Küsse niemals einen Duke

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Einer Frau wie Miss Ivy ist Sebastian Dutton noch nie begegnet. So stark und unabhängig wie sie sollte er selbst auch schnellstens werden – notgedrungen. Denn nach dem Verlust seines Adelstitels muss der einstige Duke of Hasford sich seinen Lebensunterhalt auf einmal selbst verdienen. Da kommt ihm Ivys Angebot gerade recht: Er soll ihr florierendes Spielcasino noch erfolgreicher machen. Nicht nur seine Ideen für das Casino kommen fantastisch an. Auch seine leidenschaftlichen Küsse sind Ivy bald höchst willkommen! Doch dann unterbreitet sein Cousin ihm einen Plan, wie Sebastian in die Gesellschaft zurückkehren kann. Allerdings müsste er dafür seine Zukunft mit der hinreißenden Ivy aufgeben …


  • Erscheinungstag 25.05.2021
  • Bandnummer 366
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500883
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sebastians gesamtes Weltbild entpuppte sich soeben als Lüge.

„Sie behaupten also, ich sei nicht länger der Duke. Ich sei unehelich. Habe ich das richtig verstanden?“ Sebastian Dutton, der Duke of Hasford, sprach scharf und betonte jedes einzelne Wort. Für gewöhnlich schlug er diesen Tonfall nur gegenüber seinen Hunden an, wenn er einen von ihnen beim Zerkauen eines Schuhs ertappte.

Hier indes ging es um mehr als nur Schuhwerk.

Sebastian saß vor dem Schreibtisch des Anwalts. Neben ihm saß sein Cousin Thaddeus Dutton, der Earl of Kempthorne. Im Gegensatz zu Sebastian wirkte Thaddeus, als wäre er seit Stunden auf den Beinen – frisch und munter und hellwach. Vermutlich war er das auch; Thaddeus nahm seine Pflichten im Dienste ihrer Majestät überaus ernst. Er hatte schon zur Armee gewollt, als er und Sebastian noch mit Zinnsoldaten gespielt hatten.

Der Anwalt schluckte sichtlich, ehe er auf Sebastians knappe Feststellung einging.

„Ja. Sie haben keinen Anspruch auf den Titel des Duke of Hasford.“

Sebastian hörte Thaddeus keuchen, was für dessen Verhältnisse einem Gefühlsausbruch gleichkam – sein Keuchen ließ sich mit der tiefen Ohnmacht eines Normalsterblichen gleichsetzen.

Sebastian hatte sich zu einer wahrhaft unchristlichen Zeit aus den Federn gequält, um diesen Termin wahrzunehmen – gemeinhin hätte er seinen Sekretär geschickt, doch in der Benachrichtigung der Anwaltskanzlei war er ausdrücklich aufgefordert worden, persönlich zu erscheinen. Daher hatte er den Tag noch vor der Mittagsstunde begonnen, missmutig seinen Kaffee getrunken und sich um einen halbwegs anständigen und wachen Eindruck bemüht, während er sich auf den Weg zu der Adresse gemacht hatte, die ihm in der Nachricht übermittelt worden war.

Er und sein Cousin waren beide hochgewachsen, aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Sebastian war blond und schlank und trug ein nonchalantes Lächeln sowie einen noch nonchalanteren Charme zur Schau, wohingegen Thaddeus’ Haare und Augen so dunkel waren wie sein Sinn für Recht und Unrecht rigide.

Sie waren grundverschieden und zugleich die besten Freunde. Der Engel und der Teufel hießen sie bei ihren Freunden und Verwandten, wobei heiß darüber debattiert wurde, wem welcher Spitzname zustand. Zwar verfügte Thaddeus über das teuflischere Aussehen, doch Sebastians Lebenseinstellung hatte letztlich ihm den Beinamen eingebracht.

Sie haben keinen Anspruch auf den Titel des Duke of Hasford.

Hatte sich der Boden unter ihm aufgetan oder entsprang dieser Eindruck bloß seiner Gemütsverfassung? Ihm wurde bewusst, dass ihn erstmals im Leben kein noch so hohes Maß an persönlichem Charme oder Selbstvertrauen aus dieser Lage retten würde.

„Wer bin ich dann?“ Er presste die Frage zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Mr. de Silva“, erwiderte der Anwalt.

Mr. de Silva, der illegitime Sohn eines Dukes. „Das ist der Name meiner Mutter.“

„Ja“, bestätigte der Anwalt. „Ihre Mutter und Ihr Vater waren nicht rechtmäßig verheiratet, weil ein Mann laut englischem Gesetz nicht die Schwester seiner verstorbenen Gattin ehelichen darf. Und Ihre Mutter war die Schwester der seligen Duchess und nicht deren Cousine, wie sie Ihrem Vater gegenüber behauptet hat.“ Er räusperte sich. „All dies ist den ausführlichen Briefen zu entnehmen, die sie an Bord des Schiffes geschrieben hat.“

„Es wundert mich nicht, dass sie gelogen hat“, bemerkte Sebastian bitter. Er hatte stets gewusst, dass seine Mutter ein hinterhältiges, herzloses Geschöpf war; wie sie Ana Maria, seine ältere Halbschwester, behandelt hatte, sprach für sich. Nicht klar gewesen war ihm allerdings, wie unaufrichtig sie zudem gewesen war.

Wenigstens war sie konsequent, was ihr Gebaren angeht, dachte er mürrisch.

Er beugte sich vor, um sich den Beweis anzusehen, die scheinbar harmlosen Unterlagen auf dem Schreibtisch des Anwalts. Vergilbt, verblasst und an den Rändern eingerissen belegten sie, dass die Ehe seiner Eltern unrechtmäßig gewesen war. Er erkannte die Handschrift seiner Mutter. Und ihr Doppelspiel.

„Woher stammen die Briefe?“, verlangte er zu wissen. Er durfte sich nicht dem bodenlosen Abgrund ergeben, der ihn zu verschlingen drohte. Er musste hartnäckig Fragen stellen, musste ergründen, was geschehen war, damit er es begreifen konnte. Falls es denn möglich war, all diesen Vorgängen Sinn abzuringen.

Der Anwalt legte die Hände auf den Tisch und spreizte sie. „Sie wurden im Tresor der Duchess gefunden. Das heißt, im Tresor Ihrer seligen Mutter.“ Die gar nicht die Duchess gewesen war. „Es handelt sich um Briefe, die sie geschrieben, aber offenbar nicht abgeschickt hat. Wir sind nach dem Unfall darauf gestoßen.“

Nach dem Kutschenunfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren.

„Aber der liegt gut sechs Monate zurück“, warf Thaddeus ein. „Wie kann es sein, dass diese Dokumente erst jetzt auftauchen?“

„Die Sichtung sämtlicher Unterlagen nach einem solchen Vorfall ist eine langwierige Angelegenheit“, verteidigte sich der Anwalt. „Und wir mussten die Briefe erst übersetzen lassen“, fügte er hinzu.

„Weshalb hätte deine Mutter lügen sollen?“ Thaddeus sah Sebastian durchdringend an. „Sie hatte keinen Anlass, ihr Verwandtschaftsverhältnis zu verschleiern.“

Thaddeus, pragmatisch wie immer. Stets darauf bedacht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wohingegen Sebastian nie nachforschte. Ihm fiel alles in den Schoß. So wie sein Titel, sein Vermögen, sein gesellschaftliches Ansehen, Frauen und Freunde.

Erstaunlich, wie schnell die eigene Welt aus den Fugen geraten konnte. Quasi im Handumdrehen, in der kurzen Zeitspanne, die der Anwalt benötigt hatte, um den Betrug darzulegen, den Sebastians Mutter in ihren Briefen ausführlich gestanden hatte.

„Meine Mutter war ehrgeizig“, entgegnete Sebastian und maßloser Groll stahl sich in seinen Tonfall. „Vermutlich hat sie der verstorbenen Duchess weisgemacht, dass es klüger wäre, ihr Verwandtschaftsverhältnis zu verschleiern – vielleicht, weil es ein schlechtes Licht auf die Familie geworfen hätte, die eigene Schwester als Gesellschafterin zu beschäftigen.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es belanglos. Dabei war es natürlich von Belang. „Jedenfalls bin ich nicht der Duke.“ Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Zorn schoss ihm durch die Adern.

Die Position, auf die er von Geburt an vorbereitet worden war, gehörte nicht ihm. Ländereien, Pflichten, Geld, Titel, Status – alles war dahin.

„Wer ist es dann?“, hakte Thaddeus nach.

Eine Braue spöttisch gehoben, wartete Sebastian darauf, dass Thaddeus begriff. Da sein sonst so scharfsinniger Cousin anscheinend nicht von selbst darauf kam, half er ihm auf die Sprünge. „Du bist jetzt der Duke of Hasford, Thad.“

Sebastian erinnerte sich nicht, Thaddeus jemals überrascht erlebt zu haben. Thaddeus ging alles enervierend strategisch an, plante jeden Schritt im Voraus und sah Ereignisse vorher, lange bevor alle anderen Beteiligten auch nur etwas ahnten. Diese Eigenschaft hatte ihn in ihrer Kindheit unschätzbar wertvoll gemacht – Sebastian hatte Streiche ersonnen, Thaddeus hatte sie geplant, und ihr Freund Nash hatte eventuell nachfolgendes Ungemach aus der Welt geschafft.

Nun allerdings blickte Thad drein, als hätte ihm jemand einen schweren Gegenstand über den Schädel gezogen. Oder ein Herzogtum.

„Das ist nicht … Ich meine …“, stammelte er.

Sein Gesichtsausdruck und das Unvermögen, in ganzen Sätzen zu sprechen, hätten Sebastian amüsiert, wäre ihm nach Lachen zumute gewesen. Doch danach war ihm nicht im Geringsten zumute. Er war wütend. Auf seine Mutter, auf seinen nichtsnutzigen, törichten Vater. Auf sich selbst und seine Erwartungen.

„Doch, ist es.“ Er tippte auf die Papierbögen vor ihnen. „Das beweist es.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich bin schlicht Mr. de Silva.“

Seine Wut verwandelte sich in den glühenden Drang, seine Halbschwester zu beschützen, die zu Hause war und nichts von alledem ahnte. „Selbstverständlich wirst du dich um Ana Maria kümmern.“ Er wusste, dass Thaddeus nichts anderes in den Sinn käme, doch er musste es aussprechen, um sich ein Mindestmaß an Kontrolle zu bewahren.

„Natürlich“, erwiderte Thaddeus. „Aber was ist, wenn ich den Titel gar nicht will?“, fragte er, an den Anwalt gewandt. „Können wir nicht einfach so tun, als hätten wir diese Dokumente nie gesehen? Als wäre alles beim Alten?“

Thaddeus war der Einzige in Sebastians Bekanntenkreis, der ihm seine Position nie geneidet hatte, weder die des Erben noch die des Dukes. Daher war ihm offenbar entfallen, dass er Sebastians Erbe war. Thaddeus hatte nie einen Hehl aus seiner Erleichterung darüber gemacht, ihrer Majestät dienen zu dürfen, statt ein vergnügliches Leben zu führen.

Sebastian hingegen glaubte, dass die Menschen in seiner Obhut davon profitierten, dass er selbst sich vergnügte. Diese Überzeugung galt vor allem in Hinblick auf die Damen, mit denen er sich nur zu gerne einließ, aber er achtete darauf sicherzustellen, dass auch Personal und Pächter nicht zu kurz kamen.

Er wusste, er war privilegiert, doch er setzte Charme und Einfluss ein, um Sympathie und Wertschätzung zu gewinnen, anstatt Abneigung zu erzeugen.

Noch ehe sein Cousin ausgeredet hatte, schüttelte Sebastian den Kopf. „Du kannst ihn nicht zurückweisen, Thad. Eben darum geht es bei der Primogenitur und dergleichen. Außerdem wäre es falsch. Es wäre Betrug. Das weißt du.“

Thaddeus riss die Augen auf. „Primogenitur? Seit wann verfügst du über ein solch hochgestochenes Vokabular?“

Sebastian zuckte mit den Schultern. „Seit ich gezwungen bin, etwas zu tun, statt nur etwas zu sein.“ Die Bemerkung entsprach seinem alten unbeschwerten Naturell, doch sie klang hohl.

Thaddeus’ Miene wurde finster.

„Zu erfahren, dass du ein Duke bist, bedeutet nicht das Ende der Welt, weißt du“, bemerkte Sebastian trocken. Thaddeus funkelte ihn erbost an, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte.

Armer trauriger Duke.

„Was geschieht nun?“, erkundigte sich Sebastian beim Anwalt.

Dieser räusperte sich abermals und sah ihn bekümmert an. Hat sich Ihr gesamtes Weltbild etwa ebenfalls in Wohlgefallen aufgelöst?, fragte Sebastian stumm. Wohl kaum. Also hören Sie auf, so trübsinnig dreinzublicken.

„Nun, der Duke of Hasford … das heißt …“, er wies auf Thaddeus, „… erhält den Titel mit sofortiger Wirkung. Das umfasst auch alle Ländereien und herzoglichen Besitztümer sowie das gesamte Vermächtnis des verstorbenen Dukes.“

Alles, mit anderen Worten. Sebastian besaß nichts mehr. Nichts, das – wie hieß er noch gleich? – Sebastian de Silva gehörte. Der Name seiner Mutter. Das Einzige, was sie ihm trotz ihrer Umtriebe hatte hinterlassen können.

Der gähnende Abgrund, der seit soeben seine Zukunft sein würde, klaffte umso tiefer. Er besaß kein Geld bis auf jenes, das er bei sich trug. Wahrscheinlich gehörte selbst dieses Thad. Er hatte kein Ziel mehr vor Augen. Er stand ohne Privilegien da.

„Ich kann mich unmöglich sofort um alles kümmern“, wandte Thaddeus ein, offenbar um einen beherrschten Ton bemüht und kläglich daran scheiternd. „Ich stehe einem Regiment vor. Es abzugeben wird eine Weile dauern.“ Er klang verzweifelt. „Du kannst doch vorerst alles weiterführen, nicht wahr?“, bat er Sebastian.

Der Anwalt schürzte die Lippen. „Das …“, setzte er an, doch Sebastian fiel ihm ins Wort.

„Nein, Thad.“ Er sprach entschieden. „So gern ich dir helfen würde, eines der reichsten Herzogtümer Englands zu verwalten“, erklärte er kühl, „es ist mir verwehrt.“ Er deutete auf die Dokumente. „Dadurch. Wie sähe es aus, wenn du dich deiner Verantwortung entziehen würdest? Und sei es nur vorübergehend?“ Kopfschüttelnd neigte er sich vor. „Das wäre verheerend. Wenn ich eines über die Welt weiß, dann dass der Duke of Hasford dem Titel, den Ländereien, den Pächtern und Arbeitern, ja dem Königreich verpflichtet ist. Diese Pflicht zu ehren wurde mir von Geburt an eingeschärft. Ich kann keinen Verrat an ihr begehen.“ Er sprach mit der Passion, der er sich gemeinhin nur bediente, um eine besonders schöne Frau zu umgarnen.

Thaddeus presste die Lippen zusammen, und Sebastian sah einen Muskel an seinem Kiefer zucken. Da wusste er, dass Thad nichts einwenden würde. Das Zucken verriet ihn; Sebastian hatte es bei so manchem Kartenspiel zu seinen Gunsten genutzt. Heute allerdings hatte Thad das bessere Blatt – auch wenn er es nicht wollte.

Während Sebastian vom Stuhl aufstand, schob er dem Anwalt die Dokumente zu, wobei er unwillkürlich die Zähne zusammenbiss. „Ich werde aufbrechen, damit Sie und der Duke of Hasford sich unterhalten können. Ich nehme an, wir sind fertig?“ Sein Tonfall machte deutlich, dass ihm bewusst war, wie anmaßend es gewesen wäre, etwas anderes zu vermuten.

Der Anwalt nickte. „Haben Sie Dank für Ihr Erscheinen, Euer … ich meine, Mr. de Silva.“

Fast wäre Sebastian zusammengezuckt, als er diesen – nun seinen – Namen hörte, doch er konnte sich beherrschen. Er würde sich daran gewöhnen müssen.

Er wandte sich an Thad und bemerkte dessen ernste Miene. Wieder einmal waren sie einer Meinung. „Ich werde das Stadthaus schnellstmöglich räumen, Euer Gnaden. Meine Pläne sahen vor, Ana Maria in die Gesellschaft einzuführen, was du nun wirst übernehmen müssen. Sie hat es verdient.“

Was immer geschehen mochte, er konnte sich darauf verlassen, dass es Ana Maria an nichts mangeln würde. Auch wenn sie ebenfalls bestürzt über die Schicksalswende sein würde. „Ich stehe dir zur Verfügung, wenn du Fragen bezüglich der Verwaltung des Anwesens, der Pächter und dergleichen hast.“

„Seb, du musst nicht sofort ausziehen.“ Thaddeus’ Miene verdüsterte sich weiterhin. „Dies ist ein Schlag für uns beide, und du und ich werden Zeit benötigen, es zu verarbeiten.“

Mühsam schluckte Sebastian die zornige Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter – dass seine Mutter gelogen hatte, war nicht Thads Schuld. Thad begehrte den Titel so wenig, wie Sebastian hingegen ihn sich wünschte. „Ich werde anderweitig unterkommen. Du wirst dir überlegen müssen, ob du das Personal behalten möchtest. Meinen Kammerdiener Hodgkins wird die Angelegenheit hart treffen. Sofern du keinen anderen für den Posten im Auge hast, empfehle ich dir, ihn zu behalten.“

Die neue, so drastisch veränderte Situation betraf nicht nur ihn – sondern den gesamten Haushalt. Seinen Kammerdiener, seinen Sekretär, den Butler, die Haushälterin. Sechs Monate lang hatte er es sich als ihr neues Oberhaupt zur Aufgabe gemacht, sie kennenzulernen. Er hatte mit ihnen zusammengearbeitet und ihnen bewiesen, dass er nicht wie sein leichtsinniger Vater war. Und erst recht nicht wie seine prätentiöse Mutter. Das war ihm erst mit Erhalt des Titels möglich gewesen. Und nun gehörte der Titel doch nicht ihm.

Er wollte seine Faust in irgendetwas, irgendjemanden rammen, doch damit hätte er nichts erreicht, außer sich die Fingerknöchel aufzuschürfen.

„Natürlich. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich das Richtige tun werde.“

Sebastian wünschte, er wäre so gelassen, dass er sich wieder setzen und mit Thaddeus die Personalangelegenheiten regeln und ihn davon überzeugen könnte, allen eine Chance zu geben. Dabei bildete sich Thad zu Recht etwas auf seine Befähigung ein, rasche, gewissenhafte Entscheidungen treffen zu können. Zudem befand sich so mancher Bereich des Personalwesens noch in der Aufbauphase – der sich Sebastian unter Ana Marias Führung gewidmet hatte.

Aber er konnte keine Minute länger bleiben, nicht ohne seiner Wut Luft zu machen, und das hatte keiner der Anwesenden verdient.

„Bis später, Cousin.“

Abrupt wandte er sich ab und verließ das Büro des Anwalts, wobei er ignorierte, dass Thaddeus ihm hinterherrief. Er nickte den Kanzleikräften zu, die vor dem Büro ihrer Arbeit nachgingen, und wahrte seine herzogliche Attitüde, während seine Welt dahinter zusammenbrach.

Stunden später war Sebastian erschöpft, hungrig und durstig. Seit er die Anwaltskanzlei verlassen hatte, war er ziellos durch die Straßen Londons gewandert, während seine Gedanken unablässig um das soeben Erfahrene kreisten, als würde das etwas am Resultat ändern. Als er schließlich nicht mehr weiter konnte, kehrte er nach Hause zurück. Als wäre sein Zuhause noch sein Zuhause.

Er hatte kein Zuhause mehr. Er besaß gar nichts mehr.

Er war nicht länger der, für den er sich gehalten hatte.

Sebastian hatte das Stadthaus des Duke of Hasford nicht zu würdigen gewusst, bis er es verloren hatte. Als er sich ihm nun näherte, betrachtete er es distanziert. Es war das opulenteste Gebäude in der Straße, mit mehr als zwei Dutzend Fenstern allein an der Front und riesigen Säulen, die keinem ersichtlichen Zweck dienten, sondern lediglich kundtaten, dass der Eigentümer dieses Hauses über so viel Kapital verfügte, dass er es für sinnlosen Marmor verprassen konnte.

Es war vornehm und extravagant und dekadent.

So wie ich, dachte er reumütig. Und ebenso wie die Säulen war auch er überflüssig. Nicht einmal eine Stütze der Aristokratie war er.

„Willkommen zu Hause, Euer Gnaden.“ Sein Butler Fletchfield zögerte kaum merklich vor der respektvollen Anrede. Das bedeutete, dass die Neuigkeit schon durchgesickert war, zumindest bis zu seinem Butler. Gewiss wusste es ein Gutteil der Gesellschaft längst; dass ein Herzog sozusagen entherzogt werden konnte, dürfte ein Eklat für die Ewigkeit sein.

„Danke, Fletchfield.“ Sebastian reichte ihm Hut und Mantel. „Whiskey in meinem Arbeitszimmer. Ich werde herunterkommen, sobald ich mich umgezogen habe.“

„Ja, Euer …“ Den Rest hörte Sebastian nicht mehr, weil er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufeilte, den Türknauf drehte und die Tür aufstieß.

Sein Kammerdiener Hodgkins begegnete ihm wie immer. Offenbar war die Kunde nur bis zu Fletchfield durchgedrungen. Natürlich würde sie sich verbreiten, und Sebastian wünschte, er könnte all seinen Dienstboten versichern, dass alles gut werden würde, wenigstens für sie, wenn schon nicht für ihn. Aber diese Garantie konnte er ihnen nicht geben, auch wenn er wusste, dass Thaddeus sich anständig verhalten würde. So oder so würden sie alle um ihre Anstellung bangen – seine Mutter hatte sie während ihrer Regentschaft hinreichend eingeschüchtert.

„Ich möchte mich umkleiden, um auszugehen“, verkündete er.

Nur wohin?, fragte eine innere Stimme.

Wenn ich das nur wüsste.

Während Hodgkins sich geschäftig daranmachte, die nötigen Accessoires zusammenzusuchen, schaute Sebastian sich im Zimmer um. Seit dem Ableben seiner Eltern war er noch nicht dazu gekommen, das herrschaftliche Schlafzimmer umzugestalten. Alles verströmte den Stil seiner Mutter und war in dezenten, geschmackvollen Farben gehalten, die diskret davon kündeten, wie sündhaft teuer die Ausstattung war. Das Einzige, das wahrhaft ihm gehörte, war das Rasierzeug, das sein Vater ihm zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Seine Initialen waren darin eingraviert – wobei es nicht länger seine Initialen waren.

Aber es gehörte ihm, wenn schon sonst nichts.

Bald war Sebastian prachtvoll ausstaffiert – mit goldfarbener gemusterter Weste, einer eleganten schwarzen Krawatte, eng geschnittener Hose und blütenweißem Hemd –, und das, obwohl er nicht wusste, wohin er hätte gehen sollen. Er erwog, ein Fest oder auch derer fünf zu besuchen – Einladungen gab es zuhauf. Die jedoch waren allesamt an den Duke of Hasford gerichtet. Nicht an Mr. Sebastian de Silva.

Und ihm war klar, dass die Gäste – diejenigen unter ihnen, die gern tratschten, also die meisten – keine Zeit verlieren würden, ihm unter die Nase zu reiben, dass er nunmehr ein gemeiner Bürgerlicher sei.

„Verdammt“, sagte er zu sich selbst, während er die Treppe hinunterging. Er bog rasch nach links ab und betrat sein Studierzimmer, wo er sogleich das Tablett mit dem Whiskey erspähte. „Gott sei Dank“, murmelte er und schenkte sich großzügig ein. In diesem Zimmer hatte er viel Zeit verbracht und sich alles angeeignet, was es über die Verwaltung des Anwesens zu wissen gab. Hier hatte er Unterredungen mit dem Personal geführt. Nachdem er den Titel von seinem Vater geerbt hatte, war es ihm ein Anliegen gewesen, sich auf seine Pflichten zu konzentrieren und sein Vergnügen hintan zu stellen.

Nun konnte er sich wieder ganz seinem Vergnügen widmen. Aber das wollte er nicht. Zudem hatte er dieses Privileg eingebüßt – er würde künftig … arbeiten müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, so viel war sicher.

Diese Möglichkeit war ihm im Hinblick auf seine Zukunft nie in den Sinn gekommen.

Erneut traf ihn die Ungeheuerlichkeit seiner veränderten Lage mit voller Wucht. Nichts gehörte ihm. Weder seine Kleider noch dieses Haus oder sonst etwas. Nicht einmal der Name, mit dem er aufgewachsen war. Er war jetzt Mr. Sebastian de Silva. Sonst nichts.

Er brauchte wirklich einen Whiskey, auch wenn selbst der ihm nicht gehörte. Er wusste, dass Thaddeus ihm einen Schluck nicht verübeln würde.

Er hob das Glas und runzelte die Stirn, als sein Blick auf den Siegelring am kleinen Finger seiner rechten Hand fiel.

Auf den Siegelring, der seinem Vater, dem Duke of Hasford, gehört hatte. Der von einem Duke an den nächsten weitergereicht wurde.

Er stellte das Glas auf den Tisch, riss sich den Ring vom Finger und schleuderte ihn in eine Ecke.

„Du wirst immer treffsicherer.“

Sebastian hörte Nashs Stimme, ehe er ihn sah. Wie stets, stand sein Freund im Schatten, trat jedoch ins Licht, den Ring in der Hand und das für ihn typische grimmige Lächeln auf den Lippen.

Nash war so groß wie Sebastian, doch während Letzterer schlank und elegant war, verströmte Nash, der Duke of Malvern, pure Kraft. Er wirkte mehr wie ein Schauermann denn wie ein Duke, und er gebärdete sich auch wie einer und gab sich lieber mit Bürgerlichen ab als mit Standesgenossen.

Sebastian war mit ihm und Thaddeus aufgewachsen, und ihre enge Freundschaft hatte Erbschaften, Armee, Liebeskummer und verantwortungslose Eltern überstanden.

„Du hast es also gehört.“ Sebastian nahm sein Glas und leerte es, während Nash zu ihm trat.

Er füllte ein weiteres Glas und reichte es Nash, der es entgegennahm und in einem Zug austrank. Das Brennen des Whiskeys ließ ihn kaum zusammenzucken.

„Ja, habe ich.“ Nash hielt ihm das Glas zum Nachfüllen hin. „Ich dachte mir, dass du mich momentan dringender brauchst als Thad.“

Sebastian schnaubte, während er Nash nachschenkte. „Dessen bin ich mir nicht sicher. Als uns die Nachricht unterbreitet wurde, wirkte Thaddeus, als hätte jemand vorsätzlich seine Unterlagen in Unordnung gebracht.“ Nachdenklich starrte er auf seinen Schreibtisch, auf dem penible Ordnung herrschte. Hoffentlich würde sein Sekretär Thads hohen Ansprüchen genügen.

Nash lachte leise. „Was wirst du jetzt tun?“

Das war die Preisfrage. „Ich weiß es nicht.“ Sebastian ließ sich aufs Sofa sinken, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Ich muss es Ana Maria beibringen, ebenso wie den Dienstboten, obgleich ich fürchte, dass die Neuigkeit sie bereits erreicht hat. Aber zuerst muss ich mich …“

„Betrinken“, ergänzte Nash. „Mit mir, an einem Ort, an dem du nicht allzu vielen herablassenden Armleuchtern in die Arme läufst.“

„Was für herablassende Armleuchter?“ Er winkte ab, als Nash zu einer Antwort ansetzte. „Vergiss es, ich weiß, du meinst sie alle. Mach bloß keinen Hehl aus deinen Ansichten“, meinte er spöttisch, ehe er sich aufrichtete und sich auf die Schenkel schlug. „Deine Idee hat etwas für sich, aber allzu tief ins Glas darf ich nicht schauen, weil ich morgen mit meiner Schwester reden muss.“

Zum Glück war Ana Maria heute Abend ausgegangen. Er entsann sich nicht, wohin, doch es bestand nicht zu befürchten, dass sie in Schwierigkeiten geraten könnte – seine Halbschwester benahm sich bemerkenswert bieder, bedachte man, wie ausschweifend er als ihr jüngerer Halbbruder lebte. Oder vielmehr gelebt hatte, bis er vor sechs Monaten sein Erbe angetreten hatte.

„Dann nur so tief, dass die Welt ein wenig rosiger aussieht“, meinte Nash. „Am besten im Miss Ivy’s. Das ist neu.“

„So lange nur der Whiskey in Strömen fließt und Armleuchter durch Abwesenheit glänzen“, erwiderte Sebastian.

2. KAPITEL

Das Blatt hat sich gewendet“, murmelte Ivy, während sie wohlwollend den Raum in Augenschein nahm.

Vor zwei Jahren hatte sie alles verloren: ihren Ruf, ihren Lebenswandel und die Aussicht auf eine ehrbare Zukunft. Das Aufdecken einer einzigen Karte hatte alles zerstört.

Doch Ivy hatte sich gegen das scheinbar Unvermeidliche aufgelehnt und war ihm entronnen. Heute war sie – ironischerweise – stolze Inhaberin eines florierenden Londoner Spielcasinos. Was sie verloren hatte, würde sie nie zurückbekommen, aber sie hatte etwas Besseres – sie konnte nun selbst über ihre Zukunft bestimmen.

Noch war der Club leer bis auf die Mitarbeiter, obwohl sie vor gut einer Stunde geöffnet hatten. Es war normal, dass erst am späteren Abend Betrieb aufkam, daher beunruhigte der Mangel an Kundschaft Ivy nicht. Sie würden kommen. Das taten sie immer.

Der Club war exquisit ausgestattet. Komfortable Sessel für lange Spielabende standen in der Nähe der verschiedenen Tische – es gab einen für Roulette, mehrere für Kartenspiele und einige für Gäste, die lieber tranken als spielten. Tiefrote Samttapete zierte die Wände, und Ivy hatte ein paar Gemälde aufgetrieben, die Menschen in unterschiedlichen Posen beim Glücksspiel zeigten. Damen des vergangenen Jahrhunderts frönten dem Pharo, und Gentlemen, karikiert dargestellt, verloren mehr, als sie sollten. Selbst die eine oder andere skurrile Darstellung wie Karten spielende Hunde waren darunter.

Die Bilder brachten Ivy zum Lachen, so wie alles, was sie auch nur ansatzweise amüsierte – wenn das eigene Überleben von ernsten Dingen wie dem Führen eines Unternehmens abhing, war es wichtig, sich eine humorvolle Sichtweise zu bewahren.

Wozu leben, wenn man das Leben nicht genießen konnte?

So lautete Ivys Philosophie, vor allem jetzt, da ihr all das verwehrt war, was eine wohlerzogene junge Dame gemeinhin erwartete.

Dies hier war weit unterhaltsamer als das Dasein einer wohlerzogenen jungen Dame.

Das Miss Ivy’s war insofern ungewöhnlich, als es sowohl Männer als auch Frauen jedweden Standes willkommen hieß. Ivy fand, dies komme dem Vergnügen all ihrer Gäste entgegen – wer ließ sich nicht gern auf einen kleinen Flirt ein, während er seine Zukunft verspielte?

Die einzige Voraussetzung für den Einlass war, dass jeder Spieler und jede Spielerin genügend Bargeld mitbrachte, um die Spielschulden noch am selben Abend begleichen zu können. Und wer nicht zahlen konnte? Der wurde aus dem Club verbannt und täglich abgemahnt, bis er seiner Zahlungsverpflichtung nachkam.

Mit dieser Strategie unterschied sich ihr Club von anderen älteren Etablissements wie White’s und Brooks’s. Die Herren, die diese Häuser frequentierten, mussten nicht sofort zahlen, sodass so mancher Gewinner bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag wartete. Und so mancher Verlierer hatte sich in den vergangenen Jahren auf den Kontinent abgesetzt und sich so seiner Verpflichtung entzogen. Das Miss Ivy’s sorgte mit seinen unerschütterlichen Regeln dafür, dass der Gewinner sein Geld erhalten würde.

„Pst! Ivy!“ Es war ihre jüngere Schwester Octavia, die nicht verleugnen konnte, wer sie war, was Ivy sowohl mit Stolz als auch mit Sorge erfüllte. Octavia war unbesonnen, eigenwillig und leichtsinnig – worin sie Ivy glich, aber diese wusste es besser zu verbergen.

„Ich dachte, wir hätten darüber geredet, dass du nicht hier sein darfst, wenn wir geöffnet haben. Was, wenn du gesehen wirst?“

Octavia verdrehte die Augen. „Du hast darüber geredet. Ich habe zugehört. Noch ist niemand hier, Schwesterherz. Außerdem ist es in deiner Lasterhöhle viel unterhaltsamer, als oben zu sticken oder meine nächste gute Tat zu planen.“

Ivy lachte über Octavias verächtlichen Ton. „Du stickst doch gar nicht, und wenn ich mich recht entsinne, bestand deine letzte gute Tat darin, die Kätzchen aus dem Keller zu retten. Ich bezweifle sehr, dass du das geplant hattest.“ Kurz verstummte sie. „Und von dieser Rettung hast du mindestens ebenso sehr profitiert wie die Kätzchen.“

„Wohl wahr“, räumte Octavia ein. „Ach, Carter erwähnte übrigens, sie habe Abnehmer für die Kätzchen gefunden. Morgen verteilt sie die Tiere.“

Wie gut, denn Kätzchen waren eine so niedliche wie überflüssige Ablenkung.

„Ich könnte ja irgendwann einmal anfangen zu sticken“, fügte Octavia an.

„Oder du bringst es den Kätzchen bei, bevor sie uns verlassen. Die eine oder andere nützliche Fertigkeit könnte ihnen nicht schaden“, entgegnete Ivy lächelnd.

„Oder …“, Octavia legte einen Arm um sie, „… ich könnte mich hier unten als Kartengeberin verdingen.“

„Auf keinen Fall!“ Ivy schüttelte Octavias Hand von ihrer Schulter, bemüht, wie eine missbilligende ältere Schwester dreinzuschauen. „Du bist eine Dame und hast die Chance auf eine respektable Zukunft. So lange wir unsere Verbindung geheim halten. Und so lange du – obwohl sich das von selbst versteht – nicht in einem Spielcasino arbeitest. Oder in einer ‚Lasterhöhle‘, wie du es zu nennen beliebst.“

Octavia ließ sich nicht beirren. „Und du? Auch du bist eine Dame, und trotzdem besitzt du ein Casino.“

„Ich bin keine Dame mehr“, wandte Ivy ein. Sie hätte den Statusverlust bedauert, hätte er ihr nicht die Freiheit verschafft, selbst zu entscheiden, was sie tat.

Das verdankte sie ihrem Vater – einem Spieler, der die Familie ruiniert hatte, indem er alles verspielt hatte, was ihm gehörte, und so manches, was ihm nicht gehörte. Wie zum Beispiel seine Tochter Ivy, die hatte feststellen dürfen, dass sie als Einsatz an einen älteren Mann verwettet worden war. Der Mann war Gutsbesitzer gewesen, der eine Frau gesucht hatte, die sich um seine erwachsenen Kinder kümmerte und von früh bis spät auf dem Hof schuftete. Noch entsetzter war sie gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass sein ältester Sohn ihn ihrem Alter war.

Ivy hatte den Mann ihrerseits zu einem Spiel herausgefordert und gewonnen, den Schaden damit jedoch nicht mehr abwenden können – die Wette ihres Vaters und ihre wagemutige Entscheidung, sich ihre Freiheit zurückzuholen, hatten sie in den Augen der Gesellschaft ruiniert.

Aber ihr war klar gewesen, dass sie unglücklich geworden wäre, hätte sie sich den Weisungen ihres Standes gebeugt, indem sie den Sohn irgendeines Landjunkers heiratete und ihre Intelligenz verleugnete. Der Wetteinsatz und ihr Sieg bewiesen, dass sie sehr wohl in der Lage war, allein über den Kurs ihres Lebens zu bestimmen.

Sie war lieber eine ruinierte Spielerin, die ihr Schicksal selbst in der Hand hat, als eine bedauernswerte Ehefrau, die von einem Mann abhängig ist.

So manche Dame hätte aus diesem Erlebnis die Lehre gezogen, dass das Glücksspiel etwas Verabscheuungswürdiges sei, auf das man sich niemals einlassen durfte, wie man sich ebenfalls von Spielern fernhalten sollte. Ivy jedoch wertete die Erfahrung als Zeichen dafür, dass sie nur glücklich werden konnte, wenn sie alles riskierte.

„Eines Tages, Schwesterherz“, sagte Octavia in jenem Tonfall, der sie nicht wie siebzehn, sondern weit älter klingen ließ, „wird auch dir eine respektable Zukunft beschieden sein.“ Sie zupfte Ivy am Ärmel. „Ich könnte doch eine Maske tragen. Niemand würde erkennen, dass ich es bin. Ich weiß, dass es dir an Personal mangelt. Lass mich helfen.“

„Ausgeschlossen.“ Es kostete Ivy Mühe, ihren strengen Ton beizubehalten. Sie musste zugeben, dass es schön wäre, Octavia um sich zu haben, aber sie wollte, dass ihre Schwester noch eine Weile wartete, bevor sie die Tür zu einer ehrbaren Zukunft endgültig zuschlug. Die Herren, die hier spielten, würden niemals eine Casinoangestellte oder gar eine Casinobesitzerin ehelichen.

Ivy kam dies entgegen, denn sie zog das einfache Volk dem Adel eindeutig vor. Doch Octavia sollte die Wahl haben, die Ivy verwehrt worden war. Eine Wahl, die nicht – buchstäblich – von einer einzigen Karte abhing.

Octavias Zukunft zu sichern war ihr vorrangiges Ziel. Deshalb arbeitete sie so hart darauf hin, dass der Club ein Erfolg wurde. Irgendwann würde sie so viel Geld haben, dass sie sich und ihrer Schwester ein Cottage am Meer würde kaufen können, vorzugsweise in einer Gegend voller junger, heiratswürdiger Gentlemen. Gentlemen, die nichts von ihrer Londoner Vergangenheit wüssten. Nicht für sich selbst, natürlich, sondern für ihre Schwester – Octavia verdiente es, sich zu verlieben und zu heiraten. Ivy wünschte sich nichts weiter als Bücher, Tee und eine großartige Aussicht.

Sie vernahm Stimmen und schob ihre Schwester auf die Tür zu, die hinauf zu ihrer gemeinsamen Wohnung führte. „Es kommen Leute, du musst gehen.“

Wieder verdrehte Octavia die Augen und untermalte die Geste, indem sie hörbar die Luft ausstieß, aber sie sputete sich und war verschwunden, ehe die Gäste eintrafen. Ivy wusste, dass ihre jüngere Schwester ihren Anweisungen eines Tages nicht länger folgen würde, aber glücklicherweise war dieser Tag nicht heute. Hoffentlich würde sie Octavias rebellische Seite in Schach halten können, bis sie ihr idyllisches Cottage bezogen hatten.

Ivy war auf dem Weg zur Tür, als zwei Gentlemen eintraten – und Gentlemen waren sie ohne Zweifel. Männer, die einem Broterwerb nachgingen, selbst die, die damit reich wurden, verströmten nicht diesen absoluten Hoheitsanspruch.

Einen der beiden erkannte sie. Er hatte den Club schon einmal besucht, wobei er, wie sie sich erinnerte, lediglich getrunken hatte und jedem höflichen Annäherungsversuch anderer Gäste einsilbig und bärbeißig begegnet war.

Der andere, der Fremde, sah wie die Manifestation sämtlicher Männer aus, von denen sie je zu träumen gewagt hatte: hochgewachsen und schlank, die klassisch modellierten Züge zu einem nonchalanten Lächeln verzogen. Obwohl sie, um die Wahrheit zu sagen, beim Anblick der griechischen und römischen Götterstatuen im British Museum dasselbe gedacht hatte.

Dieser Herr indes war nicht aus Stein. Das war schon mal gut. Allerdings trug er auch wesentlich mehr Kleidung. Bedauerlicherweise.

Sie biss sich auf die Zunge, um nicht mit der Frage herauszuplatzen, ob sein Name Adonis laute. Ein leises Glucksen konnte sie allerdings nicht unterdrücken.

Eingehend begutachtete er den Raum, so als taxiere er alles. Er würde nichts zu bemängeln haben, dessen war sie gewiss.

Er begegnete ihrem Blick und verzog erneut die Lippen zu einem so verhaltenen wie verruchten Lächeln, als hätte er ihre Gedanken erfasst. Ob er sie auffordern würde zu erklären, weshalb sie sich ihn auf einem Marmorpodest vorstellte, mit nichts als einem Feigenblatt bekleidet?

Ivy verstand sich darauf, eine gleichmütige Miene zu wahren; nicht zuletzt das machte einen guten Kartenspieler aus. Dessen ungeachtet, verspürte sie ein unangemessenes Interesse, als er sich ihr näherte. Sie hoffte, er habe eine Fistelstimme oder eine Abneigung gegen Damen mit jüngerer Schwester – irgendetwas, das sie aus ihrer gegenwärtigen Faszination risse.

„Guten Abend.“ Verflixt. Seine Stimme war tief und eine Spur rauchig, was ihr Inneres umso mehr in Aufruhr versetzte. „Mein Hut und mein Mantel“, sagte er, wobei er beides ablegte und ihr reichte.

Oh. Tja, das war erniedrigend. Aber es hatte die gewünschte Wirkung – er kam ihr nicht mehr gar so faszinierend vor, war nur ein weiteres Exemplar der aristokratischen Spezies, wenn auch ein recht ansehnliches.

„Ich bin nicht …“, setzte sie an.

„Das ist die Inhaberin“, erklärte der andere Herr rundheraus.

Das verhaltene Lächeln erstarrte auf dem Gesicht des arroganten Aristokraten. Ivy hätte gelacht, wäre er nicht sichtlich bestürzt gewesen.

„Gerade ich sollte es besser wissen und einen Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen“, bekannte er zerknirscht. „Bitte verzeihen Sie, ich dachte …“

„Ich weiß, was Sie dachten“, winkte Ivy ab und wünschte, seine Annahme hätte sie weniger schmerzlich getroffen. „Schon in Ordnung. Das passiert mir ständig.“

Niemand erwartete, in einem Casino eine Frau vorzufinden, die weder eine Angestellte noch eine liederliche Weibsperson war. Dass sie keines von beidem war, dass sie keinen Erwartungen entsprach, war einer der Aspekte, der sie und ihr Etablissement von den anderen abhob.

Nun, da ihre Gefühlswelt durch seine Anmaßung in die Schranken gewiesen worden war, konnte sie sich auf das Wesentliche konzentrieren – Geld zu verdienen. Die beiden Ankömmlinge waren attraktiv, keine Frage, aber wichtiger als ihr Aussehen war die Größe ihrer Geldbörsen. Und wie viel sie verlieren würden. Sie waren Opfer, die es auszunehmen galt, nicht mehr und nicht weniger.

Ihrer erlesenen Garderobe nach zu urteilen, konnten sie sich einen üppigen Verlust leisten. Sie hoffte, die zwei dazu verführen zu können, sich tiefer und tiefer im Glücksspiel zu verstricken – jedoch nicht so tief, dass sie am Bettelstab endeten. Sie hatte ein Auge auf all ihre Gäste, um zu gewährleisten, dass niemand restlos ruiniert wurde. Jeder sollte nur so viel verlieren, dass es wehtat und sie selbst bereicherte.

„Willkommen im Miss Ivy’s.“ Sie winkte einen ihrer Angestellten herbei, der die Hüte und Mäntel der Herren entgegennahm. „Ich bin Miss Ivy, und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie sich vergnügen.“

Adonis sah sie vielsagend an. Offenbar erholte er sich schnell von peinlichen Zwischenfällen. Oder in ihm steckte so viel Verwegenheit, dass er trotz Beschämung zu flirten vermochte.

„Bei welchem Spiel möchten Sie Ihr Glück versuchen, Mylords?“, fuhr sie rasch fort. Sie musste auf ihre Wortwahl achten.

Der attraktive Fremde blickte fast so finster drein, wie Ivy es vorhin getan hatte. „Mr. de Silva“, beschied er ihr knapp. Hatte sie ihn versehentlich gekränkt? Indem sie ihn für einen Adeligen statt für einen Bürgerlichen gehalten hatte?

Vermutlich behielt sie besser für sich, wie ironisch es anmutete, dass er seinerseits sie falsch eingeschätzt hatte.

„Mr. de Silva“, berichtigte sie sich. Sein Name sagte ihr nichts, aber sie verkehrte nicht länger in gesellschaftlichen Kreisen. Nicht seit ihrer letzten Partie Hasard gegen ihren potenziellen Bräutigam.

„Und ich bin Nash“, warf der andere Mann ein.

Mr. de Silva knuffte ihn gegen den Arm. „Der Duke of Malvern. Nicht jedermann kann mit einem Titel protzen, denk dran.“ Er sah seinen Freund scharf an.

Der Duke zuckte mit den Achseln. Ivy hatte den Eindruck, dass er herzlich wenig auf seinen Titel gab.

Sie hingegen gab so einiges darauf – ein Duke, der ihr Casino beehrte! Selbst ein wortkarger, raubeiniger Duke war besser als gar keiner.

„Wir können ebenso gut etwas spielen, während wir trinken“, meinte der Duke zu Adonis de Silva, ehe er Ivy anschaute. „Beginnen wir mit Roulette.“ Wieder sah er seinen Freund an, und ein verhaltenes Lächeln trat auf seine Lippen. „Vielleicht wendet sich das Blatt für dich, wer weiß?“

Ivy winkte derweil Samuel herbei, der die Livree des Clubs trug und am Rande des Spielsalons stand. Samuel gehörte zu ihrem loyalen Personal, ohne das sie als Frau kein Casino hätte führen können. Keiner ihrer Angestellten stellte ihre Entscheidungen infrage oder maßte sich an, für ihre Position besser geeignet zu sein. Alle arbeiteten hart und hatten zum Erfolg des Miss Ivy’s genauso viel beigetragen wie sie selbst.

„Samuel ist mein bester Croupier.“ Samuel bedachte sie für das Kompliment mit einem breiten Lächeln. Sie wartete, bis den beiden Herren auffiel, dass ein Schwarzer ihrem Tisch vorstehen würde, und war erleichtert, als sie keine Einwände erhoben. Einige Gäste hatten es getan und zählten somit bedauerlicherweise zur ehemaligen Kundschaft, aber sie stand ebenso unverbrüchlich zu ihrem Personal wie dieses zu ihr.

„Eines noch, meine Herren.“

Es war stets unangenehm, ihre Gäste an die Hausregel zu gemahnen, aber wenn sie es versäumte, gab es immer einen, der so tat, als hätte er nichts davon gewusst.

„Im Miss Ivy’s wird für das Spielen bezahlt.“

Mr. de Silva schaute verwirrt drein, ebenso wie der Duke, dessen Miene sich jedoch nach einem Moment aufhellte.

„Dafür trage heute Abend ich Sorge“, erklärte er und bedachte seinen Freund mit einem Blick, den Ivy nicht zu deuten wusste.

„Dafür …?“, hakte Mr. de Silva nach.

Ivy erläuterte es ihm. „Das Miss Ivy’s legt Wert darauf, dass jeder Spieler seine Schulden am Ende des Abends begleicht. Er bezahlt also gleichsam, um zu spielen.“

Mr.de Silvas Miene erstarrte. „Weil ich … Gottverdammt!“

Sein Ausbruch ließ Ivy zusammenzucken, doch sie hielt sich vor Augen, dass das nicht ihre Angelegenheit war. Einzig ihr Unternehmen war ihre Angelegenheit.

„Wenn Sie mir bitte an meinen Tisch folgen wollen?“ Samuel deutete mit einer Geste auf den hinteren Bereich des Raumes. Die zwei Herren nickten und gingen Samuel nach, um sich am Roulettetisch niederzulassen.

Ivy sah zu, wie sie es sich bequem machten, bevor sie sich abwandte, erleichtert darüber, dass sie fähig war, das Wesentliche im Auge zu behalten. Er war einfach unerhört attraktiv, das war alles. Es war nicht das erste Mal, dass sie gut aussehende Gäste schröpfte, und es würde nicht das letzte Mal sein – sie würde auf einen Weg sinnen müssen, sich unter Kontrolle zu haben.

Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es in dieser Branche erforderlich sein würde, angemessen mit umwerfend attraktiven Gentlemen umgehen zu können, aber daran war sie selbst schuld.

Während sie diesem Gedanken nachhing, lachte sie in sich hinein. Das musste sie Octavia erzählen – ihre Schwester lachte gern auf ihre Kosten. So wie sie selbst.

Sebastian saß neben Nash und widerstand dem Drang, sich nach der Inhaberin des Spielcasinos umzuschauen. Miss Ivy. Sie zu betrachten war allemal besser, als daran erinnert zu werden, dass er jetzt Mr. de Silva war.

Nie hätte er gedacht, dass eine solch junge Frau ein Casino besitzen könnte. Nun, das hatte er bewiesen, indem er sie für eine Angestellte gehalten hatte. Er zuckte innerlich zusammen, als er sich seine Unterstellung ins Gedächtnis rief.

Auch hätte er nicht damit gerechnet, dass sie dermaßen schön wäre.

Er fragte sich, woher sie kommen mochte und weshalb eine so reizende junge Frau ein Casino betrieb.

Wobei er sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, wie der Inhaber eines Casinos aussehen sollte. Allerdings waren sie meist männlich, oftmals laut und nicht selten unausstehlich. Sie hingegen war nichts dergleichen. Daher sein verheerender Trugschluss.

Sie war auf ansprechende Weise schön: klein, mit großen braunen Augen, dunkelbraunem Haar, üppigem Mund und sinnlichen Kurven. Er fragte sich, wie sie aussah, wenn sie lächelte. Wenn diese großen Augen vor Leidenschaft glühten. Wie diese Rundungen sich in seinen Händen anfühlen mochten.

„Seb?“ Nash stieß ihn an. „Wenn du bloß dahockst und vor dich hin grübelst, können wir uns genauso gut gleich etwas zu trinken holen und das Spielen überspringen. Das wäre mir ohnehin lieber“, fügte er mürrisch an.

„Nein, schon gut, ich bin nur …“, erwiderte er, was Nash mit einem Knurren quittierte.

Sebastian verscheuchte die bezaubernde Inhaberin aus seinen Gedanken und nahm stattdessen den Spielsalon in Augenschein. Der war nicht annähernd so verlockend, aber durchaus interessant.

Er war weitläufig. Die Tische standen in regelmäßigem Abstand zueinander. Die bequem gepolsterten Sessel waren aus dunklem Stoff, die Wände dagegen mit roter Tapete versehen. Akzentuiert wurde die kräftige Farbe durch Gemälde – war das dort etwa ein Hund, der Karten spielte?

Seb versuchte, die übrigen Bilder zu erkennen. Einige entsprachen seinen Erwartungen, andere hingegen waren ebenso skurril wie das, welches ihm zuerst aufgefallen war.

Irgendjemand hier hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor.

Sie etwa?, fragte er sich.

„Welche Zahl schlägst du vor?“, fragte Nash und riss ihn aus seinen Gedanken.

Ein Herzogtum, eine illegitime Ehe, zwei Gattinnen, zwei betroffene Kinder plus gut zwanzig Hausangestellte … „Sechsundzwanzig“, antwortete er.

Nash warf seinen Jeton auf die Zahl und sah sich im Raum um. Vermutlich hielt er nach dem Kellner mit ihren Drinks Ausschau.

Sebastian sah zu, wie die Kugel im Roulettekessel kreiste.

Und lehnte sich zurück, als sie auf der roten Dreizehn liegen blieb.

Wieso hatte er Nash nicht geraten, auf diese Zahl zu setzen? Vielleicht, weil sie zu offensichtlich gewesen wäre? Nummer dreizehn, weil ich heute der reinste Unglücksrabe bin.

Dieser Gedanke grenzte an Trübsal blasen. Er würde nicht trübselig werden. Niemand mochte einen trübseligen Duke und schon gar keinen trübseligen Nicht-Duke. Vor allem er selbst nicht.

Gottlob gab es genügend Ablenkung.

Er erhob sich jäh, um die übrigen Tische zu begutachten. Roulette war ein reines Glücksspiel, aber es gab andere Spiele, die Kalkül vonseiten des Spielers forderten. Nash waren derlei Dinge gleich; solange er genug zu trinken hatte, war er glücklich. Zumindest so glücklich, wie Nash eben sein konnte, was sich bei ihm auf einigermaßen zufrieden beschränkte.

Es sei denn, er geriet in eine Schlägerei. Dann blühte er auf, wirkte konzentriert und fast glücklich.

„Lass es uns am Baccara-Tisch versuchen“, schlug Sebastian vor. Nash stand auf und folgte ihm zu besagtem Tisch. Sie mussten sich an anderen Gästen vorbeidrängen, wobei ihnen beinahe der eine oder andere Drink über die Kleider geschüttet worden wäre. Einige Damen schauten vom Spiel auf und sahen sie abwägend an, um zu ergründen, ob sie als Gespielen infrage kamen. Sebastian hielt den Blick unverwandt auf den Tisch gerichtet – er war heute Abend nicht in Stimmung, und Nash flirtete niemals freiwillig.

Sie erreichten den Tisch und setzten sich, und Sebastian nahm rasch die übrigen Spieler in Augenschein. Niemand, den er kannte, Gott sei Dank.

Baccara hing fast genauso sehr vom Glück ab wie Roulette, aber wenigstens wurde mit Karten gespielt. Nicht bloß mit einer kleinen Kugel, die in einem Kessel kreiste.

Wenn er schon Nashs Geld verlor – in Ermangelung von eigenem –, wollte er es lieber mit einer ungeschickt ausgespielten Karte als mit einer Kugel tun, die ins falsche Nummernfach sprang.

Seltsam, wie wenig vergnüglich Glücksspiel war, wenn man buchstäblich nichts zu verlieren hatte.

Heute Nachmittag hatte sich sein Leben auf unwiderrufliche, unvorstellbare Weise gewandelt. Die Vorstellung, sich nichts mehr leisten zu können – sie war ihm bis heute fremd gewesen. Er hatte keine Ahnung davon, was die Dinge kosteten, und wusste erst recht nicht, wie viel Geld man zum Leben brauchte.

Am Tisch stand eine Frau, die offenbar als Kartengeberin fungierte. Ein weiterer ungewöhnlicher Aspekt dieses Clubs – Sebastian konnte sich nicht entsinnen, je einen weiblichen Geber gesehen zu haben. Sie war schon älter und hatte scharfe Gesichtszüge sowie schwarzes Haar, das zu einem straffen Knoten gebunden war. Ihre Kleider wirkten ebenfalls streng, und sie trug keine Handschuhe. Sie nickte ihnen zu und machte sich wieder daran, fingerfertig einen Satz Karten zu mischen.

Sebastian vernahm Stimmen und drehte sich um. Weitere Menschen strömten in den Raum. Einige von ihnen kannte er, weshalb er sich hastig abwandte. Noch war er nicht bereit, sich einer Unterhaltung im Sinne von „Oh, ganz recht, ich bin ein unehelicher Niemand“ zu stellen. Oder, weit schlimmer, jemandem zu begegnen, der nichts von seinem Statuswandel wusste und ihn wie eine wichtige Persönlichkeit behandelte, statt wie einen beklagenswerten Bastard, dem jüngst seine wahre Herkunft offenbart worden war.

Er schnappte einige Gesprächsfetzen auf und identifizierte so manchen Akzent, der sich nicht in den höheren Kreisen fand. Anscheinend war das Miss Ivy’s im Hinblick auf seine Klientel liberal eingestellt, was Geschlecht und Stand anging. Treten Sie ein, bringen Sie Geld herein. Eine einfache Gleichung, beinahe zu einfach.

Er fragte sich, wie viele Mitglieder des Oberhauses die Nase über das Miss Ivy’s rümpften, weil sie entweder die Gäste für unzumutbar befanden oder nicht das nötige Bargeld aufbrachten, um hier spielen zu dürfen. Kein Wunder, dass es Nash hier gefiel; dieser Ort war so frei von Heuchelei wie er selbst.

„Wie lange gibt es das Miss Ivy’s schon?“, fragte er die Kartengeberin. Sie bedachte ihn mit einem Blick, der besagte, dass sie keine Lust hatte, ihre Zeit mit dem Beantworten von Fragen zu vergeuden. Er bedachte sie seinerseits mit seinem nonchalanten Lächeln.

Es verfehlte seine Wirkung. Ihre Miene wurde nur umso abweisender.

Hatte er mit seinem Titel auch seinen Charme verloren?

„Ich übernehme, Caroline.“ Miss Ivy nickte ihrer Angestellten zu, deren Züge kaum merklich weicher wurden. Sie machte Miss Ivy Platz.

„Nicht nur die Inhaberin, sondern auch Kartengeberin?“, fragte Sebastian.

Sie hob die Schultern, einen rosigen Hauch auf den Wangen. Warum hatte sie übernommen?

Er wäre nicht Sebastian, ehemaliger Duke of Hasford, gewesen, hätte er es nicht auf sich bezogen.

Sie klopfte mit dem Kartendeck auf den Tisch. „Machen Sie Ihr Spiel.“

Nash nickte Sebastian zu, der achselzuckend einen von Nashs Jetons auf der Spielerseite platzierte.

Miss Ivy mischte die Karten und teilte zwei an den Spieler und zwei an sich selbst aus.

Sebastian addierte im Kopf rasch die Kartenwerte, doch Miss Ivy war schneller. Beeindruckend.

„Der Spieler gewinnt“, verkündete sie und fügte dem Einsatz einen Jeton hinzu.

„Da Ihre Geberin nicht gewillt war, mir Auskunft zu erteilen, frage ich nun Sie.“ Sebastian versuchte es abermals mit seinem Lächeln, diesmal mit weit mehr Erfolg. Er sah sie schlucken und die Augen aufreißen. Wäre er kein versierter Kartenspieler gewesen, hätte er angesichts ihrer Reaktion gegrinst. „Wie lange gibt es Ihr Haus schon?“

Sie legte den Kopf schräg, während sie überlegte. „Etwa sechs Monate.“

Aha. Kein Wunder, dass er nie zuvor hier gewesen war. Vor sechs Monaten waren seine Eltern ums Leben gekommen. Und seitdem hatte er keine Muße für Amüsements gehabt. „Und Ihre Klientel ist …?“

Sie zog die Brauen zusammen. „Woher rührt Ihr großes Interesse, Mr. de Silva?“ Ihre Miene umwölkte sich. „Sie gehören doch nicht etwa zu Crockford’s, oder?“

Sebastian hob kapitulierend die Arme. „Nein, versprochen. Ich bin aufrichtig interessiert.“ Er legte die Hände zurück auf den Tisch, beugte sich vor und schlug einen verschwörerischen Tonfall an. „Außerdem wäre ich ein miserabler Spion, wenn ich lediglich unverhohlen Fragen stellen würde, meinen Sie nicht?“ Eine Dame zu necken, damit war er wieder ganz in seinem Element, wieder ein Stück weit er selbst. Und auch seinen Charme hatte er Gott sei Dank nicht eingebüßt.

Ihre Züge entspannten sich, und sie nickte. „Ausgezeichneter Einwand. Es sei denn, Sie wären tatsächlich ein miserabler Spion.“

Er lachte leise. „Was wäre ein miserabler Spion schon wert?“

Sie lachte und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Er musste sich beherrschen, um eine unbewegte Miene zu wahren; ihr Lächeln blendete ihn fast. Es hatte nichts von dem aufreizenden Lächeln, das eine Dame zum Verführen einsetzte, sondern war breit und ungekünstelt und weckte in ihm den Wunsch, ihm gerecht zu werden – Anlass der Freude zu sein, die diesem Lächeln zugrunde lag, und diesem Strahlen Ehre zu machen.

Woher war dieser Gedanke gekommen?

Der Verlust des Herzogtums musste ihm auf den Verstand geschlagen sein.

„Bitte geben Sie all Ihre Geheimnisse preis, auf dass ich sie Ihrem Rivalen unterbreiten kann“, sagte sie, wobei sie betont tief sprach, um maskuliner zu klingen.

„Verraten Sie mir, welche Ihrer Gäste besonders spendabel sind, damit ich sie in mein Etablissement locken kann“, ergänzte er.

„Und wenn Sie schon dabei sind, zeigen Sie mir doch bitte noch Ihre fähigsten Mitarbeiter. Rein aus Interesse.“

Kurz tauschten sie ein Lächeln.

„Gut.“ Sie wurde wieder ernst, wenngleich es in ihren Augen nach wie vor amüsiert funkelte. „Da wir nun festgestellt haben, dass Sie kein Spion sind, sollten wir das Spiel vielleicht fortsetzen.“

„Ja, ich würde lieber Geld verlieren, als dir beim Flirten zu lauschen“, warf Nash trocken ein.

Miss Ivy setzte an, etwas zu sagen, schloss den Mund jedoch wieder. Ihre Wangen färbten sich rosig.

„Hör auf, dich zu beschweren, und setz dich lieber“, entgegnete Sebastian, und das tat Nash, wobei er Sebastian mit einem beredten Blick bedachte.

Schön, hätte Sebastian gern gesagt. Ich habe geflirtet. Kannst du es mir verübeln? Ich bin, wie ich bin, und sie ist hinreißend.

„Der Geber gewinnt“, sagte Miss Ivy kurz darauf und riss Sebastian aus seinen Betrachtungen. Sie nickte einem ihrer Mitarbeiter zu, der daraufhin vortrat.

Sebastian sah Nash, der die Augen verdrehte, süffisant an. „Mein Leben mag in Scherben liegen, und meine Zukunft ist ungewiss, aber wenigstens auf die Karten ist Verlass.“ Nash aufzuziehen machte fast so viel Spaß wie Damen zu necken.

Nash schob seine Jetons zusammen und warf Sebastian einen zu. „Hier, lass mich der Erste sein, der deine Zukunft fördert.“ Der Mitarbeiter war verschwunden, und Sebastian spürte Miss Ivys Aufmerksamkeit wieder auf sich und Nash ruhen.

Er fing Nashs Jeton auf, legte ihn auf den Tisch und schob ihn zwischen Geber und Spieler hin und her. Schließlich entschied er sich, auf wen er ihn setzen sollte, schaute auf und begegnete ihrem Blick. „Ich setze auf die Geberin“, sagte er und sah, wie ihre Augen sich weiteten und sie ein paarmal kurz durchatmete.

Vielleicht war sein Glück nicht gänzlich dahin.

3. KAPITEL

Ich setze auf die Geberin.

Ivy konnte sich nicht entsinnen, je so durcheinander gewesen zu sein. Genauer gesagt, konnte sie sich nicht entsinnen, überhaupt je durcheinander gewesen zu sein. Doch auf sein Lächeln hin hatte sie weiche Knie bekommen, und leicht schwindelig war ihr auch geworden.

Entweder lag das an ihm, oder sie hatte sich etwas eingefangen.

Doch dass sie krank wurde, glaubte sie eigentlich nicht.

Ivy hatte sich immer gefragt, wieso sich manche Frauen in der Gegenwart von Herren dermaßen albern aufführten. Sie verlor doch auch nicht die Fassung, weshalb also die anderen? Ihrer Meinung nach gab es schlicht keinen Grund, beim Anblick eines Gentlemans zu erröten, mit den Wimpern zu klimpern und zu sprechen, als hätte man jedwede Selbstachtung eingebüßt.

Nun jedoch ging es ihr genauso. Sie errötete und klimperte mit den Wimpern.

Das ärgerte sie.

„Sie setzen auf die Geberin“, erwiderte sie, hob allerdings am Ende des Satzes die Stimme, sodass er wie eine Frage klang. Verflixt. „Sie setzen auf die Geberin“, wiederholte sie, als stellte sie eine Tatsache fest. So. Viel besser.

„Ich wüsste nicht, was dagegenspräche“, erwiderte er mit tiefer Stimme. Einer Stimme, die Ivy an alle möglichen Dinge denken ließ, an die sie nie zuvor gedacht hatte.

„Ich wähle den Spieler“, fügte der Duke hinzu und schob einen Jeton auf das entsprechende Feld. Fast wäre Ivy zusammengefahren; sie hatte ihn völlig vergessen.

Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dabei sollte sie all ihre Gäste im Auge haben, nicht bloß diesen einen. Er war ihre Beute. So wie sie alle.

Diese Beute war lediglich hübscher anzusehen als die anderen. Das war alles.

Sie holte tief Luft und nahm sich vor, ihn mindestens eine Minute lang nicht anzuschauen. Eine Minute sollte ihr doch gelingen, oder? Schließlich war sie die standhafte, resolute, unerschütterliche Ivy. Ivy, die alles bedachtsam anging. Ivy, die sich nicht von ihren Plänen abbringen ließ. Nicht Ivy mit den klimpernden Wimpern und der einfältigen Stimme.

Daher starrte sie auf die Karten hinab, teilte aus und hielt den Atem an, während eine Karte nach der anderen aufgedeckt wurde. „Der Geber gewinnt“, verkündete sie. Nachdem sie ihn eine ganze Minute lang nicht angesehen hatte.

Sie gönnte sich einen Blick auf ihn. Er sah sie unverwandt an, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen.

„Ich wusste es“, meinte er leise.

Seine Augen waren von der ungewöhnlichsten Farbe, die sie je gesehen hatte – beinahe bernsteinfarben, obgleich so mancher sie vermutlich als goldbraun bezeichnet hätte. Natürlich mussten selbst seine Augen schön sein. Ihre waren, wie ihr sehr wohl bewusst war, schlicht braun. Ein langweiliges, gewöhnliches fades Braun.

Sie stieß die Luft aus und ließ den Blick ihrer beklagenswert braunen Augen durch den Raum schweifen, um sich zu fangen. Als sie zum gegenüberliegenden Tisch sah, blieb ihr fast das Herz stehen. Dort betätigte sich eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar als Geberin und teilte mit flinken Fingern Karten aus.

Verdammt!

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, meine Herren?“ Ivy nickte Caroline zu, die an einem anderen Tisch stand. Caroline kehrte zu dem Tisch zurück, an dem der Duke und Mr. de Silva saßen, und Ivy eilte durch den Spielsalon, ebenso wütend wie erleichtert. Wütend auf Octavia, die ihr ausdrückliches Verbot missachtete, und erleichtert, weil sie dadurch für einige Momente abgelenkt war.

Sie trat hinter den Tisch und packte Octavia am Arm, wobei sie ihr ins Ohr zischte: „Was in Gottes Namen tust du hier?“

Hinter der Maske sah sie es in Octavias Augen funkeln. Womöglich war dies der Tag, da ihre Schwester beschloss, ihren Anweisungen nicht länger Folge zu leisten. „Ich helfe aus, Miss Ivy“, erwiderte Octavia in untertänigem Ton. „Mir kam zu Ohren, dass Sie Hilfe benötigen.“

„Miss Ivy, Ihre neue Geberin ist sagenhaft.“

Ivy wandte sich zu der Sprecherin um. Fast hätte sie laut gestöhnt, als sie Lady Massingley erkannte, die sie als ihre lukrativste Kundin bezeichnet hätte, wenn sie von einem minderbegabten Spion gefragt worden wäre.

„Vielen Dank.“ Octavia untermalte ihre Worte mit einem Knicks.

Lady Massingley ließ eine Münze über den Tisch springen, die Octavia geschickt auffing.

„Sie bringen mir Glück“, bemerkte Lady Massingley. „Doppelt oder nichts.“ Sie schob ihre gesamten Jetons in die Mitte des Tisches.

Autor

Megan Frampton
<p>Diesen Dingen kann Megan Frampton einfach nicht widerstehen: der Farbe Schwarz, gutem Gin, dunkelhaarigen Briten und großen Ohrringen. Neben historischen Romanen schreibt sie unter dem Namen Megan Caldwell auch gefühlvolle Liebesromane. Die Autorin lebt mit Ehemann und Kind in Brooklyn, New York.</p>
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