„Die Sirene ist nicht einfach nur irgendeine Frau“, sagte Daniels. Er klang, als hielte er Gavin für einen Einfaltspinsel. „Wissen Sie denn nicht, wer sie ist? Warum sind Sie dann hier, wenn Sie das nicht wissen?“

„Nein, Baynton weiß es nicht“, erklärte Rov. „Ich bin mir sicher, dass er bei ihrem damaligen Auftritt in London nicht dabei war.“

Daniels lachte krähend auf. „Na, dann steht Ihnen aber etwas ganz Besonderes bevor, Euer Gnaden. Ein so hinreißendes Geschöpf hat die Welt seither nicht mehr gesehen. Damals hat sie jedes Männerherz erobert, und dann ist sie verschwunden.“

„Verschwunden?“, wiederholte Gavin.

„Aye.“ Rov nickte. „Bei der Revue damals war sie die Königin des Abends. Seither habe ich nichts gesehen, was ihr gleichgekommen wäre. Im ganzen Theater gab es keinen einzigen Mann, der sie nicht für sich gewollt hätte.“

„Aye, so war es“, bestätigte Daniels.

„Aber sie ist verschwunden, und keiner, auch nicht der Theaterdirektor, wollte uns sagen, wer sie ist oder wohin sie gegangen war. Ich weiß das, weil ich für diese Information nicht wenig habe springen lassen. Aber heute Abend kommt sie zurück, und ein zweites Mal wird sie mir nicht entfliehen.“

„Hast du etwa die Absicht, ihr nachzujagen?“, fragte Gavin.

Rov lachte. „Aber natürlich, Baynton. Sie ist eine Schauspielerin, Freiwild also. So eine wie sie erwartet doch gar nichts anderes.“

„Das ist keine Hetzjagd. Es handelt sich schließlich um ein menschliches Wesen.“

„Sogar ein besonders reizvolles“, stimmte Rov zu, ohne Reue zu zeigen. „Wart nur, bis du sie siehst. Dann wirst du sie ebenfalls zur Strecke bringen wollen – ach nein, du willst dir ja keine Geliebte nehmen.“

Das war eine alte Auseinandersetzung zwischen ihnen. Rov verstand einfach nicht, warum Gavin seinen Titel nicht dazu nutzte, um sich rundum mit Frauen einzudecken. „Du lebst ja fast wie ein Mönch, das finde ich äußerst verdächtig“, sagte er gern und nur halb im Spaß.

Wenn er die Wahrheit gewusst hätte, hätte er Gavin noch erbarmungsloser aufgezogen … denn Gavin musste die Frauen erst noch „erkennen“, wie Bibelgelehrte es gern formulierten.

Nicht dass Gavin das nicht gewollt hätte. Er war begierig auf Sex. Er sehnte sich nach der Weichheit einer Frau, einer Gattin, einer Gefährtin.

Als Duke war es jedoch wichtig, dass seine Frau noch unberührt war. Wie würde er sich sonst sicher sein können, wie sein Vater immer wieder betont hatte, dass ihr Nachwuchs auch von ihm stammte?

Und wenn Gavins Frau unberührt sein musste, sollte das dann nicht auch für ihn gelten? In alten Zeiten sollten die Ritter vor der Ehe enthaltsam gelebt haben, eine Vorstellung, die Gavin inspirierte, ganz abgesehen davon, dass sein Vater ihm ohnehin nicht gestattet hätte, mit Rov und den anderen herumzuhuren. Sein Vater war wirklich ein strenger Zuchtmeister gewesen, wenn es darum ging, seinen ältesten Sohn auf die Herzogswürde vorzubereiten.

Außerdem, als Gavin beschlossen hatte, bis zur Ehe zu warten, hatte er nicht damit gerechnet, so lange warten zu müssen. Schließlich war er seit seiner Jugendzeit mit der Erbin Elin Morris verlobt gewesen. Sowie sie großjährig wurde, hatte er sie zur Frau nehmen wollen, doch dann war sein Vater verstorben, und sie hatte ihre geliebte Mutter verloren, und die Hochzeit wurde um Jahre verschoben. Zu viele Jahre, und dann hatte sie einen anderen geheiratet, seinen jüngsten Bruder Ben. Es hatte sich dabei um eine echte Liebesheirat gehandelt. Gavin hätte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, sie an ihr Verlöbnis zu binden.

Und hier war er nun, dreiunddreißig Jahre alt und noch immer unerfahren … in einem Raum, in dem jeder Mann behauptete, sich mit Frauen auszukennen, zumindest ließen das die Bemerkungen vermuten, welche sie den tanzenden Schäfchen auf der Bühne zuschrien. Und Rov war sich seiner Männlichkeit so sicher, dass er sogar Wetten darauf abschloss, die Sirene ins Bett zu bekommen.

Kein Wunder, dass Gavin sich allein vorkam. Er wollte so gern glauben, dass dem Ehebett und der Vereinigung von Geist und Körper von Mann und Frau etwas Heiliges innewohnte. „Und wenn du deine Wette nicht gewinnst?“, fragte er seinen feixenden Freund.

„Ich gewinne schon.“

„Und wenn nicht?“, beharrte Gavin, weil er Rov unbedingt zur Einsicht bringen wollte.

„Es gibt immer Wege, an Geld zu kommen“, lautete die kryptische Antwort, und da wurde Gavin klar, dass er Rov von seiner Rolle als Ausschussvorsitzender im Oberhaus entbinden musste. Ihm war ebenfalls klar, dass dies bei Rov nicht gut ankommen würde. Auch nicht bei Jane. Aber wie sollte er die Sache taktvoll erledigen?

Die Schafe beendeten ihren Tanz, indem sie sich vornüberbeugten, sodass jeder die blanken Hinterteile unter den albernen Kostümen sehen konnte. Das männliche Publikum johlte begeistert und verfiel dann in erwartungsvolles Schweigen.

„Jetzt kommt die Sirene“, flüsterte Daniels und rückte näher an den Rand der Loge. Sogar Harris und Crowder richteten sich auf.

Phillips rappelte sich vom Boden auf und fragte betrunken: „Hab ich sie verpasst?“

Ein paar Stimmen ringsum brachten ihn zum Schweigen, und allmählich ließ Gavin sich von der Aufregung im Raum anstecken.

Die Sirene. Eine geheimnisvolle Frau. Keiner wusste, wer sie war, und dennoch warteten alle im Theater auf sie. Alle waren sich Rovs angeberischer Wette bewusst; sie verlieh dem Abend zusätzlich eine pikante Note.

In der Stille ertönte die Stimme einer Frau, klar und kräftig wie die eines Singvogels. Der Klang erfüllte das Theater.

Gavin sah sich um, erwartete, die Frau auf der Bühne zu sehen.

Stattdessen senkte sich ein dickes silbernes Seil herab. Daran hielt sich ein herrliches goldenes Geschöpf mit rabenschwarzem Haar fest. Ihr durchsichtiges Kleid war hauchfein. Es schmiegte sich um ihre wohlgerundete Gestalt und an ihre vollen Brüste. Sie trug eine Maske, die mit funkelnden Juwelen besetzt war. Ihre Lippen waren rot und sinnlich. Durch das dünne Gewand konnte man ihre Beine sehen, und sie war barfuß.

Gavins Reaktion auf die Sirene war unmittelbar und fordernd. Er konnte sich nicht entsinnen, im Leben einen schöneren Anblick gesehen zu haben.

Er musste aufstehen. Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Stuhl, und er war bei Weitem nicht der Einzige. Rov klatschte und hielt wie zum Zeichen seiner Huldigung die Hände in die Luft. Sir John kicherte, und die anderen Männer ringsum, einschließlich der Gauner, waren völlig hingerissen.

Sie war nicht einfach nur eine Schauspielerin.

Die Sirene war eine Göttin, und getreu ihrem Namen verstand sie es, die Männer nach Belieben anzulocken, wann immer es sie nach ihnen gelüstete. Nun verstand Gavin, warum sich im Theater die Leute drängten. Er war überzeugt, dass er sie nun, nachdem er sie gesehen hatte, nie mehr vergessen würde.

Langsam drehte sich das Seil.

Sie hob ein Bein an und schlang dann in einer Geste purer Anmut den Arm um das Seil. Das Seil begann hin- und herzuschwingen. Ihre hauchdünnen Röcke wirbelten auf, enthüllten wohlgeformte Waden, erlaubten einen flüchtigen Blick auf einen Schenkel und vielleicht noch auf mehr? Auf etwas, was für einen Mann so verlockend war, dass er dafür seine Seele verkaufen würde?

Und dabei sang sie die ganze Zeit.

Gavin hörte nicht auf die Worte. Alles, was er hörte, war ihre Stimme, eine Stimme, die ihn in tiefster Seele berührte … eine Stimme, die ihm tatsächlich ein wenig bekannt vorkam …?

Der Gedanke verblüffte ihn. Ließ ihn innehalten.

Sie lehnte sich zurück. Ihre Röcke rutschten ihr zwischen die Schenkel. Man konnte sich leicht vorstellen, dort die Hand hinzulegen. Sich selbst dort hinzulegen. Ihr rabenschwarzer Zopf wippte, und dann drehte sie sich um und blickte Gavin direkt an.

Ihre Augen waren grün.

Eigentlich war das gar nicht so genau zu erkennen, auch wenn Rovs Loge praktisch auf der Bühne lag, aber Gavin wusste es.

Er wusste nämlich, wer sie war.

Diese Erkenntnis war sowohl verblüffend als auch enttäuschend. Die Sirene war Mrs. Sarah Pettijohn.

Erschüttert setzte er sich hin.

Sarah Pettijohn war die unausstehlichste, rechthaberischste, starrsinnigste Frau, die er je kennengelernt hatte. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte er es gar nicht erwarten können, ihr zu entkommen.

Sie war Lady Charlenes Tante, die Tante der Frau, die ihm jüngst den Laufpass gegeben hatte, natürlich mit Sarahs Segen, so widerborstig konnte Mrs. Pettijohn sein.

Und nun war sie hier, trug so gut wie nichts, und stellte sich hier vor der männlichen Bevölkerung Londons zur Schau.

Allerdings war Mrs. Pettijohn Schauspielerin. Schauspielerinnen stellten sich zur Schau, das war ihr Beruf, obwohl Gavin sich nie hätte vorstellen können, dass die stolze Frau, von der er sich in Schottland verabschiedet hatte, so viel von sich offenbaren würde. Er konnte den Blick nicht von ihr losreißen.

Sie ließ das Seil durch die Finger gleiten, hielt den letzten Ton ihres Liedes, und Gavin verschränkte die Arme und wartete darauf, dass die schwarze Perücke zu Boden fliegen würde. Dann würde die Welt erfahren, dass ihre herrliche Göttin nichts anderes war als eine mürrische Xanthippe mit feuerrotem Haar.

Aber gut sah sie aus.

Gefährlich gut. Die Art Schönheit, die einen Mann reizbar und hungrig machte. Sogar einen Mann wie ihn, der sich seiner Selbstbeherrschung rühmte und versuchte, niemals solche Gedanken zu hegen, wie er sie im Moment hegte.

Das sich drehende Seil wurde langsamer und ließ sie auf die Bühne herab. Die Juwelen an ihrer Maske funkelten im Kerzenschein. Elegant streckte sie den Arm aus, während sie das Lied beendete. Sie drehte sich um, blicke Gavin noch einmal direkt ins Gesicht und lächelte. Dabei zog sie selbstzufrieden die Lippen hoch, als glaubte sie, ihn in die Schranken verwiesen zu haben.

Seine Lust starb einen raschen Tod.

Er kannte sie doch, wie konnte er dann auf diese Weise auf sie reagiert haben?

Die Zuschauer kannten derlei Zweifel natürlich nicht. Voll stürmischer Begeisterung riefen sie: „Die Sirene!“ und trampelten dabei mit den Füßen auf den Boden. Sie klatschten in die Hände. Sie pfiffen. Sie riefen nach einer Zugabe – und die Sirene sonnte sich in ihrer Bewunderung.

Sie winkte, nahm ihre Huldigung entgegen, die Füße dabei auf grazil tänzerische Weise nach außen gerichtet, als wüsste sie, wie sehr Gavin sie missbilligte, als gälte dieser Auftritt nur ihm. In Wahrheit konnte er sich gerade noch davon abhalten, auf die Bühne zu eilen und entweder den Rock über sie zu werfen, um ihre Blöße zu bedecken, oder sie zu packen und in sein Bett davonzutragen …

Gavin verkniff es sich, auf die Bühne zu eilen, nicht aber Rov.

Im Nu war er über die Brüstung seiner Loge gesprungen, bevor noch irgendjemand ihn hätte aufhalten können, und rannte nun zu Mrs. Pettijohn. Er packte sie an der Taille, wirbelte sie zu sich herum und versuchte sie zu küssen. Die schwarze Perücke fiel zu Boden, und als darunter dann das tiefrote Haar zum Vorschein kam und ihr bis zur Taille wallte, kannten alle ihr Geheimnis.

Gavin machte Anstalten, Mrs. Pettijohn zu Hilfe zu eilen und Rovs Lippen von ihr loszureißen, doch sie brauchte ihn nicht. Ihr Knie schnellte nach oben, und mit einer kräftigen, sicheren Bewegung erwischte sie Rov an einer sehr empfindsamen Stelle. Wenn Rov sich so fühlte wie Gavin eben noch, wäre er aufs Äußerste erregt, und so würde ihr wohlplatzierter Angriff ihn ziemlich treffen.

Rovington krümmte sich vor Schmerzen zusammen.

Einen Augenblick herrschte entsetzte Stille im Theater, und dann brandete im Publikum Gelächter auf. Im nächsten Augenblick brach das reinste Chaos aus. Jeder beschloss, Rovs Beispiel zu folgen. Von überall kamen Männer auf die Bühne, sprangen aus den teuren Logen oder kletterten über den Orchestergraben, alle mit einem Ziel: Hand an Mrs. Pettijohn zu legen.

Sie sah, was da auf sie zukam, und war klug genug, die Flucht zu ergreifen.

3. KAPITEL

Wie dumm, wie dumm sie doch gewesen war …

Sarah wusste nicht, wer der Mann war, der sich ihr genähert hatte. Sie hatte sich ganz auf Baynton konzentriert – den stolzen, mächtigen Duke, der in seiner Loge saß und sie mit verschränkten Armen und Beinen beobachtete, als säße er über sie zu Gericht.

Oh, wie gern sie ihm zugerufen hätte, sie doch anzusehen. Ganz London lag ihr zu Füßen. Sie war jetzt auch mächtig. Außerdem war sie begabt, und auch wenn sie mit ihren vierunddreißig Jahren für eine Schauspielerin als alt galt, jubelten die Männer ihr zu. Sie war die Sirene!

Das war ihr letzter Gedanke gewesen, bevor sie von irgendeinem Flegel herumgerissen und auf die Lippen geküsst worden war. Sie hatte nicht einmal gewusst, wer der Kerl war, nur dass er in der Loge des Dukes gesessen hatte.

Hatte Baynton ihn zu diesem Angriff vielleicht angestachelt? War das seine Art, sie in ihre Schranken zu verweisen?

Wenn ja, so hätte er sie zutiefst enttäuscht. Der Kussangriff war keineswegs originell.

Glücklicherweise kannte sie jedes Versteck im Theater, schließlich hatte sie die letzten Wochen damit zugebracht, ihre Identität geheim zu halten. Sie rannte hinter die Bühne, hörte, dass ihr die Verfolger dicht auf den Fersen waren, kniete sich geistesgegenwärtig hin und tastete nach der Falltür im Boden. Sie hob die Tür an und ließ sich in die Dunkelheit gleiten, wobei sie die Falltür über sich schloss.

Kein triumphierendes Geschrei erhob sich. Im nächsten Augenblick war von oben lautes Fußgetrappel zu hören, und die Männer riefen sich immer wieder etwas zu. „Da ist sie hin!“, rief einer.

„Wer sie als Erster fängt, darf auch als Erster ran“, kam es munter zurück, und dann stürmte die wilde Jagd über ihren Kopf hinweg.

Sarah kauerte sich hin und hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nichts mehr hören. Wenn ihnen nun aufging, dass sie auf der falschen Fährte waren? Würden sie zurück ins Theater laufen und sie doch noch finden?

Und was würden sie tun, wenn sie sie erst einmal hatten? Sie wagte nicht, darüber nachzudenken.

Sie fasste sich ans Gesicht und stieß gegen die Maske. Zu ihrer Überraschung hatte sie die immer noch auf. Sie nahm das absurde Ding ab und warf es weg. Nie wieder würde sie die Sirene spielen. Nie wieder.

Über ihr waren wieder Schritte zu hören, weiteres Herumrennen. Dann waren gedämpfte Stimmen zu vernehmen, doch sie waren so weit entfernt, dass Sarah nicht verstand, was sie sagten. Allmählich glaubte sie, sie sei in Sicherheit.

Sie hielt sich ganz still, und ihre Gedanken wandten sich in eine Richtung, die sie sie nur selten einschlagen ließ. Wie oft hatte sie sich in ihrer Kindheit auf diese Weise versteckt? Sich ganz eng zusammengerollt, damit sie die Männer nicht störte, die ihre Mutter besuchten? Einst war sie ziemlich geübt darin gewesen, sich so klein zu machen, dass niemand sie sah. Oder so zu tun, als wäre sie gar nicht erst anwesend.

Dunkle Erinnerungen … sie markierten das Verstreichen der Zeit, bis im Theater über ihr alles ruhig zu sein schien. Erleichtert atmete sie auf. Sie erhob sich und öffnete die Falltür einen Spalt. Bis auf ein Licht, das von der Hintertür kam, war alles dunkel. In der Ferne regte sich etwas, doch die Geräusche rührten nur von den Mitarbeitern des Theaters, die im Begriff waren, aufzuräumen und das Gebäude dann zu schließen. Ihre Verfolger waren offenbar gegangen. Sarah klappte die Tür um und kletterte nach oben. Sie spürte ihre Muskeln und jedes einzelne Lebensjahr. Ihre Frisur hatte sich gelöst, die Haarnadeln waren größtenteils aus dem schweren Haar gefallen. Sie fasste es mit einer Hand zusammen und band es zurück.

Einen Moment überlegte sie, ob sie einfach nach Hause gehen sollte, doch dann wurde ihr klar, dass sie nicht in diesem Kleid in London herumlaufen konnte.

Vorsichtig tastend setzte sie auf der Bühne einen Fuß vor den anderen, eine Hand ausgestreckt, damit sie im Dunkeln nicht stolperte. Anscheinend waren sogar Geoff und Charles bereits nach Hause gegangen. Bevor sie sich zu den Garderoben begab, brauchte sie noch eine Kerze, sonst würde sie es nie durch das Labyrinth der Korridore und alten Bühnenbilder schaffen. Sie bewegte sich auf das Licht zu, wo sie den alten Ollie zu finden hoffte, der den Hinterausgang bewachte. Bevor er die Tür abschloss, bestünde seine letzte Amtshandlung des Abends darin, seine Lampe auszublasen.

Die anderen Mitglieder des Ensembles hatten das Theater offenbar ebenfalls verlassen. Sarah hoffte, dass keiner in das verrückte Chaos nach ihrem Auftritt geraten war und dass keine andere Schauspielerin Schaden genommen hatte.

Sie hörte Kehrgeräusche. Als sie am Hinterausgang ankam, schaffte Ollie dort gerade Ordnung mit einem Besen. Ollie hatte schon in vielen Londoner Theatern gearbeitet und kannte Sarah vom Sehen. Als er sie sah, lächelte er ihr zu.

„Hallo, ich hab mich schon gefragt, ob Sie den Leuten entkommen konnten. Die waren ganz schön heiß auf Sie.“ Er stellte den Besen hin.

„Männer sind seltsam, Ollie.“

„Aye, sind wir.“

„Wurde irgendwer verletzt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nee, die Mädels wissen schon, wie sie auf sich aufpassen können. Ich hab den Burschen zugerufen, dass Sie hinten raus wären, und dann sind sie alle nach draußen gerannt. Wir hatten das Theater ziemlich schnell leergeräumt.“

„So etwas habe ich noch nie erlebt. Ist viel zu Bruch gegangen?“

„Mr. Geoff und Mr. Charles haben etwas geschrien von wegen, dass der Vorhang zerrissen wäre, aber sonst ist alles heil geblieben. Sie waren eher interessiert an den abendlichen Einnahmen.“ Er bezog sich auf den Kartenverkauf.

Das erleichterte sie. Wenn großer Schaden entstanden wäre, hätten Geoff und Charles möglicherweise ihr die Schuld daran gegeben und sich geweigert, ihr Stück aufzuführen – dann hätte sie das alles umsonst auf sich genommen. „Darf ich eine Kerze in die Garderobe mitnehmen? Ich muss mich umziehen.“

„Aber natürlich, Miss.“ Er reichte ihr einen Kerzenstumpen und entzündete ihn an seiner Lampe.

„Sie wissen hoffentlich, dass ich versuche, meine Identität geheim zu halten, Ollie. Geoff und Charles haben mir versprochen, ein Stück von mir aufzuführen, wenn ich das hier für sie tue. Ich würde lieber als gute Bühnenautorin bekannt werden denn als Sirene. Kann ich mich auf Sie verlassen?“

Es war jedoch nicht Ollie, der ihr antwortete.

„Ich fürchte, Ihr Geheimnis ist gelüftet, Mrs. Pettijohn“, sagte eine männliche Stimme. Der blonde Mann, der sie auf der Bühne angegriffen hatte, trat aus der Dunkelheit. „Und an Ihrer Stelle wäre ich stolz auf meinen Auftritt. Sie haben damit meine Aufmerksamkeit erregt.“

Stirnrunzelnd sah sie Ollie an. Offenkundig hatte der sie verraten. „Hoffentlich hat er Sie gut bezahlt.“

„Tut mir leid, Sarah“, murmelte Ollie und zog sich in die Dunkelheit zurück.

Der Mann trat auf sie zu. Was er wollte, war klar. „Regen Sie sich nicht auf, Mrs. Pettijohn“, sagte er. „Ich weiß, wie man eine Frau sehr glücklich macht. Vor allem“, fügte er hinzu und ließ den Blick an ihr auf und ab wandern, „wenn es sich dabei um eine so reizvolle Frau handelt wie Sie. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Rovington.“

Von Rovington hatte Sarah bereits gehört. Er hatte eine Vorliebe für Schauspielerinnen und betrachtete sie als Freiwild. Bruchstückhaft kamen ihr ein paar Geschichten in den Sinn. Er gehörte nicht zu den Netten. Er war jähzornig – und sie kannte sich aus mit Männern und ihren Wutanfällen, besser, als ihr lieb war.

„Sie und ich werden sehr gute Freunde …“, setzte er an und streckte die Hand aus, wie um sie zu fassen, doch Sarah hatte andere Vorstellungen.

Sie packte das hohe Pult am Hintereingang, an dem Ollie immer saß, und kippte es mit lautem Krachen vor ihm auf den Boden. Dann riss sie die Hintertür auf und rannte davon.

Rovington begann ob dieses Rückschlags zu fluchen, bevor er zu lachen anfing. Es hörte sich seltsam an. Böse.

Barfuß lief sie die Treppe hinunter und hinaus auf die Gasse. Sie konnte Rovington hinter sich hören und rechnete fest damit, verfolgt zu werden.

Stattdessen blieb er an der Tür stehen und rief beinahe fröhlich: „Greift sie euch. Der, der sie fängt, bekommt von mir fünf Pfund.“

Noch mehr Männer?

Drei Männer traten aus den Schatten und hielten aus verschiedenen Richtungen auf sie zu.

Nackte Angst ließ sie innehalten. Sie konnte nicht glauben, dass sie auf diese Weise angegriffen wurde – und dann hallte Hufgetrappel in der Gasse wider.

Eine schlichte Droschke kam herangefegt und zwang einen der Männer, beiseite zu springen, wenn er nicht überfahren werden wollte. Auf Sarahs Höhe flog der Schlag auf. „Steigen Sie ein“, befahl eine raue männliche Stimme. Eine Hand streckte sich ihr entgegen.

Sie kannte die Stimme. Baynton.

Er war der letzte Mensch, mit dem sie näher zu tun haben wollte, doch sie fürchtete sich vor dem, was ihr blühte, wenn sie blieb. Rovington war kein Mann, der eine Zurückweisung einfach hinnehmen würde, und sie konnte nicht ewig davonlaufen. Auftritte waren anstrengend, und sie war mittlerweile völlig erschöpft.

Sie griff nach der starken, kraftvollen Hand und ließ sich in die Kutsche ziehen, die kaum langsamer wurde. Mit weit schwingender Tür bog die Droschke um die Ecke und von der Gasse in die Straße. Die Männer hinter ihnen schrien ihnen Drohungen nach, damit sie anhielten. Zum Glück fuhr der Kutscher einfach weiter.

Während er sie festhielt, damit sie nicht aus der schwankenden Kutsche fiel, beugte sich der Duke über sie und schloss den Schlag zu. Dadurch fanden sie sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht wieder.

„Hallo, Mrs. Pettijohn.“

Verwirrt durch diese Nähe, konnte Sarah für einen kurzen Augenblick nicht mehr atmen, geschweige denn denken. Er hielt sie um die Taille gefasst. Ihre Brust lag praktisch auf seiner, ihre Hüfte presste sich an seinen Oberschenkel. Gemeinsam wurden sie von den schwankenden Bewegungen der Kutsche durchgeschüttelt, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich Halt suchend an ihn zu klammern.

So schlimm war die Erfahrung gar nicht, ihm so nahe zu sein. Tatsächlich fühlte sie sich in seiner Nähe in Sicherheit, doch sobald Sarah wieder alle Sinne beisammen hatte, drückte sie seine Schulter mit der Hand von sich weg. Baynton gab sie jedoch nicht frei, zumindest nicht gleich.

Stattdessen sah sie im Licht der kleinen Kutschlaterne in seinen Augen so etwas wie Interesse aufblitzen. In ihrer Brust wurde es eng. Ihr Herz raste immer noch von der verrückten Flucht aus dem Theater, und doch setzte es einen Schlag aus. Sie hatte ihn nicht so entschieden weggeschoben, wie sie es gekonnt hätte …

Wie allseits berichtet, war der Duke of Baynton ein sehr attraktiver Mann. Er hatte dunkles Haar, war mit scharfsichtigen blauen Augen gesegnet und einem schmalen, eckigen Kinn, dem man gemeinhin Charakterstärke zuspricht, kurz, einem Mann wie ihm war die Aufmerksamkeit der Damenwelt sicher. Außerdem strahlte er Männlichkeit aus. Er hatte eine gewisse Aura an sich, die noch betont wurde vom würzigen Duft seiner Rasierseife und seiner ganzen Art.

Und dennoch gab es auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen, der sie mehr ärgern konnte als dieser Kerl, der ihr gerade den Arm um die Taille geschlungen hatte. Er war ein überaus widerborstiger Pedant – auch wenn er sie gerade vor einem Schicksal bewahrt hatte, über das sie lieber nicht nachdenken wollte.

Sie unterbrach den Augenblick. „Ich weiß, was Sie denken, und Sie können es nicht bekommen.“

„Was denke ich denn?“, fragte er mit seiner tiefen Stimme herausfordernd, als könnte er leugnen, was doch auf der Hand lag.

Sarah legte die Hand zwischen sie und flüchtig auf seine Männlichkeit, die sich gegen seine Kniehosen drängte. Der Mann war hart, völlig hart.

Baynton ließ sie abrupt los, als hätte sie ihn versengt, und wandte sich ab. „Es ist nicht so, wie Sie denken.“

Schon wieder dieser Widerspruchsgeist. Im Halbdunkel der Droschke glaubte sie fast zu erkennen, wie ihm die Röte in die Wangen kroch.

Ihre Augen mussten ihr einen Streich spielen. Männer wurden nur selten rot, vor allem wenn sie so sittenstreng waren wie der Duke of Baynton.

Sie lachte leise. „Oh doch, ist es schon“, erwiderte sie. „Wenn ich mich mit einem auskenne, dann mit Männern.“

Er spannte sich an, erwiderte jedoch nichts.

Die Droschke war in ein normaleres Tempo verfallen. Sarah richtete sich auf und bewegte sich Richtung Tür, um etwas Platz zwischen sich und seiner unangenehmen Gegenwart zu schaffen. Ihre bloßen Füße reagierten allmählich auf die Eskapaden und die Misshandlungen des heutigen Abends. Sie wünschte sich Schuhe herbei, und ein paar Kleidungsstücke wären auch angebracht gewesen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, zog er seinen Rock aus. „Hier“, bot er ihr an.

„Das ist nicht nötig. Ich komme zurecht.“

„Nehmen Sie ihn.“

„Möchte ich aber nicht“, erwiderte sie kühl. „Ich friere nicht.“ Dann strafte sie ihre Worte Lügen, indem sie die Arme um sich schlang. Nun, da sie von ihm und seinem warmen Körper abgerückt war, hatte sie überall am Leib Gänsehaut. Sie zitterte sogar, zweifellos eher eine Reaktion auf das bedrohliche Erlebnis als auf die Nachtluft … oder ihren Begleiter in der Droschke.

„Vielleicht wäre mir nicht so …“ Er hielt einen Augenblick inne, als suchte er nach dem richtigen Wort, und drückte es dann höflich aus: „Unbehaglich zumute, wenn Sie nicht so nackt wären.“

Nun stieg ihr die Röte in die Wangen. Sie zog den Vorhang vom Fenster weg und sah hinaus, damit er ihre Verlegenheit nicht bemerkte. „Ich bin nicht nackt“, erklärte sie, „sondern vollständig angezogen. Ich habe ein Unterkleid an. Sie haben nichts gesehen.“ Sie fühlte sich veranlasst hinzuzufügen: „Sie haben vielleicht geglaubt, Sie hätten etwas gesehen, aber das war nur der Unsinn, der sich zwischen Ihren Männerohren abgespielt hat, nichts, was Sie wirklich hätten sehen können.“

„Ihre Füße sind nackt.“

Sie stellte die Füße aufeinander, als könnte sie sie so verbergen. „Sind doch nur Füße.“ Die Gegend draußen, durch sie eben fuhren, wirkte inzwischen vertrauter.

„Ihre Beine sind nackt.“

Das war ihm während ihrer tänzerischen Einlage am Seil wohl aufgefallen. Sie schlug sie übereinander und streckte sie in die andere Richtung. „Es sind nur Beine.“

Seine Stimme hatte einen neuen, einen lasziven Ton angenommen, den sie dem arroganten Duke of Baynton gar nicht zugetraut hätte. Der Klang rief an ein paar bestimmten Stellen ihres Körpers eine prickelnde Wärme hervor.

Sarah versuchte, sich nicht zu winden. Oder ihn anzusehen. Sie wollte das Interesse in seinem Blick nicht sehen oder sich Baynton als … Liebhaber vorstellen.

Oh nein, das wollte sie ganz und gar nicht. Zumindest die Vernunft wollte es nicht. Die besagten Stellen ihres Körpers schienen anderer Ansicht zu sein.

Er hielt ihr seinen Rock direkt unter die Nase und schwenkte ihn hin und her. „Ziehen Sie ihn an.“

Der Befehlston war nicht zu überhören.

Autor

Cathy Maxwell
Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist...
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