Küsse, süß wie Schokolade

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Noch einmal holt Dr. Brody McKenna tief Luft. Dann betritt er Kate Spencers Schokoladengeschäft. Er muss ihr eine schreckliche Mitteilung machen. Auf alles ist er vorbereitet, nur nicht darauf, dass er beim Anblick der hübschen Ladenbesitzerin dahinschmilzt …


  • Erscheinungstag 05.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717483
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war für Brody McKenna bereits der dritte Patient mit Halsentzündung an diesem Vormittag. Wie den beiden Patienten davor verordnete er auch diesmal die bewährten Mittel: Bettruhe, viel Heißes zu trinken und Grippetabletten.

Eigentlich hätte Brody mit seinem Leben vollauf zufrieden sein müssen. Er hatte einen sicheren Job als Allgemeinmediziner mit gut gehender Praxis. Seine Großmutter und seine Brüder, mit denen er sich ausgezeichnet verstand, lebten ganz in der Nähe. Aus Afghanistan war er unversehrt zurückgekehrt, und er hätte froh sein sollen, mit seiner üblichen Arbeit weitermachen zu können.

Das war er aber nicht.

Sobald sein Patient den Behandlungsraum verlassen hatte, schaute Helen Maguire, die altgediente Sprechstundenhilfe, he­rein, eine mütterliche Frau mit grauen Haaren und einem freundlichen Lächeln.

„Das war der letzte Patient heute Vormittag“, verkündete sie. „Wir haben jetzt eine Stunde Zeit, dann geht es mit den Impfungen los, und am Nachmittag stehen Belastungs-EKGs auf dem Programm.“

Brodys Gedanken schweiften ab, weg von seinen nächsten Terminen und den ganzen hektischen Aktivitäten seiner Praxis hier in Newton. Sein Blick fiel auf die Regale, in denen bereitstand, was er für seine Arbeit brauchte, angefangen von einfachen Holzspateln und Tupfern bis hin zu Verbandmaterial und Wunddesinfektionsmitteln für Notfälle.

Plötzlich fühlte er sich zurückversetzt in ein heißes Land, in eine Hütte mit gestampftem Lehm als Fußboden, in der es keine solchen Vorräte gab.

Und schon gar keine Wunder.

„Doc? Haben Sie mir überhaupt zugehört?“

„Wie? Ja, ja. Natürlich, Helen.“ Er stand auf und wusch sich am Waschbecken gründlich die Hände.

Denk an die Arbeit hier, ermahnte er sich. Denk nicht an diesen Augenblick, der nicht mehr zu ändern ist, an die Menschen, die du nicht retten konntest!

„Zurzeit leiden viele an Erkältungen“, bemerkte er.

„So ist das nun mal im Herbst.“ Helen zuckte die Schultern. „Mir gefällt es irgendwie, dass man sozusagen seinen Kalender nach den typischen Krankheiten ausrichten kann. Das hat fast einen gewissen Rhythmus. Finden Sie nicht auch?“

„Ja.“

Brody hatte lange Zeit geglaubt, dass sein Leben perfekt sei. Praktischer Arzt war der ideale Beruf für einen typischen Familienmenschen wie ihn. Doch sein Plan, eine eigene Familie zu gründen, war in die Brüche gegangen, als seine Verlobte ihn verlassen hatte. Zu der Zeit arbeitete er bereits als Nachfolger von Doktor Watkins, und es wäre Wahnsinn gewesen, die einträgliche Praxis zu verlassen. Also blieb er.

Und lange war er glücklich. Er mochte seine Patienten. Er arbeitete besonders gern mit Kindern, und er beobachtete mitfühlend, wie die Familien größer wurden und sich veränderten.

Dann hatte er angefangen, zusätzlich ehrenamtlich zu arbeiten. In einer Klinik in Alabama, in einem Obdachlosenasyl in Maine … Als sich ihm die Möglichkeit bot, einen Monat lang in Afghanistan zu arbeiten, hatte er sich sofort gemeldet. Mit anderen Ärzten war er mit einer mobilen Praxis über Land gefahren, zu weit abgelegenen Dörfern, in denen es keine medizinische Versorgung gab. Sie wurden von amerikanischen Soldaten begleitet, die sie gegen Übergriffe der Aufständischen schützen sollten.

Brody hatte etwas bewirken wollen. Das war ihm auch gelungen – aber nicht so, wie er es erhofft hatte.

Und nun fand er keinen Frieden mehr, egal, was er versuchte.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte Helen sich besorgt.

„Ja. Ich war nur in Gedanken anderswo. Heute gehe ich wieder aus, denke ich, statt am Schreibtisch zu essen.“

„Das ist eine prima Idee. Frische Luft tut Ihnen bestimmt gut.“ Sie lächelte. „Da sieht alles gleich viel freundlicher aus, finde ich.“

„Ich bin um ein Uhr zurück“, versprach er und verließ die Praxis.

Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für Ende September, beinah noch sommerlich. Brody lief den gleichen Weg wie fast jeden Tag zur Mittagszeit. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn seine Schritte schon Vertiefungen in den Bürgersteig geprägt hätten.

Als er um die Ecke bog, zog er aus seiner Tasche eine Postkarte, die schon ziemlich abgegriffen war, aber noch immer gut lesbar.

Hallo Superman, pass auf dich auf und komm heil nach Hause! Wir hier lieben und vermissen dich sehr. Vor allem ich. Ohne dein Grinsen fehlt einfach was!

Ich hab dich lieb! Kate.

Brody blieb stehen. Er war am Ziel seiner mittäglichen Gänge angelangt, dem Laden mit der rot-weiß gestreiften Markise, der sich Nora’s Sweet Shop nannte.

Soll ich reingehen oder nicht? überlegte er zum x-ten Mal.

Er hatte Andrew versprochen, Kate aufzusuchen und sich zu überzeugen, dass es ihr halbwegs gut ging. Und er hatte versprochen, nicht zu berichten, was mit Andrew wirklich passiert war. Der junge Soldat hatte befürchtet, seine Schwester würde sich sonst schwere Vorwürfe machen.

Dieses Versprechen einzulösen fiel Brody schwer. Bisher hatte er sich vor dem Laden immer wieder umgedreht und war zurück in seine Praxis geflüchtet, zurück zu Thermometern, Stethoskopen und Verbänden. Doch wie sollte er dort je Frieden finden? Er musste den entscheidenden Schritt endlich wagen!

Brody atmete tief durch und betrat das Geschäft. Die herrlichen Aromen von Schokolade und Vanille umwehten ihn, sanfte Musik tönte im Hintergrund. An einem Ende befand sich eine Vitrine mit Cupcakes und Pralinen, am anderen standen bunt dekorierte Geschenkkörbe. Im Schaufenster prangte ein Hochzeitskuchen, ganz aus Cupcakes aufgebaut und mit rosa und weißem Zuckerguss verziert. Über den Regalen zog sich der Name des Ladens in dunklem Rosa, abgesetzt mit Schokoladenbraun, wie eine Girlande entlang.

„Bin gleich bei Ihnen!“, rief eine Frau aus dem Raum hinter dem eigentlichen Geschäft.

„Es eilt nicht“, erwiderte er. „Ich möchte nur …“

Ja, was? Er wollte sich nicht umschauen, er wollte keine Cupcakes kaufen. Aber er wollte ihr auch nicht die Wahrheit sagen.

Die Wahrheit nämlich, dass er in diesen kleinen Laden in Newton gekommen war, um Vergebung zu finden.

Brody griff sich den erstbesten Geschenkkorb und ging damit zum Tresen. Als er das Portemonnaie hervorzog, kam eine schlanke junge Frau aus dem rückwärtigen Raum.

„Guten Tag, ich bin Kate“, grüßte sie. „Was kann ich für Sie tun?“

Das war also Kate Spencer, die Besitzerin des Geschäfts, die ihm in den vergangenen Wochen nicht aus dem Sinn gegangen war. Er hatte sie noch nicht kennengelernt, hatte aber so viel über sie gehört, dass er einige Kapitel ihrer Biografie hätte verfassen können.

Nun war er überrascht. Er hatte eine jüngere Version von Helen Maguire erwartet, eine mütterliche Frau mit einem ordentlichen Knoten, einer sauberen Schürze und einem herzlichen Lächeln. So hatte er sich Andrews Schwester nach dessen Beschreibung vorgestellt. Liebevoll, warmherzig, verlässlich. Tröstlich wie eine Daunendecke.

Hier stand aber eine schlanke, fitte, dynamische Frau, die ihre dunkelbraunen Haare zu einem kecken, leicht schiefen Pferdeschwanz gebunden hatte. Ihr Lächeln war tatsächlich freundlich – und ihre Lippen waren verführerisch rot, voll und schön geschwungen. Ihr zartes Gesicht war fein geschnitten, doch unter den wunderschönen grünen Augen lagen Schatten, und ihre Schultern wirkten verspannt.

Brody öffnete schon den Mund, um sich vorzustellen und endlich seine Mission zu erfüllen, aber er brachte keinen vernünftigen Satz heraus.

„Ich … ja, also … das heißt …“ Er blickte auf den Korb in seinen Händen. „Ich wollte das hier kaufen.“

„Ja, gern. Ist es ein Geschenk für eine bestimmte Person?“

Verzweifelt überlegte er. „Ja! Für meine … Großmutter. Sie liebt Schokolade.“

„Und Baseball?“, hakte Kate nach. „Ist sie ein Fan der Red Sox?“

Nun blickte er genauer in den Korb und entdeckte, dass die Pralinen wie Bälle und Schläger geformt und in Folie mit den Farben des berühmten Vereins gewickelt waren. Das würde seiner Großmutter ganz und gar nicht gefallen.

Er lachte. „Ich bin der Fan. Ich habe sogar ein Saisonticket. Meine Großmutter ist, wenn überhaupt, eine Anhängerin der Yankees, aber das darf man in Boston ja nicht laut sagen.“

Kate lachte ebenfalls. Es klang unbeschwert und melodisch. „Nun, Mr Red Sox, ich stelle Ihnen gern einen Korb zusammen, der einer alten Dame eher gefällt. Wollen Sie inzwischen vielleicht eine Grußkarte schreiben? Die finden Sie dort drüben.“

„Danke, gern.“ Er suchte eine Karte aus und schrieb seinen Namen darauf.

Das gab ihm die Gelegenheit, sich darauf einzustellen, wie Kate wirklich war: nicht, wie er sie sich vorgestellt hatte.

Sie war, in einem Wort gesagt, wunderschön. Genau die Frau, die er unter anderen Umständen zu einem Date eingeladen hätte. Sie war freundlich, schien gern zu lächeln, und hatte eine warme, angenehme Stimme. Ihr Lächeln hatte es ihm angetan und Empfindungen in ihm geweckt, die ihn überraschten. Brody hatte nicht erwartet, sich so sehr zu ihr hingezogen zu fühlen.

Nun versuchte er, die richtigen Worte zu finden, um sein Versprechen, das er Andrew gegeben hatte, endlich einzulösen. Er hatte sie im Kopf schon hundert Mal geübt, aber jetzt wollten sie ihm nicht über die Lippen kommen. Mit dem Thema durfte er Kate Spencer nicht unerwartet überfallen, er musste irgendwie auf Umwegen dahin kommen. Leichter gesagt als getan! Wahrscheinlich wäre es einfacher, den Mount Everest zu besteigen.

„Wie läuft das Geschäft?“, erkundigte Brody sich bewusst beiläufig.

„Ziemlich gut. Nur montags ist weniger los, was ich nicht übel finde. Es ist beinah wie ein verlängertes Wochenende.“

„Machen Sie all die Kuchen und Süßigkeiten selber?“, fragte er weiter.

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Das könnte ich nicht schaffen. Das Geschäft besteht seit 1953 und ist viele Jahre lang ein Familienbetrieb gewesen, aber …“ Plötzlich schien Kate in Gedanken weit weg zu sein. „Jedenfalls habe ich eine Helferin, die für mich von geradezu unschätzbarem Wert ist. Wieso fragen Sie? Wollten Sie sich als Bäcker bewerben?“

„Um Himmels willen! In der Küche habe ich zwei linke Hände.“

„Ganz schön riskant, wenn man mit Messern umgeht“, scherzte sie. „Aber Backen kann man ziemlich einfach lernen. Ich habe keine Ausbildung als Konditorin, sondern alles meiner Großmutter abgeguckt. Von Kindheit an.“

„Sie klingen, als würden Sie sehr gern hier arbeiten“, bemerkte Brody.

„Stimmt! Arbeit ist die beste Therapie.“

Er brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, warum sie plötzlich so unendlich traurig aussah. Wegen Andrews Tod. Und der war auf Entscheidungen zurückzuführen, die er, Brody, am anderen Ende der Welt getroffen hatte.

„Ja, Arbeit kann gut für die Seele sein“, stimmte er zu.

Das versuchte er sich zumindest selbst jeden Tag einzureden, wenn er seine Praxis betrat. Aber seit er aus Afghanistan zurückgekehrt war, hatte er in seiner Arbeit nicht mehr die Befriedigung gefunden wie zuvor.

„Und welche Seelen fördernde Arbeit machen Sie?“, wollte Kate wissen und wurde rot. „Entschuldigung. Das war eine zu persönliche Frage. Sie brauchen sie nicht zu beantworten.“

„Ich bin Arzt“, informierte er sie.

„Ein sehr lohnender Beruf. Viel dankbarer als Backen. Und viel komplizierter, als Teig in Formen zu füllen.“

„Ihr Beruf ist auch lohnend“, hielt er dagegen. „Sie machen Menschen glücklich.“

„Mit viel ungesundem Zucker“, bestätigte sie. „Aber danke für die ermutigenden Worte. Dieser Laden ist seit drei Generationen in der Familie, und wir haben immer unser Bestes gegeben.“

Brody blickte zu den gerahmten Zeitungsartikeln, die an der einen Wand hingen. Die meisten waren lobende Erwähnungen des Familienbetriebs und seiner ausgezeichneten Produkte, das letzte Blatt jedoch zeigte einen gut aussehenden, lächelnden jungen Mann in Uniform unter der Schlagzeile „Bruder der Besitzerin von Nora’s Sweet Shop in Afghanistan gestorben“.

Wie es dazu gekommen war, wusste Brody genau. Wie so oft seither stand ihm alles wieder lebhaft vor Augen. Die staubige, stickige Hütte, in der er abwechselnd betete und fluchte, während er versuchte, Andrew am Leben zu erhalten.

Ohne Erfolg.

Er glaubte, wieder die Brust des jungen Soldaten unter den Handflächen zu spüren, das regelmäßige Auf und Ab der Herzmassage, die so verflucht wirkungslos blieb gegen das ständige Verströmen der Lebenskraft.

Verzweifelt und völlig machtlos hatte Brody dem Sterben zusehen müssen.

Diese Wunde, die das Schicksal Kate und ihrer Familie beigebracht hatte, würde die Zeit nicht heilen können. Egal, wie viel davon verstrich.

Warum hat Andrew mich hierher geschickt?

„Sir? Ihr Korb ist jetzt fertig.“

Rasch drehte Brady sich um. „Welcher Korb?“, fragte er wie benommen.

Kate hielt ihn hoch, sodass er den Inhalt begutachten konnte. Die Pralinen sahen jetzt aus wie Blüten, und das Band um den Henkel war rosa und weiß.

„Das ist doch besser geeignet für Ihre Großmutter, oder?“, meinte sie freundlich.

„Ja, sicher. Danke für Ihre Mühe“.

Und nun?

Er hatte ein Versprechen gegeben und musste einen Weg finden, es zu halten.

Er wies auf den Artikel über Andrew und fragte: „Sie hatten einen Bruder, der in Afghanistan stationiert war?“

Es war, als wäre ein Schatten auf ihr Gesicht gefallen. „Ja. Andrew. Er war jünger als ich. Vorigen Monat ist er umgekommen. Wir dachten, er wäre nicht in Gefahr, weil ja der eigentliche Krieg vorbei ist, aber dort lauert immer noch an jeder Ecke der Tod.“

„Das tut mir so leid für Sie“, sagte Brody leise. Die tröstenden Worte, die er sich bisher im Kopf zurechtgelegt hatte, kamen ihm nun unzulänglich vor. „Es muss sehr schwer für Sie sein.“

„Ja. Zum Glück habe ich meine Arbeit. Und manchmal rede ich mit Andrew. Das klingt verrückt, ich weiß, aber es hilft mir.“

„Ich finde nicht, dass es verrückt klingt“, meinte er ehrlich.

Kate strich über den Tresen. „Er hat auch hier gearbeitet. Ich vermisse ihn an jedem einzelnen Tag. Er war der Organisator und wäre entsetzt über den Zustand, in dem sich mein Büro jetzt befindet.“ Sie versuchte zu lachen. Dann wies sie auf den Korb. „Soll ich die Karte dazugeben?“

„Ja, bitte.“ Er reichte sie ihr. Wieder schaffte er es nicht, ihr zu sagen, weshalb er tatsächlich hier war. „Seltsam, dass ich noch nie im Laden war, obwohl ich ganz in der Nähe wohne.“

„Schön, dass Sie heute in Nora’s Sweet Shop eingekauft haben!“, bedankte Kate sich und reichte ihm den Korb. „Ich hoffe, Ihre Großmutter genießt das Geschenk.“

„Das tut sie sicher.“ Nun hätte er wirklich gehen sollen, wollte es aber nicht. „Wenn Sie Kate sind, wer ist dann Nora?“, erkundigte er sich.

Die Antwort kannte er, denn Andrew hatte ihm viel von dem Laden und dessen Anfängen berichtet.

„Nora ist meine Großmutter“, erklärte Kate bereitwillig. „Sie hat den Laden in den Fünfzigerjahren aufgemacht, zusammen mit meinem Großvater. Er hat hier mit ihr fast sechzig Jahre lang Seite an Seite gearbeitet, dann haben sie das Geschäft mir und Andrew übergeben. Sie ist die Nora in ‚Nora’s Sweet Shop‘. Und für meinen Großvater ist sie die Süße in seinem Leben. Das behauptet er jedenfalls gerne.“

„Die beiden leben noch?“

„Ja. Sie haben sich offiziell zur Ruhe gesetzt, kommen aber ständig her und helfen mir beim Ausliefern der Ware.“ Kate lächelte. „Andrew und ich sind praktisch hinter dem Tresen aufgewachsen. Zum einen haben wir gern geholfen, zum anderen waren wir hier unter Aufsicht, während meine Eltern arbeiteten. Wir waren ziemlich vorwitzige Kinder. Andrew hatte immer die tollsten Ideen. Auch als Erwachsener noch.“

Diese Geschichte kannte er schon von Andrew, der oft von seinen Großeltern und Kate geschwärmt hatte. Von seinen Eltern hatte er nur berichtet, dass sie geschieden waren.

Brody, der seine Eltern als Kind verloren hatte, war ebenfalls bei seinen Großeltern aufgewachsen, und das hatte ein Band zwischen ihm und Andrew geschaffen, ebenso wie die enge und liebevolle Beziehung zu den jeweiligen Geschwistern.

„Meine Großmutter führt auch ein Familienunternehmen: eine Marketingagentur, die mein Großvater gegründet hat. Da meine Brüder und ich keine Neigung dazu gezeigt haben, hofft sie jetzt auf unseren Cousin als Nachfolger.“

„Sie sind also alles andere als ein Geschäftsmann, Doc?“, erkundigte Kate sich humorvoll.

„Genau!“, bestätigte er und lachte.

„Aber wenn ich mich mal nicht gut fühle, weiß ich, an wen ich mich wenden kann.“ Sie presste gespielt dramatisch die Hand aufs Herz.

Brody wurde ganz seltsam zumute, und einen Moment lang wusste er nicht mehr, warum er hier war. Zuerst konnte er den Blick nicht von ihren schlanken Fingern wenden, dann ließ er ihn zu ihren schön geschwungenen Lippen gleiten.

„Wenn Sie mich brauchen: Meine Praxis ist gleich um die Ecke. Ich bin praktisch in Rufweite“, informierte er sie schließlich heiser und schaute ihr in die Augen.

„Wie schön!“ Sie lächelte.

Spannung baute sich im Raum auf, der plötzlich wärmer zu werden schien. Nur gedämpft erklang von draußen das Summen des Verkehrs. Brody wünschte, er wäre ein ganz normaler Kunde mit einem ganz normalen Anliegen.

Dann müsste er ihr nicht das Lächeln rauben, indem er ihr endlich die Wahrheit sagte.

Kate wandte als Erste den Blick ab. „Jetzt hätte ich beinah vergessen, Ihnen eine Rechnung zu stellen.“

„Und ich habe gar nicht mehr ans Bezahlen gedacht“, meinte er und reichte ihr seine Kreditkarte.

Sie zog sie durch die Registrierkasse und gab sie ihm zurück. „Sie sind also Doktor McKenna“, bemerkte Kate.

Ob sie den Namen kennt und weiß, dass ich der Arzt bin, der ihren Bruder hat sterben lassen? fragte er sich bestürzt.

„Ja, aber es wäre mir lieber, Sie nennen mich Brody“, sagte er und unterschrieb den Kontrollabschnitt.

„Dann sage ich danke, Brody.“

Es gefiel ihm, wie sie seinen Namen aussprach.

„Ich hoffe, Sie schauen wieder mal in den Laden, wenn Sie in der Nähe sind.“

„Ja, gern, Kate.“ Er nahm seinen Korb und wollte gehen, obwohl er seine Mission nicht erfüllt hatte. „Vielleicht kann ich Ihnen auch mal einen Gefallen tun.“

„Einen Gefallen? Ich habe doch nur meinen Job gemacht“, wehrte sie bescheiden ab. „Aber wenn Sie etwas für mich tun möchten, empfehlen Sie mich Ihren Freunden und Bekannten. Das ist mehr als genug.“

Wieder lächelte sie ihn an, und ihm war zumute, als hätte er ein Geschenk bekommen.

„Nein, es ist nicht genug“, erwiderte er leise und verließ das Geschäft.

2. KAPITEL

„Bitte, sag mir, dass du deswegen so still bist, weil du die hübsche Kellnerin da drüben bewunderst“, bat Riley seinen Bruder Brody.

Die beiden hatten sich in ihrem neuesten Stammlokal zum Mittagessen verabredet, einen Tag nachdem Brody bei Kate gewesen war. So kam er nicht in Versuchung, in der Mittagspause wieder in ihrem Geschäft aufzutauchen.

Nur um wieder unverrichteter Dinge den Rückzug anzutreten …

„Wieso erwähnst du die Kellnerin?“, fragte Brody gespielt streng. „Heiratest du nicht demnächst?“

„Ja, sicher. Aber ich kann doch trotzdem ein Auge auf hübsche Frauen werfen … um eine für dich zu finden. Damit auch der letzte von uns McKennas in den Ehehafen einläuft. Also, fass dir ein Herz und werde Mitglied im Club der Verheirateten.“

„Auf keinen Fall! Ich habe es probiert und …“

„Du warst nur verlobt“, unterbrach Riley ihn. „Das zählt nicht. Du bist sozusagen zum Rand der Klippe gegangen, aber dann nicht gesprungen.“

„Aus gutem Grund!“

Ja, Melissa war mehr daran interessiert gewesen, die Frau eines Arztes zu sein, als die Frau von Brody. Als ihr klar wurde, dass er lediglich als einfacher Allgemeinmediziner praktizieren wollte, statt sich eine gut bezahlte und prestigeträchtige Sparte wie Schönheitschirurgie oder Kardiologie auszusuchen, hatte sie ihm den Laufpass gegeben. Sie wollte keinen Mann, der sich für andere „aufopferte“.

Egal, was Brody sagte, er hatte sie nicht umstimmen können. Sein Traum von einer glücklichen Familie war damit geplatzt wie eine Seifenblase …

Brody nahm die Speisekarte und überflog das Angebot. „Was macht die Arbeit?“, erkundigte er sich beiläufig.

Riley lachte. „Du willst bloß das Thema wechseln.“

„Ertappt“, gab Brody zu. „Ich gestehe, ich möchte nicht über die Kellnerin reden oder über mein Liebesleben oder darüber, warum ich nicht geheiratete habe. Ich wollte dich einfach noch einmal sehen, bevor du dich ins Ehejoch spannen lässt.“

„Da ist kein Zwang nötig, denn ich bin bis über beide Ohren in Stace verliebt.“ Ein seliges Lächeln umspielte Rileys Lippen. „Wir sind dabei, die letzten Einzelheiten für das Hochzeitsfest zu regeln. Wo wir feiern, ist ja wohl klar.“

„Ja, in Staces Lokal, im ‚Morning Glory‘.“

Lächelnd dachte Brody daran, wie alles gekommen war. Seine Großmutter hatte ihrem nichtsnutzigen jüngsten Enkel vor einiger Zeit kurzerhand den Geldhahn abgedreht, damit er gezwungen war, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und endlich erwachsen zu werden.

Riley hatte einen Job in Staces Lokal gefunden, und war nun, zwei Monate später, wie verwandelt. Stace hatte wirklich das Beste in ihm zum Vorschein gebracht.

„Granny hat zwar einen Anfall bekommen, als sie hörte, wo wir feiern wollen, aber schließlich ist es Staces und mein Fest, oder?“, meinte Riley zufrieden. „Stace hat sich schon ein Kleid gekauft, aber ich darf es erst am Hochzeitstag sehen. Wie ich höre, habt ihr Jungs auch schon eure dunklen Anzüge parat.“

Autor

Shirley Jump
Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
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