Miss Charitys verruchtes Angebot

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Wenn es eines gibt, das Miles Strickland um jeden Preis vermeiden will, dann ist das Verantwortung! Deshalb gibt er sich auch zunächst als einfacher Reisender aus, um das englische Landgut zu besichtigen, das er unverhofft geerbt hat. Eifersüchtig bewacht wird das Anwesen jedoch von Miss Charity. Die selbstbewusste, gebildete junge Frau behauptet, niemals heiraten zu wollen, und möchte deshalb genau wie Miles die Situation nutzen, um ihr Auskommen zu sichern. Eigentlich sollten die beiden Rivalen sein! Doch dann macht Charity ihm ein verruchtes Angebot …


  • Erscheinungstag 30.03.2021
  • Bandnummer 611
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502580
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Manchmal kam es Miles Strickland so vor, als liefe er seit Ewigkeiten davon. Erst vor Prudence in Philadelphia, um der undankbaren Rolle zu entrinnen, die sie ihm in ihren Plänen zugedacht hatte. Dann vor den Shawnee-Indianern, als er auf die Schnapsidee gekommen war, in den Westen zu gehen, um dort sein Glück zu machen.

Auf dem Rückweg war er vor den Irokesen geflüchtet.

Ihn hatten noch zwei Schritte vom Traualtar und ein Schritt vom Schuldgefängnis getrennt, als das Schreiben aus England eingetroffen war und er zu hoffen gewagt hatte, dass das Blatt sich endlich zu wenden begann. Seine Sippschaft war lange vor der Gründung der Vereinigten Staaten nach Amerika eingewandert, und in der ganzen Zeit hatte niemand die noble Ahnenreihe erwähnt, der sie entstammte. Da der britische Zweig der Familie keinen männlichen Erben aufzuweisen vermochte, fielen der Titel und die Ländereien an ihn.

Seine Einbildungskraft gaukelte ihm Bilder von Reichtum und Annehmlichkeiten vor, als er an Bord des Schiffes ging, um den Atlantik zu überqueren. Sie fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen, als er tatsächlich der Earl of Comstock wurde. Denn offenbar waren die englischen Stricklands genauso arm wie die amerikanischen. Die Schulden seiner Familie erschienen ihm verschwindend gering im Vergleich zu denen, die ihm sein neu erworbener Titel bescherte. Und es bestand keine Hoffnung, sie jemals loszuwerden, da es sich für einen Adligen nicht schickte, Handel zu treiben und einer Beschäftigung nachzugehen. Stattdessen wurde von ihm erwartet, dass er Pachtgelder eintrieb von Bauern, die noch ärmer waren als er selber, und einen Sitz im Oberhaus einnahm, von dessen Politik er nicht das Geringste verstand.

Er empfand keine patriotische Loyalität gegenüber England, noch teilte er die antiquierte Vorstellung, dass jemand ohne Geld Macht ausüben konnte. Es würde keine magische Lösung seiner Probleme geben. Stattdessen erwartete man von ihm, dass er mit dem Durcheinander aufräumte, das seine entfernten Verwandten ihm hinterlassen hatten.

Und um die Sache noch schlimmer zu machen, gab es einen Stapel tränenbefleckter Briefe von Prudence, der den Atlantik auf einem schnelleren Schiff überquert hatte als er selbst. Die Situation war ausweglos. Er war ihre letzte und einzige Hoffnung. Er musste umgehend nach Philadelphia zurückkehren.

Aber würde man ihm überhaupt gestatten, nach Amerika zurückzureisen? Es war nicht anzunehmen, dass der Prinz, der gegenwärtig die Regentschaft ausübte, ihn in Fußfesseln ins Oberhaus zerren lassen würde. Andererseits konnte Miles nach dem, was seinem älteren Bruder widerfahren war, nicht sicher sein. Edward war nach Barbados ausgewandert, um das Los der Familie zu verbessern, indem er Geld in den Anbau von Zuckerrohr investierte, und das Nächste, was sie von ihm gehört hatten, war, dass er in die britische Marine gepresst worden war. In seinem letzten Brief nach Hause hatte er ihn gebeten, sich um Prudence zu kümmern, bis er zurückkehren konnte.

Kurz darauf hatte Prudence erfahren, dass sie eine mittellose Witwe war. Und nun, da er nicht zugegen gewesen war, um auf sie aufzupassen, hatte sie die Situation noch verschlimmert. Sie war ein ungewöhnlich törichtes Mädchen und verdiente wahrscheinlich, was sie angerichtet hatte. Aber er war verantwortlich für sie, mehr als für die fremden Engländer. Sie brauchte ihn. Was blieb ihm anderes übrig, als nach Philadelphia zurückzukehren, so schnell, wie er von dort fortgelaufen war?

Wahrscheinlich würde er in London nicht an Bord eines Schiffes gehen können, ohne dass es jemandem auffiel. Daher hatte er die Stadt mit dem vagen Hinweis verlassen, sich den Landsitz des Earl of Comstock ansehen zu wollen, ohne indes auf den Rest seines Vorhabens einzugehen, der darin bestand, möglichst schnell möglichst viel Distanz zwischen sich und dieses Land zu legen, bis es nicht mehr war als eine verblasste Erinnerung.

Miles verließ die Stadt in gestrecktem Galopp, und der Vollblüter, in dessen Sattel er saß, schien bereit, alles zu geben. Er war das beste Pferd, das er je geritten und erst recht das beste Pferd, das er je besessen hatte. Es war nicht schwierig gewesen, das Tier auf Kredit zu erwerben, da Adlige es nicht für nötig befanden, Geld mit sich zu führen.

Er würde eine Möglichkeit finden müssen, es seinem bisherigen Besitzer zurückzugeben. In England setzte sich ein Adeliger, der das, was er kaufte, nicht bezahlen konnte, lediglich einer Peinlichkeit aus. In Amerika hätte man ihn als Pferdedieb gehängt. Wenn er einen Blick auf die Rechnung warf, die man ihm bei Tattersall’s ausgestellt hatte, konnte er die Schuldgefühle kaum ertragen.

Was ihn noch mehr störte als die Schulden, waren die Kratzfüße und Verbeugungen, die die Leute vor ihm machten, und ebenso die Tatsache, dass sie ihn Mylord Comstock nannten. Am liebsten hätte er sie alle angeschrien, dass sie ihn doch gar nicht kannten. Denn wenn sie es täten, würde ihnen aufgehen, dass sie einem Irrtum aufgesessen waren, wenn sie annahmen, dass gemeinsame Vorfahren ihn dazu befähigten, die Aufgabe zu erledigen, die sie ihm aufgezwungen hatten.

Nach einem halben Tagesritt kam er an dem Schild vorbei, das die Grenze der comstockschen Ländereien markierte. Es war nicht zu leugnen, dass der Besitz, den er geerbt hatte, in einer hübschen Gegend lag, und der Anblick der malerischen Ortschaft mit den strohgedeckten Cottages inmitten des hügeligen Ackerlands hob ihm das Herz. Doch die Freude trübte sich, sobald er daran dachte, dass es in seiner Verantwortung lag, dafür zu sorgen, dass die Dächer nicht undicht waren. Aber wenigstens schenkte man in der Taverne, in der er Rast gemacht hatte, ein ordentliches Ale aus, und niemand fragte ihn nach seiner Herkunft – trotz seines amerikanischen Zungenschlags. Gut so, sagte er sich zufrieden. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, als der neue Earl erkannt zu werden, ehe er sein Bier ausgetrunken hatte.

Miles nahm ein leichtes Mittagessen ein, dann ritt er zu dem Anwesen. Die gekieste Auffahrt beschrieb eine großzügige Kurve, und als er sie genommen hatte, öffnete sich der Blick auf gleich zwei eindrucksvolle Gebäude: den weitläufigen Herrensitz auf einer Anhöhe und ein weiteres Haus, das er als groß bezeichnet hätte, wäre es von den Ausmaßen des Haupthauses nicht in den Schatten gestellt worden.

Bei dem kleineren Gebäude handelte es sich zweifellos um den Witwensitz, von dem er bereits gehört hatte. Soweit er wusste, befand er sich in einem beklagenswerten Zustand, was angesichts der Tatsache, dass er unbewohnt war und nicht instandgehalten wurde, nicht verwundern konnte. Wenn es dort eine Chaiselongue gab oder wenigstens eine trockene Stelle auf dem Fußboden, auf die er seinen Schlafsack legen konnte, blieb er vielleicht unbemerkt. Dann musste er sich nicht bei den Dienern des Herrenhauses für sein unverhofftes Auftauchen und seine ebenso unvermittelte Abreise entschuldigen.

Und wenn sich zufällig in einer Kommodenschublade Tafelsilber befand, konnte er vielleicht sogar einen kleinen Profit aus seiner unglückseligen Reise ziehen. Beim Pfandleiher würde ihm eine Satteltasche voll edlen Bestecks jedenfalls genug Geld einbringen, dass er die Passage nach Amerika davon bezahlen konnte.

Er lenkte das Pferd zu dem Witwenhaus, brachte es auf dem gekiesten Vorplatz zum Stehen und saß ab, dann schlang er die Zügel um einen niedrig hängenden Ast des nächststehenden Baumes und schlenderte zu dem Haus. Doch kaum hatte er sich der Tür bis auf ein paar Schritte genähert, hob ein vertrautes wütendes Bellen an, und ein fünfzehn Pfund schweres Geschoss griff seine Wade an. Er starrte auf den zierlichen schwarz-weißen Kopf herunter, auf die ebenfalls zierlichen Eckzähne, die sich nicht sonderlich tief in seine Lederstiefel gruben, und widerstand dem Drang, das Tier fortzutreten.

Stattdessen bückte er sich, packte den Hund im Nacken und zog ihn von seinem Stiefel fort. Er hob ihn sich vor die Augen und starrte ihn finster an.

„Ich weiß nicht, was mich geritten hat, dich von den Docks mitzunehmen, denn Bisse sind alles, was ich an Dank dafür ernte. Wenn du deinen vormaligen Besitzer auch so behandelt hast, verstehe ich, warum er dich ertränken wollte.“ Miles hielt inne. Er hatte gehandelt, ohne viel zu überlegen, als er sein Gepäck fallen gelassen und dem kleinen Burschen den Jutesack entrissen hatte, den dieser im Begriff gewesen war vom Landungssteg der Mary Beth ins Hafenbecken zu werfen. Wahrscheinlich hatte der Vater des Jungen seinem Sohn unnachgiebig, aber vernünftig klargemacht, dass es auf einer Seereise für einen Hund keinen Platz gab. Bis Miles sich umgewandt hatte, um dem kleinen Beinahe-Mörder zu erklären, dass sein Welpe in Sicherheit war, hatte der Junge sich längst davongemacht, und er selbst war der Besitzer des undankbarsten Köters der gesamten Neuen Welt.

Das Tier knurrte furchterregend und schnappte in dem vergeblichen Versuch, nach ihm zu schnappen, in der Luft herum. Miles sagte sich seit Wochen, dass die Unberechenbarkeit des Hundes von der unerträglichen Enge und dem ständigen Rollen und Schlingern des Schiffs herrührten. Doch auf dem festen Boden Englands schien das Tier kein bisschen friedlicher als an Bord.

„Dass ich dich mit der Dowager Countess hergeschickt habe, geschah in der Hoffnung, dass wir uns nie wiedersehen müssen. Aber wie es scheint, ist es dir in der kurzen Zeit schon gelungen, aus dem Haupthaus verbannt zu werden.“

Der Hund wand sich in seinem Griff wie ein Aal, schnappte erneut in die Luft, ehe er es schaffte, sich loszureißen. Er landete auf dem Boden, machte kehrt und flitzte zu dem Witwensitz zurück. Immer noch bellend sprang er durch ein Fenster, dem die Scheibe fehlte.

Miles seufzte. „Ich klettere dir nicht hinterher. Schließlich gibt es eine Tür.“ Er schlenderte zum Eingang, griff in seine Rocktasche und hatte den Schlüsselring schon herausgezogen, als er bemerkte, dass die Tür einen Spalt offen stand.

„Los, komm heraus“, rief er ins Innere des Hauses. „Du verfügst über vier gesunde Beine und brauchst meine Hilfe nicht.“ Er lauschte auf das Scharren von Pfoten oder ein anderes Zeichen dafür, dass das Tier seine Aufforderung gehört hatte und ihr Folge zu leisten gedachte. Wenn er sich wirklich entschied, seine Zelte hier im Witwenhaus aufzuschlagen, mochte sich das kleine Scheusal beim Verjagen von Mäusen als nützlich erweisen. Bei der offenen Tür wimmelte es im Haus vermutlich vor Nagern. Aber da der Hund mich hasst und bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach mir schnappt, bin ich vermutlich sicherer, wenn er draußen bleibt und ich mich mit den Ratten anfreunde, dachte Miles resigniert.

Als er das Haus betrat, war der Hund nirgends zu sehen, noch hörte man ihn irgendwo bellen. Ob er vielleicht durch eine morsche Diele gefallen war oder sich bei dem Sprung durchs Fenster verletzt hatte? Im Stillen schüttelte Miles den Kopf über sich. Er musste verrückt sein, sich Gedanken um eine Kreatur zu machen, die ihn hasste. Aber wenigstens war niemand da, der mitbekam, was für ein Weichei er war. Er ging weiter und rief: „Hey, du Mistkerl, wo bist du?“ Mit etwas Glück würde es ihm gelingen, den kleinen Köter in Richtung der offenen Haustür zu locken, ohne dass der seine Stiefel oder seine Hände zwischen die Zähne bekam. Dann konnte er das Fenster blockieren und die Tür verriegeln, bis das Tier dahin zurücklief, wo es gehalten wurde.

Miles sah sich in der Eingangshalle um. Abgesehen von dem Hund war das Haus nicht der schlechteste Ort, um unterzukriechen, bis er wusste, was er mit sich anfangen wollte. Die Dowager Countess hatte erwähnt, dass es unbewohnbar und eine Instandsetzung unerschwinglich sei. Aber sie war eine große Dame, an Bequemlichkeit und Luxus gewöhnt. Einem Mann, dem es nichts ausmachte, auf der rauen Erde zu schlafen, kam das Haus wie ein Schloss vor. Es war feucht, zugegeben, aber dem würde ein Feuer Abhilfe schaffen. Die Möbel waren verhüllt, um sie gegen den Zahn der Zeit und die Elemente zu schützen, wobei Letztere wahrscheinlich unaufhaltsam durch das undichte Dach hereindrangen. Wenn sich Matratzen im Haus befanden, würden sie zweifellos klamm sein, doch in den Räumen, in die er auf seiner Suche nach dem Hund blickte, befanden sich nur massenweise Tische und Stühle, aber auch eine Chaiselongue, auf der man einigermaßen schlafen konnte, wenn man müde genug war. Es würde jedenfalls reichen, auch wenn er kein Tafelsilber fand, das sich verkaufen ließ.

Etwas schwarz-weißes Pelziges sauste an dem Türdurchgang vor ihm vorbei. Das vertraute Bellen erklang, als der Hund am Ende seines selbst gewählten Parcours angelangt war. Einen Moment herrschte Ruhe, ehe er in die entgegengesetzte Richtung davonraste. Auf dem Schiff hatte es sich ähnlich abgespielt, das Tier war wie von der Tarantel gestochen den Niedergang hinauf und hinunter gerannt, den Tritten der fluchenden Seeleute und Passagiere ausgewichen, um dann zurück in die Kajüte zu rasen und erschöpft auf dem Fußende der Koje einzuschlafen.

Das erste Mal hatte Miles das Schauspiel belustigend gefunden. Inzwischen war es nur noch ärgerlich. Doch ehe er den Hund anschreien konnte, rief eine andere Stimme: „Pepper! Halt endlich Ruhe!“

Miles erstarrte. Obwohl sie die Lautstärke eines Generals besaß, war es eindeutig die Stimme einer Frau. Lag es an dem leeren Haus, dass sie so ungewöhnlich weit trug? Sie schien nachzuhallen, dennoch wirkte sie merkwürdig gedämpft. Vorsichtig näherte er sich dem Raum, der vor ihm lag, unsicher, ob es besser war, der Person entgegenzutreten oder sich unbemerkt davonzustehlen.

Als er eintrat, lag die Erklärung auf der Hand. Der Hund hatte sein irrsinniges Rasen beendet. Er saß vor dem Kamin und schnüffelte an einem Paar Stiefeletten, die auf den Feuerböcken standen. Gebannt beobachtete Miles, wie eine davon sich hob, vermutlich weil ihre Trägerin sich reckte und nach etwas griff, das sich in dem Kamin befand.

Im nächsten Moment rieselte ein Rußschauer herunter und ein dumpfes „Verdammt“ erklang.

Der Hund zog sich niesend und prustend zurück und wartete, bis der Ascheregen sich gelegt hatte. Dann sprang er, hilfreich wie immer, vor, packte sich ein Maul voll Rocksäume, zerrte sie hin und her und brachte die Trägerin noch mehr aus dem Gleichgewicht.

Miles konnte nicht anders. Er brach in Gelächter aus.

Langsam senkte sich die Stiefelette, suchte Halt auf dem Feuerrost. „Wer immer Sie sein mögen, wenn Sie vorhaben, mich zu belästigen, lassen Sie sich gesagt sein, dass ich einen Schürhaken habe und keine Angst, ihn zu benutzen.“

Wenn ihr Arm auch nur annähernd so kraftvoll war wie ihre Stimme, würde jeder Schlag, den sie ausführte, heftig genug sein, dass er sich die Sache mit der Belästigung besser zweimal überlegte.

„Und ich habe eine Pistole“, entgegnete er gut gelaunt. „Aber wir müssen keine Angst haben, weil ich sicher bin, dass weder Sie noch ich Zuflucht zu Gewalttätigkeiten zu nehmen wünschen. Jedenfalls nicht, solange wir uns nicht besser kennen“, setzte er vernünftig hinzu. In der Vergangenheit hatte es mehr als eine Frau gegeben, die bereit gewesen war, ihm einen Schürhaken über den Schädel zu ziehen. Doch dafür hatte er der Frau im Kamin bislang keinerlei Grund gegeben.

Der Hund jagte davon, als die Stiefeletten von dem Rost heruntersprangen. Nach einigem Winden und einem weiteren Rußschauer erschien der Rest der Frau in der Kaminöffnung. Der Rest des Mädchens, um genau zu sein. Obwohl sie kaum älter als zwanzig sein konnte, hatte sie eine weiblich gerundete Figur. Ihr bebrilltes Gesicht war eher unscheinbar, und die Rußstreifen auf ihren Wangen trugen nicht zu einer Verschönerung bei. Aber es wäre töricht gewesen, eine Frau mit so wohlgeformten Fesseln unansehnlich zu nennen.

Ihre Waden waren ebenfalls ansehnlich, selbst in den dicken Strickstrümpfen, die sie trug. Er hatte einen Blick darauf erhascht, als der Hund an ihren Röcken gezerrt hatte. Und obwohl das schlichte Kleid, das sie trug, ihrer Figur in keinster Weise schmeichelte, konnte es ihre schmale Taille und den hübschen Busen nicht verbergen. Eigentlich hatte er für Tändeleien nichts übrig, aber wenn die Dorfmädchen in Comstock alle so nett anzuschauen waren wie dieses, mochte es einigermaßen verlockend sein, sich als Herr des Anwesens zu erkennen zu geben.

Als hätte der Hund seine Gedanken gelesen, stellte er die Nackenhaare auf. Er sah zwischen ihm und dem Mädchen hin und her, bleckte die Zähne und gab ein warnendes Knurren von sich.

Miles wappnete sich für einen Angriff.

„Pepper. Sitz!“

Zu seiner Verwunderung gehorchte der Hund dem Befehl aufs Wort, plumpste auf sein kleines Hinterteil, ohne ihn jedoch aus den Augen zu lassen.

„Eine falsche Bewegung, und ich jage Ihnen meinen Hund auf den Hals.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, war so finster wie der des Terriers.

„Ihr Hund?“, fragte er überrascht.

Sie zögerte. „Ja, in Ordnung, der Hund des Earls. Aber da Seine Lordschaft nicht hier ist und ich ein Mitglied seiner Familie bin, ist die Verantwortlichkeit für Pepper und seine Zuneigung auf mich übergegangen.“

Miles machte den Mund auf in der Absicht, ihr zu sagen, dass der Besitzer des undankbaren Köters genau vor ihr stand, auch wenn das Tier beschlossen hatte, ihn nicht zu erkennen. Aber da Pepper nicht nur Loyalität und Gehorsam, sondern auch jede andere Hundetugend fremd war, tat Miles so, als kenne auch er den Terrier nicht.

Ihm kam der Gedanke, dass er sich, wenn er sich unbemerkt auf dem Anwesen aufhalten und es ebenso unbemerkt wieder verlassen wollte, besser nicht der erstbesten Person, der er begegnete, vorstellte, zumal wenn diese Person ein Familienmitglied war, das ihn nicht auf Anhieb erkannte.

Die junge Frau starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Jetzt, wo ich Sie mir genauer ansehen kann, wird mir klar, dass Sie kein gewöhnlicher Landstreicher sind, wie ich befürchtet hatte.“ Sie legte den Kopf leicht schräg. „Ihrem Akzent nach zu urteilen, sind Sie Amerikaner. Wahrscheinlich gehören Sie zur Entourage des Earls, obwohl es hieß, dass er alleine kommt.“

„Wir sind auf verschiedenen Schiffen gereist“, improvisierte Miles, verwundert, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam. „Ich hätte als Erster eintreffen sollen, aber die Überfahrt war rau.“

„Dann sind Sie der Buchprüfer.“ In ihrer Stimme lag keinerlei Triumph, nur die nüchterne Feststellung der vermuteten Tatsache.

Er nickte erleichtert, dass sie ihm die Arbeit abnahm, sich etwas auszudenken. Aber der Buchprüfer aus Amerika brauchte einen Namen. „Potts“, sagte er beinahe automatisch. Anscheinend passte der Name zu seinem Aussehen, denn auch Greg Drake hatte ihn für einen Buchprüfer gehalten, als sie sich das erste Mal begegnet waren. „Augustus Potts, zu Ihren Diensten, Madam.“ Rasch machte er eine Verbeugung, damit sie nicht sah, dass er bei der Nennung des Vornamens, der ihm als Erstes in den Sinn gekommen war, regelrecht zusammengezuckt war. Hoffentlich brauchte er die Lüge nicht lange aufrechtzuerhalten. Welcher Mann, der seine fünf Sinne beisammen hatte, wollte – und sei es auch nur für kurze Zeit – Augie Potts heißen?

„Mr. Potts.“ Der Ton, den das Mädchen anschlug, war der, mit dem man einen Diener herumkommandierte.

„Und mit wem habe ich die Ehre?“ Noch während er die Frage stellte, hatte er das Gefühl, dass er die Antwort kannte.

„Miss Charity Strickland. Eine entfernte Verwandte Ihres Dienstherrn.“

Er nickte verstehend. Ihre Schwester Hope hatte er bereits kennengelernt. Wenn er sich Mühe gab, konnte er Ähnlichkeiten entdecken. Sie hatten die gleiche hohe Stirn und das gleiche schmale Kinn.

Doch während Hope ungewöhnlich hübsch war, hatte Charity nicht so viel Glück mit ihrem Äußeren, jedenfalls im Moment. Ihr Gesichtsausdruck war zu ernst und ihr Blick zu durchdringend für jemand in ihrem jugendlichen Alter. Obwohl man sie nicht als attraktiv bezeichnen konnte, ging Miles davon aus, dass sie mit der Zeit ihre ganz eigene Schönheit entwickeln und eine durchaus attraktive Frau werden würde.

„Hat man Sie hergeschickt, um die Inventur im Herrenhaus vorzunehmen?“ Der nüchterne Ton, den sie anschlug, brachte Miles zu Bewusstsein, dass es nicht seine Aufgabe war, dazustehen und sie anzustarren.

Er nickte. „Und im Witwensitz ebenfalls.“

„Weder hier noch dort werden Sie irgendetwas von Wert vorfinden.“

Wer es glaubte. Ihre Antwort war ein winziges bisschen zu schnell erfolgt und zu bestimmt für seinen Geschmack. Sie war in den Kamin geklettert, um etwas zu finden oder zu verstecken. Und normalerweise verschwendete niemand Zeit damit, etwas zu verstecken, das wertlos war. „Wenn das stimmt, frage ich mich, was Sie hier zu suchen haben, zumal im Kamin.“ Er lächelte beflissen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Ein paar Vögel sind durch den Schornstein ins Haus gekommen. Ich habe versucht, den Rauchfang zu schließen.“

„Ich verstehe.“ Das war eine noch unverschämtere Lüge als die davor. Doch wenn er behauptete, Augie Potts zu sein, konnte er kaum mit dem Finger auf sie zeigen. Stattdessen entledigte er sich seines Rocks und krempelte die Ärmel auf. „Geben Sie mir den Schürhaken. Meine Arme sind länger als Ihre.“

„Schon in Ordnung“, erwiderte sie hastig.

Sie war viel zu sehr daran interessiert, die Angelegenheit selbst zu regeln. „Dann lassen Sie mich wenigstens zum Herrenhaus hinaufgehen und einen Lakaien holen. Ein Mitglied der Familie sollte nicht die Aufgaben von Dienstboten erledigen.“

„Das wird nicht nötig sein.“ Sie versuchte nicht einmal, ihn mit einem Lächeln einzuwickeln. „Ich glaube, ich habe die Sache ganz gut hingekriegt.“

Er hob eine Braue. „Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht unterbrochen habe, sodass Sie das, was Sie taten, nicht zu Ende bringen konnten?“

Verärgert presste sie die Lippen zusammen, wenn auch nur so kurz, dass es kaum wahrnehmbar war. „Ganz bestimmt nicht.“

„Dann gestatten Sie mir, Sie zum Herrenhaus mitzunehmen.“

„Das wird nicht nötig sein“, wiederholte sie kurz angebunden.

„Aber wir haben den gleichen Weg“, rief er ihr in Erinnerung. „Und da ich noch nie dort war, würde es mir helfen, wenn Sie ihn mir zeigen.“

„Sie können sich nicht verirren. Das Haus liegt weniger als eine halbe Meile entfernt.“

Sie versuchte ihn loszuwerden. Warum, interessierte ihn nicht, denn er wollte genauso gern fort sein, wie sie ihn forthaben wollte. Dennoch konnte er dem Drang, sie zu ärgern, nicht widerstehen. „Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber es wäre hilfreich, wenn Sie mich den Dienstboten vorstellen könnten.“ Er warf einen Blick aus dem Fenster. „Außerdem braut sich ein Unwetter zusammen. Es ist immer düsterer geworden, während wir uns unterhalten haben. Und ich möchte Sie nicht hier draußen lassen, wenn es regnet.“

„Ich kann hier drinnen warten, bis das Unwetter vorbei ist.“

Kein Zweifel, sie hatte nicht beenden können, was sie angefangen hatte. Sie hielt nichts in ihren Händen, also hatte sie wahrscheinlich nichts mitgebracht, das sie verstecken wollte, sondern nach etwas gesucht. So oder so, irgendwo im Mauerwerk des Kamins musste es ein Versteck geben, das es wert war, genauer in Augenschein genommen zu werden, sobald er sie aus dem Weg hatte.

Er lächelte sie an. „Glauben Sie mir, der Earl würde mir den Kopf abreißen, wenn ich Sie bei einem Gewitter allein hier zurückließe.“ Mit einem wütenden Schnauben ihrerseits rechnend trat er zur Tür.

Das wütende Schnauben blieb aus. Außer leicht verengten Augen zeigte sie keinerlei Anzeichen dafür, dass seine Versuche, ihr Vorhaben zu verhindern, ihr Eindruck machten. „Wenn der Earl es wünscht, dann selbstverständlich, Mr. Potts. Ich würde seinen Wünschen nie zuwiderhandeln.“

Sie ging an ihm vorbei zur Eingangstür, und der Terrier folgte ihr gehorsam auf dem Fuß.

2. KAPITEL

Für Charity Strickland verlief an diesem Tag nichts nach Plan.

Es war schlimm genug, dass sie, auf halber Höhe im Kamin hängend, hatte einsehen müssen, dass die gesuchte Nische außerhalb ihrer Reichweite lag. Dabei entdeckt zu werden war noch schlimmer. Mr. Potts erwies sich als irritierend scharfsinnig und sah nicht so aus, als kaufe er ihr die Geschichte mit dem offenen Rauchfang ab. Natürlich hatte er so getan als ob, aber sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass er darauf hoffte, ihr irgendwelche Informationen, die er an seinen Dienstherrn weitergeben konnte, aus der Nase zu ziehen.

Bis hierher schien der neue Earl die Absicht zu haben, genau das zu tun, von dem sie gehofft hatte, dass er es tat, nämlich, in London zu bleiben und seinen Pflichten im Oberhaus nachzugehen. Wenn er nun plötzlich auf die Idee kam, sich um ihr Wohlergehen kümmern zu wollen, war nicht absehbar, was er womöglich für ihre Zukunft als angemessen erachtete.

Was immer er jedoch vorhaben mochte, sie bezweifelte, dass er Rücksicht darauf nahm, was sie selber wollte. Als jüngste von drei Schwestern war sie es müde, sich Vorschriften machen zu lassen von Menschen, die glaubten, sie wüssten, was das Beste für sie war. Es hatte sie Monate gekostet, den Rest der Familie aus dem Weg zu bekommen, damit sie in Ruhe ihr Vorhaben durchführen konnte. Das Letzte, was sie brauchte, war ein Unbekannter, der sein gottgegebenes Recht, über sie zu bestimmen, ausübte, weil die glücklichen Umstände seiner Geburt ihn zum Oberhaupt der Familie machten.

Die gesellschaftliche Saison in London dauerte bis Juli, und es war gerade einmal März. Die Wochen, die vor ihr lagen, reichten ihr, um ihren Plan auszuführen. Wenn der neue Earl of Comstock sich, so wie vorgesehen, um seine politischen Aufgaben im Oberhaus kümmerte, würde sie längst fort sein, wenn er eintraf, und zwar mit genug Geld, um sich ein Leben aufzubauen, wie sie es sich vorstellte.

Der Buchprüfer allerdings erweckte den Eindruck, als könne er sich als genauso lästig erweisen wie der Mann, der ihn eingestellt hatte. Sie musste sich nur die Reaktion des Hundes auf ihn vergegenwärtigen, um zu wissen, dass man ihm nicht trauen konnte. Pepper hatten sich die Nackenhaare gesträubt, sobald er hereingekommen war. Als sie den Witwensitz verließen, sprang der Hund zwischen ihnen herum, biss dem Fremden in die Absätze, als hoffe er, ihn auf die Art verjagen zu können.

Zu Mr. Potts Ehrenrettung musste man sagen, dass er nicht dazu neigte, die Beherrschung zu verlieren und dem Hund Tritte zu versetzen. Vielleicht war er kein ganz und gar hoffnungsloser Fall. Oder vielleicht war er nur vernünftig genug, das Schoßtier eines Adligen nicht in Anwesenheit eines Familienmitglieds zu misshandeln.

Als sie zu seinem Pferd kamen, streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr in den Sattel zu helfen.

Sie lächelte ihn an und wünschte sich nicht zum ersten Mal, wenigstens einen Bruchteil der natürlichen Liebenswürdigkeit ihrer Schwestern zu besitzen. „Ich kann Pepper unmöglich zurücklassen. Er könnte sich verlaufen, und ich hätte ihn verloren.“

Mr. Potts warf einen missmutigen Blick auf den Hund. „Meiner Erfahrung nach sind Tiere wie dieses erstaunlich schwer zu verlieren.“

„Aber wenn doch? Er könnte von einer wilden Bestie angefallen werden.“

Mr. Potts hob eine Braue. „Treiben so nahe beim Haus etwa Wölfe ihr Unwesen?“

„Das nicht“, räumte sie kleinlaut ein.

„Soweit ich weiß, gibt es in England keine Bären mehr. Was für Raubtiere kämen sonst noch infrage?“

„Ein Habicht vielleicht. Oder ein Adler.“

Mr. Potts seufzte. „Als Nächstes werden Sie mir erzählen, dass es in England Drachen gibt.“ Er streckte die Hand aus. „Geben Sie ihn mir.“

Sie hob den Hund zu ihm hinauf.

Potts packte ihn im Genick, versuchte dem schnappenden Kiefer auszuweichen und ließ den kleinen Hund in die Satteltasche gleiten. Für einen kurzen Moment verschwand das Tier wie ein Schwimmer unter einer Welle. Dann stieß er die Lederklappe auf, streckte den Kopf heraus und sah aus, als grinste er.

„Na also.“ Mr. Potts streckte ihr die Hand hin.

„Und jetzt Sie.“

Vorsichtig legte sie ihre Hand in seine, und er zog sie hoch. Es schien ihn keinerlei Mühe zu kosten, sie so vor sich im Sattel zu platzieren, dass sie im Damensitz saß. Dann griff er zu beiden Seiten an ihr vorbei nach den Zügeln und hielt sie mit seinen Armen an Ort und Stelle, als das Pferd sich in Bewegung setzte.

Obwohl er mit keiner Regung zu erkennen gab, dass es ihm auffiel, war es ein bestürzend intimes Arrangement. Vielleicht war dergleichen in Amerika üblich, oder vielleicht war sie nicht hübsch genug, um eine Reaktion bei ihm hervorzurufen. Er lenkte das Pferd so mühelos, als säße er allein darauf.

Für sie hingegen war die Situation eigentümlich beunruhigend. Obwohl sie dem Aussehen von Männern in ihrer Umgebung für gewöhnlich nicht viel Aufmerksamkeit schenkte, war es schwer, keine Notiz von dem Mann hinter ihr zu nehmen. Die Arme, die sie in Position hielten, waren lang, ebenso die Beine, die ihre Röcke streiften. Er musste größer als einen Meter achtzig sein. Man konnte ihn nicht direkt hager nennen, doch seine Gestalt hatte etwas Eckiges, das sich bis in sein Gesicht fortsetzte. Seine Jochbeine traten kantig hervor, ebenso seine Kinnlinie. Seine Haut war blass und hätte jedem anderen Gentleman etwas Aristokratisches verliehen, aber bei ihm deutete sie eher auf einen Gelehrten hin, so als hielten seine Studien ihn davon ab, in die Sonne zu gehen.

Seine Blässe übte mehr Anziehungskraft auf sie aus als seine fein geschnittenen Gesichtszüge und das dichte dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er sah aus wie jemand, den es glücklich machte, sich in einer Bibliothek zu vergraben. Wiewohl die Muskulatur seiner Arme und Beine nicht auf mangelnde körperliche Betätigung hindeutete, sah er aus wie ein Seelenverwandter von ihr.

Aber eigentlich spielte es keine Rolle, wie er aussah oder wie er geworden war, was er war. Männer, besonders solche, die so attraktiv waren wie er, pflegten sie keiner ausgiebigen Musterung zu unterziehen. Sie drehte den Kopf und richtete den Blick entschlossen nach vorn auf das Herrenhaus, dem sie sich näherten.

„Comstock Manor.“ Er benannte das Offensichtliche. Aber mit einem Unterton, der nicht so sehr beeindruckt wie verblüfft klang.

„Sie waren nicht darauf gefasst, dass es so groß ist?“, fragte sie über die Schulter.

„Ich wurde darauf hingewiesen. Aber ich konnte nicht glauben, dass es stimmt.“

„Das Haus ist ein Symbol für alles, das falschläuft in dieser Familie.“ Sie schüttelte den Kopf. „Alles, was als gute Idee seinen Anfang nimmt und anschließend aus dem Ruder läuft, weil man es sich nicht mehr leisten kann oder weil es nicht mehr handhabbar ist.“

„Kein Wunder, dass es schwierig war, jemanden zu finden, der die Inventur macht.“ Mr. Potts klang, als spräche er zu sich selbst. „Wer würde auch einen solchen Auftrag annehmen wollen?“

„Uns sind mehr Wertgegenstände abhandengekommen, als die meisten Menschen besitzen.“ Eine Feststellung, die leider der Wahrheit entsprach. „Allerdings sind viele davon nicht wirklich fort, aber sie befinden sich irgendwo in einem von vierzig Zimmern und warten darauf, wiederentdeckt zu werden.“

Sie spürte, wie etwas in ihm sich anspannte bei der Erwähnung eines möglichen Überflusses an materiellem Besitz, und dass ihn ein kaum merkliches Zittern durchlief, auch wenn er versuchte, es zu unterdrücken. Dann entspannte er sich unvermittelt, so als würde ihm klar, dass sie sein Interesse bemerkt haben könnte.

„Da Sie ein Mitglied der Familie sind, würde ich annehmen, dass Sie wissen, wo sich diese Wertgegenstände befinden.“

„Möglich.“ Sie drehte sich zu ihm um und blinzelte auf eine Art, von der sie wohl hoffte, dass sie unschuldig wirkte. „Der Earl wird niemals eine genaue Aufstellung davon erhalten, wenn ich Ihnen nicht helfe. Und ich bezweifle, dass Sie sich mit dem Grundriss des Hauses und den vielen Räumen vertraut machen können in der kurzen Zeit, die Ihnen für Ihre Arbeit zur Verfügung steht.“

Abrupt brachte er das Pferd zum Stehen.

„Wie kann ich …? Ich meine, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass ich diesen Auftrag nicht ohne Unterstützung erledigen kann. Aber der Earl würde es ohnehin nicht merken, wenn mir Fehler unterliefen, nicht wahr?“

Er hatte die Schwelle von Comstock Manor noch nicht überschritten und gab bereits auf? Oder plante er, das volle Honorar einzustreichen, auch wenn er den Auftrag schludrig ausgeführte? Aber letztlich waren seine Gründe unerheblich. Ob Sorglosigkeit, Faulheit oder moralische Geschmeidigkeit – sie alle gaben gleich gute Anlässe für seine Abreise ab.

„Er wird es nicht merken, wenn die Inventur unvollständig ist, außer wir sagen es ihm.“ Sie wählte ihre Worte sorgfältig. „Allerdings habe ich nicht die Absicht, einen Mann, dem ich nie begegnet bin, ins Vertrauen zu ziehen, nur weil andere Männer, denen ich nie begegnet bin, beschlossen haben, dass er der Titelerbe ist.“

„Ich verstehe“, erwiderte Mr. Potts ebenso vorsichtig.

„Ich bin sicher, er vertraut Ihnen, wenn es um die Genauigkeit der Aufstellung geht, weil Sie schon lange für ihn arbeiten“, setzte sie listig hinzu.

„Dazu kann ich nur sagen, dass ich bis vor einem halben Jahr keine Ahnung von der Existenz des Mannes hatte, geschweige denn von dem Titel oder dem Anwesen.“

Wie interessant. Wenn der Earl einen Fremden angeheuert hatte, damit er sich um seine Interessen im Ausland kümmerte, würde er wahrscheinlich genau das Ergebnis bekommen, das er verdiente. „Die Grafschaft gehört eigentlich nicht ihm“, rief sie dem Buchprüfer in Erinnerung. „Sie gehört der Krone.“ Wieder lächelte sie. „Aber da Sie Amerikaner sind, gibt es für Sie keine Treuepflicht in dieser Richtung, nicht wahr?“ Na also, sie hatte den Köder ausgelegt. Nun musste man sehen, ob Mr. Potts ihn nahm.

„Treuepflicht?“ Auch er lachte. „Dieser Treuepflicht zu entkommen hat überhaupt erst zur Existenz meines Landes geführt. Und trotzdem bin ich hier, umgeben von Reichtümern, die dem Earl nicht gehören, und Schulden, für die er aufkommen muss.“

„Eine Schande, fürwahr.“ Sie schüttelte den Kopf. „Meiner Meinung nach ist die Aufgabe, die vor Ihnen liegt, aussichtslos. Wenn Sie zu dem Schluss kämen, sie nicht ausführen zu wollen, könnten Sie längst verschwunden sein, ehe man Ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt.“

Er zuckte überrascht zusammen. „Miss Strickland, genau daran dachte ich, als Sie auftauchten.“ Seine Augen verengten sich. „Aber dann würde ich meines Honorars verlustig gehen, nicht wahr? Und nur weil ich dringend Geld brauchte, habe ich den Auftrag überhaupt angenommen.“

Es war der richtige Moment, ihm ein gewagteres Angebot zu machen. „Im Haus gibt es etliche Wertgegenstände. Wenn Sie sich vielleicht ein paar davon nehmen als Kompensation für die verlorene Zeit? Niemand würde es erfahren.“

Eine ganze Weile erwiderte er nichts darauf, schien sich ihre Worte durch den Kopf gehen zu lassen. Und gerade, als sie schon dachte, er würde nachgeben, scheute er zurück. „Den Earl zu bestehlen wäre unrecht. Ein Verstoß gegen die zehn Gebote und gegen das Gesetz.“

„Das stimmt“, beeilte sie sich zuzustimmen, während sie gleichzeitig versuchte, ihren Ärger zu verbergen. Wenn es ihm wirklich um Gesetzestreue ging, würde sie den Mann vielleicht nie loswerden. Jeder weitere Versuch, ihn in Versuchung zu führen, würde sehr viel subtiler ausfallen müssen. „Aber wir sollten diese Dinge nicht mitten auf der Auffahrt erörtern. Wie Sie bereits sagten, es zieht ein Unwetter auf. Kommen Sie mit ins Haus, damit wir Sie unterbringen können.“

Nachdem er das Haus und sein Zimmer gesehen hatte, war er morgen früh vielleicht schon wieder fort.

Als man ihm den Stammsitz seiner Vorfahren beschrieb, hatte Miles Bilder eines großen, vernachlässigten Anwesens auf dem Lande vor Augen gehabt. Nicht einmal im Traum jedoch hätte er sich das auffällige, schon von Weitem in der Parklandschaft sichtbare Bauwerk aus gelblichem Sandstein vorgestellt, das einerseits imposant und dabei gleichzeitig merkwürdig zusammengewürfelt wirkte. Die Fassade des Haupttrakts, auf dessen Eingang er in diesem Moment zusteuerte, wurde von den drei Reihen Fenstern mit Ziergiebeln symmetrisch gegliedert, und die zahlreichen schlanken, von filigranen Zinnen gekrönten Flankiertürme verliehen der Silhouette des Dachs eine detailreiche Note. Doch insgesamt machte die Anlage auf ihn einen merkwürdig unfertigen Eindruck, so als handele es sich um zwei oder sogar drei ineinander verschachtelte große Häuser, deren Erbauer sich nicht recht hatten entscheiden können, was sie wollten, und einfach weitergebaut hatten, bis ihnen das Geld ausgegangen war.

Nachdem er sich in London einen Überblick über die Vermögensverhältnisse verschafft hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es genau dies war, was sich zugetragen hatte. Vor seinem Aufbruch in Amerika hatte er noch geglaubt, alle englischen Adligen seien zwangsläufig reich. Seiner Familie jedoch war schon vor Generationen das Geld ausgegangen. Die Pachteinnahmen reichten kaum aus für den Unterhalt des Besitzes. Die einzigen Werte, die es im Grunde noch gab, waren das Haus und das Inventar. Und die meisten wertvollen Gegenstände durfte er nicht verkaufen. Man erwartete von ihm, dass er sie treuhänderisch verwaltete für zukünftige Generationen, die vielleicht nie geboren wurden, wenn er seine Angelegenheiten nicht ordnete.

Doch die Auflage, das Fideikommiss nicht anzurühren, schien seine Vorfahren nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Nach der Begrüßung bei seiner Ankunft hatte die Witwe seines Vorgängers keine Zeit verloren, ihm zu eröffnen, dass man die Diamanten im Familienschmuck lange bevor sie Countess geworden war durch Strass ersetzt hatte. Die Earls und Countesses of Comstock logen schon so lange über ihr Vermögen, dass man mit Fug und Recht von einer Familientradition sprechen konnte.

Ihrer Darstellung hatte Miles entnommen, dass nichts von Wert übrig war. Aber auch wenn die Kollektion silbergerahmter Miniaturen auf dem Tisch in der Halle nicht ausreicht, um einen Earl vor dem Ruin zu bewahren, könnte jemand wie ich von dem Erlös eine ziemlich lange Zeit in bescheidenem Wohlstand leben, dachte Miles.

„Was halten Sie davon?“

Fast hatte er seine entfernte Verwandte Charity, die ihn ins Haus geführt und dem Butler vorgestellt hatte, vergessen. Der höhere Bedienstete, Chilson mit Namen, bedeutete einem Lakaien, die Reisetasche des Gastes, und einem anderen, den schnappenden Hund aus der Satteltasche zu nehmen und das Pferd in den Stall zu bringen.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, erwiderte Miles zögernd und spähte in einen endlos erscheinenden Korridor, ehe er Charity wieder ansah.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich helfe Ihnen.“ In ihrem Lächeln lag nichts Flirtendes, nur ihre Augen begannen zu funkeln, und er kam zu dem Schluss, dass jede Hilfe, die sie ihm angedeihen ließ, ihr mehr zugutekam als ihm. Gleichwohl war ihr umgänglicher Egoismus eine enorme Verbesserung verglichen mit seinen kürzlichen Erfahrungen mit dem schönen Geschlecht.

Als sie festgestellt hatten, dass er ein Earl war, hatten die jungen Damen sich regelrecht auf ihn gestürzt. Er konnte es ihnen nicht wirklich verdenken, denn die Anweisung zu ihrem Verhalten erhielten sie von ihren Eltern, die sie praktisch darauf dressierten. Selbst der vermaledeite Prinz, der gegenwärtig das Land regierte, behauptete, dass ein Earl ohne Countess seine Pflicht nicht erfüllte. Er musste heiraten, eine gute Partie machen, und das früh, um die Erbfolge zu sichern.

Anscheinend erwartete man von ihm, dass er sich vermehrte wie die Karnickel. Wäre keine Heirat damit verbunden gewesen, hätte er nichts dagegen gehabt. Doch da der erforderliche Nachkomme ehelich sein musste, war ihm der Spaß an seiner unverhofften Popularität rasch vergangen.

Seine entfernte Verwandte wusste nicht, wer er war, daher behandelte sie ihn mit dem gleichen Desinteresse, mit dem Frauen ihn vor seiner Erhebung zum Earl behandelt hatten. Aber da Charity das letzte unverheiratete Mädchen in der Familie war, konnte mit ihrer Gleichgültigkeit schnell Schluss sein. Wenn sie erfuhr, wen sie vor sich hatte, würde sie ihn jagen wie ein Hund einen Waschbären.

„Danke für Ihr Hilfsangebot“, erwiderte er höflich. „Und wie ich annehme, möchten Sie im Gegenzug alles über den neuen Earl erfahren, was ich weiß?“

„Ich denke, in dieser Hinsicht bin ich ausreichend informiert“, erwiderte sie mit einer Miene, die ihn zu seiner Überraschung an Widerwillen denken ließ.

„Hat er etwas getan, das Sie abstößt?“

„Bis jetzt nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was mir gut passt, aber ich glaube nicht, dass es so weitergeht. Und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass er unerwartet auf meiner Schwelle auftaucht und mir einen Heiratsantrag macht.“

„Ihrer Schwelle?“ Miles sah sich suchend um.

„Im übertragenen Sinne“, erwiderte sie ungeduldig. „Genau genommen ist es sein Haus, und ich plane, fort zu sein, ehe er eintrifft. Aber ich bin noch nicht so weit, aufzubrechen. Daher hoffe ich, dass er in London bleibt, bis die Sitzungsperiode des Parlaments zu Ende ist.“

„Und Sie wollen ihn nicht heiraten“, sagte Miles merkwürdig irritiert.

Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist Unsinn, aufgrund einer Verwandtschaftsbeziehung automatisch Vereinbarkeit zu erwarten. Nicht dass ich an etwas so Törichtes wie romantische Liebe als Voraussetzung für eine Ehe glaube. Aber ich will mich nicht lebenslänglich an ihn und oder einen anderen Mann binden, ohne mich zu vergewissern, dass wir vom Temperament her zueinander passen.“ Sie maß ihn mit einem völlig undamenhaften, ebenso freimütigen wie herablassenden Blick. „Ehrlich gesagt habe ich noch nicht viele Männer kennengelernt, die meinem Geschmack entsprechen. Ich lege außerordentlich hohe Maßstäbe an, Mr. Potts.“

Er erwiderte ihren Blick mit der gleichen Unhöflichkeit und hätte ihr fast gesagt, dass reizlose Mädchen normalerweise nicht so wählerisch waren. Dann erinnerte er sich an ihre hübschen Fesseln und biss sich auf die Zunge. „Und das ist gut so, Miss Strickland. Wenn Sie den neuen Earl kennenlernen, werden Sie herausfinden, dass er kein schlechter Kerl ist.“ Kein total schlechter Kerl, jedenfalls. „Aber Sie haben recht, keine Heirat mit ihm ins Kalkül zu ziehen, zumal ohne vorherige Prüfung.“

Nun lächelte sie ihn wirklich an. So strahlend, dass es ihrem Gesicht, wenn schon keine Schönheit, so doch einen Reiz verlieh, den ihre sonst meist finstere Miene nicht besaß. „Sie sind der erste Mensch, der so etwas zu mir sagt, Mr. Potts. Eine derartige Freimütigkeit bin ich nicht gewohnt.“

„Es gibt keinen Grund für mich, anders zu sein.“ Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Von Freimütigkeit konnte überhaupt keine Rede sein. Schlimmer noch, er hatte von sich selbst wie von einer dritten Person gesprochen.

Er räusperte sich. „Und wo würden Sie mir empfehlen, mit der Suche … ich meine natürlich, der Inventur … zu beginnen?“

„Ich schlage vor, als Erstes gehen Sie auf Ihr Zimmer und waschen den Reisestaub ab.“ Wieder zuckte sie mit den Schultern und blinzelte unschuldig. „Wenn das Inventar von Comstock Manor bis jetzt warten konnte, gibt es keinen Grund, noch vor dem Dinner mit der Anfertigung von Bestandslisten anzufangen. Und nach einer ordentlichen Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf werden Sie die Aufgabe weit weniger abschreckend finden.“ Sie bedeutete ihm, ihr die Treppe hinauf zu folgen, und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass er es tat. „Nun?“

Miles stand unschlüssig da. Bei jeder anderen Frau hätte er bei dem Angebot, ihn zu seinem Schlafgemach zu führen, frivole Absichten unterstellt. Doch so kurz die Bekanntschaft auch war, bei Miss Charity konnte er davon ausgehen, dass sie nicht flirtete.

Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, wie es ging. Er setzte sich in Bewegung. „Sicher ist es nicht nötig, dass Sie mir mein Zimmer zeigen.“

„Ich werde Ihnen noch viel mehr als Ihr Zimmer zeigen, ehe wir miteinander fertig sind.“

Er zuckte schockiert zusammen.

Sie musterte ihn gereizt. „Sie wollen doch, dass ich Sie im Haus herumführe, oder nicht?“

„Nun ja …“ Natürlich wollte er das. Aber war sie sich seiner Person wirklich so wenig bewusst, dass ihre Worte keinerlei Zweideutigkeiten enthielten?

„Dann sollen Sie auch das Bestmögliche bekommen.“ Auf dem oberen Treppenpodest angelangt, deutete sie auf den Korridor zu ihrer Linken. „In diesem Flügel wohnt die Familie. Grandma dort hinten, wo auch die Suite des Earls liegt. Der Korridor zu unserer Rechten führt in den älteren Teil des Hauses. Auf dieser Seite liegen die Gästezimmer.“ Vor der Tür am Kopfende blieb sie stehen. „Das ist das Tudorzimmer.“ Sie stieß die Tür auf und machte eine Armbewegung in den Raum. „Angeblich hat Henry Tudor persönlich hier übernachtet.“

Im ersten Moment konnte Miles nichts mit dem Namen anfangen. Dann fiel es ihm ein. „Der König mit den vielen Ehefrauen.“

„Es waren sechs.“ Ihr todernster Blick zeigte unmissverständlich, was sie von seiner begrenzten Kenntnis der englischen Geschichte hielt.

Er hob kapitulierend die Hände. „Na gut, aber ich kann Ihnen alles darlegen, was Sie über George Washington wissen wollen.“

Autor

Christine Merrill
<p>Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
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