Ritter der Leidenschaft

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Ein burgunderrotes Cape, goldenes Haar, so strahlend wie die Sonne und grüne Augen, die wie Smaragde funkeln! Als Ritter Lucien vor den Toren seiner Burg die selbstbewusste Schönheit sieht, ist er wie geblendet. Dass es sich bei der hinreißenden Fremden um Lady Isobel, seine ihm versprochene Verlobte, handelt, sollte ihn freuen. Doch schönen Frauen gegenüber ist Lucien skeptisch, schließlich wurde er schon einmal bitter betrogen. Und als Isobel sich schon kurz nach ihrer Hochzeit seinem Willen widersetzt, steht sein Entschluss fest: Diesmal wird er seine widerspenstige Braut zähmen, und zwar um jeden Preis …


  • Erscheinungstag 27.03.2018
  • Bandnummer 340
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733773
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Oktober 1173 – im Ostturm von Ravenshold, in der Champagne

Mit der Dolchspitze stocherte Lucien Vernon, Comte d’Aveyron, an etwas herum, das ihn an einen toten Spatz erinnerte.

„Ist es das, wonach es aussieht?“ Er verzog das Gesicht, während er einen Tisch voller Unrat inspizierte. Eine Handvoll winziger Knochen lag dort, eine Tonschale, gefüllt mit Schmetterlingsflügeln und ein Mörser, worin sich neben einem abgenutzten Stößel noch ein Stück knorrige Borke befand, und der sicher weder in der Küche noch in einem Krankenhaus jemals Verwendung fände. Die Tischplatte war unter einer Schicht aus toten Fliegen, Blättern, Bucheckern und Eicheln kaum mehr zu sehen.

„Vertrocknete Fledermaus?“, vermutete sein Freund Sieur Raoul de Courtney. „Oder eine Kröte?“ Halb angewidert, halb neugierig untersuchte er ein Glas, voll mit einer milchigen Flüssigkeit. Er hielt es gegen das Licht, das durch die hohen, schmalen Fenster fiel, vor denen dicke Spinnweben hingen, und betrachtete den Inhalt. „Mon Dieu!“, rief er, jetzt nur noch angewidert, und stellte das Glas so heftig zurück auf den Tisch, dass der Staub aufwirbelte. „Grundgütiger, Luc, hast du noch nicht genug gesehen? Lass uns hier verschwinden.“

Lucien fuhr sich über das Gesicht und verharrte einen Moment an der zackigen Narbe an seiner Schläfe. Sie pochte, wie immer, seit er von Morwennas vorzeitigem Tod erfahren hatte, und wie eigentlich auch schon immer, wenn er an sie dachte.

„Ich bitte um Verzeihung, Raoul, aber ich habe gedacht, ich würde hier vielleicht etwas finden … etwas, das ihren Tod erklärt. Wusstest du, dass ich Pater Thomas bestechen musste, damit er mir die Erlaubnis gegeben hat, sie auf dem Friedhof beerdigen zu lassen?“

Raoul schüttelte mitfühlend den Kopf.

„Ich habe die Gerüchte über Hexerei gehört. Weißt du, wer sie dieses Mal in die Welt gesetzt hat?“

„Nein. Ich hatte gehofft, hier Antworten zu finden, aber …“ Lucien schüttelte den Kopf. Bedauern erfasste ihn – wenn doch nur alles anders gekommen wäre. Wie lange hatte er Morwenna nicht gesehen? Zwei Jahre? Und jetzt war sie nicht mehr. Schuld und Reue hinterließen einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er wandte sich dem Tisch zu. „Trotz allem, was du hier siehst, war sie keine Hexe.“

„Das weiß ich.“

„Sie war nur … besessen.“ Er atmete tief durch. In dem Raum roch es modrig. Nach Tod. Es war, als wäre die Zeit oben im Ostturm stehen geblieben – als wäre alles mitten im Verfall erstarrt. „Früher war sie nicht besessen …“

„War sie schön?“

„Eine Göttin. Raoul, wenn du sie nur hättest sehen können, ehe wir geheiratet haben …“

„Luc, ich weiß, dass du nichts mit Hexerei zu schaffen hast, aber mir scheint, sie hat dich behext.“

Lucien lachte kurz auf.

„Ich war fünfzehn. In dem Alter werden viele junge Männer behext. Du auch, wenn ich mich recht entsinne …“

Abwehrend hob Raoul die Hand.

„Schon verstanden. Kein Grund, meine Vergangenheit ins Spiel zu bringen.“ Angeekelt beäugte er einen verschimmelten Haufen Kastanien. „Ehrlich, du wirst hier gar nichts finden. Ich rate dir, alles in diesem Raum zu verbrennen. Es wäre nicht gut, wenn Madame Isobel das sähe.“

„Das hat keine Eile“, entgegnete Lucien. „Madame Isobel wird frühestens in einem Monat eintreffen.“

„Ah, Luc … was das angeht …“ Raoul rümpfte leicht die Nase. „Egal, das sage ich dir draußen.“

„Die große Halle und die Gemächer gehen vor“, sagte Lucien und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was es zu erledigen gab, ehe seine Verlobte anreiste. „Dann kommen die Stallungen …“

„Vergiss die Küche nicht“, warf Raoul ein. „Lass uns gehen, die Luft hier drin ist widerlich. Ich sage dir: Verbrenne das alles.“

Lucien schüttelte den Kopf.

„Erst, wenn ich mich vergewissert habe, dass Morwennas Tod kein Unfall war.“

„Aber es war ein Unfall; Arthur war sich sicher. Luc, vielleicht ist es besser, wenn du akzeptierst, dass es manchmal keine Antworten gibt. Durchsuche diesen Turm, solange du willst, aber du wirst nichts finden, außer Morwennas Träumen.“ Er griff nach dem Riegel der Tür. „Wie du schon gesagt hast, es gibt genug andere Dinge zu erledigen.“

Lucien nickte. Raoul hatte recht. Seine Verlobte, Madame Isobel de Turenne, würde in einem Monat hier sein, und Ravenshold konnte man in diesem Zustand nicht einmal einem Bettler herzeigen, geschweige denn der zukünftigen Herrin der Burg. Das Waffenlager und die Sattelkammer mussten wieder in Schuss gebracht, die große Halle musste von oben bis unten gereinigt werden, in den Ställen hausten die Ratten, der Küchengarten war verwildert, die Obstbäume mussten beschnitten werden … Und Lucien war noch nicht einmal bis zum Keller vorgedrungen. Er erschauderte bei dem Gedanken daran, was sich noch alles auftun würde. Überall herrschte Chaos und Vernachlässigung. Häusliche Pflichten hatten bei Morwenna nicht gerade an oberster Stelle gestanden.

Lucien sah sich noch ein letztes Mal im Turm um. Morwenna hatte es ihr Arbeitszimmer genannt. Der Putz fiel von den Wänden, unter dem Tisch türmte sich ein Haufen Schutt, ein Stuhl war zerbrochen, es lagen Rollen vergilbten Pergaments herum …

„Das ist kein fröhlicher Ort.“ Nachdrücklich schloss Lucien die Tür hinter sich. „Morwenna hat sich an ihre Träume geklammert. Schade, dass sie es nie über diese Kammer hinaus geschafft haben.“ Schade, dass sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten.

Raoul flüchtete förmlich die gewundene Treppe hinunter, die nach draußen in den Hof führte.

„Lass uns noch über die Ringmauer gehen, Luc. Ich brauche frische Luft.“

„Amen. Aber ich muss noch den Keller und die Küche kontrollieren.“

„Kontrolliere deinen Weinvorrat später.“

Im Hof angelangt, blinzelte Lucien in die grelle Herbstsonne und atmete einmal tief durch. Nach der trostlosen Atmosphäre im Turm würde ihm eine kurze Abwechslung guttun. Dummerweise offenbarte die Sonne hier draußen den Verfall noch schonungsloser. Die Wassertröge hatten Risse, in den Ecken häufte sich welkes Laub, und wo im Vorhof erst die Straße frisch gepflastert worden war, sah man nun schon wieder tiefe Spurrillen.

Auf dem Wehrgang sprach Raoul mit Sergent Gregor. Lucien folgte ihnen die Treppe hinauf. Von hier oben konnte er einen Großteil seiner Ländereien sehen. Er ließ den Blick an der Kirche vorbei und über das Dorf schweifen, hin zu den gepflegten Weingärten und Feldern. Welch ein Segen, dass er Morwenna über die Burg hinaus keine Befugnisse eingeräumt hatte. Der Kontrast zwischen dem desolaten Zustand innerhalb der Mauern und der Ordnung außerhalb war immens. Die Felder waren bereits abgeerntet, jetzt grasten Schafe zwischen den Stoppeln. Auch der Wein war schon gepflückt.

Aus einem Baum flogen Saatkrähen auf, und in der Ferne entdeckte er das verräterische Aufblitzen eines Helms, der die Sonne reflektierte. Über die Straße von Troyes kam eine kleine Gruppe Reiter heran. Vermutlich Händler. Mit einer Schulter an der Steinmauer lehnend, nickte er Sergent Gregor zu, als der vor ihm salutierte und sich dann wieder auf seinen Posten begab. Raoul wirkte ernst. Zu ernst. Lucien verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue.

„Was ist los?“

Raoul zögerte.

„Sag mir nicht, der Schmied konnte deinen Helm nicht reparieren und du willst meinen für das Turnier.“

„Nein, das ist es nicht.“

Seine Zurückhaltung machte Lucien Sorgen.

„Raoul?“

„Sergent Gregor hat Neuigkeiten aus Troyes.“

„Oh.“

„Sie ist hier, Luc.“

Lucien wurde plötzlich ganz ruhig.

„Sie? Wer?“

„Madame Isobel de Turenne. Deine Verlobte.“

Augenblicklich fühlte Lucien sich zurückversetzt in die kühle, schattige Abtei in Conques. Er war ein Bursche von fünfzehn Jahren und zitterte im Angesicht der gewaltigen Lüge, zu der sein Vater ihn nötigte. Madame Isobel war gerade elf gewesen, erinnerte er sich. Lucien hatte sich furchtbar geschämt und sich so schuldig gefühlt, dass er sie kaum hatte ansehen können. Sie war so klein gewesen. Ein Kind noch. Und er war gezwungen worden, einen heiligen Eid zu schwören, dass er sie heiraten werde, obwohl er nicht wusste, ob er den je würde halten können.

„Isobel? In Troyes?“ Er fuhr sich mit der Hand durch sein nachtschwarzes Haar. „Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Wir erwarten sie nicht vor nächstem Monat.“

„Sie ist vergangene Nacht in der Stadt angekommen“, erklärte Raoul. „Ich schätze, sie will dich so bald wie möglich sehen.“

Lucien fluchte unterdrückt. Nein! Das war das Letzte, was er wollte. Er war nicht bereit, seine Verlobte zu empfangen – Ravenshold war einfach noch nicht bereit. Er gestikulierte in Richtung des von Laub bedeckten Innenhofes, zu der Halle und den Türmen, die mit Efeu zugewuchert waren. Das Klappern von Hufen und Klirren von Zaumzeug sagten ihm, dass der Händler das Torhaus fast erreicht hatte.

„Sieh dich hier doch nur um! Sie kann nicht herkommen.“

„Das liegt selbstverständlich bei dir. Aber du solltest wissen, dass Madame Isobel und ihr Gefolge in der Abtei von Notre-Dame-aux-Nonnains in Troyes logieren.“

Luciens Magen zog sich zusammen.

„Zur Hölle mit dieser Frau, sie ist viel zu früh.“

Raoul sah ihn verwundert an.

„Du hast gleich nach Morwennas Tod nach ihr geschickt; was macht ein Monat für einen Unterschied?“

„Ich habe Vicomte Gautier in meinem Brief klar zu verstehen gegeben, dass Ravenshold nicht vor Advent bereit ist, seine Tochter aufzunehmen.“

„Scheint so, als wäre es nicht bloß Ravenshold, das nicht bereit ist“, sagte sein Freund gutmütig.

Lucien kniff leicht die Augen zusammen.

„Was soll das heißen?“

„Luc, Morwenna gegenüber hast du deine Pflicht erfüllt, das ist Vergangenheit. Du verdienst etwas Besseres, du verdienst eine Ehe, die dir Söhne und Töchter bringt. Du bist mein Freund, ich will, dass du glücklich bist.“

„Du – ein unverheirateter Mann – setzt die Ehe mit Glück gleich? Womit begründest du das?“

Raoul packte ihn bei der Schulter.

„Du hast für Morwenna getan, was du konntest. Mon Dieu, du hast mehr getan, als jeder andere getan hätte. Geh nach Troyes, und geh noch heute. Triff dich mit Madame Isobel, dann wirst du sehen, dass sie keine zweite Morwenna ist. Sie ist weit davon entfernt. Madame Isobel ist zu einer entzückenden jungen Frau herangewachsen.“

Lucien runzelte die Stirn.

„Woher weißt du das?“

„Ich bin ihr vergangenes Jahr in der Abtei in Conques begegnet. Noch bevor ihre Mutter gestorben ist. Sie waren dort zu Ehren von Sainte Foy, der heiligen Fides von Agen.“

„Das hast du nie erwähnt.“

„Wozu auch? Ich wusste, dass du Morwenna nie verlassen würdest.“

Luciens Gedanken wirbelten wild durcheinander. Ja, er brauchte Erben, und entgegen Raouls Befürchtungen war er sehr wohl bereit für eine zweite Ehe. Auch wenn er zugeben musste, dass er gehofft hatte, ihm bliebe noch mehr Zeit. Isobel würde gewiss eine Erklärung für die lange Dauer ihrer Verlobung haben wollen. Neun Jahre! Bislang war ihm noch keine taktvolle Begründung eingefallen. Wenn er ihr die Wahrheit erzählte, war es, als verriete er Morwenna.

„Mit Liebe wird das nichts zu tun haben“, sprach er seine Gedanken laut aus. Die Liebe hatte ihn schon einmal betrogen, das würde er nicht noch einmal zulassen. „Ich werde dieses Mädchen heiraten, weil mein Vater es so wollte. Ich werde mich an das Gelübde unserer Verlobung halten, und sie wird mir Erben schenken. Weiter wird es nicht gehen.“

„Ich nehme an, sie wird dich heute sehen wollen“, sagte Raoul und musterte seinen Freund.

„Heute? Gott, Morwenna ist kaum begraben.“

„Es ist nicht zu früh.“

„Ich habe Madame Isobel vernachlässigt. Ich habe sie belogen.“

„Mach das mit ihr aus. Du hast Charme, oder zumindest …“ Raoul grinste, „… hattest du einmal Charme.“

Die Hufschläge kamen näher, der Händlertrupp hatte das Tor erreicht. Er hörte eine Frau lachen. Offenbar hatte der Händler sein Weib dabei. Es klang hell und heiter.

„Danke, Pierre“, sagte die Frau. „Ich habe den Ritt sehr genossen. Er war sehr belebend, besonders nachdem Capitaine Simund uns gestern untersagt hat, schneller als im Schneckentempo zu reiten.“

Es folgte eine kleine Pause, dann murmelte eine Männerstimme, Pierre vermutlich: „Gerne geschehen, Madame.“

Madame? Das klang nicht nach einem Händler und seinem Anhang. Madame?

Erneut sprach die Frau.

„Das ist es? Ravenshold?“

„Ja, Madame, das ist Ravenshold.“

Ein Pferd schnaubte, ein Gebiss klirrte.

„Es scheint, deine Gastfreundschaft wird gleich auf die Probe gestellt.“

„Nicht, wenn ich es verhindern kann. Die Burg könnte keinem Bettler vorgezeigt werden.“

Raoul beugte sich über die Schießscharte und zuckte zusammen.

„Oh, Herr.“

„Was?“ Lucien lehnte sich über die nächste Schießscharte und reckte den Hals, um zu sehen, was Raoul sah. Da war kein Händler, nur eine junge Frau mit einer kleinen Eskorte. Vier bewaffnete Männer? Für eine junge Frau? Sie musste wichtig sein. Sie musterte die Ringmauer, als habe sie nie zuvor eine gesehen.

Das Mädchen hatte blondes Haar. Eine wahre Schönheit, gehüllt in ein weinrotes Kleid und einen ebensolchen Umhang. Ihren Schleier hatte sie für den Ritt fest um Kopf und Hals geschlungen, doch ein paar goldene Strähnen lugten darunter hervor und umrahmten ihr zartes Gesicht. Sie hatte rosige Wangen und Lippen rot wie Kirschen. Lucien erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf ihre Augen. Sie waren smaragdgrün und von dichten, dunklen Wimpern umrandet. Er wünschte, er hätte sie länger betrachten können.

Aber Raoul packte ihn am Gürtel und zog ihn von der Schießscharte fort. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

„Raoul, was zur Hölle …?“

„Wenn du nicht bereit bist, Besucher zu empfangen, solltest du dich ihnen auch nicht zeigen.“

Die Stimme der jungen Frau hallte wieder zu ihnen hinauf.

„Pierre, bitte frage den Wachmann am Torhaus, ob der Comte d’Aveyron zugegen ist.“

„Sehr wohl, Madame.“

Der Mann ritt los, und Lucien sah, als er sich aus Raouls Griff befreit hatte und sich wieder über die Zinnen lehnte, wie die junge Frau ihm gleich folgte. Sie ritt ihre schwarze arabische Stute so elegant und natürlich, dass es schien, als wäre sie im Sattel geboren.

„Ich habe die Wache angewiesen, keine Besucher einzulassen.“

„Sehr weise, angesichts der Umstände“, sagte Raoul und kämpfte wenig erfolgreich darum, sich ein Grinsen zu verkneifen.

„Was ist?“

Jetzt war es ihm gänzlich unmöglich, sein Grinsen zu verbergen.

„Nichts.“

„Raoul?“

Raouls Augen funkelten amüsiert, aber als er nicht antwortete, wandte sich Lucien wieder der Schießscharte zu. Das Mädchen und sein Gefolge waren bereits wieder auf der Straße Richtung Troyes, nachdem Luciens Wachmann sie vertröstet hatte.

„Dieses Mädchen ist außergewöhnlich reizvoll.“ Ihm schien, das lag vor allem an der unschuldigen Lebensfreude, die sie versprühte.

Raoul lachte so laut auf, dass er damit eine Taube von den Zinnen scheuchte.

„Findest du nicht?“, fragte Lucien stirnrunzelnd.

„Du hast sie nicht erkannt, Luc, oder? Du hast keine Ahnung.“

„Was redest du da?“

„Das reizvolle Mädchen ist nicht irgendein Mädchen. Oder vielmehr irgendeine Dame.“

„Dann kennst du sie, Raoul?“

„Natürlich. Und du ebenfalls.“

Lucien befürchtete, dass ihm nicht gefallen würde, was er gleich hörte.

„Luc, sie ist dein. Das ist Madame Isobel de Turenne. Deine Verlobte. Als ich sie getroffen habe, habe ich bereits vermutet, dass sie sehr … direkt ist.“

Luc sah durch die Scharte und glaubte in der kleinen Staubwolke am Horizont, wo die Straße hinter den Weinfeldern im Wald verschwand, noch einen Hauch von Burgunderrot gesehen zu haben.

„Isobel“, murmelte er atemlos. „Verdammt. Was hast du noch gesagt, wo sie logiert?“

„In der Abtei von Notre-Dame-aux-Nonnains.“ Raoul schmunzelte. „Deine Verlobte scheint dich sehnlichst treffen zu wollen.“ Er schob Lucien mit dem Ellbogen zur Seite, um noch einen Blick auf die Straße zu werfen, aber der kleine Konvoi war bereits vom Wald verschluckt worden. „Vergiss deine Schuldgefühle“, meinte er dann ernsthaft. „Du kannst sie ehrenvoll für dich beanspruchen. Sie hat lange gewartet.“

Lucien rieb sich den Nacken.

„Ich gestehe, ich bin wirklich überrascht, sie so früh zu sehen.“

„Ich habe schon geahnt, dass ihr Vater sie ohne zu zögern fortschicken würde, sobald dein Brief ihn erreicht hat. Er konnte es wohl kaum erwarten, sie loszuwerden.“

Lucien spürte, wie eine kalte Hand nach ihm packte.

„Was stimmt nicht mit ihr?“ Herr, bitte sag nicht, dass ich wieder so eine Plage zur Frau bekomme … eine zweite Morwenna.

„Wärst du mit Turenne in Kontakt geblieben, wüsstest du, weshalb Madame Isobel dort unerwünscht ist. Vicomte Gautier hat wieder geheiratet. Seine neue Madame ist gewiss ganz versessen darauf, Turenne für sich allein zu haben.“

„Verstehe.“

„Armes Ding. Von ihrer Stiefmutter hinausgeworfen.“ Raoul schnalzte mit der Zunge. „Und dann kommst du und schickst sie fort, weil Ravenshold ein wenig heruntergekommen ist.“

„Ein wenig heruntergekommen?“, sagte Lucien verärgert. Er hasste es, in die Enge getrieben zu werden, und mit ihrer verfrühten Anreise hatte sie genau das getan.

„Dann verstehe ich dich richtig, dass du heute Nachmittag nach Troyes reiten wirst?“

„Ja, verflucht seist du, das werde ich.“

Comte Lucien d’Aveyron machte auf dem Absatz kehrt, lief über den Wehrgang und hinunter in den Hof. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Raoul grinste.

2. KAPITEL

Es ist ungerecht, dass sie dich auch bestrafen“, flüsterte Madame Isobel de Turenne ihrer Gefährtin Elise zu. „Du hast Troyes ja nicht unerlaubt verlassen.“

Isobel und Elise saßen in einem sonnenbeschienenen Winkel des Kreuzgangs der Abtei Notre-Dame-aux-Nonnains und besserten eine blaue Altardecke für den Advent aus. Es war eine komplizierte Stickerei, mit dutzenden Knoten und Schlaufen. Die Äbtissin hatte sie Isobel gegeben, damit sie für ihr eigensinniges Benehmen Buße tue. Isobel entging nicht, dass das Altartuch in dem gleichen Blau gefärbt war wie Comte Luciens Wappen. Ob das beabsichtigt war?

„Ihr hättet meine Erlaubnis einholen müssen“, hatte Äbtissin Ursula bei Madame Isobels Rückkehr in die Abtei gesagt. „Und was das Verlassen der Stadt selbst anbelangt … nun! Ihr müsst besser auf Euch achtgeben. Es hätte so vieles passieren können. Der Winterjahrmarkt steht vor der Tür, in der Champagne wimmelt es nur so vor Bettlern und Dieben.“

Natürlich hatte Isobel der Äbtissin versichert, dass ihre Eskorte sie durchaus beschützen konnte, und dass keinerlei Diebe und Bettler in Sicht gewesen waren. Und insgeheim verstand sie ohnehin nicht, weshalb es eine so große Sünde gewesen sein sollte, hinaus nach Ravenshold zu reiten, war doch Comte Luciens Einladung der Grund, weshalb sie überhaupt nach Troyes gekommen war.

Sie wollte ihn treffen. Sie wollte Ravenshold sehen. Äbtissin Ursula hingegen war der Meinung, es wäre anständiger zu warten, bis der Comte selbst kam, um sie zu holen. Die Äbtissin leitete das zur Abtei gehörende Pensionat für junge Damen, und ihre Mündel zur Disziplin zu erziehen war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Da Isobels Verhalten so gar nicht dem einer Dame entsprochen hatte, musste sie nun Buße tun.

Isobel und Elise nähten schon seit Stunden. Es war ihr ein Rätsel, weshalb sich die arme Elise, die kurz nach Isobels Ankunft Zuflucht in der Abtei gesucht hatte, ihrer Buße anschließen musste, aber da sich ihre Zofe Girande auf der Reise nach Troyes ein Leiden zugezogen hatte und seither im Krankenhaus lag, war Isobel dankbar für Elises Gesellschaft.

„Es tut mir leid, Elise“, sagte sie. „Ich wünschte, du müsstest nicht die Nadel schwingen, um für meine Sünden zu büßen.“

„Mir macht das Nähen Freude, Madame. Es ist so friedvoll.“

Darauf wusste Isobel keine Antwort. Elise mochte es friedvoll finden, Isobels Finger dagegen waren nach den vielen Stunden des Stickens schon ganz verkrampft. Und sie hasste das Stillsitzen.

Die Äbtissin hatte sie angewiesen, während der Arbeit über ihre zukünftigen Pflichten als Comte Luciens Gemahlin nachzudenken. Stattdessen ertappte Isobel sich dabei, wie sie über den Charakter ihres Verlobten sinnierte und über die Frage, weshalb er so viele Jahre gebraucht hatte, um nach ihr zu schicken. Neun Jahre. Ich habe neun Jahre auf diesen Mann gewartet. Aus welchem Grund? Fand er mich so abstoßend? Sie hatten damals kaum ein Wort miteinander gewechselt, also war es äußerst unwahrscheinlich, dass sie ihm Grund gegeben hatte, sie abstoßend zu finden, aber obgleich Isobel sich das immer wieder sagte, blieb das unsichere Gefühl.

Die Wache hat Comte Lucien verleugnet, aber ich habe doch jemanden oben auf dem Wehrgang gesehen. Natürlich hätte das auch ein weiterer Wachmann sein können, aber Comte Lucien ist gewiss hier in der Champagne. Wann wird er mich nur endlich aufsuchen?

Die Zweifel breiteten sich immer weiter in ihr aus. Hat er denn kein Gespür dafür, was es bedeutet, mit einem Mann verlobt zu sein, der einen derart meidet? Oder hat er davon gehört, dass Mutter keinen Sohn gebären konnte? Lehnt er mich ab, weil ich ihm vielleicht keinen Erben schenken kann?

„Konntet Ihr den Comte d’Aveyron sehen, Madame?“, fragte Elise leise.

Das Sonnenlicht spiegelte sich auf der Nadel, als Isobel eben einen silbernen Faden durch den Stoff zog.

„Nein, ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.“

„Ihr wurdet als Kinder verlobt?“

„Als ich elf Jahre alt war.“

Elise hatte den Kopf über das Altartuch gebeugt.

„Wart Ihr erfreut, von einem so großartigen Turnierkämpfer gewählt zu werden?“

„Unsere Väter haben die Verlobung arrangiert. Damals war Comte Lucien noch kein siegreicher Ritter – das kam erst später.“ Isobel seufzte und bewegte ihre Finger, um den Krampf etwas zu lösen. „Aber ja, ich war erfreut. Damals.“

Sie äußerte sich nur ungern zu ihren Gefühlen für Lucien Vernon, Comte d’Aveyron. Kurz nach ihrer Verlobung hatte man sie in die Klosterschule von St. Foy gesteckt, um zu lernen, was die Gemahlin eines Comte können musste, und im Laufe der Jahre hatte sie gewisse Gefühle für ihn entwickelt. Isobel lebte in einer Zeit, in der Mädchen früh verheiratet wurden, und obwohl es Aspekte der Ehe gab, über die sie sich nicht ganz im Klaren war, wollte sie trotzdem, dass diese Hochzeit stattfand.

„Meine Freundin Madame Jenna de Maurs hat mit zwölf geheiratet“, murmelte Isobel.

„Madame?“

„Kurz darauf hat sie St. Foy verlassen. Eine andere Freundin, Madame Nicola, wurde mit dreizehn verheiratet. Die Ehen wurden erst später vollzogen, aber sie waren verheiratet. Sie hatten ihren gesellschaftlichen Stand. Helena und Constance haben das Kloster mit fünfzehn verlassen, Anna mit sechzehn …“

„Comte Lucien hat Euch warten lassen.“

Isobel heftete den Blick auf die geriffelten Säulen, zwischen denen hindurch das Sonnenlicht auf die Steine fiel.

„Ich bin zwanzig, Elise. Es war beschämend, das älteste Mädchen in St. Foy zu sein, das nicht für den Dienst an der Kirche bestimmt war.“

Isobel verfiel in Schweigen. Sie fühlte weit mehr als Scham, sie fühlte sich vergessen. Ungewollt. Ungeliebt. Was stimmt nicht mit mir? Weshalb hat er mich nicht früher zu sich gerufen?

Jemand räusperte sich.

„Verzeihung. Madame Isobel?“

Schwester Christine hatte den Kreuzgang betreten und war an den Säulen stehen geblieben.

„Schwester?“

„Ihr habt Besuch. Er erwartet Euch an der Pförtnerloge.“

Ein Besucher? Er? Isobel spürte Elises Blick auf sich.

„Wer? Wer ist es?“, fragte sie, auch wenn sie die Antwort längst kannte.

„Comte Lucien d’Aveyron, Madame. Euer Verlobter.“

Plötzlich wurde ihr Mund ganz trocken. Endlich! Zu ihrer Überraschung waren ihre Hände vollkommen ruhig, als sie Elise das Ende des Tuches reichte. Lebhafte blaue Augen tauchten in ihren Gedanken auf. Nie hatte sie diese Augen vergessen.

Sie räusperte sich.

„Elise, würdest du mich begleiten?“

Elise zögerte.

„Schwester Christine wird bei Euch sein. Braucht Ihr mich denn auch?“

„Ich würde deine Unterstützung sehr begrüßen.“

„Dann werde ich sie Euch nicht verweigern.“ Vorsichtig faltete Elise das Altartuch und legte es sorgsam in den Nähkorb.

„Einen Augenblick, Schwester“, sagte Isobel und blieb kurz stehen. Während sie ihren Schleier zurechtrückte, spähte sie durch den Wanddurchbruch in Form eines Vierpasses, der ihr den Blick in die Pförtnerloge erlaubte.

Lucien Vernon, Comte d’Aveyron, stolzierte die lange Seite der Loge auf und ab, seine Stiefel hallten laut auf dem gepflasterten Boden. Durch die hohen, schmalen Fenster fiel das Licht genau auf ihn und ließ eine hohe Gestalt und Haar so schwarz wie Pech erkennen. Ein Blick genügte, um seine Ungeduld förmlich spüren zu können. Er war ganz offensichtlich ein Mann, der es nicht gewohnt war, auf irgendjemanden warten zu müssen.

Isobel sah markante, ebenmäßige Gesichtszüge; auch die zackige Narbe an seiner linken Schläfe blieb ihr nicht verborgen. Gewiss stammte sie von einem seiner Turnierkämpfe, denn am Tage ihrer Verlobung war dort keine Narbe gewesen. Seltsamerweise schadete es seinem Äußeren kein bisschen, ganz im Gegenteil. Er war ein kraftvoller, ansehnlicher Mann.

„Madame Isobel.“ Schwester Christine drängte sie in die Loge, und noch eh sie sich versah, stand sie direkt vor ihm. Comte Lucien d’Aveyron, Sieger zahlloser Turniere. Ihr Verlobter.

Sie sank in einen Knicks.

„Comte d’Aveyron.“

Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr, griff entschlossen nach ihrer Hand und küsste ihren Handrücken. Isobel erschauerte. Endlich. Comte Lucien mochte es nicht gewohnt sein zu warten, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie selbst warten zu lassen. Neun lange Jahre.

„Meine Wache hat mir gesagt, dass Ihr heute Morgen zu Pferde nach Ravenshold gekommen seid“, begann er. „Ich muss mich entschuldigen, dass man Euch weggeschickt hat, aber ich habe Euch nicht vor Advent erwartet.“

Sein tadelnder Tonfall ließ sie erröten.

„Als mein Vater Euren Brief erhalten hat, war er sehr bestrebt, mich ohne Verzögerung abreisen zu lassen.“

Er musterte sie aus seinen blauen Augen.

„Ich hoffe, Eure Reise war nicht zu anstrengend. Habt Ihr Euch gut erholt?“

„Ja, danke, Sieur. Ich reite gerne.“ War Comte Lucien immer schon so groß gewesen? Im ersten Moment war er ihr vollkommen fremd. Er wirkte nicht wie der Mann, mit dem sie vor so langer Zeit verlobt worden war. Doch dann trafen sich ihre Blicke, und sie wusste, dass er es war. Nie hatte sie vergessen, wie unsagbar blau seine Augen waren, wie der Himmel an einem warmen Sommertag. Eine Farbe, wie man sie bei seinen sonst so dunklen Zügen kaum erwartet hätte. Unvergesslich. An die Wärme, die in ihnen lag, hatte sie sich nicht mehr erinnern können, aber als sie sie nun wieder darin fand, ermutigte es sie zu sagen: „Es ist lange her.“

„Zu lange. Das weiß ich, und ich bitte um Vergebung. Aber ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen.“ Er führte sie ins Licht, hielt sie aber etwas auf Abstand, während er sie forschend betrachtete. „Ich wäre schon früher gekommen, aber …“

„Ihr hattet viel mit Euren Ländereien und den Turnieren zu tun.“ Isabel reckte das Kinn und spürte, wie sie errötete, während er sie von oben bis unten musterte – Haare, Lippen, Brüste … Seit Jahren schon war er ihr Verlobter, und dennoch machte er sie nervös – verunsicherte sie, auf eine ihr unbegreifliche Art. Weshalb wurde sie unter seinem Blick nur so verlegen? Sie wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen. Was ging in seinem Kopf vor?

Und weshalb lungerte Elise da im Schatten des Korridors herum, obwohl sie ihr zu verstehen gegeben hatte, dass sie eine gewisse Unterstützung gebrauchen könnte?

„Ihr seid zu einer bemerkenswert schönen Frau herangewachsen“, sagte Lucien sanft. „Ich bereue zutiefst, dass meine Pflichten uns so lange voneinander getrennt haben.“

Isobel sah ihn geradeheraus an. Es war eine große Erleichterung gewesen, als Comte d’Aveyrons Einladung sie endlich erreicht hatte, und sie wollte ihn wissen lassen, dass es keine Freude gewesen war, so lange warten zu müssen.

„Pflichten, Sieur?“ Sie war sich Christines Anwesenheit im Korridor bewusst und senkte die Stimme. „Es waren neun Jahre. Sieur. Ich weiß, Ihr seid ein herausragender Turnierkämpfer, aber müsst Ihr wirklich an jedem Turnier im Königreich teilnehmen?“

Er verzog das Gesicht, kaum merklich und nur für einen winzigen Augenblick.

„Ich bitte tausendfach um Vergebung, Madame. Da König Henry und König Louis derartige Wettkämpfe missbilligen, muss man manches Mal sehr weit reisen, um die besten zu finden.“ Er zuckte leicht die Schultern. „Das Preisgeld ist nicht zu verachten.“

Isobel sah ihn zweifelnd an. Lucien Vernon besaß so viel Land, dass er sich wohl kaum um seine Einkünfte sorgen musste. Er hatte Ländereien in der Champagne, der Normandie und der Auvergne – das waren doch gewiss genug Reichtümer? Irgendetwas daran war seltsam. War er wirklich so ehrgeizig – so gierig –, dass er jeden Preis in der weiten Christenheit gewinnen musste? Und wenn dem so war, weshalb hatte er sie dann nicht früher geehelicht? Schließlich war sie eine Erbin.

Später. Das werde ich später herausfinden. Solange Schwester Christine uns an den Lippen hängt, kann ich ihm keine enthüllenden Fragen stellen.

Comte Lucien lächelte und traf sie damit bis ins Mark. Jetzt sah sie auch, dass seine Augen gar nicht von reinem Blau waren. Sie hatten schwarze und graue Flecken, und sein Blick war unglaublich intensiv. Verstörend. So hatte sie ihn gar nicht in Erinnerung.

Aber sie hatte sich gegen ihn gewappnet. Es war zu schmerzhaft, in diese von dichten Wimpern umrahmten Augen zu sehen und sich daran zu erinnern, dass er sie so lange verschmäht hatte. Auch wenn die Verlobung von ihren Vätern arrangiert worden war, hatte sie sich vom ersten Tag an zu Lucien hingezogen gefühlt. Als sich dann herausstellte, dass sich ihre Vermählung immer weiter hinauszögern würde, und sie begriff, dass er nicht das Gleiche fühlte wie sie, hatte sie beschlossen, ihre Zuneigung zu ihm zu verbergen, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete. Eine Zuneigung, die sie trotz all der Jahre immer noch verspürte.

Schon damals hatte er einen Hauch von Ruchlosigkeit an sich gehabt, und nun war es noch viel stärker. Sie konnte es in seiner Berührung spüren – daran, wie ein Lächeln, ein Blick ausreichte, ihre Selbstbeherrschung zu schwächen. Die Nonnen hatten nie erwähnt, dass Männer solch eine Macht besaßen. Es war … verunsichernd, auf eine sehr aufregende Art, die sie innerlich erbeben ließ.

Eine solche Macht war gefährlich. Einer solchen Macht musste man widerstehen. Besonders, wenn sie dem Mann zu eigen war, der sie so sehr beschämt hatte. Jahrelang hat er mich ignoriert! Er wird keine Macht über mich haben.

Comte Lucien Vernon war ihr Verlobter, so viel war gewiss, und sie hatte nie vorgehabt, dieser Ehe zu entkommen, aber wenn sie den Respekt vor sich selbst bewahren wollte, musste sie ihr Herz schützen. Bald schon würde dieser Mann ihren Körper einfordern. Das war das Recht eines Ehemannes, und sie war realistisch genug zu wissen, dass sie ihn, selbst wenn sie wollte, nicht davon abhalten konnte. Ihre Seele aber würde er nie berühren.

Neun Jahre hat er mir keinerlei Beachtung geschenkt …

„Madame, wie Euch zweifellos bewusst ist, habe ich nach Euch gerufen, weil es Zeit für unsere Vermählung ist. Sie wird schon bald stattfinden.“ Sanft drückte er ihre Finger, und wieder breitete sich diese Wärme in ihr aus.

Hinter ihnen kam plötzlich Bewegung auf. Äbtissin Ursula war in die Loge gekommen – der Rubin in der Mitte ihres silbernen Kreuzes flammte glutrot. Elise hatte sich an ihre Fersen geheftet und huschte im Schutze ihres Schattens unauffällig hinter ihr her.

„Comte Lucien. Ich nehme an, Ihr seid gekommen, um Eure Vermählung zu arrangieren. Habt Ihr einen besonderen Tag im Sinn? Es wäre wohl günstig, bis nach der Jahreswende zu warten?“

„Nach der Jahreswende? Aber nein. Da Madame Isobel nun hier ist, sehe ich keinen Grund, noch länger zu warten.“

Die Äbtissin sah ihn verwundert an.

„Comte Lucien, der Advent steht vor der Tür. Sicher ist Euch bekannt, dass während der Adventszeit keine Hochzeiten stattfinden können, und vorher bleibt nicht viel Zeit. Mir ist bewusst, dass Madame Isobel die Einschränkungen hier nicht sehr schätzt, aber ihre frühe Ankunft hat alles etwas durcheinandergebracht und …“

„Ja, das alles ist mir bekannt“, entgegnete der Comte trocken. „Und ich gedenke mich so schnell wie möglich selbst um Madame Isobel zu kümmern. Unsere Vermählung wird noch vor der Adventszeit stattfinden.“ Er wandte sich Isobel zu. „Wollt Ihr den Tag aussuchen, Madame?“

Isobel dachte schnell nach.

„Ich würde gerne am Tag vor Allerheiligen heiraten.“

„Der Tag vor Allerheiligen“, wiederholte er nachdenklich. „Ich habe am nächsten Tag einen Wettkampf, aber das ist wohl machbar.“

Äbtissin Ursula runzelte die Stirn.

„Aber mein Herr, das lässt uns kaum Zeit für die Vorbereitungen.“

„Ich denke, der Bischof wird uns gefällig sein. Und sollte es Schwierigkeiten geben, bin ich sicher, Ihr, als eine Cousine König Louis’, könnt Euren Einfluss geltend machen.“

Isobels Gedanken rasten. Sie war wie in einem Schockzustand. Die ganze Zeit über hatte er nicht das geringste Interesse an ihr gezeigt, sodass sie sich schon mit seiner Ablehnung abgefunden hatte. Aber jetzt schien er wirklich gewillt, sie zu heiraten. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, er hätte nicht so deutlich gemacht, dass er die Vermählung noch vor eines seiner, ach, so wichtigen Turniere quetschte …

Die Äbtissin seufzte.

„Das ist nicht der beste Tag für eine Eheschließung, mein Herr. Vielleicht wisst Ihr es nicht, aber in manchen Teilen des Landes wird er auch die Nacht der Hexen genannt.“

„Tatsächlich?“, erwiderte Comte Lucien steif.

Vielleicht war es reines Wunschdenken, aber es schien, als würde ihm Äbtissin Ursulas Ablehnung von Isobels Vorschlag missfallen. Stellt er sich für mich gegen sie? Ist er doch mein Ritter? Das war ein ganz neues Gefühl, und Isobel spürte, wie es etwas in ihr erweichte.

Du Närrin, haben dich all die Jahre nichts gelehrt? Du bedeutest ihm gar nichts.

„Ehrwürdige Mutter, sind Vermählungen am Tag vor Allerheiligen nicht gestattet?“, fragte er.

Die Äbtissin schüttelte den Kopf.

„Doch, Sieur, aber …“

„Dann wird sie an diesem Tag stattfinden.“

Die Äbtissin nickte knapp.

„Wie Ihr wünscht, Sieur.“

„Ihr wisst, dass Euer Vater die Nachricht nicht mehr rechtzeitig erhalten wird?“, fragte er an Isobel gewandt. „Vicomte Gautier wird bei der Hochzeit nicht anwesend sein.“

„Darauf bin ich bereits vorbereitet“, entgegnete sie. „Es ist schon seit einer Weile gewiss, dass er an der Zeremonie nicht teilnehmen wird.“

„Ach?“

„Seine Gesundheit lässt es nicht zu.“

In Luciens blauen Augen lag tiefstes Mitgefühl, als er Isobel ansah.

„Mit Bedauern habe ich vergangenen Sommer vom Tod Eurer Mutter gehört. Ich wusste nicht, dass es um Euren Vater ebenfalls nicht gut steht.“

Isobel nickte. Sie wandte den Blick ab, hin zu dem Fenster hinter ihr, das in einem Nebel aus Tränen verschwamm. Ihre Wunden waren noch zu frisch, um über den Tod ihrer geliebten Mutter zu sprechen.

„Vater hat wieder geheiratet. Das hat er in seinen Briefen an Euch sicher erwähnt.“

„Ja, das hat er getan.“

Für Isobel fühlte es sich an, als habe ihr Vater ihre Mutter betrogen, weil er so früh eine zweite Ehe einging, aber darüber sagte sie nichts; die Worte blieben ihr förmlich im Halse stecken.

Zudem ärgerte es sie zutiefst, dass Comte Lucien nach all den Ausflüchten jetzt nur mit den Fingern hatte schnipsen müssen, und schon hatte sie herbeieilen müssen. Ihre Stiefmutter, Madame Angelina, war von seiner Einladung ganz entzückt gewesen und hatte keine Zeit verschwendet, Isobel fortzuschicken. Dabei hätte sie auch bis zur Hochzeit in St. Foy bleiben können, aber ganz offenbar war das für Madame Angelinas Wohlbefinden immer noch zu nah bei Turenne. Und trotz allem war es ihr, als würde sie ihren Vater hintergehen, wenn sie sich beschwerte, weil man sich ihrer so einfach entledigte.

Wenn er doch nur nach St. Foy gekommen wäre, um ihr Lebewohl zu sagen. So weit war Conques von Turenne nicht entfernt. Isobel wusste, dass sein Gesundheitszustand ihn wohl davon abgehalten hatte, aber sie hatte sich wenigstens eine persönliche Nachricht erhofft, in der er ihr eine gute Reise wünschte. Stattdessen hatte er Comte Luciens Einladungsschreiben einfach an Mutter Edina gesandt. Mutter Edina ihrerseits hatte es ordnungsgemäß an Isobel weitergeleitet, mit der Nachricht, dass ihre Eskorte bereits draußen warte und sie bitte unverzüglich ihre Sachen packen solle.

Isobel räusperte sich.

„Sieur, trotz seiner zweiten Vermählung ist mein Vater in keiner guten Verfassung. Er wird in Turenne bleiben.“

„Ich hoffe, er erholt sich bald“, sagte der Comte.

Er sah so finster drein, dass Isobel ein ungutes Gefühl beschlich. Wenn ihr Vater und Angelina einen Sohn bekämen, was trotz seines Zustandes durchaus möglich war, wäre sie nicht länger seine Erbin. Ob Comte Lucien bereits bereute, die Hochzeit mit einer Frau arrangiert zu haben, die vielleicht niemals eine Erbschaft machen würde?

Ich wünschte, Comte Lucien würde mich um meinetwillen heiraten. Er darf mich nicht zurückweisen, bloß weil ich vielleicht keine gute Partie bin.

Wie erniedrigend dieses Gefühl war.

„Comte Lucien, auf ein Wort, wenn ich bitten darf.“ Die Äbtissin bedeutete ihm, ihr unter eines der Fenster zu folgen. „Ich muss leider anmerken“, begann sie mit vertraulich gesenkter Stimme, „dass Madame Isobel ein wenig mehr … Disziplin benötigt. Ich fürchte, ihr Vater hat ihr in Turenne zu viel Freiraum gelassen.“

Comte Lucien hob das Kinn.

„Madame Isobel hat die meiste Zeit im Kloster St. Foy gelebt. Ich wage zu behaupten, dass viel mehr als ihr Vater die guten Nonnen dort für ihre Erziehung verantwortlich sind. Sie wird Eure Gastfreundschaft nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Ich werde Vorkehrungen treffen, damit sie in Comte Henris Palast logieren kann.“

„Madame Isobels Zofe ist krank, Sieur. Sie wird hierbleiben müssen, bis sich das Mädchen erholt hat.“

Ehe sie sich versah, war Isobel vorgetreten.

„Ich bin durchaus in der Lage, meine Habseligkeiten selbst zu packen, Ehrwürdige Mutter.“

„Und ich wäre erfreut, ihr dabei zu helfen“, sagte Elise plötzlich aus dem dämmrigen Hintergrund, in dem sie noch immer stand.

Die Äbtissin hob eine Braue.

„Na schön. Ich nehme an, ich hätte nichts anderes erwarten dürfen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Madame Isobel, seit Eurer Ankunft habt Ihr wenig Anstand gezeigt.“ Sie stieß einen Seufzer aus und sah stirnrunzelnd zu Comte Lucien. „Eure Verlobte braucht eine strenge Hand, Sieur. Heute Morgen erst hat sie ohne Erlaubnis das Kloster verlassen. Es schmerzt mich, Euch sagen zu müssen, dass sie durch das Land gestreift ist wie die Tochter eines wandernden Krämers.“

Lucien sah, wie Isobel errötete, dabei aber stur auf ein Kreuz an der Wand starrte. Sie kam, um mich zu sehen. Sie mochte einen Monat verfrüht in Troyes angekommen sein, doch das gab Äbtissin Ursula nicht das Recht, sie zu schikanieren.

„Madame Isobel ist nach Ravenshold geritten“, sagte er. „Unglücklicherweise hatte ich meine Männer angewiesen, niemanden einzulassen, sodass man sie wieder fortgeschickt hat.“

„Wie dem auch sei, Madame Isobel hätte die Abtei nicht ohne mein Einverständnis verlassen dürfen.“

Isobel trat noch einen Schritt vor.

„Meine Eskorte hat mich begleitet.“ Mit ihren großen grünen Augen sah sie Lucien an. „Die Soldaten meines Vaters haben mich auch von Turenne hierherbegleitet. Sie sind mir nicht einen Augenblick von der Seite gewichen.“

Äbtissin Ursula schnalzte mit der Zunge.

„Madame Isobel hätte nicht ohne Erlaubnis gehen dürfen. Solch Ungehorsam! Solche Widerspenstigkeit! Es tut mir sehr leid, Euch dies sagen zu müssen, Comte d’Aveyron, aber Ihr seht, Madame Isobel braucht eine sehr strenge Hand.“

„Ich bin sicher, Ihr übertreibt.“ Bislang war Comte Lucien überraschend zufrieden mit seiner Verlobten. So sehr sogar, dass er schon hoffte, das Glück sei wieder auf seiner Seite. So schien es zumindest.

Isobel war hübsch, nein, hübsch war gar kein Ausdruck für diese goldene Schönheit. Sie war wunderschön. Und sie hatte etwas so Sittsames an sich – die zierliche Gestalt, das schlichte Gewand –, das die Warnungen der Äbtissin Lügen strafte. Isobel schien genau die Art anständige, fügsame Frau zu sein, die er sich wünschte. Eine Dame. Eine, die – im Gegensatz zu Morwenna – geboren war, um ihren Pflichten nachzukommen und gehorsam zu sein. Isobel de Turenne würde ihm Kinder gebären und sie umsorgen. Und Lucien hätte weiterhin die Freiheit, sein Leben und seine Ländereien zu führen, wie er es immer getan hatte. Man musste sie nur einmal ansehen. Das unter ihrem Schleier verborgene goldene Haar schien weicher zu sein als das der Königin Guinevere. Und waren diese kirschroten Lippen ebenso süß, wie sie aussahen?

„Ich übertreibe nicht, das versichere ich Euch“, sagte die Äbtissin. „Ihr werdet erfreut sein zu hören, dass ich diesem Verhalten ein Ende bereitet habe. Ich habe ihre Eskorte fortgeschickt.“

Lucien wurde ganz ruhig. Isobel war kein Kind mehr, und bald schon würde sie sein Eheweib. Es war eine Sache, sie zur Ordnung zu rufen, solange sie in der Obhut der Äbtissin war, aber Vicomte Gautiers Eskorte fortzuschicken war unglaublich.

„Ihr habt was getan?“

„Ich habe sie zum Schloss Troyes geschickt.“

„Dazu habt Ihr kein Recht, Ehrwürdige Mutter“, sagte Lucien leise. „Vicomte Gautier hat Madame Isobel diese Eskorte mitgegeben, um für ihre Sicherheit zu sorgen.“

„Meine Abtei ist ein Haus Gottes, keine Kaserne!“

„Und trotzdem hättet Ihr sie nicht fortschicken dürfen. Ich bin mir sicher, wenn Vicomte Gautier seinen Männern das Vertrauen schenkt, seine Tochter sicher von Turenne hierher zu geleiten, sind sie auch kompetent genug, Madame Isobel zu schützen, während sie die Champagne erkundet.“

Verdrießlich sah Äbtissin Ursula seine Verlobte an.

„Wie Ihr wollt, Sieur. Da Madame Isobel etwas zu lebhaft für meine Abtei zu sein scheint, werde ich es nicht bedauern, wenn Ihr sie mir vom Halse schafft. Es wäre nicht gut, wenn sie meine anderen Mädchen in Aufruhr bringt.“ Mit wogendem Busen rauschte sie Richtung Tür. „Comte Lucien, sagt nicht, ich hätte Euch bezüglich ihrer Widerspenstigkeit nicht gewarnt. Ich wünsche Euch viel Freude. Kommt, Schwester, ich möchte Euren Vorschlag für den Stand auf dem Winterjahrmarkt besprechen.“

„Was für ein Drache“, murmelte Lucien, während er ihr nachsah.

Isobel war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

„Sieur?“

„In etwas über einer Woche werden wir vermählt sein. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mich Lucien nennt. Und ich würde gerne Isobel zu Euch sagen dürfen, wenn das für Euch akzeptabel ist.“

„Ich … ja, gewiss“, sagte Isobel, ein wenig verwirrt, dass ihr dieses Privileg zuteilwurde, nachdem er sie anscheinend jahrelang vergessen hatte. Vielen Ehefrauen wurde nie die Erlaubnis erteilt, diese Förmlichkeiten zu umgehen. Jahrelang ignoriert er mich, und jetzt darf ich ihn Lucien nennen? Das ergab keinen Sinn.

Er wandte sich Elise zu, die vor Schüchternheit förmlich erstarrt schien und es nicht wagte, ihn anzusehen.

„Wer ist das?“

„Eine Freundin. Sie… Lucien, das ist Elise … Elise, das ist mein Verlobter, Comte Lucien d’Aveyron.“

Den Kopf weiterhin gesenkt, machte sie einen Knicks.

„Guten Tag, Comte d’Aveyron.“

„Guten Tag, Elise.“ Der Comte – Lucien – warf einen Blick durch die Tür, dann sah er wieder zu Isobel. „Ist Eure Zofe sehr krank?“

„Ich glaube nicht, dass es ernst ist, aber man hat sie ins Krankenhaus gebracht.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, sie hat etwas Falsches gegessen. Es ging ihr sehr schlecht.“

„Kann sie reisen? Wenn nicht, werden wir jemanden schicken, um sie zu holen, sobald es ihr besser geht.“

Isobel wurde ganz warm ums Herz.

„Dann werde ich die Abtei schon vor unserer Vermählung verlassen?“

„Wenn Ihr zustimmt, wüsste ich keinen Grund, weshalb Ihr nicht abreisen solltet. Aber Ravenshold ist … noch nicht bereit für Eure Ankunft. Ich habe Comte Henri gebeten, Euch solange als Gast in seinem Palast hier in der Stadt aufzunehmen. Ich erwarte noch seine Antwort.“

Ein aufgeregtes Kribbeln erfüllte Isobel, und sie musste lächeln, obwohl sie Lucien ihre Freude darüber, dass er endlich gekommen war, sie zu begrüßen, nicht hatte zeigen wollen. Sie hatte gelassen sein wollen, doch sein Angebot, sie vielleicht noch heute aus der Abtei zu holen, hatte sie vollkommen überrascht.

Heute! Mein ganzes Leben wurde ich von einem Kloster ins andere geschafft, und heute ….

Freiheit!

Ich muss mich beruhigen. Er darf nicht sehen, wie sehr ich diesen Tag herbeigesehnt habe. Vor den Kopf stoßen darf ich ihn aber auch nicht. Ich muss versuchen, ihm zu gefallen.

Mit einem Mal verflüchtigte sich ihre gute Laune. Weil sie wieder an ihre Mutter denken musste und daran, dass sie im Kindbett gestorben war. Wenn mich nicht das gleiche Schicksal wie meine Mutter ereilen soll, wie soll ich ihn in meinem Bett empfangen?

Noch eine Erinnerung kam ihr in den Sinn, die an ihre Freundin Madame Anna. Kaum einen Monat, nachdem eine vor Glück strahlende Anna St. Foy verlassen hatte, um zu heiraten, war sie Hals über Kopf schon wieder zurückgekommen. Ganz blass und dünn war sie geworden. Sie hatte Isobel zur Seite genommen und ihr von den Schrecken – ja, Schrecken hatte sie es genannt – des Ehebettes erzählt. Kurz darauf war ihr Gemahl gekommen, um sie zurückzuholen. Isobel hatte nie wieder etwas von ihr gehört, bis man ihr ein Jahr später sagte, dass Anna gestorben war. Im Kindbett, wie ihre Mutter.

Ich werde ihm niemals einen Erben schenken können. Mutter hat wieder und wieder versucht, meinem Vater einen Sohn zu gebären und ist dabei gestorben. Wird es mir ebenso ergehen?

„Ich werde mich erkundigen, wie schnell sich alles arrangieren lässt.“ Dann schenkte er Elise ein charmantes Lächeln. „Wenn Eure Freundin einwilligt, Euch zu begleiten, wird auch der Anstand gewahrt. Nicht einmal die Äbtissin könnte an diesen Vorkehrungen etwas auszusetzen haben. Nun, Isobel, was sagt Ihr?“

Isobel wollte eben antworten, als eine Schwester in die Loge eilte.

„Wo ist die Äbtissin?“, keuchte sie, blass vor Schreck.

„Sie spricht mit einer der Schwestern“, antwortete Lucien. „Warum?“

„Die Reliquie!“ Die Novizin zitterte am ganzen Leib. „Madame, die Reliquie wurde gestohlen!“

Isobel erstarrte.

„Wie bitte?“ Als sie aus dem Kloster in Conques gekommen war, hatte man ihr eine Reliquie mitgegeben – ein Stück Stoff, das vom Gewand der heiligen Fides stammen sollte. Es wurde von den Nonnen im Süden gut gehütet, und es war eine große Ehre, dass man es ihr anvertraut hatte.

„Der Altar in der Marienkapelle ist zerstört worden und …“ Die Novizin knickste flüchtig. „Verzeiht, Madame, ich muss die Äbtissin finden.“ Womit sie ebenso schnell verschwand, wie sie erschienen war.

Fragend sah Lucien Isobel an.

„Reliquie?“

„Ein Stück vom Gewand der heiligen Fides.“

„Ihr habt es hergebracht?“

Isobel nickte.

„Die Reliquie wird der Abtei bis zum Ende des Winterjahrmarkts geliehen. Da mein Vater mir eine Eskorte mitgegeben hat und ich den Nonnen für ihre Gastfreundschaft danken wollte, habe ich angeboten, sie herzubringen. Es zieht Pilger an …“

Autor

Carol Townend
<p>Carol Townend schreibt packende Romances, die im mittelalterlichen England und Europa spielen. Sie hat Geschichte an der Universität London studiert und liebt Recherchereisen nach Frankreich, Griechenland, Italien und in die Türkei – historische Stätten inspirieren sie. Ihr größter Traum ist, den Grundriss einer mittelalterlichen Stadt zu entdecken, die einzelnen Orte...
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