One Last Act

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Die Kamera läuft für das emotionale Finale der One-Last-Reihe

Allyson ist Schauspielerin mit Herz und Seele. Sie träumt von Hollywood und dem ganz großen Durchbruch. In ihren Kursen an der New York Music & Stage Academy lernt sie Ethan kennen. Er weiß von den dunklen Seiten des Ruhms und warnt Allyson vor dem Druck, der unweigerlich auf sie zukommen wird und dem sie jetzt schon kaum standhalten kann. Wird sie auf seine Warnungen hören?


  • Erscheinungstag 20.04.2021
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752175
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Mister Pearson, von dem ich nicht nur viel übers Schauspielern lernte.
Shakespeare was a genius.
I will always remember that.

1.
ALLYSON

Ich werde sterben.

Ganz sicher werde ich die nächsten Monate nicht überleben.

Ich schluckte die Reste meines Bagels hinunter und starrte zum gefühlt hundertsten Mal auf den Stundenplan für das kommende Semester, obwohl ich ihn längst auswendig konnte:

2. Semester-Herbst. Klasse B2. Schauspiel.

Montag:

08.0010.00 Filmproduktion / Theorie

10.1012.10 Bewegungs- und Atemtechnik

14.0015.30 Sprechen & Stimme

16.3018.00 Gesang – Gruppe

Dienstag:

08.0010.00 Bühnenkampf

10.1013.10 Filmproduktion / Praxis

13.3015.00 Szenenstudien

15.0017.00 Schauspiel / Studien, Techniken

Mittwoch:

09.0011.00 Tanz – Jazz

11.0012.00 Tanz – Ballett

14.0016.30 Tanz – Contemporary

Donnerstag:

08.0009.30 Sprechen & Stimme

10.0011.00 Improvisation

11.1512.30 Szenenstudien

14.0016.00 Schauspiel / Studien, Techniken

16.3018.30 Filmproduktion / Praxis

Freitag:

07.3009.30 Improvisation

09.4011.00 Bewegungs- und Atemtechnik

11.1013.00 Bühnenkampf

14.0017.00 Schauspiel / Studien, Techniken

Daneben würde ich proben, recherchieren, lernen und vielleicht irgendwann schlafen. Wobei das ja bekanntlich überbewertet wurde.

»Ich verstehe dich Ajden, aber dennoch kannst du dich nicht von Liz derart an der Nase herumführen lassen«, hörte ich Riley, die mit dem Handy am Ohr aus dem Bad kam. Sie telefonierte mit ihrem Adoptivbruder, der mal wieder in Indien war und ziemlichen Liebeskummer hatte, was mir unendlich leidtat. Ich kannte ihn bisher zwar nur über Skype-Calls und vom Telefon, aber er war ein wundervoller und herzensguter Mensch. Und seine Ex – oder nicht Ex, das musste sich erst noch herausstellen – Liz war eine dumme Kuh, weil sie ihn wegen eines anderen abserviert hatte. Das Ganze zog sich seit letztem Sommer und war zu einer On-Off-Beziehung geworden. Ajden konnte nicht wirklich von ihr lassen und Liz offenbar auch nicht von ihm, dabei riss sie ihm jedes Mal das Herz aus dem Leib.

»Oh, Liz weiß genau, was sie tut, glaub mir.« Riley rollte mit den Augen und nahm den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. Die Kanne stand noch auf der Arbeitsplatte.

Das klang nach weiterem Drama, und ich wünschte mir sehr, dass Ajden dieses Mal den Absprung schaffte.

»Ich … Ja, ich habe sie erst ein paarmal getroffen, aber das reicht mir schon, um sie einzuschätzen. Abgesehen davon sehe ich, was sie mit dir macht, und das ist nicht in Ordnung.« Riley blickte zu mir und gab mir ein Zeichen, dass sie in fünf Minuten fertig sei. Musste sie auch, denn sonst kämen wir zu spät für den heutigen Orientierungstag. So nannte die New York Music & Stage Academy den Start ins Semester. Er wurde einmal im Frühjahr und einmal im Herbst abgehalten und diente allen Schülern dazu, sich im neuen Semester einzufinden, mögliche Fragen zum neuen Stundenplan zu stellen oder Änderungswünsche zu beantragen. Nicht, dass sie in der Regel genehmigt wurden, aber bei ganz heiklen Fällen konnte man schon noch schieben. Ansonsten musste man damit klarkommen, dass man kaum noch ein Leben außerhalb der Schule besaß. Das war der Preis, den man bezahlte, um an einer der renommiertesten Musik- und Schauspielschulen New Yorks zu studieren. Und natürlich jede Menge Studiengebühren, für die meine Eltern extra einen Kredit aufgenommen hatten und für die ich die letzten Jahre mit drei Jobs alles an Kohle gespart hatte, was ich nur konnte. Seit ich siebzehn war, bereitete ich mich akribisch hierauf vor, und nun hatte ich es geschafft. Ich erfüllte mir meine Träume.

Die im Moment daraus bestanden, Riley aufzufordern sich zu beeilen, denn wir mussten wirklich los!

Sie nickte mir zu, atmete tief ein und schien zu warten, bis sie wieder zu Wort kam. »Mir ist klar, dass du Liz liebst, aber sie tut dir nicht gut! Letzten Sommer hat sie dich wegen dieses Typen verlassen, dann hast du ihr noch mal eine Chance gegeben und sie kurz darauf mit dem nächsten erwischt. Was muss sie denn noch tun, damit du verstehst, wie toxisch sie für dich ist? Bitte verschenk dein Herz nicht ständig an sie … Ja, ich weiß, dass es dafür zu spät ist, aber du musst sie loslassen. Wirklich. Komm gerne zu mir, wenn du magst. Wir hängen etwas in der Stadt ab und …«

Ich lief zur Tür, nahm meine Jacke und zog die Turnschuhe an, während Riley mir folgte. Ich liebte unser Loft. Beste Lage in New York, kurzer Anfahrtsweg zur Schule, in einer schönen Seitenstraße gelegen, wo es nicht so laut war wie im Rest der Stadt. Alles war offen und luftig gestaltet. Riley und ich hatten unsere eigenen Zimmer und teilten ein großes Bad.

Mit einer Hand schnürte Riley ihre Stiefel auf, um hineinzuschlüpfen, und ich half ihr in ihren dünnen Mantel, während sie weiter auf Ajden einredete. Es war zwar erst Mitte September, aber morgens wurde es schon recht frisch, und in den letzten Tagen war ein unangenehmer Wind vom Atlantik her aufgezogen. Laut Wetterbericht sollte der aber wieder abflauen, und uns würde hoffentlich ein goldener und schöner Herbst bevorstehen. Mal sehen. Letztes Jahr war es ganz nett gewesen, und New York hatte sich Mühe gegeben, aber so richtig gefallen wollte mir die Stadt nicht. Mir war alles viel zu eng, zu laut, zu stickig, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Hochhäuser umkippen und mich begraben könnten. Aber auch das war etwas, das ich gerne in Kauf nahm. Ich würde barfuß über glühende Kohle laufen, um meinen Abschluss an der NYMSA machen zu können.

»Ach, Ajden«, seufzte Riley, weil er wohl uneinsichtig blieb. Keine Ahnung, wie ich an seiner Stelle reagieren würde. Die Liebe war etwas Abstraktes für mich, ich hatte keinerlei Erfahrungen in Beziehungsangelegenheiten.

»Ja, ich liebe dich auch, deshalb sorge ich mich um dich …«

Sie schnappte sich ihre Tasche, die sie zum Glück gestern schon gepackt hatte, und ich mir meine. Leider konnten wir nichts in der Schule deponieren, weil nicht genügend Platz vorhanden war, und so schleppten wir jeden Tag unsere Klamotten, nötige Requisiten und Bücher mit. Heute brauchten wir noch nicht viel Zeug, und es würde entspannt werden, ehe es morgen richtig losging.

Riley und ich verließen die Wohnung, ich schloss ab, während sie zur Treppe ging. Wir wohnten im vierten Stock in einem umgebauten Industriegebäude. In dieser Gegend gab es einige von der Sorte, was dem Viertel einen gewissen Boho-Locker-Lifestyle-Schick verlieh. Ohne Riley hätte ich mir nie eine derartige Bleibe leisten können, aber da das Lied One Last Song ziemlich durch die Decke gegangen war, an dem sie mitgeschrieben hatte und somit Tantiemen dafür bekam, hatte sie darauf bestanden, den Großteil der Miete zu übernehmen. Sogar ihr Vater war einverstanden gewesen, weil er wollte, dass seine Tochter in einer guten Gegend wohnte und mit voller Konzentration studieren konnte. Seit er akzeptiert hatte, dass Riley hierbleiben wollte, um Musicalsängerin zu werden, zeigte er sich recht nachsichtig, wenn er auch nach wie vor noch sehr zugeknöpft war. Ab und an schickte ich ihm Videos von Auftritten seiner Tochter oder schrieb ihm, wenn sie besonders gut bei Prüfungen abgeschnitten hatte, da Riley nie damit protzen wollte. Aber irgendwer musste ihm schließlich sagen, wie gut sie war.

Wir traten auf die Straße, ich atmete tief ein und wandte mein Gesicht vom Wind ab, der sich sofort in unseren Haaren verfing, kaum dass wir zur Tür draußen waren. Es war kälter als gestern, und ich bereute, dass ich keinen Schal trug, aber ich wollte auch nicht noch einmal hoch, sonst würden wir die nächste Subway verpassen.

»Ja, bitte ruf mich an«, sagte Riley und klang, als müsste sie dieses Gespräch jetzt beenden, weil es keinen Sinn mehr hatte, Ajden zur Vernunft bringen zu wollen. »Und denk dran, du bist jederzeit willkommen, okay?«

Wir überquerten die erste Kreuzung, um zur Subwaystation zu gelangen, die nur wenige Meter von unserer Bleibe entfernt war. Es war zum Glück nicht viel los, einzig die ersten Geschäftsleute, die zu ihrer Arbeit strebten, kamen uns entgegen oder liefen mit uns im Strom. Als ich das erste Mal in New York angekommen war, war ich völlig überfordert von der Stadt gewesen. Sie war so unglaublich überwältigend und anders als alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Wäre Riley nicht gewesen, wäre ich verloren gegangen.

Dieses Gefühl hatte mich nie ganz verlassen, und ich fragte mich, ob ich mich je an die Stadt gewöhnen konnte. Es fühlte sich immer so an, als wäre ich ein Fremdkörper hier, egal wie sehr ich versuchte, allem offen zu begegnen und das Lebensgefühl in mich aufzunehmen. Und ich vermisste die Natur ganz schrecklich. Das Gefühl von feuchter Erde unter meinen Füßen oder den Duft der ersten Blumen, die im Frühling erwachten. Der Central Park war zwar nett, konnte aber nicht mit den Bergen und Wäldern von Wyoming mithalten.

»Oh, Mann«, sagte Riley, als wir die Treppen zur Subwaystation runtergingen. »Liz hat Ajden ganz schön am Wickel. Ich wünschte, er könnte sich von ihr lösen.«

»Ist halt die erste große Liebe und so.«

»Ja, das versteh ich auch, aber sie wird sein Herz zerpflücken, bis nichts mehr davon übrig ist. Diese letzte Eskapade hat ihm ziemlich zugesetzt, er ist total aufgewühlt, und ich kann nichts für ihn tun, als ihm gut zuzureden.«

»Er will auch nicht herkommen, nehme ich an?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er meinte, er würde Indien morgen sowieso verlassen, mit Dad noch ne Weile rumreisen und dann versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht rufe ich mal seinen Freund Parker an. Die beiden kennen sich schon ewig, und er hat eigentlich immer einen guten Einfluss auf Ajden gehabt.«

»Tu das und mach dir nicht zu viele Sorgen.« Auch wenn ich wusste, dass sie das nicht abstellen konnte. Es schmerzte ja sogar mich, obwohl ich Ajden kaum kannte.

Wir kamen unten an, und mir schlug der warme, stickige Mief der Unterwelt entgegen. Wie jedes Mal musste ich kurz die Luft anhalten. Wir zückten unsere Metrocards und zogen sie durch die Drehkreuze. Ein Blick auf die Anzeige verriet mir, dass unsere Bahn in einer Minute käme. Perfektes Timing. Riley und ich liefen nach vorne, um in den ersten Wagen einzusteigen, weil wir dann gleich bei der Treppe aussteigen konnten. Mit der Zeit bekam man raus, wo man wie zu stehen hatte, um möglichst kurze Verkehrswege zu haben und effektiv voranzukommen. Auch etwas, an das ich mich erst hatte gewöhnen müssen. New York hatte irgendwie seinen eigenen Rhythmus. Die Stadt war wie eine abstrakte Welt, verborgen unter einer Kuppel, wo die Zeit anders tickte. Man hatte keine Chance, gegen den Strom zu schwimmen, und wenn man es tat, ging man unweigerlich unter.

Also hatte ich mich angepasst. Es war sowieso nicht mein Ziel, auf Dauer hierzubleiben. Wenn ich mit der Schule fertig war, könnte ich hoffentlich überall auftreten, und dann würde ich dorthin gehen, wo die Schauspieljobs wären. Ich hatte alles schon genau geplant: erst studieren, im letzten Semester einen Agenten suchen, auf die ersten Auditions gehen, Bühnenerfahrung sammeln – am besten auf einer National Tour, damit ich auch gleichzeitig mehr vom Land sah. Das kam immer gut im Lebenslauf. In der Zeit könnte mir mein Agent oder meine Agentin einige Rollen heraussuchen, für die ich vorsprechen würde. Sicher würde es nicht sofort klappen, also wäre die erste Zeit nach Abschluss reines Klinkenputzen und Kontakteknüpfen. Ich musste einfach so viel wie möglich mitnehmen und stellte mich innerlich darauf ein, in den nächsten Jahren kein Privatleben oder Urlaube zu haben, was okay für mich war.

Im Moment lief noch alles nach Plan. Ich war eine der Besten in unserer Schauspielklasse, hatte super Noten, die Lehrer mochten mich, und ich kam sehr gut mit.

Wenn das im zweiten Semester auch so klappen würde, sollte ich keine Probleme haben. Das Einzige, was mir nach wie vor schwerfiel, war das Tanzen. Gesang ging einigermaßen, obwohl ich auch in dem Bereich weit entfernt von Perfektion war. Zwar hatte ich Schauspiel als Schwerpunkt meines Studiums gewählt, aber wir sollten uns dennoch gut bewegen und singen können, falls es eine Rolle später erforderte.

»Also«, sagte Riley und unterbrach meine Gedanken. »Wie wollen wir das am Donnerstag machen? Wir müssen die Details klären.«

Donnerstag. Richtig. Der Abend der Abende. Wenn ich nur daran dachte, wurde ich schon nervös.

Ich wollte antworten, doch der Zug fuhr ein und unterbrach jedes Gespräch. Der Wind blies mir den fahlen Geruch des Tunnels ins Gesicht. Jedes Mal fragte ich mich, nach was genau das roch. Nach Abfall oder altem Metall oder Staub, Rattenkot? Es war eine ganz besondere Mischung, die ich bisher nur in New York gerochen hatte. Wir traten einen Schritt zurück und warteten, bis das Blechding mit quietschenden Bremsen neben uns hielt und die Gäste ausgestiegen waren. Dann suchten wir uns vorne einen Platz und setzen uns.

»Kommt Ethan denn jetzt mit?«, fragte ich, als der Zug wieder losfuhr.

»Ja. Julian meinte, dass er sich sehr freut, dich endlich richtig kennenzulernen.«

Großer Gott.

Sofort schoss mir die Hitze in die Wangen, und ich drehte den Kopf weg, damit es nicht so auffiel. Ethan Cooper war der Frontmann der Rockband Beyond Sanity und schlichtweg der Wahnsinn. Obwohl Julian und Riley sich jetzt über ein Jahr kannten, hatte ich Ethan nicht oft gesehen. Das letzte Mal war zu Beginn des ersten Semesters gewesen, als er mit der Band in die Schule gekommen war, weil sie uns alle einen guten Start in den Unterricht wünschen wollten. Sobald die Veranstaltung vorbei gewesen war, hatte Ethan erst mit ein paar seiner ehemaligen Studenten aus der Masterclass gesprochen und sich dann wieder abgesetzt. Wir hatten wenig miteinander reden können, aber ich hatte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte, und ein »Hey, ich bin ein großer Fan von dir. Wie lief der Entzug?« käme vermutlich nicht so gut.

Ethan war bisher weit außer meiner Reichweite gewesen, was sich an diesem Donnerstag wohl ändern sollte. Hoffentlich blamierte ich mich nicht bis auf die Knochen.

»Breeze und Casey haben schon gefragt, was sie mitbringen sollen«, fuhr Riley fort.

Die beiden Bandmitglieder hingegen waren sehr cool. Zwar kannte ich sie auch nicht so gut wie Julian, aber sie waren ein paarmal bei uns zu Besuch gewesen, als Ethan noch im Entzug gewesen war. Wir hatten ein paar gute Gespräche gehabt, und ich freute mich darauf, sie wiederzusehen.

»Ich mache eine Liste«, sagte ich. »Mittwoch können wir einkaufen gehen, da hab ich ab halb fünf frei.«

In dieser Woche war sowieso noch Schonzeit angesagt. Freitag war gar kein Unterricht, weshalb wir das Essen mit Beyond Sanity auf Donnerstag gelegt hatten.

»Okay, dann halte ich mir das ebenfalls frei und hake noch mal bei Julian nach, ob wir bei Chili bleiben.«

»Und kläre auch das mit dem Alkohol.«

»Hab ich schon. Er meinte, es sei für Ethan kein Problem, wenn wir trinken, aber er selbst möchte nichts. Wir kaufen also auch Eistee und Limo in allen Varianten.«

»Gut.« Oder so. Ich hatte noch keine richtige Vorstellung davon, wie ich mich Ethan gegenüber verhalten sollte oder musste. Durfte ich das mit dem Drogenentzug ansprechen? Er hatte die Klinik schon vor einem halben Jahr verlassen, aber für mich hing das nach wie vor im Raum. Was waren die Tabuthemen, wenn wir uns unterhielten? Ich brauchte mehr Anweisungen, am liebsten hätte ich eine Checkliste mit den Dingen, die ich ansprechen durfte und die ich vermeiden musste. Auf keinen Fall wollte ich irgendetwas falsch machen. Nicht bei Ethan.

Riley hatte mir recht lange vorenthalten, wie sie mit ihm das erste Mal zusammengestoßen war und dass sie ihm damals das Leben gerettet hatte. Nach einer Überdosis war er auf einer der Toiletten der NYMSA ohnmächtig zusammengebrochen, und Riley hatte ihn reanimiert. Mit der Geschichte war sie erst herausgerückt, als sie schon lange mit Julian zusammen war. Im ersten Moment war ich etwas angefressen gewesen, weil sie es für sich behalten hatte, aber letztlich konnte ich es auch verstehen. Es wäre Ethan gegenüber unfair gewesen, das weiterzutratschen.

»Und?«, fragte ich und stupste Riley an. »Laufen schon Wetten, wie lange du und Julian es aushalten werdet, ehe ihr euch abseilt und übereinander herfallt?«

Sofort hellte sich ihr Gesicht auf, und in ihre Augen trat ein Ausdruck von tiefer Liebe und Leidenschaft. Es war wundervoll, sie und Julian zu erleben. Die beiden waren so dermaßen verknallt ineinander, dass ich mich jedes Mal fragte, wie sie die Zeit getrennt voneinander überlebten. Aber vielleicht machte das gerade den Reiz aus. Wenn er auf Tour war, skypten sie oder führten heiße Telefongespräche – von denen ich das ein oder andere schon mitbekommen hatte. Leider.

»Bestimmt haben Breeze und Ethan schon was abgeschlossen«, sagte sie. »Aber Julian und ich haben entschieden, dass wir erst mal den Abend mit euch genießen wollen. Er ist das ganze Wochenende in der Stadt, wir werden also sehr viele Gelegenheiten haben, uns auszutoben.«

»Gut, dann ruf ich vielleicht Breeze an und frage, ob ich mit in die Wette einsteigen kann.« Ich gab den beiden nämlich keine Stunde.

Riley verpasste mir einen leichten Klaps gegen die Schulter, musste aber genauso lachen wie ich.

Die Bahn bremste lautstark und einen Hauch zu intensiv. Ich stieß gegen Riley, die mich sachte auffing und mir half, mich wieder aufzurichten. Wir warteten, bis das Signal ertönte und die Türen sich öffneten, um mit dem Strom an Leuten auszusteigen. Am Columbus Circle war wesentlich mehr los als in unserer Station, und wir mussten uns um ein paar Menschen herumschlängeln, ehe wir nach oben gelangten, wo uns die Stadt mit ihrem üblichen Lärmen und Hupen empfing. Ich schulterte die Tasche fester, wartete auf Riley und bog nach links ab, um hinüber zur Schule zu laufen. Von hier aus waren es nur noch ein paar Blocks, und ich merkte, wie diese angespannte Vorfreude in mir aufstieg. Über den Sommer hatten wir zwei Monate freigehabt – in der Zeit liefen dann auch die Masterclasses –, aber wir konnten natürlich jederzeit in die Schule kommen und proben oder lernen. Im Grunde standen uns alle Räume und Utensilien zur Verfügung, es lag an uns, wie wir sie am besten nutzten, und genau das hatte ich getan. Bis auf einen zweiwöchigen Urlaub zu Hause war ich hiergeblieben und hatte mich in meine Bücher und meine Studien vertieft. Mom und Dad hatten es zum Glück verstanden und unterstützten mich, so gut sie nur konnten, auch wenn ihre finanziellen Mittel begrenzt waren. Dafür schenkten sie mir umso mehr Liebe. Ohne sie wäre ich heute nicht hier.

»Home sweet home«, sagte Riley, als das Schulgebäude in Sicht kam. Es fühlte sich tatsächlich wie ein Zuhause an, zumal wir hier wesentlich mehr Zeit verbrachten als in unserem Apartment.

Ich schluckte gegen die aufsteigende Nervosität an. Heute hatten wir zwar noch keinen Unterricht, aber wir wurden über alle Umstrukturierungen informiert. Neue Lehrer stellten sich vor, und die Klassen wurden zum Teil anders zusammengesetzt. Manchmal kam es vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin nicht in den richtigen Kurs zugewiesen worden war und daher versetzt wurde. Der Tanzunterricht wurde in vier verschiedene Leistungskategorien aufgeteilt, und man konnte auf- oder absteigen. Das machte es für alle leichter, weil dadurch die gesamte Klasse auf einem Level war, aber auch etwas umtriebiger, weil man nie so richtig zusammenwuchs. Einzig im Schauspiel und in der Musicalperformance wurde bis zum Ende des zweiten Semesters nichts geändert. Danach standen die Midterms an, wo viele Schüler die Gelegenheit nutzten und ausstiegen.

»Yo, Ally!«, rief auf einmal jemand hinter mir, und ich drehte mich um. Wyatt kam mit Grayson die Straße entlang und winkte uns zu. Grayson war mit mir in der Masterclass gewesen und eigentlich ein netter Junge. Er war groß gewachsen, hatte kurze blonde Haare und klare grüne Augen, die irgendwie immer voller Elan und Lebensfreude funkelten. Er wusste, dass er gut aussah, und zudem war er hetero, was ihm an der Schule einen eindeutigen Flirtvorteil verschaffte. Wir hatten einen Mädchenüberschuss, und von den Jungs waren viele schwul. Da wir kaum rauskamen und wenig Kontakt zu anderen Menschen außerhalb der NYMSA hatten, geierten also viele Frauen auf die wenigen verfügbaren Männer. Grayson hatte sich im ersten Semester durch die halbe Klasse geschlafen, zumindest, soweit ich es mitbekommen hatte.

Wyatt war sein bester Freund, der sowohl auf Männer als auch Frauen stand und somit doppelt so viel Auswahl hatte. Er trieb es also nicht minder bunt als Grayson, ging dabei aber wesentlich diskreter vor. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Grayson, hatte dunkle Locken, die ihm wirr vom Kopf standen, lachte genauso viel wie sein Freund und war meistens gut drauf. Ich unterhielt mich gerne mit ihm, vor allen Dingen, weil er das Studium ernst nahm und dazu noch viel Talent hatte. Wyatt wusste, dass er nichts geschenkt bekam, und gab sich alle Mühe, vorne mitzuschwimmen, während Grayson es manchmal etwas schleifen ließ.

Hinter den beiden ging Kristen mit ihrer Entourage, bestehend aus zwei Freundinnen, entlang. Riley und ich stöhnten gleichermaßen auf, als wir sie sahen. Diese Tussi war einfach die Schlimmste. Sie war mit mir in der Masterclass gewesen und hatte mit ihrer damaligen Freundin Sue – die von der Schule geflogen war – Riley das Leben recht schwer gemacht. Durch die beiden hatte Riley überhaupt von dem Skandal rund um Julian erfahren. Letztlich war alles gut ausgegangen, aber auf Kristen hätte ich gerne verzichtet. Jetzt war sie leider in meiner Klasse und noch immer so eingebildet wie zuvor. Bedauerlicherweise war sie auch noch richtig gut.

Sie warf uns nur kurz einen abfälligen Blick zu und ging zum Glück weiter.

»Hi«, begrüßte ich Grayson und Wyatt, der Kristen ebenfalls bemerkte.

»Schätze, mit der hast du es zu bunt getrieben«, sagte Wyatt und stupste Grayson an. »Die schaut dich an, als wollte sie dir die Eier rausreißen.«

»Ach, die ist nur eingeschnappt, weil ich mit ihr Schluss gemacht habe und nicht umgekehrt.« Er winkte ab und wandte seine Aufmerksamkeit Riley und mir zu. »Na? Seid ihr bereit für die Achterbahnfahrt in diesem Semester?«

»Ist man dafür je bereit?«, fragte ich.

»Vermutlich nicht, bin mal gespannt, wie viele gehen werden«, sagte Wyatt. »Hab gehört, dass es im letzten Semester über ein Drittel war. Echt heftig.«

»Dafür kommen jede Menge neue Leute nach«, sagte Grayson. »Gibt also immer genügend Abwechslung.«

»Also genau das, was du suchst«, sagte ich trocken, und Wyatt fing an zu lachen. Natürlich hatte Grayson es auch bei mir versucht. Sogar noch während der Masterclass, aber da hatte ich weder den Kopf noch die Zeit für ihn gehabt, und im Grunde hatte sich daran nichts geändert. Ich war nicht interessiert an einem One-Night-Stand und würde mein erstes Mal sicherlich nicht mit jemandem wie ihm haben, auch wenn er zweifelsohne gut aussah und Charme hatte. Zudem machte er den Frauen nichts vor, mit denen er ins Bett stieg, und jede, die sich auf ihn einließ, wusste, was sie bekam.

»Ja, Morgan, du hast recht. Das ist genau das, was ich suche«, sagte Grayson zu mir und hielt mir die Tür zur NYMSA auf, denn wir waren vor dem grauen Gebäude angekommen. »Es sei denn, du beendest endlich meine Suche nach der wahren Liebe.« Er lächelte, was dafür sorgte, dass die Grübchen in seinen Wangen aufblitzten.

»Tja, Bradford«, betonte ich ebenfalls seinen Nachnamen. »Da muss ich dich leider enttäuschen. Meine wahre Liebe ist das hier.« Ich zeigte auf den Eingangsbereich der Schule und horchte dabei auf das Flattern in meinem Herzen, das sich jedes Mal einstellte, wenn ich diesen Ort betrat. Ich liebte es, hier zu sein, und gleichermaßen verteufelte ich es an vielen Tagen, weil es so unglaublich anstrengend war. Achterbahnfahrt traf es also ganz gut. An der NYMSA bekam man die gesamte Gefühlspalette serviert, von Montag bis Sonntag, keine Ruhetage, keine Pausen. »Und mein Stundenplan, mit dem ich das nächste halbe Jahr Händchen halten werde«, fuhr ich fort. »Da ist leider kein Platz mehr für dein Ego.«

»Autsch«, sagte Wyatt und trat ebenfalls ein, weil Grayson noch immer die Tür aufhielt.

»Wir werden sehen, Morgan, wir werden sehen. Meine Arme stehen dir stets offen. Denk also dran, wenn dein Stundenplan zu hart zu dir ist und dir das Herz bricht.«

»Dann wirst du sicher nicht der Erste sein, den ich anrufe.«

Er legte die Hand auf die Brust und ließ den Kopf theatralisch sinken, als hätte ich ihn damit gekränkt, aber ich war mir sicher, dass er bald Trost bei irgendeiner anderen finden würde.

Ich folgte Riley, die das Geplänkel bis auf deutliches Augenrollen unkommentiert ließ. Die Leute hier waren irgendwie von einem anderen Schlag. Das war mir schon nach ein paar Tagen an der Schule aufgefallen. Meine Freundin Tiana zu Hause hatte mich vorgewarnt, weil ihr Bruder in einer Theatercompany arbeitete und es da wohl unter anderem recht offen zuging. Erst hatte ich mir nichts darunter vorstellen können, doch langsam bekam ich einen besseren Eindruck. Nicht, dass hier jeder mit jedem rummachte oder so, aber die Leute waren wesentlich kontaktfreudiger als andere Menschen, die ich außerhalb der Musicalwelt kennengelernt hatte. Unser Unterricht bestand quasi die halbe Zeit aus Übungen, wo wir uns ständig anfassen mussten, oft übereinander oder nebeneinander lagen und kaum noch ein Blatt Papier zwischen uns passte. Es war eine Mischung aus körperlicher Nähe und emotionaler Distanz.

Grayson, Wyatt, Riley und ich redeten eine Weile über das, was uns bevorstand. Tauschten Neuigkeiten vom Sommer aus, was wir dieses Jahr vorhatten, ob wir Shows sehen wollten und so weiter. Es war das übliche Geplänkel mit Rumalbern und viel Lachen, bei dem ich einstieg und mitmachte, als würde ich alles genauso locker und lustig sehen wie die anderen.

Als wir das schuleigene Theater erreichten, war unsere Gruppe um Miranda gewachsen. Das war unser erstes Treffen seit zwei Monaten, weil sie die ganzen Ferien über zu Hause in Detroit gewesen war. Miranda sah gut aus, hatte aber auch etwas abgenommen. Ihre Afrolocken hatte sie eng an den Kopf geflochten. Sie trug ein knallpinkes Shirt und den dazu passenden Lippenstift.

»Leute!«, rief sie uns entgegen. »Heute Morgen kam die Mail, dass mein Antrag bewilligt wurde und ich in eure Klasse wechseln darf!«

»Das ist ja großartig!«, sagte ich und schlug mit ihr ein. Miranda war eigentlich in B1, aber der Stundenplan hatte mit ihrem Job als Kellnerin kollidiert, weshalb sie gefragt hatte, ob sie zu uns kommen könnte. Sie hatte zwar die gleiche Anzahl an Stunden, aber konnte sie jetzt besser mit ihrer Schicht koordinieren. Es freute mich, dass sie zu uns wechselte. Sie war auch in der Masterclass gewesen, und ich mochte sie sehr.

Viele Schüler jobbten nebenher und mussten sich, wie Miranda, das Geld aus den Rippen leiern. Sie lebten auf engstem Raum, in den von der Schule angebotenen Zimmern eines alten Hotels, das als Wohnheim umfunktioniert worden war. Nur manche hatten das Glück – so wie Riley und ich –, eine eigene größere Bleibe zu haben.

Wir betraten das Theater, wo bereits ein Großteil der Schüler versammelt war. Alle passten leider nicht auf einmal rein, also waren wir in Gruppen aufgeteilt worden. Die nächste kam eine Stunde nach uns.

Ich suchte mir mit Riley einen Platz, setzte mich in die Mitte von ihr und Miranda, während Wyatt und Grayson sich hinter uns hockten. Grayson quatschte schon wieder mit irgendeiner Mitschülerin, und Wyatt beugte sich nach vorne, damit er sich weiter mit uns unterhalten konnte.

»Sag mal, Riley. Wie geht es jetzt mit Beyond Sanity weiter?«

Sie stöhnte leise, was so viel hieß wie: Lass lieber stecken.

»Komm schon, rück ein paar Insights raus«, hakte er nach. »Steigt Ethan komplett aus? So richtig offiziell ist das ja noch nicht, oder? Du weißt doch bestimmt mehr.«

»Cedric ist auf jeden Fall nicht so gut an den Drums wie Breeze«, klinkte sich jetzt auch Miranda ein.

»Find ich auch«, sagte Wyatt. »Breeze war viel besser. Aber falls Ethan zurückkehrt, wäre ja alles wieder beim Alten. Es hieß ja auch, dass Cedric nur als Ersatzmann einspringt.«

»So viele Möglichkeiten«, erwiderte Riley nur.

»Ernsthaft, Riley«, sagte Wyatt und stieß sie von hinten an. »Lass uns nicht verhungern.«

»Das Bistro hat viele neue Sachen im Angebot«, entgegnete sie. »Ich empfehle das Veggi-Sandwich, echt lecker. Martin backt das Brot sogar selbst.«

Ich lachte, genau wie Miranda. Wyatt würde sich die Zähne an Riley ausbeißen, und das wusste er eigentlich auch, was ihn jedoch nicht daran hinderte, es jedes Mal aufs Neue zu probieren.

»Ich wette, dass Ethan Cooper ein Comeback plant«, redete Wyatt weiter. »Oder er reißt das Steuer komplett rum und macht was ganz anderes, aber irgendwas heckt der aus.«

»Glaub ich auch«, sagte Miranda. »Erst der Entzug, jetzt sieht man ihn kaum. Ich habe das Gefühl, dass er seine Kraft sammelt.«

Das mit dem Entzug war nie ein Geheimnis gewesen. Ethan hatte es gleich ehrlich öffentlich zugegeben, was wohl auch das Beste war, was er hatte tun können. Nach seinen Auftritten vor den Türen der NYMSA war klar, dass er ein Suchtproblem hatte, und als er dann bei den Grammys nicht aufgetaucht war, als One Last Song abgeräumt hatte, hatten sich die Leute sowieso ihren Teil gedacht. Ich fand es gut, dass sein Management daraufhin eine Pressemitteilung rausgegeben hatte. So hatten sie Spekulationen Einhalt geboten und etwas die Luft bei dem Ganzen rausgelassen.

Dennoch wusste niemand, wie es mit der Band weitergehen sollte. Offiziell war Ethan noch Mitglied, aber früher oder später musste er eine Entscheidung treffen.

Die Tür vom Theater ging ein weiteres Mal auf. Bradley kam mit Gillian herein. Sie traten hoch auf die Bühne, wo Gillian am Rand wartete, während Bradley ans Pult ging und aufs Mikro klopfte, um zu checken, ob es an war. Die Unterhaltungen erstarben, und sofort richteten sich alle Blicke auf ihn. Er winkte den Anwesenden leicht nervös zu. Wie immer sah er großartig aus. Viele Schülerinnen hatten einen heftigen Crush auf ihn, was er jedoch vehement ignorierte.

Der Sommer hatte ihm auf alle Fälle gutgetan, und vor mir seufzten ein paar Mädchen bei seinem Anblick auf. Bradley hatte sich die Haare mittlerweile abgeschnitten und trug sie nun modern und kurz. Vorher hatte er einen dieser sexy Männerdutts gehabt. Seine braun gebrannte Haut verriet, dass er viel draußen gewesen war. Er wirkte fitter und frischer als je zuvor. Vor ein paar Monaten hatte er mit Gillian zusammen die Leitung der Schule übernommen, und das schien ihn ziemlich beflügelt zu haben.

»Guten Morgen, Leute«, sagte er ins Mikro und grinste in die Runde. Es gab eine leichte Rückkoppelung, und er atmete einmal tief durch. »Wow, hätte nicht gedacht, dass ich derart aufgeregt sein würde.« Er spähte zu Gillian hinüber, die nur mit den Schultern zuckte, als wollte sie ihm sagen, dass das normal sei. Eigentlich hielt sie die Ansprache zum Semesterbeginn. Auch sie hatte sich sehr verändert und wirkte ruhiger und gelassener als früher.

»Und so geht es euch fast jeden Tag, wenn ihr hier oben steht«, sagte er wieder an uns gewandt. »Habt also bitte etwas Nachsicht mit mir, ich mach das zum ersten Mal, und falls ihr euch wundert, warum ich hier stehe und nicht Gillian: Wir haben unsere Aufgaben aufgeteilt. Gillian wird sich ab jetzt voll und ganz auf die Tanzsparte konzentrieren, die wir in diesem Semester weiter ausbauen werden. Dazu haben alle Musicalschüler bereits Memos bekommen. Wir gehen gleich näher darauf ein, wie ihr das für euch nutzen könnt. Ich selbst werde alles andere an der Schule übernehmen, während Preston Blair ebenfalls ein- bis zweimal die Woche zurückkehren wird. Heute kann er leider nicht hier sein, aber er schickt allen herzliche Grüße und wünscht euch gutes Gelingen.«

Bradley fuhr fort und erläuterte ein paar der organisatorischen Dinge, wie, dass das Theater renoviert werden würde und für ein paar Wochen nicht zur Verfügung stand. Im Grunde war es nichts Spektakuläres, und ich war froh, dass uns nicht die gleichen Umbauten blühten wie im letzten Semester, als sie die Tanzsäle renoviert hatten. Das hatte doch sehr gestört beim Unterricht.

Bradley taute mit jeder Minute mehr auf und frischte seinen Vortrag mit ein paar Witzen auf. Schon bald hatte er den gesamten Saal auf seiner Seite.

»Dann kommen wir zu einem neuen Punkt«, sagte er schließlich und setzte eine ernstere Miene auf. »Momentan wollen sehr viele wundervolle Talente bei uns studieren, was uns natürlich freut, und wir möchten allen eine Chance geben, aber ihr merkt ja selbst, wie ausgelastet wir sind. In den letzten Wochen haben wir uns mit den Lehrern einige Gedanken dazu gemacht und überlegt, wie wir mehr für alle rausholen könnten. Wir wissen, dass ihr bereits viel Druck habt, aber leider können wir euch den nicht ersparen, weil es draußen nicht anders zugeht. Wir wollen euch zu den besten Startmöglichkeiten verhelfen, euch so gut es geht ausbilden und vorbereiten, damit ihr mit den großen Fischen schwimmen könnt. Die NYMSA ist ein Ort, an dem Diamanten geschliffen werden, und genau das wollen wir weiter fördern. In den letzten Jahren kam es jedoch öfter vor, dass manche Studenten ihre Zeit hier nicht voll ausschöpfen wollten oder konnten. Wir geben uns Mühe, beim Auswahlprozess auf alle Talente zu achten, und entscheiden, wen wir formen können und wen nicht. Ihr habt diese erste Hürde genommen und wärt nicht hier, wenn wir nicht an euch glauben würden. Dennoch wissen wir, dass einige überfordert sind und merken, dass die Theaterwelt doch nichts für sie ist. Deshalb haben wir auch viele Abgänger nach dem zweiten Semester. Wir müssen und wollen diesen Prozess nun etwas abändern. Ihr habt natürlich weiterhin die Möglichkeit, freiwillig das Studium nach diesem Semester abzubrechen und seid ab da von allen Gebühren freigestellt. Doch auch wir werden diese Midterms ab sofort nutzen, um zu entscheiden, ob es weiter Sinn ergibt, euch hierzubehalten und durch die Ausbildung zu prügeln. Das heißt, dass die Plätze für das dritte Semester beschränkt werden.«

Ein Raunen ging durch die Menge, weil wir noch nicht genau wussten, was das hieß. Klar siebten sie durch die Prüfungen am Ende des zweiten Semesters aus, doch dann stand es einem in der Regel offen, das Halbjahr zu wiederholen. Solange man dafür bezahlte, konnte man das so oft tun, wie man wollte.

»Die Midterms laufen ab jetzt wie Auditions ab. Sollten wir merken, dass jemand sie nicht ernst genug nimmt oder sich durchmogeln will – und ja, wir wissen, dass das manche tun –, müssen wir uns leider von denjenigen verabschieden. Seht diese Prüfungen also wie eine zweite Hürde, die ihr nehmen müsst.«

Jetzt wurde das Raunen lauter, und die ersten Fragen wurden gestellt, doch Bradley hob die Hand, damit alle ruhig blieben.

»Das mag erst mal hart klingen, aber wir halten es für richtig. Da diese Neuerung das erste Mal in diesem Semester durchgezogen wird, werden wir etwas großzügiger entscheiden und zum Jahresende hin erste Zwischenprüfungen abhalten. Diese werden die Generalprobe für die richtige Prüfung im Frühjahr sein. Wenn sich das Konzept durchsetzt, werden wir es beibehalten und weiter anziehen.«

»Was soll denn der Scheiß?«, rief jemand aus dem Saal. »Wir zahlen euch Geld dafür, dass wir hier studieren, da sollte es uns offenstehen zu bleiben, oder habt ihr es nicht mehr nötig?«

Bradley lächelte nur und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Jungen, der das eben gesagt hatte. »Natürlich sind wir auch Geschäftsleute, und uns ist klar, dass dieses Konzept außergewöhnlich ist, aber genau das wollen wir für euch. Ihr sollt euch später aus der Masse abheben können. Ihr sollt da rausgehen und das Beste aus euch rausholen, und wir geben euch alles mit, was ihr dafür braucht. Die NYMSA ist ein Platz für jeden, der diesen wundervollen Job auf der Bühne ernst nimmt, aber alle anderen müssen leider gehen. Klar werden wir dadurch wohl Verluste einbüßen, aber das nehmen wir gerne hin, wenn danach unsere Studenten zu denen gehören, die alles erreichen können. Wir formen euch so lange, bis ihr bereit für die Welt seid. Wenn ihr diesen Weg mit uns gehen wollt, seid ihr willkommen, aber das verlangt vollen Einsatz von eurer Seite.«

Ich rutschte tiefer in meinen Sitz, und meine Kehle wurde trocken. Riley nahm es hingegen recht gelassen, wie es schien.

»Warte mal, heißt das, dass sie uns rauswerfen können?«, fragte Miranda.

»Sieht ganz so aus«, sagte Wyatt leise. »Interessante Entscheidung.«

Bradley redete weiter, wie das Ganze im Detail aussehen sollte, aber ich konnte nicht mehr richtig zuhören.

Mir wurde heiß und kalt zugleich, und eine ekelhafte Angst kroch in mir hoch. Ich hatte fest damit gerechnet, auf der NYMSA meinen Abschluss machen zu können, selbst wenn ich vielleicht ein Semester wiederholen müsste. Alles war genau geplant, ich hatte mir sogar Geld für diesen Fall zurückgelegt. Und nun brachte Bradley eine ungewisse Komponente ins Spiel, mit der ich nicht gerechnet hatte.

»So ein Mist«, murmelte ich.

Dieses Semester war soeben noch härter geworden, als es sowieso schon war.

2.
ETHAN

Tag: 305

Laune: aufgepeitscht.

Energie: schlecht.

Verlangen: sehr hoch!

Es ist fast Morgen. Die Sonne zeichnet sich am Horizont ab und färbt die Wolken in diesem ganz speziellen orangefarbenen Schimmer. Es ist der Moment zwischen den Zeiten. Der Moment zwischen Nacht und Tag. Ich liebe diese Augenblicke, weil ich dann das Gefühl habe, als würde alles stillstehen. Aber heute nicht. Heute bin ich zu aufgewühlt. Mein Körper brennt. Mein Blut kocht, und mein Verstand ist benebelt.

Die Welt besteht aus Watte.

Wer bin ich? Was bin ich? Was will ich eigentlich hier? Ich …

Ich riss meinen Blick von meinem Tagebuch hoch, das ich im Entzug angefangen hatte, und schüttelte den Kopf. In meinem Schädel pochte es dumpf nach, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, was diese Schmerzen ausgelöst hatte. Sie waren einfach so gekommen.

Ich rieb mir über die Stirn, legte den Stift beiseite und atmete tief ein und aus. Mein Körper bebte, ich spürte noch immer die Nachwirkungen des zweistündigen Konzerts. In meinen Ohren fiepten der Bass und die Drums nach, genau wie die Rufe der Zuschauer, die uns heute fast vor Euphorie zerrissen hätten. In dem Moment, als ich auf die Bühne getreten war und mein Comeback gefeiert hatte, war die Halle erbebt, und eine Stampede aus Gefühlen war mir entgegengerannt. Es war ein einziger Rausch gewesen, der mich die letzten Stunden oben gehalten und meine Seele zum Explodieren gebracht hatte.

Und nun?

War ich hier. Allein. Verloren.

Nur diese Zeilen, die ich irgendwann im Nebelwahn angefangen hatte, begleiteten mich. Colin hatte mir empfohlen, Tagebuch zu schreiben. Er meinte, dass es vielen seiner Klienten half, und da ich so ein kreativer Mensch war und mich gerne durch Worte ausdrückte, lag es nahe, es auszuprobieren. Es war ganz gut. Manchmal schrieb ich ellenlange Absätze, manchmal nur kurze Notizen. Je nach Laune.

Heute würde es mir allerdings nicht viel helfen, das spürte ich bereits. Heute fühlte ich mich zu ausgelaugt und leer. Der Dämon, vor dem ich so energisch davongerannt war, holte mich ein und schloss mich in seine Fänge. Ich war selbst daran schuld. Ich hatte das Monster herausgefordert, als ich diese verdammte Bühne betreten hatte.

Jetzt war ich wieder in der Dunkelheit gefangen, der ich so verzweifelt entrinnen wollte. Und wie zuvor stellte ich mir die Frage, was von mir übrig blieb, nachdem ich alles weggegeben hatte.

Wer war fucking Ethan Cooper?

Ich blickte auf den Tisch vor mir und betrachtete die zwei weißen pulvernen Linien, die ich akkurat zurechtgeschoben hatte. Das war das beste Zeug, was ich hatte bekommen können, und es hatte mich ein kleines Vermögen gekostet. Bezahlt mit dem Geld, das ich mir da draußen verdient hatte.

Für das ich meine Seele verkauft hatte.

Dreihundertfünf Tage hatte ich es ausgehalten. So lange war ich clean geblieben, und fast so lange hatte ich auf keiner Bühne mehr gestanden. Aber jetzt war ich zurück. Der alte Ethan Cooper hatte sich die Gitarre wieder umgeschnallt und gab den Leuten das, was sie von ihm haben wollten.

Ich griff nach dem Röhrchen, das neben den Lines lag. Eine Bewegung, die mir bedauerlicherweise genauso in Fleisch und Blut übergegangen war wie die Musik.

Dreihundertfünf Tage.

Ab morgen wären wir wieder bei Eins.

Ich atmete aus, setzte das Röhrchen auf und …

»Fuck!«, schrie ich und richtete mich im Bett auf. Mein Herz hämmerte wild, und ich war komplett nass geschwitzt. Das Laken klebte an meinem fast nackten Körper. Ich bekam schwer Luft, mir war schwindelig, und der gesamte Raum drehte sich um mich.

Wo bin ich?

Was mache ich hier?

Was habe ich getan?!

Ich blickte mich panisch um, riss die Hände hoch, drehte sie nach oben, nach unten und checkte, ob ich noch Rückstände vom Koks an mir hatte, aber da war nichts. Ich saß auch nicht am Tisch, sondern lag im Bett.

In meinem Bett.

Ich bin zu Hause.

»Okay, okay. Ganz ruhig, Ethan.« Ich schloss die Hand zur Faust und klopfte mir auf mein Brustbein.

Poch. Poch. Poch. Poch.

Hoch und runter.

Atmen.

Klopfen.

Bewusst werden.

Das ist mein Körper. Ich habe ihn im Griff. Ich muss nur atmen.

Atmen. Atmen. Atmen.

Mehr nicht.

Poch. Poch. Poch. Poch.

Es ist alles gut.

Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, und mein Atem wurde ebenfalls wieder gleichmäßiger. Ich zog die Beine an, ließ die Hand sinken und stützte mich auf den Knien ab. Das Laken klebte weiter an meiner verschwitzten Haut, aber es tat mir gut, das zu fühlen. Alles, was mich zurück in meinen Körper brachte, tat mir gut, und so bemühte ich mich, jeden Kontakt mit dem Leinenstoff ganz bewusst wahrzunehmen.

Mein Körper.

Mein Geist.

Mein Wille.

»Ich hab es im Griff.«

Es ist alles gut.

Als ich das Gefühl hatte, ruhig genug zu sein, blickte ich auf und sah mich bewusst um. In den letzten Monaten hatte ich viel Energie darauf verwendet, mir mein Heim so gemütlich wie möglich einzurichten. Die Wände waren dunkler gestrichen, alles wirkte nun erdiger, und ich hatte einige Holzskulpturen aufgestellt, weil Colin meinte, dass sich das positiv auf meinen Geist auswirken sollte. Oder so. Manchmal war er ein wenig verschroben, aber der Kerl hatte mir durch den Entzug geholfen, und er wusste, was er tat, also vertraute ich ihm.

Ich schlug das Laken zur Seite und stand auf. Der Holzboden fühlte sich angenehm kühl unter meinen nackten Füßen an. Auch etwas, was ich ganz bewusst aufnahm. Jetzt nur noch einen Schritt nach dem anderen machen.

Rechts. Links. Rechts. Ganz einfach.

Ich trat an die Fensterfront und blickte nach draußen auf die Stadt vor mir. Viele der Lichter waren erloschen, aber einige hielten sich noch wacker und strahlten in die heller werdende Nacht. Es war fast Morgen. Die Sonne zeichnete sich am Horizont ab und färbte die Wolken in diesem ganz speziellen orangefarbenen Schimmer. Es war der Moment zwischen den Zeiten. Der Moment zwischen Nacht und Tag.

Ich rieb mir über die Stirn und atmete noch mal ganz bewusst ein und aus. Mein Blick wanderte hinüber zum Tisch, aber er war leer. Da war keine Droge. Kein Röhrchen, keine Versuchung.

Es war nur ein Traum gewesen.

Einatmen. Ausatmen. Alles ist gut.

Ich musste auch nicht zurück auf die Bühne. Das hatte ich vor ein paar Tagen geklärt. Beyond Sanity tourte gerade ohne mich, und in einer Woche würden wir eine Pressekonferenz geben, auf der wir offiziell mitteilten, dass es das für mich gewesen war. Die ganze Zeit über war ich noch nicht bereit für diesen letzten Schritt nach draußen gewesen, und weder die Jungs noch Casey hatten mich dazu gedrängt. Sie hatten mit Cedric als Ersatzmann getourt, so getan, als bestünde die Option, dass ich zurückkehren könnte, und somit die Fans bei Laune gehalten, während ich versuchte, zu genesen und einen neuen Sinn im Leben zu finden.

Noch hatte ich ihn nicht entdeckt, aber in den letzten Monaten nach dem Entzug war ich auch voll und ganz damit beschäftigt gewesen, mich um mich selbst zu kümmern. Ich hatte diese Zeit allein gebraucht. Einfach nur nachdenken, innehalten, nichts tun, zur Therapie gehen – na gut, und Gillian vögeln, aber das war nur ein Mal passiert.

Ich grinste bei dem Gedanken an diesen Abend im letzten März. Da war ich gerade erst nach dem Entzug nach New York zurückgekehrt, und sie hatte mich angerufen, weil sie Ablenkung gebraucht hatte. Mittlerweile wusste ich, dass wir diese Aktion auf keinen Fall wiederholen würden, weil sie fest mit Jaz zusammen war. Sie hatte ihn kurz nach unserer gemeinsamen Nacht kennengelernt. Ich hatte Gillian ein paarmal damit aufgezogen, dass sie ohne die Erfahrung mit mir vermutlich nie eine ernste Beziehung eingegangen wäre und sie daher ihren erstgeborenen Sohn nach mir benennen müssten.

Mit einem Seufzen lehnte ich mich gegen die Scheibe und drückte meine Stirn gegen das kühle Glas. Es vibrierte ganz leicht. Vielleicht vom Wind oder den Bewegungen im Haus. Vom Leben außerhalb dieser Wohnung. Das Leben, vor dem ich ständig davonlief und das mir alles abverlangte. Das Leben, das mich eigentlich glücklich machen sollte, es aber nicht tat.

Meine Kehle war trocken und das Brennen in meiner Seele intensiver als sonst. Ich kannte diese Anzeichen. Das waren die Vorboten der Lust. Die Geister, die mir einflüsterten, dass es okay war, sich fallen zu lassen. Dass dieser eine Joint nicht zählte, diese eine Line keine Rolle spielte, dieses Glas Wein nur der Entspannung diente. Ich mochte es körperlich geschafft haben, mich von dem Zeug loszusagen, aber ich war noch lange nicht über dem Berg.

Mit diesem Brennen im Herzen löste ich mich von der Scheibe und tigerte im Raum auf und ab. Früher hatte da drüben an der Wand meine Fender gestanden und auf mich gewartet, wann immer ich sie brauchte. Ich hatte mich oft raus auf die Dachterrasse gesetzt, mir die Klampfe geschnappt, nen Joint gedreht und dann die ganze Nacht lang gespielt. Einfach so. Musik war seit meiner Kindheit mein Zufluchtsort gewesen, aber in den letzten Jahren hatte sie mich ausgelaugt, und ich konnte mir mittlerweile nicht mal mehr vorstellen, eine Gitarre anzufassen. Die Musik war im Moment für mich gestorben. Irgendwo auf diesem steinigen Weg der letzten Monate hatte ich sie verloren und nicht mehr wiederfinden können.

Ich ging in die Küche, holte eine eiskalte Cola aus dem Kühlschrank und trank die Flasche halb aus. Die Flüssigkeit war süß und rauschte angenehm durch meine Kehle. Ich schloss die Augen, stellte mir vor, wie sie mit Rum oder Whiskey schmecken würde und schüttelte sogleich den Kopf.

Nicht heute. Nicht hier. Morgen. Vielleicht.

Manchmal half mir der Gedanke, diesen Wunsch auf morgen zu verschieben. Es fühlte sich dann nicht so endgültig an, ihn mir zu verwehren, und ließ mir zumindest eine Option offen. Auch ein Trick, den ich von Colin gelernt hatte. »Wenn du morgen wieder an Drogen oder Alkohol denkst, dann verschiebst du es auf einen weiteren Tag und so weiter und so weiter. Wenn das für dich funktioniert, kann das sehr stark sein, aber gehe achtsam damit um.«

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum und lauschte dem leisen Brummen der Elektrogeräte in meiner Küche. Manchmal saß ich da drüben auf dem Boden, wenn ich nicht schlafen konnte, und hörte jedes noch so kleine Geräusch. Manchmal war das alles, was ich brauchte, und manchmal war mir selbst das zu viel.

Ich trank den Rest der Cola leer und lief ein paarmal hin und her. Heute würde mir still sitzen nichts bringen, dafür war ich zu unruhig und fahrig. Ich brauchte Ablenkung. Jemanden, der mir gute Geschichten erzählte.

Ich griff nach dem Handy, das auf dem Tresen lag, und scrollte durch meine Kontakte. Es war 06.45 Uhr, und es gab wenige Leute, die ich um diese Zeit anrufen konnte.

Erst sah ich Julians Nummer, doch der befand sich gerade im Nachtflug zurück aus Vegas und war somit unerreichbar. Also blieb ich bei Isabel hängen. Sie war mein Anker geworden in diesen letzten Monaten. Etwas, das als lose Bekanntschaft bei den Masterclasses angefangen hatte, hatte sich zu einer tiefen Freundschaft entwickelt. Ich hatte damals die Masterclass in der Sparte Rock & Pop betreut, und Isabel, die berühmte Oscar-Preisträgerin, hatte die Schauspielstudenten unterrichtet.

Zurzeit war sie in der Bretagne, um sich von ihrem letzten Dreh zu erholen. Durch die Zeitverschiebung müsste es dort Mittag sein. Rasch drückte ich auf Anrufen, ehe ich es mir anders überlegen konnte.

Es läutete. Einmal. Zweimal. Dreimal. Scheiße, bitte geh ran. Viermal.

Ich hielt die Luft an, meine Haut brannte schon wieder. Ich kratzte über meinen Schädel, härter als ich müsste, aber der leichte Schmerz half mir.

Fünfmal. Sechsmal.

Sie ist nicht …

»Hallo, Ethan?«, erklang ihre Stimme, und ich ließ sofort die Luft aus der Lunge.

»Isabel.«

»Sorry, ich war gerade im Gespräch.«

»Ich stör dich.«

»Tust du nie. Was ist?«

»Es ist schlimm. Ich hatte einen Traum.«

»Okay.«

Hinter ihr hörte ich Stimmen. Gemurmel, das ich nicht richtig verstehen konnte.

»Stör ich dich wirklich nicht?«

»Überhaupt nicht. Warte.«

Eine Tür klickte, die Stimmen verstummten, und ich wurde irgendwie ruhiger. Isabel konnte das. Besser als jeder andere.

»Ich … ich habe geträumt, dass ich gekokst habe.«

»Aber du hast es nicht.«

»Ich möchte es.«

»Zwischen möchten und tun liegt ein Unterschied. Dein Verlangen ist okay, jetzt entscheide, was du damit machen willst.«

Ich atmete ein weiteres Mal tief ein und spürte, wie mich allein der Klang ihrer Stimme erdete. »Ich war wieder auf der Bühne. Also im Traum.«

»Und das hat dich zurückgeworfen.«

»Es war alles wie früher. Der Druck, der Stress …«

»Hängt das mit der anstehenden Pressekonferenz zusammen?«

»Möglich. Sehr wahrscheinlich sogar.«

»Du wirst aber nicht dort sein, oder?«

»Doch, auch wenn ich es wohl nicht sollte.«

»Ist das wirklich klug?«

»Ich bin es den Fans schuldig.« Wenigstens das wollte ich schaffen, wenn ich schon nicht genügend Eier in der Hose hatte, wieder auf die Bühne zu gehen.

»Du bist es dir vor allen Dingen schuldig, zu genesen, Ethan.«

Ich grummelte leise vor mich hin, weil es für mich nur diesen Weg gab. »War das bei dir auch so? Dieses Hin und Her? Immer, wenn ich denke, ich bin über den nächsten Berg gekommen, stürze ich irgendwo runter und muss wieder anfangen zu klettern.«

»Das ist ganz normal. Sogar nach acht Jahren hab ich ab und an noch Verlangen, aber es ist derart zurückgetreten, dass ich locker damit fertigwerde.«

Ich nickte, was sie nicht sehen konnte, aber vermutlich spürte sie es. Sie wusste, wie es mir ging. Sie hatte das alles hinter sich und war stark geblieben. Isabel war mein Vorbild geworden. Meine Heldin in dieser wirren Welt.

»Rede weiter, bitte«, sagte ich, weil mich ihre Stimme beruhigte. »Was machst du gerade?«

»Nichts Besonderes. Kelly möchte sich nachher ein Haus anschauen, was sie vielleicht kaufen will. Es ist traumhaft schön hier. Sollten wir wirklich bald ein Feriendomizil haben, bist du natürlich herzlich eingeladen.«

»Das klingt großartig.« Ich war noch nie in der Bretagne. »Also erholst du dich gut.«

»Ja, sehr, aber ich sichte auch neue Drehbücher.«

Ich machte ein leises zustimmendes Geräusch, damit sie wusste, dass ich ihr zuhörte und interessiert war.

»Eins davon ist von einem wundervollen ruhigen Film. Das wollte ich sowieso als Nächstes machen, weil ich langsam genug vom Drehen vor dem Green Screen habe. Ich brauche mal wieder etwas Echtes, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Sehr.« Ich hatte zwar keine Ahnung von ihrem Business, aber ich konnte mich hineinversetzen und es mir vorstellen.

»Es wäre ein Liebhaberprojekt der Mathewson-Brüder.«

»Haben die nicht diesen wirren Streifen gedreht, wo einer seine Träume durch pure Gedankenkraft wahr werden lässt?«

»Fictionality. Genau.«

»Also doch eine große Produktion.«

»Nein, und das ist ja das Tolle daran. Dwayne und Mitchell wollen diesen Film zu Ehren ihrer verstorbenen Schwester Stacy drehen. Sie kam vor vier Jahren ums Leben. Überdosis.«

»Oh.«

»Der Streifen ist eine Art Hommage an sie und wird autobiografische Momente enthalten, wenngleich der Film natürlich Fiktion ist. Stacy war Fotografin für das People Magazine und hat viele bekannte Sänger und Schauspieler geknipst.«

»Nie von ihr gehört.«

»Im Film trifft sie einen Sänger, der ihr aus dem Drogensumpf raushilft. Das wäre dann der fiktionale Part. Dwayne und Mitchell wollen, dass sie am Ende gerettet wird und sie die Hilfe bekommt, die sie in der Realität nie hatte.«

»Wird es dadurch nicht unglaubwürdiger?«

»Diese Frage stellen sie sich nicht. Sie wollen das so drehen, wie sie sich das Leben für Stacy gewünscht hätten und nicht, wie es geendet hat. Wie eine Art zweite Chance oder so. Ich habe nur kurz mit ihnen gesprochen, aber sie engagieren sich sehr für diesen Film. Er soll etwas Besonderes werden, doch sie werden ihn nicht so groß aufziehen wie ihre anderen Blockbuster.«

»Verstehe. Und klingt auch sehr interessant.«

»Ja, fand ich auch. Vor allen Dingen die Rolle des Sängers, den Stacy trifft, ist spannend angelegt. Er kämpft mit sich und seinem Ruhm und droht daran zu ersticken, genau wie sie.«

»Ach.«

»Die Rolle ist der Wahnsinn, Ethan. Beim Lesen musste ich die ganze Zeit an dich denken, weil sie dich so sehr spiegelt.«

»Dann hoffe ich, dass du einen genauso gut aussehenden Kerl wie mich bekommst, der sie mit dir spielen wird.«

»Oder du schaust dir das Drehbuch mal an.«

»Ich bin kein Schauspieler.«

»Na ja, irgendwie schon. Du kannst eine Show abziehen und Leute berühren. Der Rest ist Technik, die man dir beibringen könnte.«

Ich lief zurück zum Fenster und blickte wieder auf den Horizont, wo die Sonne aufging und nun die Stadt weckte. »Ich weiß nicht, Isa.«

Ich fand die Schauspielerei zwar faszinierend, das musste ich zugeben, und ich hatte mich an der NYMSA zwischen all den Theaterkünstlern sehr wohlgefühlt.

»Weißt du noch, wie oft wir übers Schauspielern geredet haben bei der Masterclass?«

»Ja, natürlich.« In den Pausen hatten wir häufig zusammengesessen, und Isabel hatte mir alles von ihrem Unterricht erklären müssen.

»Ich habe das Gefühl, dass die Schauspielerei in dir steckt und du dich nur noch nicht traust, sie rauszulassen.«

»Mh.«

»Wie wäre es, wenn du mal ganz unverbindlich ins Drehbuch schaust? Ich kläre, ob ich es dir schicken darf.«

»Wenn ich jetzt Nein sage, wirst du es trotzdem tun?«

»Vielleicht.« Sie lachte und ich auch. Mit Isabel zu reden fühlte sich stets so natürlich an, und ich fragte mich hinterher oft, was mich zuvor eigentlich belastet hatte.

»Aber nur ganz unverbindlich.«

»Klar doch.«

Sie redete eine Weile weiter über ihre Pläne und Wünsche, und ich hörte ihr zu. So lief es meistens zwischen uns, aber ab und an schwiegen wir auch einfach nur. Ganz am Anfang war Isabel sogar am Telefon geblieben, wenn ich vor Rastlosigkeit nicht einschlafen konnte. Sie hatte geduldig gewartet, bis sie irgendwann meinen gleichmäßigen Atem hören konnte und wusste, dass ich doch zur Ruhe gefunden hatte.

»… jetzt bleiben wir noch ein paar Tage, dann fliegen wir nach Hause. Das Wetter in L.A. ist ja ganz gut zurzeit«, schloss sie ihre Erzählungen.

»Schön.«

»Was machst du heute noch?«

»Die Sonne geht eben auf, ich denke, ich werde joggen.«

»Guter Plan. Wenn du mich noch mal brauchst, ruf an, ja? Ich habe das Handy dabei.«

»Mach ich.«

»Viel Spaß beim Joggen.«

»Werde ich nicht haben, aber danke.« Ich mochte Sport nicht sonderlich, aber er half mir, mich abzulenken, und war daher eine Notwendigkeit geworden. Außerdem hatte ich einen ziemlich knackigen Hintern bekommen, und der leichte Sixpack war auch nicht zu verachten. Nicht dass es eine Rolle spielte, ich bekam Frauen, wann immer ich wollte. Was ich in der letzten Zeit nicht einmal genutzt hatte. Irgendwie ödete mich reiner Sex zur Lustbefriedigung mittlerweile an. »Gutes Gelingen für den möglichen Hauskauf nachher«, fügte ich noch hinzu. »Und grüß Kelly von mir.« Isabels Ehefrau stand ich mittlerweile auch sehr nah.

»Richte ich aus.«

Ich legte zuerst auf, so wie ich das immer tat, wenn wir telefonierten. Isabel schnitt mich nie ab, wartete stets, bis ich bereit war die Verbindung zu kappen, und das war ich jetzt wieder.

Mein Herz und meine Seele waren ruhiger geworden. Das Brennen hatte abgenommen, und diesen Rest an Enge könnte ich gleich beim Laufen loswerden.

Ich blickte mich ein letztes Mal in meiner Wohnung um und nahm mit Genugtuung wahr, dass das Drängen fast weg war.

Jetzt, da der Tag anstand, betrat ich die sichere Zone, denn es waren die Nächte, auf die ich aufpassen musste. Sie waren die Jäger, in ihren Schatten lauerten die Dämonen, und ich fragte mich jedes Mal von Neuem, ob ich ihnen irgendwann mit Ruhe und Gelassenheit begegnen könnte, statt mit Furcht.

Auch das würde ich Stück für Stück herausfinden.

Morgen. Nicht mehr heute.

3.
ALLYSON

»Ich finde immer noch, dass es viel zu viel ist«, sagte ich, während ich die Einkäufe auf dem Küchentresen abstellte und nach Luft schnappte.

»Glaub ich nicht. Breeze kann echt viel essen, unterschätze das nicht«, sagte Riley und bugsierte die zweite und dritte Tüte ebenfalls auf den Tisch. »Wir hätten uns allerdings eine Wohnung mit Aufzug suchen sollen. Ich hoffe, dass uns der Getränkelieferant beim Tragen hilft.«

»Ich meine nicht das Essen oder die Schlepperei.«

»Sondern?« Riley stützte sich auf dem Tresen ab und schnaufte nur einmal kurz durch. Sie war wesentlich fitter als ich, weil sie so viel Tanzunterricht hatte und generell mehr Sport trieb.

»Den Druck, den die Schule aufbaut. Dass sie nach dem zweiten Semester Leute rauswerfen kann.«

»Denkst du noch immer darüber nach?«

Bradleys Ansage war zwei Tage her, und wir hatten in der Klasse viel darüber diskutiert. Manche fanden die neuen Regeln fair, andere total bescheuert. Im Grunde verstand ich die Änderung, und sie war eigentlich logisch, denn auch in meiner Klasse gab es einige, die sich eher durchmogelten, als wirklich was zu lernen. Das war schon in der Masterclass so gewesen, als ein paar Mädels lieber shoppen gingen, statt sich auf den Unterricht vorzubereiten. Manche legten mehr Wert auf das Prestige an einer Schule wie der NYMSA zu lernen und berühmte Leute zu treffen, als wirklich eine fundierte Ausbildung zu durchlaufen.

»Ich habe einfach Angst, dass am Ende nur noch die weiterkommen, die schummeln«, sagte ich.

»Warum sollten sie? Um das zu verhindern, gibt es ja die Prüfung. Du hast absolut nichts zu befürchten, Ally. Du bist so engagiert. Abgesehen davon finde ich die Regel ziemlich gut. Die NYMSA platzt eh aus allen Nähten, und dadurch, dass jeder die Chance hatte, die Semester so oft zu wiederholen, wie man wollte, nahmen es manche nicht ernst. Karen bei mir in der Klasse macht schon einen dritten Durchgang und gibt sich noch immer keine richtige Mühe.«

»Die muss dann aber ziemlich viel Geld haben.«

»Hat sie. Insofern wird dem endlich ein Riegel vorgeschoben.«

»Ja. Nein. Ach, keine Ahnung. Prüfungen stressen mich eh schon, und jetzt noch mehr. Außerdem hatten wir gestern Tanzen, und auf einmal wurde ein viel höheres Niveau vorausgesetzt als im ersten Semester. Ich bin kaum hinterhergekommen.«

»Das hab ich von anderen schon gehört. Sie ziehen das Tempo echt an im zweiten Semester, aber wir wollen ja was lernen.«

»Klar, ich will aber auch mitkommen. Im Schauspiel haben wir eine Übersicht über die kommenden Szenen erhalten. Es sind doppelt so viele wie zuvor, und wir müssen viel schneller und mehr lernen. Ich brauche aber Zeit, um mich in eine Rolle einzufinden!«

»Ally, du verkopfst das viel zu sehr. Das hast du schon im ersten Semester gemacht.«

»Und es hat funktioniert, oder etwa nicht? Ich habe super Noten bekommen.«

»Klar, doch im echten Leben wirst du nicht immer so detailliert alles durchgehen können, wie du es bisher getan hast. Jetzt müssen wir eben schneller sein, was okay ist. Manchmal hat man in einer Produktion nicht viel Zeit.«

Riley war mir in der Hinsicht etwas voraus. Vielleicht lag es daran, weil sie zu Beginn in New York ganz auf sich allein gestellt gewesen war und von Audition zu Audition gerannt war, um hier Fuß zu fassen. Riley hatte das Leben da draußen bereits kennengelernt und war den unkonventionellen Weg gegangen. Sie schockte fast nichts, was in der Schule auf sie zukam, nahm alle Herausforderungen mit Freuden an und gab ihr Bestes. Klar, hatte sie zwischendrin mal einen Hänger, aber das kam bei ihr recht selten vor. Bei Riley hatte ich stets das Gefühl, als wäre die NYMSA das größte und wertvollste Geschenk, was sie je erhalten hatte. Außerdem wollte sie das Geld, das sie dafür zahlte, nicht umsonst ausgeben. Riley schätzte jeden Dollar, den sie hatte, und kaufte nie unnützes Zeug. Nicht mal Julian durfte ihr Schmuck oder teure Klamotten schenken, auch wenn er es locker könnte und es immer wieder versuchte, aber Riley wollte lieber, dass er sein Geld an Leute gab, die es wirklich brauchten, und nicht für Klimbim raushaute – wie sie es nannte. Sie hatte die Band dahingehend schon umgekrempelt, und nun unterstützten sie viele Charity-Aktionen.

Riley wandte sich mir zu, legte die Hände auf meine Schultern und drückte sie sachte. »Du schaffst das. Ich weiß es.«

»Ich nicht. Nach diesen paar Tagen hab ich schon das Gefühl, dass mir der Schädel platzt.«

»Nur, weil du immer alles viel zu ernst nimmst und dich reinsteigerst.« Riley schüttelte den Kopf und umarmte mich. »Ich bin für dich da, okay? Wir können gerne gemeinsam tanzen üben. Oder singen. Ich kann dir vielleicht noch ein paar Tipps geben oder so.«

»So wie Julian es bei dir gemacht hat.«

Sie lachte und ließ mich los. »Ich würde dir dabei allerdings nicht an die Wäsche gehen.«

»Was? Er ist dir an die Wäsche gegangen?«

»Na ja, bei unserer ersten Gesangsstunde schon. Es war aber ganz nett.«

»Das hast du mir nie erzählt!«

Sie grinste und fing an, die Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen.

Autor

Nicole Böhm
<p>Nicole Böhm wurde 1974 in Germersheim geboren und lebt heute in Speyer. Mit zwanzig reiste sie nach Phoenix, Arizona, um Zeichen- und Schauspielunterricht am Glendale Community College zu nehmen. Es folgte eine Schauspielausbildung an der American Musical and Dramatic Academy in New York. Sie lebte insgesamt drei Jahre in Amerika...
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