Romana Extra Band 22

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LIEBESFEUER IN SEVILLA von WATERS, JANE
Nach einer bitteren Enttäuschung hat Amber sich geschworen, um gebundene Männer einen großen Bogen zu machen. Doch als der Stararchitekt Ricardo sie im romantischen Sevilla zärtlich küsst, vergisst sie ihren Vorsatz … und beschwört einen Skandal herauf!

EINE PRICKELNDE ROMANZE von HARRINGTON, NINA
Zarte Aromen, prickelnde Atmosphäre: Seit Saskia mit Rick Burgess durch Frankreich reist und die edelsten Weine verkostet, ist jeder Tag ein Abenteuer! Warum hat sie niemand gewarnt, dass ihr neuer Geschäftspartner einfach unwiderstehlich ist?

TRAUMINSEL IM BLAUEN MEER von MCALLISTER, ANNE
Die heiße Sommerromanze mit dem Segler Theo lässt Martha endlich wieder an die Liebe glauben. Aber ihre gemeinsamen Tage auf der griechischen Insel Santorin sind gezählt: Theo verschwindet spurlos - und Martha steht unvermittelt vor einer schweren Entscheidung …

DAS GEHEIMNIS DER SCHÖNEN AMANDA von CARPENTER, TERESA
Groß, breitschultrig, mit bernsteinfarbenen Augen und einem Mund, der Sinnliches verspricht: Xavier LeDuc löst in Amanda ein Gewitter von Gefühlen aus - das bei seinen nächsten Worten zu einem Sturm wird: Der Chef der königlichen Garde behauptet, sie sei eine Prinzessin!


  • Erscheinungstag 28.10.2014
  • Bandnummer 0022
  • ISBN / Artikelnummer 9783733740399
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Waters, Nina Harrington, Anne McAllister, Teresa Carpenter

ROMANA EXTRA BAND 22

JANE WATERS

Liebesfeuer in Sevilla

Ein warmer Nachmittag in der romantischen Altstadt von Sevilla: Verträumt genießt Amber den Kuss des Stararchitekten Ricardo – bis sie erschrocken erkennt: Er ist an eine andere gebunden! Verbotene Gefühle …

NINA HARRINGTON

Eine prickelnde Romanze

„Komm mit mir in die Champagne.“ Soll Saskia sich auf Ricks Angebot einlassen? Bisher ging sie nie ein Risiko ein. Aber jetzt bietet ihr dieser Mann eine aufregende Reise in das Land der Liebe …

TERESA CARPENTER

Das Geheimnis der schönen Amanda

Xavier LeDuc, Chef der Garde, kann es kaum fassen: Amanda ist die uneheliche Tochter des Königs – und Xavier hat sich unerlaubt in die rotblonde Schönheit verliebt! Er soll sie beschützen, nicht verführen …

ANNE MCALLISTER

Trauminsel im blauen Meer

Er kann Martha einfach nicht vergessen! Und als der passionierte Sportsegler Theo erfährt, dass ihre Affäre auf Santorin nicht ohne Folgen geblieben ist, muss er sich entscheiden: Luv, Lee – oder Liebe …

1. KAPITEL

Ambers Herz klopfte stärker, als sie auf den Ausgang zulief. Jetzt wurde es ernst. Hundert Mal hatte sie sich zuvor gefragt, ob nicht doch alles nur ein Traum war, aus dem sie gleich aufwachen würde. Dann aber hatte das Flugzeug unter dem grauen Himmel Londons abgehoben und war gelandet. In Sevilla! Sie spürte den Boden unter den Füßen, hörte ihre eigenen Schritte. Dass sie nun auch die umschwärmte Hauptstadt Andalusiens kennenlernen durfte, war das Sahnehäubchen bei der Geschichte, die gerade ihren Lauf nahm.

Draußen im Terminal umfingen sie Stimmengewirr und Lautsprecheransagen, irgendwo spielte Musik. Hier vor dem Landebereich hatten sich viele Menschen versammelt, die ihr flüchtige Blicke zuwarfen. Etwas verunsichert sah sie sich um. Die Sekretärin aus Zacarias’ Büro hatte gesagt, man würde sie abholen, und mehr hatte Amber in ihrer Aufregung nicht gefragt. Wie sollte sie hier jemanden finden?

Da bemerkte sie die Schilder, die von manchen der Wartenden hochgehalten wurden. Und tatsächlich, dort drüben stand ihr Name in großen Buchstaben geschrieben: Amber Mills. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Noch nie war sie offiziell vom Flughafen abgeholt worden, geschweige denn, dass sie in ihrem Leben schon oft geflogen wäre. Das bessere Leben, für das sie nun schon so lange hart arbeitete, erschien ihr zum ersten Mal wirklich greifbar.

Entschlossen nahm sie ihren kleinen Rollkoffer und ging auf die Schilder zu. Ein Mann löste sich aus der Menge und näherte sich ihr. Er mochte mittleren Alters sein und war elegant gekleidet, das dunkle Haar trug er akkurat gescheitelt. Fragend sah er sie an.

„Ich bin Amber Mills“, sagte sie lächelnd und streckte ihm die Hand entgegen.

Er nickte und ergriff ihre Hand, während er sie kurz musterte. „Mateo Mendoza, Zacarias schickt mich. Ich bin sein Assistent.“

Amber atmete erleichtert auf. „Das ist sehr freundlich, Señor Mendoza, ich wusste nämlich nicht …“

„Nennen Sie mich bitte Mateo.“ Er winkte ab. „Und ich würde Sie gern Amber nennen, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir sprechen uns in Zacarias’ Kreisen meist nur mit Vornamen an.“ Er deutete auf ihren Koffer. „Ist das Ihr ganzes Gepäck?“

„Ja“, stieß sie hervor, plötzlich verunsichert, was ihre Reiseausstattung betraf. Viel hatte sie nicht eingepackt, sie kleidete sich meist recht schlicht. Und das ja auch aus gutem Grund …

Mateo verzog jedoch keine Miene und griff bereits nach ihrem Gepäckstück. „Dann können wir ja los.“

Offenbar hatte er es eilig und hielt nicht viel von Small Talk. Amber runzelte die Stirn. Zwar kannte sie sich mit Assistenten von schwerreichen Künstlern bisher noch nicht aus, aber sie hoffte, dass nicht alle Menschen, mit denen sie in den nächsten Tagen zu tun haben würde, ihr gegenüber so kühl sein würden. Denn genau das war ihre Angst: Was, wenn sie der schweren Aufgabe doch nicht gewachsen war?

Wenig später fuhr sie ein Fahrer in einer Limousine eine große Avenida entlang. Unter der warmen Sonne des späten Frühlings wirkte die Stadt mit ihren Häusern, den Geschäften, dem Verkehr und den vielen Menschen viel lichter und bunter als London. Wieder machte sich in ihr diese bange Freude breit – sie hatte es tatsächlich bis hierher geschafft!

„Sie haben wirklich großes Talent“, brach Mateo, der neben ihr auf der lederbezogenen Bank saß, das Schweigen. „Noch nie zuvor ist eine Studentin bei uns in die engere Auswahl gekommen. Bemerkenswert.“

„Ja, ich … war auch sehr überrascht.“ Amber schloss kurz die Augen und erlebte noch einmal den Augenblick, als sie mit zitternden Fingern den Brief gelesen hatte:

… ist Ihr Entwurf als einer der sieben Besten beurteilt worden, und wir bitten Sie, ihn der Jury in Sevilla persönlich vorzustellen …

Sicher, sie hatte neben Studium und Job monatelang wie eine Verrückte auf den Wettbewerb hingearbeitet. Sie hatte kaum mehr geschlafen, wenig gegessen, war ziemlich erschöpft. Aber dass sie tatsächlich in die nächste Runde kam, war eine kleine Sensation.

„Sie haben Ihren Entwurf ganz allein zu verantworten?“, fragte Mateo weiter und klang dabei etwas skeptisch.

„Ja, natürlich …“

„Nun, wir werden sehen. Die drei Teilnehmer, die in die Endrunde kommen, müssen sich ohnehin bei einer weiteren Aufgabe noch einmal beweisen.“

Wie blasiert er klang! Amber nickte nur, obwohl es ihr einen kleinen Stich gab, dass Mateo, der ja auch ein Jury-Mitglied war, ihr offenbar nicht viel zutraute. Dennoch war es eine große Ehre, überhaupt dabei zu sein. Schließlich würde sie den großen Zacarias persönlich kennenlernen.

Sie sah wieder aus dem Fenster und erkannte, dass sie in der Altstadt von Sevilla angekommen waren. Im Vorbeifahren erhaschte sie einen Blick auf die majestätische Kathedrale, für deren Besichtigung sie hoffentlich Zeit finden würde. Hier und dort wuchsen anmutige Palmen. Die Straßen mit ihren wunderschönen Stadthäusern hatten dieses südländische Flair, das sie bisher nur von Fotos und aus Filmen kannte. Vor einem sandfarbenen Gebäude, um dessen Torbögen sich eine blühende Rosenhecke rankte, hielten sie an.

„Wir sind da“, sagte Mateo. „Das Gepäck wird auf Ihr Zimmer gebracht. Morgen nach dem Frühstück erwarten wir Sie zur Präsentation Ihrer Arbeit im Konferenzzimmer. Auch die anderen Teilnehmer des Ideenwettbewerbs werden da sein. Ruhen Sie sich aus!“

Amber blieb einen Moment sitzen, überwältigt vom Anblick des wunderschönen Hotels und immer noch verunsichert durch Mateos unverbindliche Art. Sie hätte gern etwas Aufmunterndes gehört.

„Haben Sie noch Fragen?“, fragte er.

„Ja“, erwiderte sie. „Wer sind die anderen Teilnehmer?“

Seine Miene blieb unbewegt. „Oh, alles frische Talente wie Sie. Allerdings alle schon mit Berufserfahrung. Manche haben ihren Entwurf auch zu zweit erarbeitet, wie etwa unser Dream-Team Ricardo und Marisa. Deshalb ist es auch umso erstaunlicher, dass Sie von den rund hundert anonymen Bewerbern in die engere Auswahl gekommen sind.“

„Hundert?“ Sie öffnete langsam die Tür. Fast hätte sie bei einem so renommierten Wettbewerb mehr Resonanz erwartet. Der Spanier Zacarias war schließlich einer der berühmtesten Künstler seiner Zeit, und bekannt dafür, kreative Berufe aller Art fördern. Wer einen seiner vielen Wettbewerbe gewann, hatte es in seiner Branche geschafft.

„Nun, diesmal lagen die Anforderungen noch etwas höher. Es ging nicht nur um eine überzeugende Idee für das alte Gestüt, sondern die Teilnehmer müssen auch perfekt Englisch und Spanisch sprechen. Das beherrschen eben doch nicht so viele junge Innenarchitekten. Dem Gewinner winken nämlich neben dem hohen Preisgeld einige tolle Folgeaufträge auf dem internationalen Parkett.“ Nun musterte er sie wieder so kritisch. „Ich nehme an, Sie sind schon viel gereist und haben dabei die spanische Sprache gelernt?“

Amber fühlte sich plötzlich unwohl. Überhaupt nicht, hätte sie am liebsten geantwortet und gestanden, dass sie die große Welt nur aus Büchern kannte. „So viel Zeit habe ich beim Studium leider nicht“, antwortete sie ausweichend. Offenbar hatte Zacarias’ Assistent keine Ahnung davon, dass sie aus sehr einfachen Verhältnissen kam. Das Stipendium ermöglichte ihr zwar den Besuch an der teuren Londoner Schule für Innenarchitektur, doch ansonsten war Luxus – und dazu zählten auch Reisen durch die Welt – ein Fremdwort für sie. Dass sie so sprachbegabt war und Spanisch ganz nebenbei gelernt hatte, musste eine Laune der Natur gewesen sein. Doch manchmal war das Schicksal auch weniger gnädig zu ihr gewesen …

Sie verabschiedete sich rasch und stieg aus. Durch die blumen­umrankten Torbögen trat sie in einen kleinen Innenhof, wo ein Springbrunnen plätscherte. Die Sonne ging gerade unter, und der Himmel begann golden zu schimmern. Tief atmete Amber durch. Ja, das bessere Leben schien hier zum Greifen nah. Nur musste sie darauf achten, das Studium oder den Beruf nie mehr mit der Liebe zu vermischen. Aber in der nächsten Zeit interessierte sie sowieso nichts weiter als die Arbeit. Und erst viel später, wenn der alte Schmerz endlich verklungen war, würde sie vielleicht auch der Liebe wieder eine Chance geben.

Die Dame an der Rezeption begrüßte sie lächelnd. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, Miss Mills? Herzlich willkommen!“

Neugierig sah sich Amber um. Zahlreiche Bilder schmückten die Wände im Eingangsbereich. Sie erkannte darunter sofort ein Werk von Zacarias, der mit seiner abstrakten Kunst und seinen ausdrucksstarken Skulpturen weltweit großen Erfolg hatte.

„Wir sind sehr stolz auf unseren berühmten Gast, der immer wieder kommt“, bemerkte die Rezeptionistin. „Jetzt wünschen wir Ihnen einen schönen Aufenthalt und viel Erfolg!“

Amber nickte dankbar. Ein Page begleitete sie mit dem Aufzug in die zweite Etage bis zu ihrer Zimmertür. Er ließ sie eintreten und fragte höflich: „Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?“

„Danke, nein“, erwiderte sie. Staunend sah sie sich um, denn ihre kleine Suite war so elegant und gemütlich eingerichtet, wie sie selbst es nicht hätte besser machen können. Sie ging durchs Zimmer und ließ die Finger über den samtig-zarten Stoff der Couchgarnitur gleiten. Alles in diesem Raum war perfekt aufeinander abgestimmt. Als Farben dominierten ein helles Schokoladenbraun und ein warmes Orange; eine Kombination, die sie liebte. Zacarias hatte die Teilnehmer nicht in einem Prunkpalast, sondern in einem stilvollen, verschwiegenen Haus untergebracht. Hinreißend!

Auf dem Schreibtisch entdeckte sie ein Kärtchen, das sie zu einem Drink und Snack an die Hotelbar einlud. Sie zögerte einen Moment. Dann schlüpfte sie kurzerhand in ihre bequemen Ballerinas, bändigte ihr Lockenhaar in einem lockeren Knoten, betrachtete flüchtig ihr ungeschminktes Gesicht und verließ die Suite. Dass sie ziemlich hungrig war, hatte sie vor lauter Aufregung bisher völlig verdrängt.

Wenig später betrat sie die Hotelbar. Die meisten Gäste waren ins Gespräch vertieft und beachteten sie nicht weiter. Ein Pianospieler sorgte für musikalische Untermalung, der Barmann mixte gerade geräuschvoll einen Drink. Amber straffte sich und trat lächelnd an den Tresen. Der Barmann lächelte zurück und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Die nette Geste tat gut, und sie zog einen der drehbaren Hocker zu sich heran.

Da blieb ihr Blick an dem Mann hängen, der ein Stück entfernt an dem halbrund geschwungenen Tresen lehnte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch es ging eine spürbare Strahlkraft von ihm aus. Wie gebannt ließ Amber ihren Blick über die breiten, muskulösen Schultern gleiten, die sich deutlich unter dem weißen Hemd abzeichneten. Er hatte kurzes schwarzes Haar, und seine Haltung drückte Lässigkeit und Souveränität zugleich aus. Sie verspürte plötzlich den unerwarteten Wunsch, der Fremde möge sich umdrehen, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Und als ob er ihren Gedanken empfangen hatte, tat er es. Ganz langsam, Stück für Stück wandte er sich um und griff nach dem Weinglas hinter ihm. Er nahm einen Schluck und offenbarte ein klassisch schönes Profil mit gerader Nase und einem markanten Kinn. Amber starrte wie hypnotisiert auf seine Lippen. Dann, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte, hob er den Blick. Mit seltsam schimmernden Augen sah er sie an. Ein paar Sekunden lang verschwand alles andere aus ihrem Blickfeld, und es gab nur noch diese Augen, mit denen er sie geradezu festzuhalten schien. Jedenfalls konnte sie sich nicht rühren. Ihr wurde heiß.

„Was möchten Sie trinken?“, riss der Barmann sie aus diesem irritierenden Blickkontakt heraus.

Amber schaffte es, wieder wegzusehen. Ihre Beine zitterten, sie fühlte sich ganz schwach. Was war denn plötzlich in sie gefahren? Höchste Zeit, endlich eine Kleinigkeit zu essen, denn offenbar spielte ihr Kreislauf verrückt. „Ich hätte gerne diesen Willkommensdrink und etwas zu essen“, antwortete sie.

„Den Cocktail mit oder ohne Alkohol? Und dazu eine kleine Auswahl unserer Tapas auf Kosten des Hauses?“

„Ja, gern. Und bitte keinen Alkohol“, beschloss sie. Zu Hause trank Amber fast nie, allein schon, weil es unnötig Geld kostete, das sie lieber für ihre Familie sparte. Außerdem musste sie am nächsten Morgen topfit sein. Ein Schwächeanfall wie eben durfte ihr nicht passieren.

Immer noch spürte sie deutlich die Blicke des Mannes auf sich ruhen. Kannten sie sich vielleicht irgendwoher? Sein Gesicht erschien ihr nicht ganz fremd. Auf einmal kam es ihr so vor, als könnte sie seine Gedanken lesen: Jetzt wollte er genau wie sie eben, dass sie ihn anschaute.

Sie sah wieder zu ihm hin. Er hatte sich ein wenig vornüber auf den Tresen gelehnt, die Ellenbogen locker aufgestützt. Sein Gesicht lag nun voll im Licht und wirkte noch viel stärker auf sie. Seine Augen mochten grün oder blau sein und musterten sie genau. Intensiv. Der Mann machte nicht den geringsten Versuch zu verbergen, dass er sich für sie interessierte. Dabei hatte sie doch gar nichts dafür getan, irgendjemandes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen! Im Gegenteil. Sie sah aus wie ein blasses Schulmädchen, und so sollte es auch sein. Es gab Wichtigeres in ihrem Leben, als Männern gefallen zu wollen, und die Liebe konnte so verletzend sein …

Du musst jetzt wieder wegschauen, befahl sie sich nach einigen langen Sekunden. Zum Glück bekam sie in diesem Moment ihren Cocktail serviert und wandte sich ab.

Einige Augenblicke schaffte sie es, ruhig ein paar Schlucke zu trinken. Auch als die ersten Tapas, ein paar eingelegte Meeresfrüchte sowie grüne und schwarze Oliven vor sie hingestellt wurden, konnte sie so tun, als wäre sie an dem attraktiven Unbekannten nicht weiter interessiert.

Doch ihre Beine zitterten immer noch leicht, obwohl sie saß. Und sie spürte fortwährend seinen Blick auf ihrer Haut, heiß, als wären seine Augen ein Brennglas. Rasch sah sie nach ein paar Sekunden erneut auf, fast ein wenig wütend, denn eigentlich wollte sie hier nur in Ruhe sitzen und sich entspannen. Genau das würde sie diesem aufdringlichen Kerl jetzt auch sig­nalisieren!

In diesem Moment wandte der Mann sich ab. Eine große Blondine war plötzlich erschienen und stellte sich zu ihm. Nun erst bemerkte Amber das zweite Weinglas auf dem Tresen. Die Frau schüttelte ihre langen Haare, flüsterte ihrem Begleiter etwas ins Ohr und lachte.

Ein flaues Gefühl der Enttäuschung breitete sich in Amber aus. Gleichzeitig verstand sie sich selbst nicht: Der Mann hatte doch kapiert, dass sie keinen weiteren Kontakt wünschte. Außerdem war doch offensichtlich, dass er längst liiert war – mit einer Frau, die sich als Frau auch nicht versteckte. Fast neidisch betrachtete sie das sorgsam zurechtgemachte Gesicht der Blonden. Ihre Lippen waren aufreizend rot geschminkt, und diese Lippen würden nachher wohl auch seine …

Du spinnst, ermahnte sie sich. Ausgerechnet an diesem Abend, vor der wichtigsten Präsentation ihres Lebens, dachte sie an so etwas!

Wenig später sah sie aus dem Augenwinkel, wie die beiden bezahlten und die Bar verließen. Sie wartete eine kleine Ewigkeit, dann wagte sie es und sah ihnen hinterher. Der schwarzhaarige Mann hatte wirklich eine tolle Figur, athletisch und schlank zugleich, dazu einen aufrechten, stolzen Gang. Plötzlich drehte sich der Unbekannte noch einmal um und warf ihr einen Blick zu.

Sie zuckte zusammen.

Er hob die Augenbrauen.

Sie sah schnell wieder weg und biss sich auf die Lippen. Ertappt! Blut schoss ihr in den Kopf. Wie unangenehm, dass er in letzter Sekunde doch noch ihr Interesse gespürt hatte. Hoffentlich würde sie ihm hier im Hotel nicht noch einmal begegnen. Oder hoffentlich … vielleicht doch?

Am nächsten Morgen kamen Amber ihre Gedanken und Empfindungen vom Vorabend ziemlich absurd vor. Ja, der Mann an der Bar hatte außergewöhnlich gut ausgesehen, und genau das war der Grund, weshalb er sie nicht zu interessieren hatte. Schließlich hatte sie ihr Lehrgeld schon bezahlt. Außerdem war sie nicht hierhergekommen, um ihre Energie mit Schwärmereien zu vergeuden. Nein, sie brauchte ihre Kraft für etwas weitaus Wichtigeres: Für ihren Beruf und ihre Zukunft. Und zwar jetzt. Gleich ging es los!

Nervös sah sie noch einmal ihre Entwürfe durch. Dann aber tauchten schon wieder diese mysteriös schimmernden Augen vor ihr auf …

Verflixt noch mal!

Schon beim Frühstück, abseits und unsichtbar in einer Ecke, hatte sie sich ständig nach ihm umgesehen. Doch war der schwarzhaarige Mann überhaupt ein Hotelgast? Leise stöhnte Amber auf, weil sie diese Gedanken einfach nicht stoppen konnte. Sie klappte den Laptop zu und atmete tief durch. Sie war schrecklich aufgeregt.

Im Konferenzzimmer befanden sich schon mehrere Personen, unter anderem Mateo, der am Kopfende des langen Tisches saß. Er nickte Amber zu und bedeutete ihr, sich auf einen der freien Plätze zu setzen. Ihre Kehle war trocken, die Hände feucht. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und versuchte, ihre Nervosität im Zaum zu halten. Mateo hatte von sieben Teilnehmern gesprochen. Fast alle Stühle waren schon belegt, bis auf die zwei ihr gegenüber. Ein Mann mit millimeterkurzem hellblondem Haar, vielleicht ein paar Jahre älter als sie, zwinkerte ihr zu. Überrascht von dieser spontanen Geste lächelte sie zurück.

Eine angespannte Stille lag im Raum. Alle warteten auf Zacarias. Auch Amber sah gespannt zur Tür hin.

Dann setzte ihr Herz einen Schlag aus. Jemand trat ein … und zwar das Paar vom Vorabend: Er war es, sie waren es! Schlagartig erinnerte sie sich an Mateos Worte: „… unser Dream-Team Ricardo und Marisa …“ Natürlich! Die beiden waren jenes Vorzeigepaar aus Madrid, über das auch schon der eine oder andere Artikel erschienen war: Aufstrebend, gut aussehend, erfolgreich – Letzteres sowohl beruflich als auch in der Liebe. Hatte sie nicht erst im vergangenen Jahr eine Reportage in einer Fachzeitschrift über die beiden gelesen? Nun wusste sie auch, warum Ricardo ihr am Abend zuvor so bekannt vorgekommen war.

Ambers Mut sank. Die beiden nahmen also auch an diesem Wettbewerb teil, und bestimmt hatten sie eine erstklassige Präsentation vorbereitet. Ihr Herz klopfte jetzt wie wild. Lieber hätte sie vor einer Jury aus einäugigen Aliens gestanden, als in einem Raum mit diesem verdammt gut aussehenden Spanier einen Vortrag halten zu müssen. Sie schluckte. Doch warum störte sie das überhaupt so sehr? Sie würde diesen Ricardo nach dieser Geschichte hier ja doch nie mehr wiedersehen – außer vielleicht in der einen oder anderen Zeitschrift.

Es blieb ihr keine Zeit mehr, weiter nachzugrübeln, denn hinter Ricardo und Marisa betrat nun Zacarias den Raum, flankiert von zwei älteren, schick gekleideten Frauen. Sofort zog er alle Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte graues, halblanges Haar und trug einen gepflegten Bart. Markenzeichen des steinreichen Künstlers waren die vielen Ringe aus Gold und Silber an seinen Fingern. Er strahlte große Autorität aus, wirkte dabei aber weder arrogant noch furchteinflößend. Amber bemerkte bei einem kurzen Seitenblick, dass Ricardo und Marisa sich rasch hingesetzt und ebenfalls Zacarias zugewandt hatten.

„Guten Morgen“, sagte dieser mit volltönender Stimme, als er sich neben Mateo am Kopfende platziert hatte. „Ich freue mich, so talentierte Innenarchitekten wie Sie kennenlernen zu dürfen. Wir werden später noch Gelegenheit haben, uns auszutauschen, doch ich schlage vor, dass wir gleich mit den sieben Präsentationen zum diesjährigen Ideenwettbewerb beginnen.“ Kurz stellte er die vierköpfige Jury vor, dann fiel schon der Startschuss: „Die Reihenfolge werden wir jetzt auslosen.“

Ein leises Gemurmel erklang, Bewegung kam in den Raum. Eine der beiden älteren Frauen ging mit einem kleinen Behälter herum, in dem sich die Lose befanden.

„Die Aufgabe, die alle brillant gelöst haben, war, einem alten, ungenutzten und weitläufigen Gestüt aus meinem Besitz eine neue Funktion zu geben“, fuhr Zacarias unterdessen fort.

Jetzt, da Amber sich nicht mehr verstecken konnte, hob sie den Kopf. Während sie nach einem Los griff, spürte sie, dass Ricardo sie erkannt hatte. Sein Blick fühlte sich an wie am Vorabend, wie eine körperliche Empfindung, eine Hitze oder ein Streicheln auf ihrer Haut. Sie schaute zurück – und konnte erkennen, wie erstaunt er war, sie hier zu sehen. Seine Augen leuchteten irritierend grün oder blau und bildeten einen faszinierenden Gegensatz zu seinem dunklen Haar und der leicht sonnengebräunten Haut. Auch Marisa schaute zu ihr herüber, streifte sie aber nur mit einem kühlen Blick.

„Sie hatten bei der Aufgabe völlig freie Hand, was die Konzeption und Gestaltung der Räume betraf. Sieben interessante Ideen werden wir gleich hören, die drei Besten gehen in die nächste Runde. Wer hat heute die Nummer eins gezogen?“

Nervös entfaltete Amber den kleinen Zettel in ihrer Hand und atmete auf. Sie hatte die Nummer vier, das war gut. So musste sie weder beginnen noch bis zum Ende warten.

Es erhob sich der Mann, der sie vorhin so nett angezwinkert hatte. Zacarias stellte ihn als Nestor vor.

Amber, die noch einen letzten – nur noch diesen letzten – Blick zu Ricardo riskierte, bemerkte, wie sich sein Gesicht plötzlich verdunkelte. Ihr fiel auf, wie Marisa eine Hand auf sein Bein legte und dort liegen ließ. Kurz schloss Amber die Augen. Dann verbot sie es sich ein für allemal, sich auch nur eine einzige weitere Sekunde von ihrem attraktiven Gegenüber faszinieren zu lassen. Denn Ricardo Millás – wie sie seinen vollen, ihrem so ähnlich klingenden Namen, auf der Teilnehmerliste las – war schließlich nicht nur ihr Konkurrent, sondern auch glücklich liiert.

2. KAPITEL

Natürlich ließ sich Ricardo nicht aus der Ruhe bringen, zumindest nicht nach außen hin. Denn da gab es diesen inneren Schalter, den er umlegen konnte. Dann funktionierte er tadellos. Er konnte charmant oder konzentriert sein, locker oder ernst, ganz so, wie die Situation es erforderte. Oder eben höchst professionell. So wie eben bei der Präsentation. Dabei ärgerte es ihn maßlos, dass auch Nestor mit von der Partie war, ausgerechnet Nestor! Musste er ihm immer wieder über den Weg laufen?

Und dann gab es noch diese filigrane Schönheit vom Abend zuvor, die überraschenderweise zu den Wettbewerbsteilnehmern gehörte. Ein paar Mal hatte er sie, während er seinen Teil des Vortrags gehalten hatte, direkt angesehen. Sie war, wenn er sich nicht täuschte, dabei sogar ein bisschen rot geworden. Und jetzt war sie an der Reihe.

„Amber Mills aus London“, stellte Mateo die Engländerin gerade vor.

Amber, wiederholte er den Namen im Stillen. Was für ein passender, schöner Name! Und ihr Nachname war mit seinem fast identisch. Das war ihm schon auf der Teilnehmerliste aufgefallen. Aber natürlich hatte er keine Ahnung gehabt, dass dieser Name zu derselben Frau gehörte, mit der er am Abend zuvor in der Hotelbar geflirtet hatte.

„Bitte, fangen Sie an“, fügte der Assistent von Zacarias knapp hinzu.

Seltsamer Typ, dachte Ricardo über den Assistenten. So spröde, unnahbar und wortkarg. Zu gern hätte er auf der Stelle mehr über die Lady aus England erfahren, die auf den ersten Blick so unscheinbar wirkte. Aber eben nur auf den ersten …

Sie stand auf und schloss ihren Laptop an den Projektor an. Er betrachte ihre schlanke Statur. Auch wenn Amber ungeschminkt war und nur ein einfaches Kleid trug, wurde ihm mehr und mehr bewusst, wie hübsch sie war. Ihre Haare hatten die Farbe von dunklem Karamell und harmonierten perfekt mit der hellen Haut und ihrer Augenfarbe, ebenfalls ein weicher Karamellton. Als Mensch, der sich ganz und gar der Ästhetik verschrieben hatte, drängten sich diese Vergleiche geradezu auf. Dazu dieser perfekt geformte Kirschmund, die makellosen Zähne und das zarte Gesicht … Ja, sie war wirklich wunderschön.

„Moment!“, erklang da die sonore Stimme von Zacarias. Er hatte bisher nur ruhig und aufmerksam dagesessen, nun blätterte er in den Unterlagen.

Alle sahen ihn an. Ricardo bemerkte, dass Amber etwas erschrocken wirkte.

„Miss Mills“, sagte Zacarias, sah von den Unterlagen auf und lächelte. „Sie … studieren noch? An der ‚School of Architecture & Interior Design‘ in London?“

„Ja …“

Zacarias schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und lachte. „Das ist ja unglaublich. In keinem unserer Wettbewerbe war bisher eine Studentin vertreten. Stimmt das, Mateo?“

Dieser nickte nur.

„Es gab mal eine Gruppe von Studenten, die nach langer Vorbereitung tatsächlich am Ende den zweiten Preis erhielten“, fuhr Zacarias fort. „Aber Sie, Amber, haben es ohne Berufserfahrung ganz allein geschafft!“ Er lächelte der Engländerin kurz zu, die nun von allen doppelt kritisch gemustert wurde. Ricardo verfolgte die Szene interessiert. Die schöne, unscheinbare Amber war also eine Elitestudentin, obwohl sie gar nicht so auftrat. Er jedenfalls hatte schon viel von der Privatschule gehört, die ziemlich teuer sein musste.

„Ja, es ist mir eine große Ehre, hier sein zu dürfen“, sagte sie. Ihre Stimme klang klar und hell, fast noch mädchenhaft. Auch wirkte sie ein paar Jahre jünger als die anderen Teilnehmer. Doch sie musste eine Menge Kraft und Ehrgeiz besitzen, denn sonst wäre sie nicht hier.

Zacarias lächelte ihr gönnerhaft zu. „Bitte, fangen Sie an!“

Sie nickte. Dann drückte sie auf eine Taste ihres Laptops und legte los.

Ricardo konnte nur staunen. Offenbar verfügte auch Amber über so einen inneren Schalter, den sie umlegen konnte. Je länger sie sprach, desto souveräner wurde sie. Sie wirkte äußerst konzentriert, ihre Bewegungen waren weich und fließend, und immer wieder strich sie ihre Locken mit sanfter Geste aus dem Gesicht. Selbstsicher richtete sie während ihres Vortrags den Blick zur Jury.

Doch fast noch faszinierender war ihr Entwurf für das alte Gestüt. Ihre Idee war so durchdacht, fantasievoll und überzeugend, wie er es mit einem ganzen Team nicht hätte besser machen können. Er ertappte sich dabei, wie er bei Ambers Ausführungen immer wieder anerkennend mit dem Kopf nickte, bis Marisa ihn unter dem Tisch anstieß und ihn fragend ansah. Natürlich! Sie gönnte es niemandem, besser zu sein als sie selbst.

„… und so richtet sich das soziokulturelle Zentrum vor allem an Familien, die mit wenig Geld leben müssen. Hier haben sie die Möglichkeit, ein kreatives Freizeitangebot zu nutzen. Das Zentrum soll aber auch von Familien mit behinderten Kindern genutzt werden, die vom Alltag eine Auszeit brauchen.“

Wieder nickte Ricardo beeindruckt. Respekt! Amber war bisher die Einzige, die bei dem Projekt explizit an Menschen mit wenig Geld oder anderen Einschränkungen gedacht hatte. Er und Marisa hingegen hatten das alte Gestüt – genau wie Nestor! – in ein exklusives Luxushotel mit allen Finessen umgewandelt. Schließlich stand bei den Konzepten ihrer Firma „R&M Designs“ stets der ästhetische Aspekt im Vordergrund. Ihre Klientel war reich und sehr anspruchsvoll. Ihre Kunden wollten Paläste aus edelstem Material und mit exklusivem Design, koste es, was es wolle. Und damit ließ sich eben viel Geld verdienen. Marisa und er waren ein unschlagbares Team, ein Team mit einem großen Geheimnis …

Plötzlich war es still im Raum. Amber hatte ihren Vortrag beendet. Es dauerte einen Moment, bis die Ersten anfingen, als Zeichen des Applauses auf den Tisch zu klopfen. Offenbar waren die anderen ähnlich beeindruckt wie er selbst.

„Wie fandest du sie?“, fragte er Marisa leise.

„Ganz gut“, antwortete sie verhalten. „Aber sie kann uns doch nicht das Wasser reichen, oder?“

„Doch. Ihr Entwurf ist irgendwie … anders. Der soziale Aspekt beeindruckt mich.“

Marisa sah ihn mit gehobenen Augenbrauen an. „Seit wann kann dich außer einem schwerreichen Auftraggeber jemand beeindrucken?“

Er zuckte nur mit den Schultern, registrierte aber den kleinen Seitenhieb. Sie kannte ihn eben ziemlich gut. Er lebte tatsächlich nur für die Arbeit und den Erfolg, interessierte sich für nichts anderes mehr. Früher war das nicht so gewesen, da hatte er noch Träume gehabt …

„Sehr gut!“, lobte Zacarias, als das Klopfen verklungen war.

Amber klappte ihren Laptop zu und ging mit leicht gesenktem Kopf zu ihrem Platz. Nun wirkte sie wieder wie ein schüchternes Mädchen. Ricardo hielt den Blick auf sie gerichtet. Sieh mich an!

Sie setzte sich und hob langsam den Blick. Als ob es tatsächlich diese Gedankenverbindung zwischen ihnen gab, wie am Abend zuvor. Da hatte sie ihm zunächst signalisiert, er möge sie in Ruhe lassen. Dann aber hatte sie es genossen, wie er sie betrachtete. Als Marisa dann an die Bar gekommen war, war Amber enttäuscht darüber gewesen, dass er scheinbar liiert war. Und jetzt erlebte er mit, wie sie mit sich rang, denn eigentlich wollte sie ihn lieber ignorieren, konnte es aber nicht. Er unterdrückte ein Schmunzeln. So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert. Eine Frau, die sich von ihm keinesfalls beeindrucken lassen wollte!

Marisas Räuspern erinnerte ihn daran, dass nun die nächste Präsentation begann. Widerstrebend richtete er den Blick auf das Geschehen. Obwohl Amber offenbar eine ziemlich starke Konkurrenz darstellte, wünschte er sich fest, die unscheinbare Elitestudentin möge es – natürlich neben R&M Designs – bis in die Endrunde schaffen.

„Du fährst weg? Jetzt?“ Ricardo sah Marisa konsterniert an. „Was ist mit der Entscheidung gleich nach der Pause? Rechnest du etwa nicht damit, dass wir es bis in die Endrunde schaffen?“

Marisa packte weiter ihren Koffer. „Natürlich bleibe ich noch bis zur Entscheidung“, sagte sie. „Und ganz bestimmt schaffen wir es. Unsere Präsentation war wie immer super, und die anderen Konzepte sind keineswegs überzeugender als unseres. Obwohl der Hotelentwurf von Nestor …“

„Hör auf mit Nestor. Aber das Konzept von Amber …“

Sie lachte auf. „Nur weil ihre Idee diesen sozialen Anstrich hat?“ Sie schüttelte ihre langen blonden Haare. „Damit könnte sich diese Studentin auch ins Aus befördert haben. Ich glaube, dass Zacarias mit dem alten Gestüt Geld verdienen möchte, viel Geld. Deshalb ist es ja auch ein Ideenwettbewerb! Geldverdienen kann er besser mit einem Luxushotel als mit einer Anlaufstelle für sozial schwache Familien und Behinderte.“

Ricardo sah Marisa finster an. Immer öfter gab es in letzter Zeit Momente, in denen sie nicht mehr so gut wie früher miteinander harmonierten. Es störte ihn, wie abfällig sie über Ambers Idee sprach und dass sie nun einfach abreisen würde. Obwohl …

Marisa wirbelte weiter durch die Suite. Nur die Rezeption wusste, dass sie im letzten Augenblick zwei Einzelbetten gewählt hatten. Und nun würde er hier sogar ganz allein sein. Auf einmal gefiel ihm die Idee sehr gut.

„Jedenfalls habe ich bereits herausgefunden, dass für alle, die in die Endrunde kommen, in einer Woche ein weiterer Präsentationstermin stattfindet“, fuhr Marisa fort. „Es gibt bis dahin eine weitere Projektaufgabe.“

„Ach ja? Und aus diesem Grund lässt du mich allein und fährst zu deinem geliebten Frederico?“ Ganz ungeschoren wollte er sie nun doch nicht davonkommen lassen.

Marisa hielt inne und trat auf ihn zu. Sie wollte ihm spielerisch eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen, doch er wandte sich ab. Er mochte solche Vertraulichkeiten nicht, wenn sie nicht sein mussten. In diesem Moment war diese Geste jedenfalls absolut unnötig.

„Ach, komm schon“, sagte sie. „Du weißt doch, wie wenig Zeit ich mit Frederico habe. Er ist ein paar Tage in New York und hat mich spontan eingeladen. Wann komme ich schon mal nach New York?“

„Marisa! Du kommst nach New York und überallhin auf dieser Welt, wenn wir unser Ziel, mit R&M Designs mindestens eine Million zu verdienen, erreicht haben. Deshalb sollte dieser Wettbewerb jetzt unsere ganze Aufmerksamkeit bekommen und nicht irgendwelche Liebesreisen!“

Sie stemmte die Arme in die Hüften. „Hör zu, es gibt in dieser Runde drei Zweier-Teams und vier Einzelteilnehmer, darunter diese Studentin. Falls sie in die Endrunde kommen sollte, muss auch sie die neue Aufgabe allein bewältigen. Und du glaubst, du schaffst das nicht allein?“

Ricardo trat ans Fenster. Was für eine Provokation! Typisch Marisa. Doch darauf würde er erst gar nicht eingehen. Manchmal bedauerte er es, dass er sich beruflich auf sie eingelassen hatte. Aber sie hatte vor drei Jahren, als er einen Mitarbeiter suchte, alle anderen Bewerber ausgestochen. Letztlich zu Recht, schließlich waren sie seitdem sehr erfolgreich. Als dann in Madrid dieser Artikel über sie erschienen war, hatte alles seinen Lauf genommen.

„Ich bin in einer Woche pünktlich zur Endrunde wieder hier. Bis dahin kannst du allein konzentriert arbeiten … Oder wolltest du mit mir unbedingt so lange dieses Zimmer teilen?“ Marisa machte eine kunstvolle Pause, um dann schmeichlerisch nachzusetzen: „Dafür hast du bei mir natürlich etwas gut.“ Sie trat hinter ihn und berührte ihn an der Schulter. „Vielleicht solltest du dir selbst mal eine Liebesreise gönnen?“, fragte sie provozierend.

Eine Liebesreise! Daran war gerade wirklich nicht zu denken. Ein One-Night-Stand, hin und wieder, genügte ihm derzeit vollkommen. Nie wieder wollte er so unglücklich werden wie damals. Vielleicht würde er sogar nie mehr mit einer Frau sein Leben teilen wollen.

„Du weißt doch, wie schlimm es für mich ist, dass ich Frederico nur so selten sehen kann.“ Sie klang nun etwas traurig.

Ricardo seufzte. Es war ihm klar, wie sehr sie unter der Liebesbeziehung mit diesem verheirateten Mann litt. Einem Mann, der sie nur dann anrief und sich mit ihr traf, wenn es ihm passte. Ricardo wünschte, Marisa könnte sich aus diesem Verhältnis befreien, doch andererseits wusste er selbst genau, wie schwer die vermeintliche Liebe zu beeinflussen war.

„Außerdem brauchst du deine Einsamkeit ja nicht nur für die Arbeit zu nutzen.“ Schnell hatte Marisa sich gefangen und lächelte nun etwas süffisant. Am liebsten zeigte sie sich stark und selbstbewusst. Sie verbarg es meist gut, wenn ihr etwas zusetzte.

Er wurde hellhörig. „Wie meinst du das?“

„Ich dachte, du könntest dich während meiner Abwesenheit ein bisschen um die blasse Studentin kümmern, ihr ein wenig Farbe einhauchen.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

Ricardo hatte sich gesetzt und sah sie abwartend an.

„Falls Amber in die Endrunde kommt, könntest du doch herausfinden, wie sie die neue Aufgabe lösen möchte.“

„Wie bitte?“

„Jetzt tu doch nicht so! Ein bisschen flirten, ein bisschen reden. Alle Informationen, die sie uns gibt, können am Ende dazu beitragen, sie auszustechen.“

Ricardo schüttelte nur den Kopf. Diesen Vorschlag musste er erst einmal verdauen.

„Gefällt sie dir nicht? Sie könnte zwar mehr aus sich machen, aber sie ist ganz hübsch.“

„Marisa! Was soll das? Wir beide sind offiziell verlobt, und du willst mich jetzt mit einer Konkurrentin verkuppeln?“

Sie seufzte nur. „Ich habe doch nicht gesagt, dass du sie heiraten sollst. Du sollst nur Informationen sammeln. Je besser wir unsere Gegner kennen, umso besser können wir uns präsentieren.“

Nicht zu fassen. Er sollte sich also an Amber heranmachen und sie über ihre Ideen aushorchen? Dabei ergab das gar keinen Sinn, denn schließlich verfolgten sie bei dem Wettbewerb völlig unterschiedliche Konzepte. Manchmal hatte Marisa wirklich absurde Gedanken. „Wie soll ich den anderen erklären, warum du in den nächsten Tagen nicht hier sein wirst?“, lenkte er vom Thema ab.

„Natürlich damit, dass ich in unser Büro nach Madrid fliegen musste, um an einem anderen Projekt zu arbeiten. Es ist kein Geheimnis, dass wir gerade unseren wichtigsten und größten Auftrag an Land gezogen haben.“

„Stimmt.“

Schließlich kam sie zu ihm und küsste ihn rasch auf die Wange. „Gönn mir New York, bitte! Und sei nicht allzu böse, ja?“

Böse? Nun lachte er trocken, und Marisa lachte mit. Tatsächlich hatte er keinen Grund, ärgerlich zu sein, im Gegenteil. Der Gedanke, Amber ohne Marisa im Hintergrund näher kennenzulernen, gefiel ihm immer besser. Aber nicht etwa, um die Studentin auszufragen, sondern nur aus einem Grund: Weil sie ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.

Dass Marisa immer so übertreiben musste! Nun stand also wieder mal die übliche Performance mit ihr an – denn offiziell waren sie schließlich das perfekte Liebespaar.

So war es selbstverständlich, dass sie ihren Arm um ihn legte, als sie das Konferenzzimmer betraten. Gleich würde verkündet werden, wer in die nächste Runde kam. Fast alle Teilnehmer waren schon da – bis auf Amber.

„Darling, ich bin so aufgeregt!“, flötete Marisa nun so, dass alle es hören konnten. Ricardo hätte am liebsten die Augen verdreht, doch nach außen hin hatte er zu lächeln. Das war wieder einer jener Momente, in denen er das gesamte Arrangement mit ihr infrage stellte.

Er hatte sie kennengelernt, als er an seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt war, nach dem beruflichen Fiasko und der knallharten Ernüchterung mit Sofia. Natürlich war er viel zu stolz gewesen, in den Schoß seiner Familie zurückzukehren. Vor seinem Vater, dem Stararchitekten aus Madrid, einzuknicken und ihm zu gestehen, was für ein Idiot er gewesen war? Niemals! Zumindest geschäftlich wollte er unter Beweis stellen, dass er es ganz allein nach oben schaffen konnte – auf seine Weise, in seinem eigenen Job und nicht vom Familienoberhaupt diktiert. Auf das Erbe, das sein Vater ihm wegen der spontanen Heirat mit Sofia abgesprochen hatte, konnte er auch weiterhin gern verzichten.

So hatte er vor drei Jahren per Inserat einen männlichen Geschäftspartner für seine Innenarchitekturfirma gesucht, denn eine Frau wollte er erst einmal nicht mehr um sich haben. Doch Marisa war keck mit Hut und Krawatte zum Vorstellungsgespräch erschienen und hatte ihn seit Langem das erste Mal wieder zum Lachen gebracht. Da war das Eis gebrochen.

Der Erfolg kam fast automatisch. Sie gewannen die ersten Wettbewerbe und nach einer besonders rauschenden offiziellen Feier, bei der sie auf einen neuen Kunden anstießen, titelte eine Boulevardzeitung, dass sie beide nicht nur beruflich, sondern auch privat ein ideales Paar abgaben. Nur weil es ein paar Fotos von ihnen gab, auf denen sie nah beieinander saßen und sich anstrahlten.

Er hatte sich zunächst darüber aufgeregt, doch Marisa dachte anders: „Unter dieser vermeintlichen Beziehung wird Frederico genauso leiden, wie ich leiden muss. Das ist nur fair.“

„Wie bitte?“, hatte Ricardo gefragt. „Ich soll dafür herhalten, dass dein verheirateter Liebhaber eifersüchtig ist?“

„Nein, das ist für mich nur ein willkommener Nebeneffekt. Vor allem aber glaube ich, dass wir es als vermeintliches Paar beruflich leichter nach oben schaffen“, hatte Marisa schlagfertig wie immer geantwortet. „Wir sollten unsere Beziehung nicht gleich dementieren. Die Leute lieben es, wenn andere gemeinsam glücklich und erfolgreich sind. Und du kannst deine Wunden lecken, denn du wolltest nach deiner tollen Sofia doch erst einmal Ruhe vor den Frauen haben, oder nicht?“

So war es gekommen. Nach diesem Artikel wollten tatsächlich einige Paare aus der Madrider High Society exklusiv bei der Einrichtung und dem Ausbau ihrer Villen und Anwesen beraten werden. Es folgten äußerst lukrative Aufträge, Interviews, Einladungen zu wichtigen Partys. Die Geschichte war zum Selbstläufer geworden. Über Nacht war R&M Designs die Marke schlechthin. Und so spielten sie immer weiter das perfekte Paar …. Dabei hatten sie sich noch nicht einmal, nicht ein einziges Mal, richtig geküsst. Denn – das war von Anfang an klar gewesen – Marisa war nicht sein Typ, und nie würde es eine Affäre zwischen ihnen geben. Außerdem war sie ja bis heute unsterblich in diesen Frederico verliebt.

In was für eine Geschichte war er da nur geraten! Und alle glaubten sie.

Ein kaum spürbarer Windhauch holte Ricardo ins Hier und Jetzt zurück. Fast geräuschlos war Amber in den Konferenzraum getreten und an ihm vorübergegangen. Sie wirkte so zierlich, doch unter ihrem Kleid ließen sich hübsch gerundete Brüste vermuten. Ihr karamellfarbenes Lockenhaar hatte sie, wie am Abend zuvor, im Nacken zusammengesteckt. Sie war sehr blass, lächelte kurz in den Raum und setzte sich ihm gegenüber. Er konnte sehen, wie nervös sie war. Wie auch nicht – alle hier wollten in die Endrunde kommen.

Sieh mich an, signalisierte Ricardo ihr. Amber reagierte erneut. Ganz langsam richtete sie ihren Blick auf ihn. Ihre schönen hellbraunen Augen schienen dabei leicht zu flackern.

Dann aber blieb für weitere Gedankenexperimente keine Zeit mehr. Zacarias mit Gefolge betrat den Raum. Alle trugen eine wichtige Miene zur Schau.

Nach einer knappen Begrüßung stieg die Spannung ins Unermessliche.

„Nun, die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen“, begann er und sah in die Runde. „Es gab hervorragende Ideen, manche auch doppelt, dafür aber umso interessanter im Vergleich.“

Ricardo spürte unter dem Tisch wieder Marisas Hand auf seinem Bein. Was für eine überflüssige Angewohnheit von ihr!

„Ich verkünde nun die Namen der drei Endteilnehmer“, trieb Zacarias die Spannung auf die Spitze. „Dabei ist die Reihenfolge keinesfalls als Wertung zu verstehen“, fügte er hinzu.

Im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

„Als Erstes möchte ich … R&M Designs beglückwünschen.“

Neben ihm gab Marisa einen Freudenschrei von sich, ihre Finger umschlangen sein Knie. Auch er spürte Stolz und Freude in sich aufsteigen. Die Welle ihres gemeinsamen Erfolgs trug sie höher und höher.

„Als Nächstes darf ich Nestor meinen Respekt aussprechen. Auch Sie sind in der Endrunde.“

Wie bitte? Ricardo starrte seinen Konkurrenten an, den er am liebsten komplett aus seinem Leben verbannt hätte. Reichte es denn nicht, dass er ihm in Madrid, als er selbst vor wenigen Jahren ganz unten war, den lebensrettenden Auftrag weggeschnappt hatte? Und nun war er ebenso im Rennen! Verdammt. Wenn er schon sah, wie affektiert Nestor sich über seine kurzen Haare strich! Welcher ernst zu nehmende Mann färbte sich seine Haare in diesem Alter noch blond?

„Und dann darf ich noch eine kleine Sensation vermelden.“

Ricardos Aufmerksamkeit wanderte wieder zu Zacarias.

„Das erste Mal darf ich in der Endrunde eine Studentin begrüßen. Herzlichen Glückwunsch, Amber!“

Zuerst war es still im Raum. Doch als Zacarias zu klatschen anfing, stimmten alle mit ein.

Ricardo durchfuhr ein Stich, als er bemerkte, wie Nestor anerkennend Amber zulachte, und sie sein Lachen strahlend erwiderte. Moment mal, hätte er fast gerufen. Nestor würde es doch wohl nicht wagen, Amber auch nur anzurühren! Ricardo war bereit, die berufliche Konkurrenz mit ihm bis aufs Letzte auszutragen – aber privat durfte er ihm nicht auch noch in die Quere kommen.

Er schob Marisas Hand langsam, aber mit Nachdruck von seinem Bein. Der Drang, die Engländerin in seinen Bann zu ziehen, wurde zu einem festen und unumstößlichen Entschluss.

3. KAPITEL

Sieben Tage! Sieben Tage für die neue Aufgabe. Sieben Tage in einer zauberhaften Stadt, die sie noch gar nicht richtig gesehen hatte. Und vor allem: Sieben Tage mit Ricardo in diesem Hotel, wo sie sich jederzeit begegnen konnten. Oder sie blieb einfach in ihrem Zimmer … Wozu gab es denn Roomservice?

Jetzt spinnst du völlig, sagte Amber sich. Was war denn außer ein paar intensiven Blicken schon passiert? Gar nichts! Sie hatten noch nicht einmal persönlich miteinander gesprochen, weil sie gleich nach Zacarias’ Verkündung in ihr Zimmer geflüchtet war. Und statt sich darüber zu freuen, dass sie es bis in die Endrunde geschafft hatte, machte sie sich jetzt darüber Gedanken, wie sie dem attraktiven Spanier aus dem Weg gehen konnte. Das war doch nicht normal!

Als Zacarias die „kleine Sensation“, wie ihre Teilnahme am Wettbewerb nun schon offiziell genannt wurde, verkündet hatte, hatte sie sich zunächst riesig gefreut. Doch als sie abermals wahrgenommen hatte, wie nah und vertraut Marisa und Ricardo beisammensaßen, trübte sich ihre Stimmung wieder. Nicht, dass sie grundsätzlich neidisch auf das Glück anderer war, nein, bestimmt nicht. Aber was sie selbst mit Angelo erlebt hatte, schmerzte noch viel zu sehr. Dabei hatte sie damals in ihrem von der Liebe vernebeltem Kopf gedacht, sie könnte mit Angelo vielleicht auch einmal beides machen: Ihn lieben und mit ihm zusammenarbeiten. Mit genau dieser Idee hatte er sie schließlich schwach gemacht, hatte ihre Naivität und ihre großen Träume ausgenutzt … Daran erinnerte sich Amber immer wieder, wenn sie das Dream-Team vor sich sah. Denn bei Ricardo und Marisa war alles Wirklichkeit. Sie jedoch war damals einer einzigen großen Lüge aufgesessen.

Genug gegrübelt, ermahnte sie sich. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, und setzte sich an ihren Schreibtisch. Es gab viel zu tun.

Am Anfang des Wettbewerbs hatten alle nur Fotos und Pläne für einen bestimmten Teil des alten Gestüts präsentiert bekommen. Daraus hatten die anderen, Nestor und R&M Designs, jeweils ein Luxushotel entwickelt, und sie selbst hatte ein soziokulturelles Zentrum entworfen. Amber runzelte die Stirn, als sie näher über die Auswahl der Jury nachdachte. Ging es Zacarias bei diesem Ideenwettbewerb vielleicht nur darum, wie er künftig am meisten Profit machen konnte? Befriedigte sie mit ihrem Entwurf nur sein soziales Gewissen, indem er sie mit in die Auswahl nahm? Denn auf große Gewinne war ihre Idee nicht angelegt. Oder fand die Jury ihren Vorschlag wirklich gut?

Seufzend lehnte Amber sich zurück. Sie interessierte sich nicht besonders für extravagante Innenarchitektur, die kein Mensch bezahlen konnte. Sie wollte schöne Räume für alle gestalten, ob arm oder reich, und zwar mit möglichst einfachen Mitteln. Ob die kleine Wohnung zu Hause oder das Klassenzimmer, sie schaffte es immer, mit ein paar einfachen Ideen die Umwelt zu verschönern. Wenn eine wohlwollende Lehrerin diese Begabung bei ihr nicht erkannt hätte, hätte sie später wohl nie das Stipendium bekommen. Und sie wäre nie an der renommierten Londoner Schule aufgenommen worden. Und sie hätte nie Angelo getroffen. Und auch nicht diesen Ricardo … Verflixt! Sie wollte sich doch konzentrieren!

Amber strich sich mit den Fingern durch ihre Locken. Die neue Aufgabe, die den drei Endteilnehmern nun gestellt wurde, war folgende: Auf dem weitläufigen Grundstück des Gestüts gab es noch eine alte, terrassenförmige Ruine, in der früher unter anderem Korn und Futter für die Pferde getrocknet wurden. Wie passte die Ruine nun in das jeweilige Konzept? Welche neue Funktion könnte sie haben? Sie brauchte jetzt dringend eine zündende Idee …

Da hellte sich ihr Gesicht auf. Ein Geistesblitz! Gleichzeitig packte sie ein unglaublich starker Ehrgeiz. Nun war sie schon so weit gekommen – vielleicht konnte sie tatsächlich noch mehr schaffen. Allein ihrem Bruder und ihrer Mutter zuliebe musste sie alles geben. Der Familie sollte es endlich besser gehen. Das war ihr großes Ziel.

Es klopfte. Ärgerlich fuhr sie herum. Wer störte sie denn jetzt? Oder stand da schon wieder ein Bediensteter des Hotels mit einer kleinen Aufmerksamkeit an der Tür?

Sie erhob sich, öffnete, und – war überrascht. Es war Nestor, er lachte sie freundlich an. „Hallo! Du warst vorhin so schnell weg. Ich dachte, wir beide könnten unseren bisherigen Erfolg mit einem Gläschen begießen. Ich würde dich gern zum Essen einladen.“

Amber fühlte sich etwas überrumpelt, aber dann freute sie sich. Um ehrlich zu sein, sehnte sie sich nach etwas Nähe. Die vergangenen Monate waren, wenn sie nicht gerade in ihren Kursen war oder als Kellnerin arbeitete, sehr einsam gewesen. Außerdem hatte sie von der Stadt noch nicht allzu viel gesehen, und ja, sie hatte riesigen Hunger. „Warum nicht?“, antwortete sie daher.

„Gut“, sagte Nestor. „Um die Ecke ist ein nettes Lokal. Ich warte in der Lobby auf dich.“

„Okay. Ich bin gleich fertig“, lächelte sie. Als sie die Tür wieder geschlossen hatte, atmete sie tief durch. Zwar wies sie solche Annäherungsversuche von Männern sonst grundsätzlich zurück, denn ihr Misstrauen saß viel zu tief. Doch von Nestor ging keine Gefahr für sie aus, das hatte sie im Gefühl. Er wirkte vertrauenerweckend, wenn er sie anlachte. Außerdem war er als Mann mit diesem blond gefärbten Haar überhaupt nicht ihr Typ.

Schnell machte Amber sich frisch und entschied sich für eine helle Bluse. Schon war sie fertig und verließ ihre Suite. Es hatte eben auch Vorteile, wenn man nicht so großen Wert darauf legte, möglichst schick auszusehen.

Unten in der Lobby saß Nestor in einem der edlen Ledersessel und las versunken in einer Zeitung. Erst als sie vor ihm stand, bemerkte er sie. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Ein weiteres Zeichen, dass er mit seiner Einladung keine Hintergedanken hegte? Nun, gleich würde sie es besser wissen. Vielleicht konnte sie ja auch noch etwas über die Dritten im Bunde, nämlich Ricardo und Marisa, erfahren.

Ziel war eine gemütliche Bodega um die Ecke. Amber gefiel die entspannte Atmosphäre. Über dem Tresen hingen riesige geräucherte Schinken. Ein paar Gäste saßen an der Bar, es wurde gescherzt und gelacht. Sie ließ sich zu einem Glas Wein überreden, Nestor stellte ein paar Köstlichkeiten zusammen.

Dann begannen sie zu plaudern, und sie fühlte sich kein einziges Mal unwohl oder verlegen. Als sie sich nach dem leckeren Dessert gesättigt zurücklehnten, bemerkte Nestor: „Du warst vorher also noch nie in Spanien? Aber du sprichst die Sprache doch perfekt!“

„Ich weiß“, sagte Amber. „Sprachen lernen fällt mir leicht. Es wurde mir in die Wiege gelegt. Damit habe ich einfach Glück gehabt.“

„Sind alle in deiner Familie so begabt wie du?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Eine Begabung muss sich auch entwickeln können. Aber leider bekommt nicht jeder die gleichen Chancen.“

„Wie meinst du das?“

Amber zögerte. Noch kannte sie ihren Gesprächspartner am Tisch nicht wirklich gut, und die Familie war für sie ein sensibles Thema. Allerdings hatte sie sonst kaum Gelegenheit, über ihre Probleme zu sprechen. Sie machte immer alles mit sich allein aus.

„Ich kenne meinen Vater nicht, meine Mutter ist alleinerziehend“, erzählte sie dann doch. „Sie hat mich und meinen kleinen Bruder unter großen Entbehrungen großgezogen.“

„Das hat sie offenbar gut gemacht“, bemerkte Nestor.

Amber lächelte. „Ja. Aber sie hat ihren großen Berufswunsch – sie wollte Ärztin werden – aufgeben müssen. Stattdessen hat sie jeden Job abgenommen, den sie bekommen konnte, um uns ein passables Heim und eine gute Ausbildung zu bieten.“

„Vor solchen Frauen habe ich Respekt.“

„Ich auch. Leider ist dann vor einigen Jahren dieser Unfall passiert …“ Nun stockte sie. Es tat ihr weh, an diese Geschichte zu denken. Auch wurde sie dann immer wütend auf die Zufälle des Lebens, die in einer Sekunde das ganze Schicksal verändern konnten.

„Erzähl es mir“, bat Nestor sanft.

Amber sah ihn fragend an. Wieso war dieser Fremde so nett zu ihr? Angelo hatte einst ähnliches Interesse an ihr gezeigt, dabei aber hatte er doch nur eines von ihr gewollt …

„Mach dir keine Gedanken“, beruhigte er sie. „Ich finde dich einfach nur sympathisch. Und ich bewundere dich, weil du es bis hierher geschafft hast. Ich mag starke Menschen – als Menschen, aber nicht mehr.“ Er schob eine Hand über den Tisch. Erst jetzt bemerkte Amber den schmalen, goldenen Ehering. Nestor war verheiratet! Obwohl das ja, wie sie nur allzu gut wusste, nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte … Doch er wischte mit seiner offenen Art alle Bedenken vom Tisch: „Alles klar? Und jetzt erzähl von dem Unfall. Es interessiert mich wirklich.“

Sie atmete tief durch. „Mein kleiner Bruder Aurelio ist vor ein paar Jahren beim Spielen von einem Baugerüst gestürzt und hat schwer verletzt überlebt“, begann sie. „Er lag lange im Krankenhaus. Seitdem ist er körperlich ziemlich eingeschränkt. Braucht überall Hilfe. Beim Anziehen, beim Treppensteigen. Er kann nicht allein leben. Meine Mutter kümmert sich um ihn, so gut sie kann.“ Und ich bin die Einzige, auf die die beiden hoffen können, ergänzte Amber im Gedanken. Ihre Mutter verausgabte sich völlig, aber auch sie selbst befand sich oft am Rande der Erschöpfung. Denn das Stipendium reichte nur für den Besuch der sündhaft teuren Schule und für die Miete eines winzigen Apartments. Deshalb arbeitete sie neben dem anstrengenden Studium zusätzlich noch als Kellnerin. Jeden Monat steckte sie ihrer Familie Geld zu.

„Gibt es keine Chancen auf Besserung bei deinem Bruder?“

Sie lächelte bitter. „Oh, es gäbe eine Menge alternativer Therapien, die seinen Zustand verbessern könnten.“ Mehr sagte sie nicht.

Nestor sah sie fragend an. „Ja, und?“

Amber nahm einen Schluck Wein. Sie wollte nicht auf die Tränendrüse drücken. Das war einfach nicht ihr Stil.

Doch Nestor wartete einfach ab. Also redete sie schließlich weiter. „Wir können uns diese Therapien nicht leisten, so einfach ist das. Ich … wir … haben immer sehr bescheiden gelebt. Doch mit dem Stipendium habe ich die Chance … will ich … würde ich so gern …“ Plötzlich kam sie ins Stolpern und hatte einen dicken Kloß im Hals.

Er sah sie überrascht an. „Du hast also ein Stipendium bekommen und bist nur deshalb auf dieser teuren Londoner Schule?“

„Ja …“ Tatsächlich fühlte Amber sich bis heute an der Schule wie eine Außenseiterin. Alle anderen Studenten und Studentinnen kamen aus besserem Haus. Manche von ihnen studierten, so kam es ihr jedenfalls vor, dort nur aus Langeweile und gönnten ihr nicht, dass sie so begabt war. War dieser Neid nicht auch der Grund für das katastrophale Ende mit Angelo gewesen, über das sie immer noch nicht hinweg war?

Nestor schüttelte langsam den Kopf. „Dann gehörst du also nicht zu diesen gut situierten Absolventen dort. Stattdessen musst du kämpfen. Deshalb dein Ehrgeiz. Du willst nach oben, um deinem Bruder zu helfen. Und deshalb auch die Idee mit dem soziokulturellen Zentrum für eher mittellose oder vom Schicksal getroffene Familien. Jetzt verstehe ich das alles.“ Nach einer kleinen Pause meinte er ernst: „Das tut mir sehr leid. Ich hoffe, du schaffst alles, was du dir wünschst. Obwohl …“

„Ist schon gut …“ Amber blinzelte ihre aufsteigenden Tränen weg.

Er bemerkte dies zum Glück nicht, sondern lächelte plötzlich schelmisch. „… obwohl ich dann also meiner Konkurrentin wünschen müsste, dass sie statt meiner gewinnt.“ Er hob sein Glas. „Weißt du, was? Ich denke, es ist einfach nur fair, wenn der Beste das Rennen macht.“

Amber war froh, dass er sie nicht weiter bemitleidete, denn sonst hätte sie vielleicht doch noch geweint. „Was ist denn mit Ricardo und Marisa?“, wagte sie endlich zu fragen. „Wie findest du ihr Konzept?“

„Ach, die!“, erwiderte Nestor so abfällig und heftig, dass sie ihn verwundert ansah.

„Kennst du die beiden näher?“

„Klar. Wir schwimmen in Madrid doch im gleichen Haifischbecken. Dort herrscht ein großer Kampf um die besten Aufträge. Wir mögen uns leider nicht besonders.“

„Wie lange kennt ihr euch denn schon?“, fragte sie interessiert.

Doch auf einmal winkte er ab. „Darüber reden wir vielleicht ein anderes Mal, okay?“

Wenig später betraten sie gemeinsam das Hotel. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich bei ihm untergehakt, weil ihr das Gespräch so gut getan hatte. Doch gerade in dem Moment, nachdem sie sich in der Lobby voneinander verabschiedet hatten, kam Ricardo die Treppe hinunter. Allein.

Nestor war schon ein paar Schritte entfernt, als Ricardo vor Amber stehenblieb. „Hallo“, sagte er nur, während er Nestor mit gerunzelter Stirn hinterher sah. „Habt ihr euch schön gemeinsam amüsiert?“

Sie fühlte sich wie auf den Fleck genagelt. Seine Augenfarbe, eine faszinierende Mischung aus grün und blau, wie sie nun erkennen konnte, erinnerte sie an das klare Wasser einer Lagune. Wider Erwarten fiel ihr sogar eine schlagfertige Antwort ein: „Dafür, dass wir das erste Mal miteinander reden, ist diese Frage ziemlich direkt.“

„Tatsächlich?“, sagte er nur und sah sie weiterhin intensiv an.

Dann passierte es wieder. Es war, als würde er Amber mit seinen Blicken durchdringen. Die feinen Härchen auf der Haut richteten sich auf, wie bei einem wohligen Schauer. Und was geschah da mit ihren Brustwarzen? Deutlich spürte sie, wie sie sich verhärteten. Das durfte ja wohl nicht wahr sein …!

„Ich muss gehen“, stieß sich hervor, bevor ihr Gehirn von einer Sekunde auf die andere den Befehl zur Flucht gab, denn keinesfalls sollte Ricardo merken, welch elektrisierende Wirkung er auf sie hatte. Sie stürmte an ihm vorbei, sprang in den offenen Fahrstuhl und drehte sie noch einmal um.

Er sah ihr amüsiert hinterher.

„Hasta luego“, glaubte sie zu hören. „Bis bald!“

Im Zimmer angekommen, lehnte sie sich erst einmal gegen die Wand. Ihr Atem ging schnell, und sie schloss die Augen. Sieben Tage! Leider konnte sie sich nichts mehr vormachen – der Gedanke, mit Ricardo so lange unter einem Dach zu sein, machte sie langsam verrückt.

Als Amber am nächsten Morgen ihre E-Mails las, rieb sie sich verwundert die Augen. Sie war müde, sehr müde, hatte bis tief in die Nacht gearbeitet und mal wieder zu wenig geschlafen. Aber dann machte die Nachricht aus London sie hellwach. Eine Glückwunschmail von ihrer Schule! So schnell hatte sich die Nachricht verbreitet, dass sie bei dem Wettbewerb weitergekommen war? Rasch sah sie auf der Internetseite von Zacarias nach, denn schließlich wurde dort jedes neue Detail des Wettbewerbs erwähnt. Ja, dort stand ihr Name – Amber Mills, Teilnehmerin der Endrunde.

Zusätzlich schickte man ihr noch einen Link zu einem Artikel, der in der Online-Ausgabe des Schuljournals erschienen war. Man war stolz auf die ungewöhnlich begabte Studentin, natürlich. In aller Länge wurde über ihren Entwurf zu dem Wettbewerb berichtet.

Doch sofort rollte bedrohlich die Woge der Erinnerung auf sie zu. Denn schließlich war es nicht das erste Mal, dass im Schuljournal über sie geschrieben wurde. Damals hatte sie den Artikel gar nicht in einem Zug lesen können, so sehr brannten die Tränen des Entsetzens in ihren Augen. Dazu dieses Foto von ihr und Angelo, in inniger Umarmung … Da hatte sie endgültig begriffen, wie dumm und naiv sie gewesen war. Doch es ließ sich nicht ändern. Angelo war die erste Liebe ihres Lebens gewesen, und er hatte sie als Beute gewählt. Pech gehabt.

Vor drei Jahren hatte er als Gastdozent aus Mailand an ihrer Schule unterrichtet. Viele Studentinnen schwärmten für ihn, vor allem Simona und Isabel, ihre Mitstudentinnen und … Feindinnen? Bis heute wusste Amber nicht genau, ob die beiden hinter der Sache steckten. Denn zu jener Zeit gab es auf der Seite des Online-Journals eine Rubrik, unter der unzensiert Artikel veröffentlicht werden konnten. Der Artikel über Angelo und sie war unter einem Fantasienamen erschienen.

Simona und Isabel hatten von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie neidisch waren auf Ambers Talent, auf ihr Aussehen, einfach auf alles. Damals hatte sie sich noch gern figurbetont gekleidet und schön geschminkt. Dann, das musste sie selbst zugeben, stach sie unter den anderen Studentinnen heraus. Wenn sie auf solche Eitelkeiten verzichtet hätte, hätte Angelo sie bestimmt nicht eines Tages auf dem Nachhauseweg angesprochen und zu einem Tee eingeladen.

Erst hatte sie abgelehnt, doch wie das Schicksal es wollte, fing es genau in diesem Moment heftig zu regnen an, und sie flüchteten gemeinsam in ein Pub. So hatte es begonnen. Natürlich war es nicht klug, sich als Studentin auf einen Dozenten einzulassen, doch Angelo unterrichtete zu Beginn ja die anderen Kurse und nicht ihre Klasse. Außerdem ließ er einfach nicht locker, fing sie immer wieder ab und eroberte mit seiner Hartnäckigkeit ihr Herz. So etwas hatte sie zuvor noch nie erlebt. Es hatte ihr gefallen, von einem begehrten Mann selbst so begehrt zu werden.

Amber rieb sich noch einmal die Augen, als könnte sie damit die Erinnerungen vertreiben. Rasch stand sie auf, stellte sich ans Fenster und sah auf die Gasse vor dem Hotel hinaus. Die Läden öffneten gerade ihre Türen. Es war ein strahlender Frühsommertag, mit blitzblauem Himmel und viel Sonnenschein. Vielleicht sollte sie sich lieber ein wenig ablenken und endlich mal die Stadt besichtigen? Oder wollte sie in einer Woche nach London zurückkehren und nur das Hotel von innen gesehen haben?

Da klopfte es erneut an ihrer Tür.

Nestor, dachte Amber erfreut. Er kam wie gerufen. Gern dachte sie an das nette Gespräch mit ihm zurück.

Ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, öffnete sie die Tür. „Hey …“

Und verstummte.

Zwei türkisfarbene Augen musterten sie. Sie hatten eine so starke Wirkung auf sie, dass Amber unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

„Komm mit“, sagte Ricardo nur. „Immer zu arbeiten, ist keine gute Idee. Los, ich zeige dir die Stadt.“

Amber fühlte sich von Ricardos Erscheinen und seinem vertraulichen Ton völlig überrumpelt. Außerdem … Sie spähte über seine Schulter, und er verstand sofort.

„Ich bin allein. Marisa musste kurzfristig in unser Madrider Büro. Wir haben dort viel Arbeit.“ Er lachte und zeigte dabei seine makellosen weißen Zähne. Sein Kinn war von dunklen Stoppeln gesäumt, doch das machte ihn nur noch attraktiver. „Also, was ist?“

„Weil Marisa nicht da ist, soll ich als Begleitdame einspringen?“, kam Amber zum Glück abermals eine schlagfertige Antwort in den Sinn. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

Er wurde wieder ernster. „Nein. Ich finde nur … Du hast eine tolle Präsentation hingelegt. Wie Zacarias schon sagte, es ist eine kleine Sensation, dass du es bis hierhin geschafft hast. Du bist einfach eine besondere Frau.“

Ob sie wollte oder nicht, Amber fühlte sich geschmeichelt. Hatte Nestor nicht ähnliche Worte gebraucht? Nein, nicht ganz. Nestor hatte gesagt, sie wäre ein besonderer Mensch, Ricardo sprach von ihr als Frau.

„Also, kommst du mit? Kennst du die Sehenswürdigkeiten von Sevilla schon?“

Sie schüttelte den Kopf. „Bisher habe ich noch nicht viel gesehen …“

„Dann keine Widerrede. Du hast jetzt den besten Stadtführer der Welt.“

„Also …“

Ricardo trat ein Stück auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sofort fing ihre Haut zu prickeln an.

„Warum sollte ich …?“, machte Amber noch einen schwachen Versuch, sich gegen seine mächtige Charmeoffensive zu wehren.

Seine Finger drückten sie sanft. „Ganz einfach, weil ich dich darum bitte. Außerdem müssen wir ja auch den Kopf ein wenig frei bekommen, oder?“ Dann trat er zurück und legte die Hand auf seine Brust. Sie konnte den Blick nicht von ihm nehmen, war wie gebannt. Die Geste beeindruckte sie irgendwie.

Gleichzeitig hatte sie Angst, dass die Geschichte von früher sich in ähnlicher Weise wiederholen könnte. Aber das war albern, denn in einer Woche würde sie wieder in London sein, und sie wusste ja diesmal – im Gegensatz zu der Sache mit Angelo – dass Ricardo schon vergeben war. Wenn sie Nein sagte, verpasste sie wahrscheinlich einen wundervollen Tag in einer wundervollen Stadt. Einen Tag! Oder auch nur wenige Stunden. Jedenfalls war es eine kurze Pause von ihrem sonstigen Marathonprogramm.

Schließlich gab sie sich geschlagen und nickte. Ja, okay, sie würde versuchen, den Kopf freizubekommen – und zwar von Ricardo. Vielleicht würde sie nämlich gleich feststellen, dass der Spanier gar nicht so faszinierend war, wie er bisher auf sie gewirkt hatte. Sie hoffte es inständig – und wusste, dass sie dann gleichzeitig ziemlich enttäuscht sein würde.

4. KAPITEL

Komm mit mir, hatte Ricardo soeben leichthin gesagt.

Nun sah Amber ihn mit gerunzelter Stirn an und zögerte – zu lange, wie ihm schien – daher legte er seine Hand zunächst auf ihre Schulter und dann auf seine Brust. Es war eine instinktive Geste, die ihr zeigen sollte, dass sie keine Angst zu haben brauchte.

Seit dem Aufwachen hatte er nur an sie gedacht. Er hatte das edle, dezente Sommerjackett gewählt, eine dazu passende Hose und ein leichtes Hemd. Es konnte Anfang Juni in Sevilla schon ziemlich heiß werden, und er hatte vor, Amber so lange herumzuführen, bis sie erschöpft war. Erschöpft und aufgeregt zugleich …

Wie sie nun so überrascht vor ihm stand und mit sich haderte, gingen ihm die widersprüchlichsten Gedanken durch den Kopf. Er begehrte diese Frau wie keine andere, das wurde Ricardo in diesem Moment bewusst. Doch bis zum Äußersten sollte er mit seiner Konkurrentin natürlich nicht gehen. Das war nicht klug, vor allem wegen seiner angeblichen Beziehung zu Marisa. Jede andere Frau, die nicht wusste, dass er offiziell mit seiner Geschäftspartnerin liiert war, konnte er für einen heißen Flirt haben. Nur: Warum ließ er die Sache mit Amber nicht gleich bleiben? Und wie weit durfte er mit ihr gehen? Diese Fragen hatten ihn auf dem Weg zu ihrer Suite sehr beschäftigt.

Amber sah ihn immer noch an. Dann nickte sie. „Also gut“, sagte sie langsam, wie aus einem Traum erwachend. „Ich würde gern etwas von der Stadt sehen, ja.“

Jetzt lächelte sie warmherzig. Aus der Nähe waren ihre hellbraunen Augen wunderschön, umrandet von dichten, schwarzen Wimpern. Wenn Amber eine so natürliche Schönheit war, wie mochte sie dann erst bei einem abendlichen Date aussehen?

Oder … nackt?

Plötzlich wurde das Begehren in Ricardo übermächtig. Das Begehren, nicht irgendein Begehren. Jenes Begehren, das ihn damals auch Sofia gegenüber blind gemacht hatte. Seitdem hatte er so etwas nicht mehr erlebt.

Rasch legte er seinen inneren Schalter um, um diese unvorhergesehen starke Emotion unter Kontrolle zu bekommen. „Gute Entscheidung“, sagte er. „Ich warte unten auf dich.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Ich brauche nur eine Minute!“, rief sie ihm noch hinterher.

Eine Frau, die nur eine Minute brauchte? Offenbar hatte Amber auch jetzt nicht vor, ihre Schönheit durch ein entsprechendes Styling zu betonen, und darin unterschied sie sich ziemlich von anderen Frauen, die er näher kannte. Doch selbst wenn sie gleich in ein Handtuch gewickelt nach unten kommen würde – sie konnte ihre außergewöhnlichen Reize vor ihm nicht verstecken.

Tatsächlich erschien sie wenig später in der Lobby in schlichter Aufmachung. Kein Hauch von Make-up. Wusste sie nicht, dass gerade ihre Natürlichkeit sie noch geheimnisvoller machte? War sie tatsächlich so unbedarft, wie sie wirkte? Ricardo verspürte große Lust, dies herauszufinden.

Lächelnd hielt er ihr die Tür auf. Die gemeinsame Tour konnte also beginnen. Er wohnte zwar in der angesagten Metropole Madrid, doch er kannte die faszinierenden Seiten Sevillas von zahlreichen Besuchen ziemlich gut.

„Du warst vorher noch nie in Spanien?“

„Nein. Aber ich weiß schon jetzt, dass mich dieses Land fesselt. Vielleicht möchte ich später einmal hier leben und arbeiten“, erwiderte sie ernst.

Er betrachtete sie mit wachsendem Interesse. Für ihre Pläne würde er gern seinen Beitrag leisten. Er würde ihr eine unvergessliche Führung bieten, eine Mischung aus interessanten Details und einer großen Portion südländischer Romantik. Es würde ihm Spaß machen, die Stadt mit Ambers Augen zu sehen.

Zunächst schlenderten sie zur nahe gelegenen Kathedrale. Auf dem Weg dorthin kamen sie an den schmucken Kutschen vorbei, die für die Touristen bereitstanden.

„Wie schön!“, rief Amber aus. Spontan war er versucht, zu einem der Kutscher zu gehen, da hielt sie ihn am Ärmel fest. „Nein! Keine Fahrt!“, sagte sie plötzlich fast flehend. „Ich … ich meinte nicht speziell die Kutschen. Ich meinte … das gesamte Ambiente hier. Es ist sehr schön.“

Ricardo wunderte sich zwar einen Moment lang über ihre plötzlich brüchige Stimme, aber dann gingen sie weiter, auf das imposante Bauwerk zu. Dabei erwähnte er allerlei wissenswerte Fakten, wie etwa, dass die Kathedrale im 15. Jahrhundert errichtet wurde und dass es sich dabei um die größte gotische Kirche der Welt handelte.

Sie traten in den weitläufigen Innenhof der Kathedrale. „Du weißt wirklich eine Menge zu erzählen“, bemerkte sie nach einer Weile. „Gehen wir nun hinein?“

Er zögerte. Eine zu ausführliche Führung konnte auch ermüden und jeden Funken Romantik vertreiben. „Beim nächsten Mal“, schlug er vor.

„Beim nächsten Mal?“ Sie standen sich unter den schattenspendenden Bäumen gegenüber. Von einer Sekunde zur anderen sah sie ihn wieder viel zu ernst an. „Ricardo, ich weiß es zu schätzen, dass du dir heute für mich Zeit nimmst. Aber ein zweites Mal wird es wohl nicht geben, denn ich werde die nächsten Tage bestimmt nur noch für den Wettbewerb arbeiten.“

Eine ähnliche Antwort hatte er erwartet. Er hingegen war sich mit jeder Sekunde sicherer, dass es noch ein weiteres Mal geben würde – musste! Andere Frauen, mit denen er sich seit Sofia sporadisch vergnügt hatte, waren nicht halb so interessant wie Amber gewesen, trotz aufwendigem Styling und teurer Designerklamotten.

„Doch, beim nächsten Mal“, insistierte er. „Es gibt hier nämlich noch ein paar andere schöne Dinge zu besichtigen als nur einen Kirchenaltar und Heiligenbilder“, erwiderte er scherzhaft. Aber sie blieb ernst.

„Du sollst wissen …“

Da legte er ihr einfach den Finger auf die Lippen. Was immer es war, er wollte es im Moment nicht hören. Später vielleicht. Jetzt wollte er das Vergnügen ihrer Gesellschaft erst noch weiter auskosten.

„Ricardo …“, begann sie erneut, als er ihren Mund wieder freigab.

„Später“, unterbrach er sie fest und legte all seinen Charme in seinen Blick. „Ich habe dir einen unvergesslichen Stadtrundgang versprochen. Alles andere kommt danach.“

Sein geübter Blick, gepaart mit diesem ganz bestimmten Tonfall, verfehlte seine Wirkung nicht auf Amber. Er war immer ein Meister der Verführung gewesen, schon vor Sofia – die ihrerseits eine Meisterin der Verstellung gewesen war. Wie er auf ihre Schmierenkomödie hatte reinfallen können, war ihm heute schleierhaft. Schnell lenkte er die Gedanken wieder auf die Gegenwart: Amber und Sofia, dazwischen mussten Welten liegen. Denn obwohl er Amber kaum kannte, empfing er von ihr etwas so – Reines, Frisches, Ehrliches. Es war schwer zu beschreiben. Sofia hatte diese Eigenschaften nur vorgespielt, das aber bis zur Perfektion.

„Du hast recht.“ Amber atmete tief durch und strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich sollte das alles hier vielleicht einfach mal nur genießen. Die Arbeit läuft schon nicht weg.“

„So sehe ich das auch“, sagte er. Da streckte sie plötzlich die Arme in den Himmel und drehte sich einmal um sich selbst. Von einer Sekunde zur anderen konnte Amber zu dieser zauberhaften Leichtigkeit wechseln. Er fand das faszinierend. Sie kam zum Stehen. Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und ließ ihre Augen wie zwei Bernsteine leuchten. Ihr Name hätte nicht treffender sein können, denn Amber war schließlich auch die englische Bezeichnung für diesen schönen Schmuckstein. „Also, wohin gehen wir jetzt?“, fragte sie.

Darauf gab es nur eine Antwort: „Alcázar!“

Der mittelalterliche, sehenswerte Königspalast, der ursprünglich ein maurisches Fort gewesen war und heute viele Baustile vereinte, lag unweit der Kathedrale. Doch auch hier hatte Ricardo nicht vor, ins Innere zu gehen. Bezaubernder und romantischer war die dazugehörige Gartenanlage. Eine Oase inmitten der Stadt!

Amber verfiel in ein fast ehrfürchtiges Schweigen. Das Ensemble von Palast und Park musste für jeden überwältigend sein, der so etwas noch nie gesehen hatte.

Da war diese Pflanzenvielfalt aus unzähligen Blumen und hohen Palmen, schlanken Zypressen, Orangen- und Granatapfelbäumen. Mauersegler flogen kreischend über sie hinweg und schlugen ihre Kapriolen. Brunnen, verziert mit den schönsten Mosaiken, plätscherten in den Patios, von denen einer schöner als der andere war. Der warme Wind duftete nach Orangen.

Plötzlich gab es nur noch eines zu tun. Ricardo fasste Amber bei der Hand und zog sie auf eine Bank. Ohne zu zögern, nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf die vollen, weichen Lippen. Es musste einfach sein. Es gab keinen besseren Ort und Moment dafür als diesen hier. Und er hatte es wirklich satt, dauernd abzuwägen, mit welcher Frau er sich wo vergnügen konnte, ohne dass seine Beziehung zu Marisa infrage gestellt wurde.

Amber saß ganz still. Sie wehrte sich nicht, aber sie reagierte auch nicht. Sie saß nur mit geschlossenen Augen da.

„Was ist?“, fragte er leise und streifte mit den Lippen noch einmal über ihren Hals.

Er hörte sie atmen.

Jetzt öffnete sie die Augen. Ein paar Tränen schimmerten darin. „Was tust du denn da?“, flüsterte sie erstickt.

„Es war doch nur ein Kuss“, flüsterte er zurück. Gleichzeitig klopfte sein Herz heftig, und dasselbe mächtige Begehren, das er vorhin vor Ambers Suite gespürt hatte, stieg in ihm auf. Er musste sie in die Arme nehmen, und es war ihm egal, was Marisa dazu sagen würde. Schließlich war es ja ihre Idee gewesen, mit der Engländerin anzubändeln. Aber dass er gleich so weit gehen sollte, hatte Marisa bestimmt nicht gewollt.

Er zog Amber noch enger zu sich heran. Sog ihren Duft ein, der süß und weiblich war, obwohl sie kein Parfüm zu benutzen schien. Ein ganz eigener Duft – für ihn köstlicher als jener Naturstoff namens Amber, der oft für Parfüm verwendet wurde. Auch hier war der Name also mehr als zutreffend für sie …

Doch dann spürte er ihren Widerstand. „Ricardo, das geht nicht!“ Sie rückte von ihm ab. „Du bist mit Marisa zusammen!“ Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. Leider hatte sie recht, zumindest aus ihrer Sicht.

„Marisa ist ein paar Tage nicht da“, fiel ihm zunächst nur ein.

Amber wollte aufstehen. Doch er hielt sie zurück.

„Was hast du zu verlieren?“, fragte er sie ganz direkt, bevor ihm klar wurde, wie verfänglich diese Frage war.

Amber reagierte prompt: „Wieso ich? Gar nichts, denn im Gegensatz zu dir bin ich nicht verlobt!“

Auf einmal wirkte sie verzweifelt, und plötzlich wurde Ricardo alles klar. Sie war anscheinend nicht gebunden, und wenn er sich nicht täuschte, war sie darüber nicht besonders glücklich. Schnell, noch bevor sie weiterreden konnte, umfasste er abermals ihr Gesicht und küsste mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft ihre weichen, sinnlichen Lippen. Denn was hätte er schon sagen können? Da er keine Worte hatte, musste er eben die Sinne sprechen lassen …

Er spürte, wie sie schwach die Hände gegen seine Brust drückte. Eigentlich wollte sie das Gegenteil tun … und auf einmal war er sich ganz sicher: Sie wollte ihn auch.

Ricardo schmeckte das Salz von Ambers Tränen. Er schmeckte ihre Lust.

Sie hätte umkehren sollen. Vorhin schon, als sie auf dem Platz bei der Kathedrale angekommen waren. Im ersten Moment war Amber von der Atmosphäre mitsamt der bereitstehenden Kutschen begeistert gewesen. Doch dann, als Ricardo sich anschickte, zu einem der Kutscher zu gehen, hatte sie ausgerufen: „Nein! Keine Fahrt!“ Denn schließlich war es auf dieser hochromantischen Kutschfahrt durch London im Schneegestöber gewesen, als Angelo ihr Herz gestohlen hatte. Die sanft fallenden Flocken, die vielen Lichter der Stadt, dazu die Flut italienischer Koseworte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, während er eine Hand unter ihren Pullover schob … So etwas Schönes hatte sie zuvor noch nie erlebt, sie hatte sich dagegen nicht wehren können.

Doch sie hatte ihr Lehrgeld bezahlt. Eine zweite Kutschfahrt mit einem gebundenen Mann, der noch atemberaubender war als Angelo – sollte das ein Test des Schicksals sein? Natürlich hatte sie es dazu nicht kommen lassen.

Aber jetzt – hatte er sie trotzdem geküsst!

Amber saß auf einer Bank in dem wundervollen Garten des alten Königspalasts, wo es nach Orangen duftete und alles wie verzaubert wirkte, und zitterte. Allein die kurze Berührung von Ricardos Lippen hatten in ihr einen Aufruhr verursacht, als hätte ein Märchenprinz aus Tausendundeiner Nacht sie gefragt, ob sie als seine Frau auf ewig mit ihm in diesem Palast wohnen wollte.

Als er sich abermals zu ihr beugte und seine Lippen ihre Wangen streiften, merkte sie, dass sie Tränen in den Augen hatte.

„Ich weiß, dass wir von der Vernunft her lieber voneinander lassen sollten“, hörte sie ihn rau an ihrem Ohr flüstern.

Steh schon auf! Lauf endlich weg!

Nun glitt seine Hand, die bisher sanft auf ihrem von der Bluse bedeckten Dekolleté gelegen hatte, ein kleines Stück unter den Stoff und berührte ihre nackte Haut. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, und ihre Brustwarzen richteten sich auf. Es war, als hätte er seine Hand schon ganz unter die Bluse geschoben, doch da war nur die Andeutung davon … nur die Andeutung …

Amber wand sich aus seinen Armen. Sie atmete plötzlich heftig. „Dann tu das doch! Lass mich in Ruhe!“, rief sie aus.

Sein Blick traf sie bis ins Mark. „Selbst wenn ich dir widerstehen könnte – ich will es gar nicht.“

„Warum nicht? Du und Marisa, ihr wollt doch bestimmt heiraten und …“

„Lass Marisa aus dem Spiel.“ Seine Stimme klang dunkel.

„Aber …“

„Manchmal sind die Dinge eben anders, als sie scheinen.“

Sie starrte ihn an. Was meinte er damit? Sie wollte so viel über ihn wissen – und am liebsten gar nichts weiter. Nun wurde ihr ein großer Unterschied zu Angelo bewusst: Bei dem Italiener hatte sich ihr Verlangen nur langsam entwickelt. Bei jedem Treffen, zu dem er sie überredet hatte, war er ein Stück weiter gegangen, hatte sie ein Stückchen mehr erobert. Doch bei Ricardo war es anders. Von einer Sekunde zur anderen wollte sie von diesem ihr fast unbekannten Mann geküsst und berührt werden. Doch es durfte nicht sein.

Sie ließ sich von der Bank hochziehen. Dann legte er die Arme um sie, und sie konnte seinen Herzschlag spüren. Jetzt. Jetzt musste sie sich von ihm losmachen und, ohne sich noch einmal umzudrehen, davongehen. Fertig.

Stattdessen hob sie den Kopf und sah Ricardo an. Seine Augen glänzten fast fiebrig. Auf dem türkisfarbenen Grund schimmerte überdeutlich sein Begehren – und löschte für einen Augenblick jeden Skrupel in Amber aus. Hier standen nur noch sie und er, ein Mann und eine Frau.

Die nächste Chance war verstrichen. Eine Sekunde, in der ihr Verstand vielleicht noch die Überhand hätte gewinnen können. Stattdessen ließ sie zu, dass er sie nun richtig küsste. Er presste seinen Mund auf ihren, und sie spürte seine Zunge. Ihre Lippen öffneten sich leicht. Ein Gefühl unendlicher Süße durchströmte sie. Wie seltsam – in diesem Moment gab es kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil. Es gab nur einen leidenschaftlichen Durst in ihr, von dem sie gedacht hatte, dass er nach der bitteren Erfahrung mit Angelo versiegt wäre. Das berauschende Gefühl, das sie ausfüllte, spülte jede alte Trauer fort. Zwar war es furchtbar, dass sie zum zweiten Mal an einen vergebenen Mann geraten war. Gleichzeitig aber war sie erstaunt darüber, dass sie überhaupt schon wieder etwas für einen anderen Mann empfinden konnte. Für diese Erfahrung konnte sie Ricardo, auch wenn es ziemlich fragwürdig war, wie er sich im Moment an sie heranmachte, nicht wirklich böse sein.

Doch konnten sie sich auch nicht ewig hier vor all den vorbeiflanierenden Touristen innig küssen. Er schien dasselbe zu denken. „Komm!“, sagte er und nahm sie bei der Hand.

Eine kurze Zeit liefen sie stumm nebeneinander her. Amber musste erst einmal verdauen, was da eben zwischen ihnen geschehen war. Dann löste sie abrupt ihre Hand aus seiner. Was würde passieren, wenn jemand sie beobachtete? Hatte Ricardo denn überhaupt keine Bedenken? Und sie, wie konnte sie so tun, als wäre alles in Ordnung?

Er verstand diese Geste nur zu gut. Ernst sah er sie an. „Ich kenne ein verschwiegenes Lokal, wo wir heute Abend gemeinsam essen können. Niemand wird uns sehen.“

Amber holte tief Luft. Ihre Gedanken begannen, wieder zu arbeiten. Auf keinen Fall würde sie diese Einladung annehmen. Erstens war sie nicht hier, um sich in einer Liebesaffäre zu verlieren, sondern sie brauchte all ihre Kraft für den Wettbewerb. Zweitens bildete er sich doch nicht etwa ein, sie würde sehenden Auges in ihr Unglück rennen?

„Wie ich vorhin bereits sagte“, entgegnete sie kühl, „ich glaube nicht, dass es noch weitere Treffen zwischen uns geben sollte.“

Ricardo musterte sie. „Du weißt wohl genau, was du willst, und du bist sehr zielstrebig.“

„Natürlich“, antwortete sie knapp. Wenn er nur wüsste, wie viel für sie bei dem Wettbewerb auf dem Spiel stand! Wie wichtig eine beruflich sichere Zukunft nicht nur für sie, sondern auch für das Wohl ihres Bruders war! Er hingegen hatte mit Marisa schon so viele Preise gewonnen, dass der Wettbewerb nur eine weitere Trophäe in seiner Erfolgssammlung war. Vielleicht war sie für ihn auch nur eine Trophäe … so, wie sie es für Angelo gewesen war.

Ihre Ernüchterung wurde plötzlich immer größer. „Ich möchte zurück zum Hotel“, stieß sie hervor.

Ricardo wollte sie wieder berühren, doch sie wich zurück. „Aber die Stadtführung ist lange noch nicht zu Ende“, insistierte er.

Sie schüttelte nur den Kopf. „Für heute habe ich genug gesehen“, sagte sie leise. Und gespürt, setzte sie in Gedanken hinzu. Denn offensichtlich schien sich hier eine kleine Katastrophe anzubahnen, und die musste sie dringend stoppen. Sie war nämlich dabei, sich Hals über Kopf in diesen verdammt gut aussehenden Spanier zu verlieben!

Amber blieb für Ricardo ein Rätsel. Jedenfalls schien sie ziemlich schnell zwischen verschiedenen Stimmungen hin- und herzuschwanken. In der kurzen Zeit, die er sie nun kannte, hatte er sie äußerst konzentriert, ausgelassen, fröhlich, ernst und zärtlich erlebt. Eben war sie noch Wachs in seinem Armen gewesen, und nun wirkte sie völlig unnahbar. Allerdings hatte er sie auch ziemlich überrumpelt und konnte im Moment nur wenig dafür tun, in ihren Augen nicht als skrupelloser Betrüger zu erscheinen. Das war schon eine verfahrene Situation. Vielleicht war es doch besser, die Geschichte einfach zu belassen und das kurze Zwischenspiel zwischen ihnen zu vergessen?

Sie waren an einer ruhigen Ecke stehen geblieben, und Amber hatte sich an eine Wand gelehnt. Sie sah auf einmal erschöpft aus. Obwohl sie Ricardo gerade eine unmissverständliche Absage erteilt hatte, blickten ihre Augen irgendwie – flehend. Verletzt. Fast ein wenig ängstlich.

„Was ist mit dir los?“, fragte er ruhig.

Sie schüttelte den Kopf.

„Du denkst, ich bin unverantwortlich, stimmt’s?“

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Ich habe schon lange keine Frau mehr getroffen, die mich so fasziniert hat wie du, Amber“, sagte er. Es war seltsam. Da die Engländerin auf ihre Weise so rein und schutzbedürftig wirkte, entstand bei ihm das Bedürfnis, ehrlich zu ihr zu sein – zumindest soweit es nur ihn und nicht seine Scheinbeziehung zu Marisa betraf. Es war das erste Mal seit Langem, dass eine Frau ihn wirklich interessierte. Seine wenigen sexuellen Affären seit Sofia waren eher belanglos gewesen.

Doch Ambers Gesichtsausdruck wurde mit seinem Geständnis nicht etwa weicher, sondern verhärtete sich noch mehr. „Diese Worte habe ich schon einmal gehört“, meinte sie bitter.

Er verstand sofort. Sie hatte wohl eine schlechte Erfahrung gemacht. Und er, der es in diesem Moment absolut ehrlich meinte, stand wie ein Idiot da, der das Blaue vom Himmel erzählte.

Er legte seine Hand an ihre Wange. Ihre Haut war heiß. Jetzt ließ sie es geschehen. Ihr gequälter Blick ging ihm durch Mark und Bein. „Ich bringe dich zum Hotel zurück.“ Anders konnte er die Situation gerade wohl nicht entschärfen.

Sie nickte nur.

Schweigend liefen sie nebeneinander her, während die Sonne freundlich und warm vom Himmel schien. Doch die Stimmung war plötzlich frostig. Wie gern hätte Ricardo einfach den Arm ausgestreckt, um ihn schützend um Amber zu legen, aber sie hielt nun offenbar einen gewissen Sicherheitsabstand. Ein wenig verfluchte er sich, dass er so ungestüm vorgegangen war. Andererseits war es gut, dass eine Frau es schaffte, ihn mal wieder aus der Reserve zu locken. Denn in dem Gefühlsgefängnis, in das er sich eingesperrt und dessen Schlüssel er gut versteckt hatte, wurde es ihm langsam zu einsam.

5. KAPITEL

Eine SMS! Hoffnungsvoll sah Ricardo auf sein Handy, doch leider war es nicht Amber, die versprochen hatte, sich an diesem Tag zu melden. Es war nur Marisa, die ihn per Kurzmitteilung fragte, warum er nicht ans Telefon ging. Tatsächlich hatte er Marisas Anrufe am Tag davor ignoriert, weil er sich seltsam leer gefühlt hatte. Er wollte mit niemandem sprechen, hatte versucht, konzentriert an der Wettbewerbsaufgabe zu arbeiten. Doch seit dem viel zu kurzen Stadtrundgang mit Amber vor wenigen Tagen schweiften seine Gedanken immer wieder zu der Engländerin. Da sie sich scheinbar in ihrem Zimmer verschanzt hatte, war er am Morgen zu ihr gegangen und hatte an ihre Tür geklopft. Er wollte einfach wissen, wie es ihr ging.

Sie hatte etwas verloren gewirkt, als sie ihm dann gegenüberstand. Sie war bleich, ungeschminkt – und wunderschön.

„Na, Lust auf einen Kaffee?“, hatte er locker gefragt, doch sie hatte den Kopf geschüttelt.

„Ich … muss wirklich arbeiten“, hatte sie gesagt und ihn auch nicht hereingebeten.

„Von morgens bis abends, ohne Pause?“ Diese Ausrede ließ er nicht gelten. Sie hatte ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen intensiv angesehen und nichts geantwortet.

Da hatte er es wieder gespürt – er war sich sicher, dass sie sich sehr wohl von ihm angezogen fühlte, es aber nicht zeigen wollte. Bevor Amber sich weiter herausreden konnte, hatte er dann, wie bei ihrem letzten Treffen, instinktiv die Hand nach ihr ausgestreckt und sie leicht über Wange und Hals gestreichelt. Ihre Haut fühlte sich unglaublich gut an; weich und heiß, glatt und verheißungsvoll. Eine gewagte Geste, aber sie war wie von selbst passiert. „Ich möchte gern mit dir essen gehen“, hatte er gesagt und gleich nachgesetzt: „Ich akzeptiere keine Ausrede.“

Sie war rot geworden. Ricardo sah Freude und Qual zugleich in ihren Augen aufblitzen. Auf seltsame Weise konnte er in ihr lesen wie in einem Buch.

„Nur essen gehen“, hatte er wiederholt und dann sanft ergänzt: „Ich bitte dich darum.“ Er wollte verdammt noch mal die Chance, Amber ein bisschen kennenzulernen, bevor Marisa am nächsten Tag zum Präsentationstermin zurückkam. Es ärgerte ihn maßlos, dass er nicht einfach sagen konnte: „Hey, ich bin gar nicht liiert. Ich bin ein freier Mann!“

Autor

Anne Mc Allister
Anne Mcallister, Preisträgerin des begehrten RITA Award, wurde in Kalifornien geboren und verbrachte ihre Ferien entweder an kalifornischen Stränden, auf der Ranch ihrer Großeltern in Colorado oder bei Verwandten in Montana. Genug Gelegenheiten also, um die muskulösen Surfer, die braungebrannten Beach-Volleyballer und die raubeinigen Cowboys zu beobachten! Am Besten gefielen...
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