Romana Extra Band 27

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RENDEZVOUS IM LAVENDELGARTEN von BLOOM, BELLA
Ein Château umgeben von Lavendel: Anna ist von dem Anwesen bezaubert - und fasziniert von David Lefleur, dem Besitzer. In seinen schönen Augen liest sie den gleichen Wunsch, den sie hat: noch einmal lieben. Aber kann sie das nach dem Verrat ihres Exfreundes überhaupt noch?

DAS UNMORALISCHE ANGEBOT DES MILLIARDÄRS von WEST, ANNIE
Von Liebe ist keine Rede, als Milliardär Rafe Benton der hinreißenden Antonia einen ungeheuerlichen Vorschlag macht: Er bietet ihr viel Geld, wenn sie ein halbes Jahr seine Geliebte spielt! An Gefühle denkt er nicht - bis er die selbstbewusste Schönheit zum ersten Mal küsst …

KÜSSE, DIE DAS HERZ ENTFLAMMEN von DONALD, ROBYN
Die traumhafte Bucht am Meer ist Mornas persönliches Paradies. Hier verbringt sie wundervolle Stunden mit dem attraktiven Hawke, dem neuen Mann in ihrem Leben. Doch plötzlich muss sie glauben, dass er nur einen Grund für seine Zärtlichkeit hat: Er will ihr Land für sich …

DREI KLEINE WORTE BIS ZUM GLÜCK von HEWITT, KATE
"Ich liebe dich." Alyse traut sich nicht, diese innigen Worte zu Prinz Leo Diomedi zu sagen. Denn trotz ihrer romantischen Hochzeit am Meer weiß sie, dass sie nur eine Vernunftehe führen. Aber eine zarte Hoffnung wächst in ihr: Wird er ihre tiefe Zuneigung doch noch erwidern?


  • Erscheinungstag 24.03.2015
  • Bandnummer 27
  • ISBN / Artikelnummer 9783733740474
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bella Bloom, Annie West, Robyn Donald, Kate Hewitt

ROMANA EXTRA BAND 27

BELLA BLOOM

Rendezvous im Lavendelgarten

David hat den duftenden Lavendelgarten in Erinnerung an seine Frau angelegt. Mit ihr ist für ihn auch die Liebe gestorben – bis unerwartet eine bezaubernde Fremde vor seinem Château in der Provence steht …

ANNIE WEST

Das unmoralische Angebot des Milliardärs

Wie hoch ist der Preis für das Glück? Der Milliardär Rafe Benton bittet Antonia, ein halbes Jahr seine Geliebte zu spielen. Sie sagt Ja – und ahnt nicht, dass sie ihr Herz verlieren wird …

ROBYN DONALD

Küsse, die das Herz entflammen

Hawkes heiße Küsse lassen Mornas Puls rasen. Da kommt ihr plötzlich ein schrecklicher Verdacht: Liebt ihr attraktiver Nachbar sie wirklich? Oder geht es ihm um ihren wertvollen Besitz am Meer?

KATE HEWITT

Drei kleine Worte bis zum Glück

Ich heirate Alyse aus Vernunftgründen, denkt Prinz Leo Diomedi. Im Leben eines Thronfolgers sieht er für die Liebe einfach keinen Platz. Obwohl er Alyses süßen Kuss vor sechs Jahren nie vergessen hat …

1. KAPITEL

„Bitte, bitte, bitte – lass mich nicht im Stich!“

Nein, es war nicht der Mann ihrer Träume, dem Annas Flehen galt. Es war ihr Auto. Der klapprige rostbraune Blechhaufen, den die ominöse Autovermietung ihr nach ihrer Ankunft am Flughafen von Marseille angedreht hatte.

„Voilà, unser Ameisenpreisauto – perfekt für mademoiselle!“, hatte der schmierige Typ am Schalter sie mit augenscheinlich typisch französischem Charme übers Ohr gehauen.

Und nun? Aus der mit unzähligen Rostflecken übersäten Motorhaube des Ameisenpreisautos stiegen aus heiterem Himmel weiße Rauchschwaden auf, während Anna die Landstraße entlangruckelte, die sich durch gelbe Felder und sonnenverbrannte Wiesen schlängelte. Wieso nur mussten immer ihr solche Sachen passieren?

Und das gleich am Anfang, am allerersten Tag. Sie hatte ihre letzten Ersparnisse geopfert, um sich diese eine mickrige Woche zu gönnen. Nur raus aus allem, weg aus ihrem kleinen Dorf in Cornwall, vergessen, was zu Hause vorgefallen war. Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich ihr Herz immer noch zusammen.

„Liebst du mich nicht mehr?“, hatte sie ihn gefragt. Es lag erst ein paar Tage zurück.

„Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich dich je geliebt habe.“

Wie konnte er nur so etwas zu ihr sagen!

Dieser … Mistkerl! Anna verstand die Welt nicht mehr. Sie brauchte dringend etwas Abstand. Eine Woche lang würde sie nichts anderes tun, als die hintersten Winkel der Provence zu erkunden und die hintersten Winkel ihrer Seele für ein Weilchen so gut es ging zu ignorieren. Sofern möglich, denn es war das erste Mal in ihrem Erwachsenenleben, dass sie ohne ihn unterwegs war. Ohne ihn – den Mann ihrer Träume: Tom. Diese Woche würde ihr zeigen, wer oder was noch von ihr übrig war, ohne ihre bessere Hälfte.

Zumindest ihre zweite große Liebe konnte nicht davonlaufen: Südfrankreich. Anna sprach fließend Französisch, und als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, eines Tages hier zu leben, unter der Sonne des Südens. Jeden Tag barfuß über den Rasen zu laufen. Den Duft der seidig warmen Luft einzuatmen. Einfach glücklich zu sein. Auch das: Träume eben. Nun, zumindest für eine Woche hatten ihre Ersparnisse noch gereicht. Das war besser als gar nichts, dachte sie.

Ein hartes Jahr lag hinter ihr.

Beruflich – eine Katastrophe.

Privat – ein Desaster.

Vor wenigen Tagen war das Schuljahr zu Ende gegangen. Und mit diesem ein weiteres unwiederbringliches Kapitel ihres Lebens: Das Kapitel ihres heiß geliebten Traumjobs, das sie doch erst vor wenigen Jahren voller Glückseligkeit und Zuversicht aufgeschlagen hatte. Wegrationalisiert, einfach so, der englische Staat musste sparen in der Krise. Und was nun? Was machte eine siebenundzwanzigjährige Ex-Grundschullehrerin mit Leib und Seele in einem kleinen Dorf in Cornwall, wenn nicht unterrichten? Nun, vielleicht bekam sie eigene Kinder? Das wäre noch eine Alternative gewesen.

Aber Tom hatte es vermasselt. Und zwar gründlich.

Kawumm! Ein lauter Knall riss Anna aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht ihr ganzes Budget in einen Mietwagen investieren wollen und sich deshalb für einen bezahlbaren fahrbaren Untersatz entschieden. Bis zu diesem denkwürdigen Moment hatte ihr Hauptaugenmerk dabei eindeutig auf dem Wort bezahlbar gelegen, aber nun wanderte es panisch hinüber zu fahrbar.

„Oh Gott, nein – nicht hier, nicht jetzt!“, flüsterte sie, um daraufhin ein ohrenbetäubend lautes Zischen zu vernehmen, während der weiße Rauch vor ihr dichter und dichter wurde und nunmehr wie aus einem Schornstein hinauf in den wolkenlosen Himmel Südfrankreichs quoll.

Aus einem fahrenden Schornstein, um genau zu sein.

Anna betete, dass der Wagen nicht zu brennen anfing oder gar wie in einem Action-Film explodierte. Hektisch würgte sie den Motor ab und stoppte am Rande eines Feldes. Nun: Im Grunde war alles hier Feld – weit und breit. Keine Menschen, keine Häuser, nichts außer endloser Natur und zwitschernden Vögeln, die fröhlich über dem Pulverfass kreisten, in dem sie immer noch angeschnallt hinter dem Steuer klemmte.

„Wenigstens sind es keine Aasgeier“, sinnierte sie laut vor sich hin, ihren angeborenen schwarzen Humor reaktivierend. Zu allem entschlossen ergriff sie ihre Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag, riss die Fahrertür auf und sprang filmreif ins Freie. Um sich daraufhin ein paar Meter vom Auto zu entfernen, nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Wenn doch nur Tom jetzt hier wäre! Schon wieder wanderten ihre Gedanken verbotenerweise zu ihm, der in diesem Moment zu Hause in Cornwall möglicherweise mit ihr, deren Namen auszusprechen Anna sich verboten hatte, den Strand entlangspazierte, Arm in Arm.

„Keine Angst, Schatz. Das ist nur ein bisschen heiße Luft – nichts weiter“, hätte er gesagt. Er hätte die Motorhaube geöffnet und mit gerunzelter Stirn fachmännisch auf das qualmende Interieur gestarrt. So als verstünde er etwas von Motoren. Dann hätte er sie in den Arm genommen und sie geküsst. So als würde alles gut werden.

Ja, wenn … Wenn das Wörtchen wenn nicht wär’ …

„Anna! Hör auf damit!“, ermahnte sie sich. Sie hatte sich vorgenommen, in dieser Woche nicht ein Mal an ihn zu denken. Doch kaum war sie in Südfrankreich angekommen und – schusselig und unbeholfen wie sie nun mal war – augenblicklich auf dem Boden der Tatsachen gelandet, schlich er sich schon wieder in ihre Gedanken. Der Mann ihrer Träume, in dessen Träumen kein Platz mehr für sie war.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ ihren Blick für einen Moment über die Landschaft wandern. Oben auf dem Berg konnte sie das kleine, bezaubernde Künstlerdorf Gordes sehen. Dorthin wollte sie.

Dort oben befand sich ihr Hotel. Nun ja, Hotel war übertrieben. Genau genommen war es eine kleine Pension. Die Auberge du Ciel, wie es in ihrer Buchungsbestätigung stand – die Herberge des Himmels. Hoffentlich würde sich nicht auch noch diese angeblich charmante kleine Herberge über den Wolken als höllische Absteige entpuppen. Doch erst mal musste sie dort hinkommen. Ratlos verharrte sie auf dem flirrenden Asphalt, beinahe wie festgewachsen, inmitten von sich gelb im Sommerwind wiegenden Feldern irgendwo im Nirgendwo am Fuße des Berges. Es war heiß. Das Thermometer im Innern des Autos hatte vierzig Grad angezeigt und gleich, sollte der alte Citroen tatsächlich in Flammen aufgehen, würde es noch deutlich heißer werden.

Nun, wenigstens ihr Humor funktionierte noch einwandfrei. Um ein Haar wäre es ihr sogar gelungen, ein kleines Grinsen zu produzieren, doch dafür wiederum war die Situation wirklich zu brenzlig. Vielleicht später, wenn ich in meinem Hotelzimmer angekommen bin und alles Revue passieren lasse, dachte sie.

Ein Weilchen harrte sie einfach nur so aus, auf der anderen Straßenseite, und starrte das qualmende Auto an. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Weit und breit kein Baum oder eine Bushaltestelle, wo sie sich ein wenig in den Schatten hätte stellen können, bis der Ärger verraucht war – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Mund war staubtrocken, sie benötigte dringend etwas zu trinken. Anna fingerte die kleine Wasserflasche, die sie am Flughafen gekauft hatte, aus ihrer Tasche. Sie war fast leer, bis auf einen letzten lauwarmen Schluck am Flaschenboden. Erst jetzt bemerkte sie ihren Ausweis. Er lag neben der Tasche auf dem heißen Asphalt. Offensichtlich war er versehentlich herausgerutscht.

Verliere den auch noch und die Katastrophe ist perfekt, dachte sie bei sich und griff nach dem Pass.

Anna Ferguson, stand da. Geboren: 14.05.1987, Geburtsort: Devon. Größe: 1,63 m (nun ja, das war ein bisschen geschummelt, eigentlich maß sie nur einen Meter einundsechzig). Augenfarbe: grün. Haarfarbe: rot. Nun, sie bevorzugte den englischen Ausdruck strawberry blond – erdbeerblond. Fehlte nur noch ihr Gewicht. 48 Kilo hätte bei ihr unter dieser Rubrik gestanden. „Kind, du musst essen, sonst verhungerst du bei lebendigem Leib“, predigte ihre Mutter ihr ständig. Aber so viel sie auch aß, sie nahm einfach nicht zu. „Du Glückskind“, beneideten ihre Freundinnen sie genau um das, was ihrer Mutter schlaflose Nächte bereitete.

Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis sich der Qualm endlich verzogen hatte. Anna ging zurück zum Auto, setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor.

Nichts.

Nicht das leiseste Geräusch.

Sie versuchte es ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal. Doch wie es aussah, war ihr unansehnlicher französischer Reisebegleiter hinüber. Mit einem schweren Seufzer ließ Anna ihren Kopf auf das Lenkrad sinken.

Was sollte sie nun tun?

Sie griff nach ihrer Tasche, um ihr Handy hervorzuholen. Auch wenn sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wen sie hier in der Fremde anrufen sollte. Der Notruf wäre möglicherweise ein bisschen übertrieben. Vielleicht die Polizei? Die Feuerwehr? Ein Taxiunternehmen? Die Mietwagenzentrale – ja genau! Doch Anna brauchte ihre Optionen nicht weiter durchzuspielen – ihr Handy wies ihr bereits den Weg: Kein Empfang, teilte ihr das Display so lapidar wie unbarmherzig mit.

Was nun?

Es war Sonntagmittag, und anscheinend schlugen sich sämtliche Einwohner der Gegend um diese Zeit die Mägen voll. Seit ihrer Ankunft am Ort des Infernos war nicht ein Auto vorbeigekommen, das sie hätte anhalten können. Anna sah sich suchend um. Weit und breit kein Haus.

Oder – was war das? Sie hatte sich getäuscht. Hinter einer der Sommerwiesen tat sich in der Ferne ein riesiges purpurnes Lavendelfeld auf, hinter welchem wiederum ein wenig versteckt ein Anwesen lag. Es hob sich kaum von den gelben Wiesen ab, die sich dahinter erstreckten, denn es war in exakt derselben Farbe angestrichen.

Anna überlegte. Wenn sie der Straße und dem von dort aus wahrscheinlich irgendwo abgehenden, zum Haus führenden Weg folgte, wäre sie vielleicht in zwanzig Minuten dort. Oder in einer halben Stunde. Wenn – ja, wenn sie vorher nicht einen Hitzschlag erlitt. Wenn sie jedoch die Abkürzung nahm und direkt über das Feld aus Sommerähren und danach durch den lila in der Mittagssonne schillernden Lavendelgarten auf das Haus zusteuerte, könnte sie den Weg möglicherweise in der Hälfte der Zeit bewältigen.

Sie blickte auf ihr Schuhwerk. Flip-Flops.

Nun, nicht gerade ideal für einen Querfeldeinmarsch, dachte sie, und marschierte los. Auf halber Strecke bemerkte sie, dass sie sich möglicherweise ein wenig verschätzt hatte, aber umzukehren war jetzt nicht mehr drin. Entschlossen stapfte sie voran, unter sich den staubigen Boden der Provence, über sich die gleißende Sonne. Der Schweiß rann ihr nun über den ganzen Körper. Auf ihrem einst weißen Kleid hatte er zusammen mit abgebrochenen Ähren, Lavendelblüten und dunkler Muttererde eine verhängnisvolle Mischung gebildet, als sie schließlich durch das scheinbar endlose Purpur auf den kurz wie einen Golfplatz geschorenen Rasen vor dem Château trat. Denn das war es – ein Château. Ein Anwesen, in dem sich sogar Marie Antoinette wohl gefühlt hätte. Offenbar handelte es sich um den hinteren Teil des Hauses, während die Eingangstür auf der anderen Seite lag. In das Herz der Grasfläche war ein himmelblauer Swimmingpool eingelassen. Das Wasser glitzerte verführerisch, während Anna den Blick über das kühle Nass hinweg durch die gläsernen Flügeltüren in das Haus schweifen ließ.

Wo sie, unmittelbar hinter dem Glas, jemanden erblickte.

Genauer gesagt: Einen Mann.

Anna erstarrte.

Es war nicht so sehr die Tatsache, dass es ein Mann war, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sondern die Tatsache, dass er nackt war.

Er trug nichts außer einem weißen Handtuch um seine Hüften.

Anna stand einfach nur da und starrte ihn fassungslos an, so wie eben noch ihr seine Lebensgeister aushauchendes Auto. Erst jetzt wurde ihr klar, wie die Situation auf ihn wirken musste: Sie stand hier – in seinem Garten, hinter seinem Haus –, schmutzig, schweißgebadet und offensichtlich darauf aus, bei ihm einzubrechen, während er soeben, die Sonntagsruhe genießend, dem Swimmingpool oder der Dusche entstiegen war. Ahnungslos und gänzlich unvorbereitet auf derartigen Besuch.

Wie, um Himmels willen, sollte sie das erklären?

Anna betete, dass er keine Hunde …

Doch Fehlanzeige. Wie sollte es auch anders sein, bei ihrem Glück? Schon vernahm sie lautes Gebell, und von der anderen Seite des Gartens stürmten zwei – oh nein! – ausgewachsene Rottweiler! – auf sie zu.

Anna fiel die Tasche aus der Hand. Zu Tode erschrocken presste sie ihre Augenlider fest zusammen, so als würde Wegsehen sie auf einen Schlag unsichtbar machen, während sie sich auf die Knie fallen ließ, die Arme schützend über dem Kopf verschränkt. Das also war es – ihr unrühmliches Ende. Jeden Moment würden die Hunde über sie herfallen. Sie hoffte nur, dass es schnell ging. Dass es nicht zu lange wehtat. Und nicht zu sehr.

Die Meute hatte sie erreicht. Sie spürte bereits ihren heißen Atem.

Doch was war das?

Sie … wurde zärtlich angestupst. Eine raue Zunge strich über ihren rechten Unterarm. „Bell! Ross!“, vernahm sie eine markante Stimme. „Ab ins Haus mit euch!“ Kaum war der Befehl erteilt, flitzten die zwei Hunde davon, während Anna in Zeitlupe ihre Augen einen Spalt weit öffnete.

Vor ihr – oder besser gesagt: über ihr – stand der nackte Mann aus dem Haus und blickte sie fragend an. Ihr Herz raste. Vor Aufregung, versteht sich. Er trug nun eine Jeans und ein weißes T-Shirt. Ein Meter achtzig, volles kaffeebraunes Haar, sonnengebräunt, 48-Stunden-Bart und Augen in der Farbe des Himmels über ihnen. Traurige Augen, das fiel ihr als erstes auf.

„Geht es Ihnen gut, mademoiselle?“, fragte er sie auf Französisch. In einem unerwartet freundlichen Ton, als wäre sie eine Besucherin und keine Einbrecherin.

Noch immer brachte sie keinen Ton heraus.

„Kommen Sie!“ Er reichte ihr seinen Arm. Sie wagte kaum, ihn anzusehen, während sie seine Hand ergriff und sich von ihm hochziehen ließ.

Wie entwürdigend! Annas Herz raste immer noch wie verrückt. Dabei schien die größte Gefahr fürs Erste gebannt. Ihr Gegenüber wirkte keineswegs wie ein klassischer Serienkiller, sondern im Gegenteil recht sympathisch. Ein bisschen erinnerte er sie an Patrick Dempsey aus Grey’s Anatomy, ihrer Lieblingsserie.

„Sind Sie überfallen worden?“, fragte Patrick Dempsey. „Hier sind Sie sicher, haben Sie keine Angst, vom Haus aus können wir die Polizei verständigen.“ Er musterte sie geradezu besorgt. „Oh, Entschuldigung, wo sind meine Manieren! Ich bin David“, stellte er sich vor. „David Lefleur. Ich lebe hier.“

„Anna“, stieß sie aus, unendlich leise und immer noch außer Atem.

Es schien ihr fast, als hätte sie ihrem Gegenüber mit der Nennung ihres Namens einen gehörigen Schreck eingejagt. Er wurde blass. Und starrte sie ungläubig an, als wäre sie eine Art übersinnliche Erscheinung. Diese unendlich traurigen Augen. Was hatte er nur?

Ohne ein weiteres Wort marschierte er in das Haus, während er sie im Garten zurückließ. Annas Pulsschlag beschleunigte sich erneut. Wollte er die Polizei rufen, oder was hatte er vor?

Sie atmete auf, als er kurz darauf mit einem Glas frisch gepresstem Orangensaft in der Hand zurückkehrte. Und sie damit schlagartig daran erinnerte, dass sie am Verdursten war.

„Für Sie“, sagte er wortkarg und reichte es ihr.

Wie aufmerksam, dachte sie erleichtert und leerte das Glas in einem Zug.

„Sind Sie hungrig?“, fragte er, als wäre sie nicht bei ihm eingedrungen, sondern er hätte sie eingeladen und wäre nun verantwortlich für ihr Wohlergehen. Erst langsam fand Anna die Sprache wieder.

„Nein, danke, das ist sehr lieb – aber ich … ich bin mit dem Auto liegen geblieben, vielleicht könnten Sie …“

Sie hielt inne, ohne den Satz zu beenden. Da war er wieder: Dieser Blick, als bräuchte sie nur den Mund aufzumachen, um ihn bis ins Mark zu erschüttern.

„Ja, kein Problem“, antwortete er nach einer kurzen, beklemmenden Pause.

Wenig später saß Anna auf dem weichen ledernen Beifahrersitz eines nagelneuen Range Rovers, auf dem Weg zu ihrem ausgebrannten Mietwagen. Er stand immer noch da wie vorhin.

„Kein schöner Anblick, oder?“, konstatierte sie. Zum ersten Mal meinte sie ein kleines, kaum merkliches Lächeln um die Mundwinkel des Franzosen zu erkennen.

Es dauerte ein Weilchen, bis sie in Gordes ankamen. Schließlich mussten sie den ganzen Berg hoch, der erbärmliche alte Mietwagen gezogen von Davids Luxusabschleppwagen.

Auberge du Ciel.

Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Die kleine Herberge lag am Rand des Bergdorfs, nicht weit vom Marktplatz. Und direkt gegenüber einer kleinen Werkstatt.

„Hier wird man Ihr Auto reparieren, leider erst morgen“, sagte David. „Fragen Sie nach Bertrand und geben Sie ihm die Adresse der Autovermietung. Ach ja, und grüßen Sie ihn schön von mir.“

„Das mache ich“, versprach Anna.

Erneut blickte er sie an, traurig und irgendwie durcheinander – als hätte ihr Erscheinen irgendetwas Furchtbares in ihm ausgelöst. Dann drehte er sich um, ohne ein weiteres Wort. Stieg in seinen Range Rover. Startete den Motor. Und fuhr an.

„Aber …“, stieß Anna aus. Alles war so dermaßen schnell gegangen, dass sie nicht mal Zeit gefunden hatte, sich bei ihm zu bedanken.

Kein Au Revoir, kein Auf Wiedersehen, kein gar nichts.

Anna schaute dem Wagen wie in Trance nach, bis er schließlich und endlich hinter der nächsten Kurve verschwand.

Was für eine merkwürdige Begegnung, dachte Anna.

Moment mal. Erst jetzt bemerkte sie es. Wo war ihre Tasche? Mit ihrem Handy, ihrem Pass, ihrer Kreditkarte? Ihrem Leben?

„Nicht schon wieder, du Tollpatsch …“, stöhnte sie auf. Denn natürlich ahnte sie, wo ihre Tasche war. Wo sie sie in all der Aufregung vergessen hatte.

Auf dem Gartentisch eines prächtigen Anwesens, eingerahmt von einem sich sanft im Sommerwind wiegenden Meer aus duftendem Lavendel. Wo ein Mann wohnte, über den sie abgesehen von seinen Gastgeberqualitäten, seiner außerordentlichen Hilfsbereitschaft und seinen tieftraurigen Augen bislang lediglich eines in Erfahrung gebracht hatte:

Seinen Namen.

David.

2. KAPITEL

Sie klang genau wie Laura. Haargenau.

Hoffentlich hatte sie ihm den Schock nicht angemerkt.

David musste sich für einen Augenblick setzen. In der Küche. Mit einem randvoll eingeschenkten Glas seines selbst produzierten Hausweins – zur Beruhigung. Es stand vor ihm auf dem Tisch aus massivem Zedernholz, den er selbst entworfen hatte, und starrte ihn stumm an.

„So wirst du nie über sie hinwegkommen“, schien es ihm zurufen zu wollen. Natürlich wusste David, dass Trinken keine Lösung war. Tatsache jedoch war: Es linderte den Schmerz. Mit jedem Schluck ein bisschen mehr.

Es war erst Nachmittag, aber heute war Sonntag, da durfte man schon mal über die Stränge schlagen. Vor allem nach dem, was sich gerade zugetragen hatte. Soeben war er aus Gordes zurückgekehrt, wo er die kleine Engländerin abgesetzt hatte. Wie hieß sie noch …? Anna, ja, das war ihr Name.

Doch es waren weder ihre smaragdgrünen Augen noch die winzigen Sommersprossen, die sich um ihre fein geschnittene Nase verteilten, noch war es ihr rotblondes Haar oder ihre zierliche, mädchenhafte Figur, die ihn aus der Bahn geworfen hatten.

Nein, es war ihre Stimme. Sie war ihm durch Mark und Bein gegangen. Einen zuckersüßen Moment lang hatte er geglaubt, Laura wäre zu ihm zurückgekehrt. Mit geschlossenen Augen war sie nicht von ihr zu unterscheiden gewesen.

Von ihr, seiner großen Liebe, die ihn allein auf dieser Welt zurückgelassen hatte, vor nunmehr beinahe auf den Tag genau fünf Jahren, nur eine Woche nach seinem vierunddreißigsten Geburtstag. Schlaganfall, wie schon ihre Mutter. Ohne das kleinste Vorzeichen. Sie war einfach verschwunden, von einer Sekunde auf die nächste.

Er musste nur daran denken, und schon bildete sich ein dicker Kloß in seinem Hals. Er hatte alles mit ansehen müssen, bei einem Spaziergang vor dem Louvre in Paris. Laura war in seinen Armen gestorben.

„Komm, reiß dich zusammen, David!“, rief er sich zur Ordnung. „Wozu das Ganze, es bringt doch nichts!“ Es war ja nicht so, dass diese Anna irgendwelche Ähnlichkeit mit Laura aufwies. Nun, abgesehen von ihrer Stimme eben, die er bis zum heutigen Tag kein zweites Mal gehört hatte und die so hell und klar klang wie ein Silberglöckchen, das leise im Sommerwind läutete. Ergänzt um den Umstand, dass auch sie Engländerin war. Laura aber war der dunkle, sportliche Typ gewesen. Groß, schlank und mit einem erstaunlich mediterranen Teint für ein Kind von der Insel des ewigen Regens. Ihre gemeinsamen Freunde hatten oft gesagt, sie wäre nicht nur seine bessere Hälfte, sondern auch sein weibliches Gegenstück.

Und das betraf nicht nur ihr Aussehen. Sie hatten alles zusammen gemacht, genau wie er war sie Architektin gewesen. Sie hatte im selben Architekturbüro gearbeitet wie er, in Paris, wo sich die besten ihrer Zunft trafen – aus aller Welt, um gemeinsam Großprojekte zu planen und zu entwerfen. Museen, Opernhäuser, gläserne Wolkenkratzer. Das größte, aufregendste und mit Abstand schönste Projekt aber, an dem er und Laura im Team gearbeitet hatten, war ihre Liebe gewesen. Ihre einzigartige Beziehung, die alles in den Schatten stellte, was er je zuvor hatte erleben dürfen.

Sie hatten alles miteinander geteilt. Auch den Traum, eines Tages in einem Haus in der Provence zu leben. In Gordes, wo Laura als Kind die Ferien mit ihren Eltern verbracht hatte. Nun aber war er allein hier, und seine Hoffnung, dass es ohne Laura, seine auf immer verlorene zweite Hälfte, zumindest halb so schön wäre wie mit ihr, hatte sich nicht erfüllt.

Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.

Genauso ist es, dachte David. Aber was, wenn man niemanden mehr hat, mit dem man es teilen kann? Wenn das Schicksal in all seiner unbarmherzigen Grausamkeit einem genau diesen einen Menschen, mit dem man sein Glück teilen wollte, gestohlen hat?

Dann, ja dann, war man verloren. Dann blieb einem nichts anderes übrig, als weiterhin in der Vergangenheit zu schwelgen. In Zeiten, in denen das Leben noch lebenswert war. Mit einem tiefen Seufzer blickte er hinaus auf den Lavendelgarten, der in seinem purpurnen Gewand friedlich hinter den weit geöffneten Flügeltüren schlummerte.

Erst das laute Schrillen des Telefons vermochte es, David aus seinen schwermütigen Gedanken zu wecken.

„Wie geht es meinem Lieblingssohn?“, flötete eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war eine Stimme, die versuchte fröhlich zu klingen, obwohl sie in Wahrheit überaus besorgt war. Sie gehörte seiner Mutter. Und was den Lieblingssohn betraf, auch das war etwas dick aufgetragen – denn er war ihr einziger Sohn. Er hatte keine Geschwister. „Ist es bei euch auch so heiß?“

„Heißer“, erwiderte er.

„Und trinkst du auch ausreichend?“, wollte sie wissen.

„Ja, Maman – das tue ich“, antwortete David wahrheitsgemäß, auch wenn sie bei ihrer Frage sehr wahrscheinlich nicht an den ausgiebigen Genuss von Wein am helllichten Nachmittag gedacht hatte.

Papa wollte zum Tennis, aber bei den Temperaturen – das ist Selbstmord“, fuhr sie fort.

Das waren sie, seine Eltern. Ludivine und Jacques. Sie waren mittlerweile in ihren Siebzigern, aber äußerst fit. Sie trieben Sport, sie reisten, sie schlemmten und genossen das Leben. In dem idyllisch gelegenen Landhaus am Rande von Paris, in dem David aufgewachsen war. Der Zahn der Zeit, der an so vielen Beziehungen nagte, bis sie endgültig ihren Biss verloren hatten, hatte ihnen nichts anhaben können. Nach all den Jahrzehnten waren sie immer noch glücklich miteinander. Sie waren füreinander gemacht. Nicht wie andere Paare, die zusammen waren, weil man sich im hohen Alter nicht mehr scheiden ließ, nicht mehr allein sein wollte oder schlicht und einfach niemand besseren gefunden hatte. Nein, seine Eltern lebten das vor, wovon David zeitlebens geträumt hatte: eine Liebe, die unzerstörbar war.

Seine eigene Liebe hingegen war zerstört worden. Von den Mächten des Schicksals. Sie hatten ihm Laura auf brutale Art entrissen.

„Gott sei Dank brauchst du zum Arbeiten nicht rauszugehen“, schnitt Ludivine ein anderes Thema an. Ein Thema, das nicht weniger leidig war: Seine Karriere. Obwohl auch sie Laura innig geliebt hatte, hatte sie dennoch nie verstanden, warum er seinen hochbezahlten Job als Architekt in Paris aufgegeben hatte und raus nach Gordes gezogen war. Ihrer Meinung nach löste das sein Problem nicht im Geringsten. Nun, möglicherweise hatte sie damit nicht ganz unrecht. Aber in Paris zu bleiben, dort, wo an jeder Ecke die Erinnerungen an Laura lauerten, ganz besonders in dem Büro, in dem sie zusammen gearbeitet hatten, wäre unerträglich gewesen.

Erst langsam, mit den Jahren, war seinen Eltern klar geworden, wie schwer ihn der Verlust getroffen hatte.

„Hast du denn momentan einen Auftrag?“, bohrte sie nach.

„Momentan nicht, aber ich … arbeite daran.“

Das war gelogen. Wenn er an etwas arbeitete, dann daran, sein in Paris schwer verdientes kleines Vermögen mit Nichtstun und sinnlosen Gedanken an Laura und ihre glückliche gemeinsame Vergangenheit zu verprassen.

„Oh, das klingt gut“, lobte seine Mutter. Um dann zum nächsten Tagesordnungspunkt zu kommen. „Bist du eigentlich im Internet angemeldet?“

Im Internet angemeldet? Was sollte das jetzt wieder? fragte sich David.

„Ja?“

„Da gibt es nämlich ganz spezielle Seiten.“

Sie raunte es auf eine Weise geheimnisvoll in den Hörer, als hätte sie eine illegale Glücksspielseite entdeckt, die sie ihm dringend empfehlen musste, auch wenn sie befürchtete, abgehört zu werden.

„Ganz spezielle Seiten?“

„Du weißt schon: Partnerschaftsseiten, nennt man sie, glaube ich. Da kannst du jemanden kennenlernen, und zwar ganz einfach. Wie in einem Katalog, sagt dein Vater immer. Du brauchst dafür nicht mal rauszugehen, das machen die jungen Leute heutzutage ja gar nicht mehr, sondern musst nur ganz bequem Seite für Seite durchblättern und suchst dir aus, was immer dir gefällt – voilà!“

Oh Gott, die alte Leier schon wieder!

Maman – ich will niemanden kennenlernen!“, erstickte David wie immer ihre Verkupplungsversuche im Keim. „Ich bin glücklich und zufrieden so wie ich bin!“

Nun, das war möglicherweise etwas übertrieben. Deutlich übertrieben, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Aber das musste sie nicht wissen. Denn eine Frau aus dem Internetversandhauskatalog würde ihn ganz sicher nicht von seinen Schmerzen erlösen, soviel stand fest.

„Ich meinte ja nur“, erwiderte Ludivine. „Dein Vater und ich finden, dass es langsam an der Zeit ist, dass du mal wieder unter die Leute gehst. Du bist ein wunderbarer Junge, David. Und du hast es verdient, jemanden kennenzulernen. Glücklich zu sein. Oder willst du einsam und allein bis ans Ende deiner Tage da draußen in der Provence hausen?“

„Genau das habe ich vor, Maman“, bestätigte David genervt.

„Ach ja, bevor ich es vergesse“, fuhr ihm seine Mutter ins Wort. „Ich soll dich ganz lieb von Sandrine grüßen.“

Sandrine. Nicht auch noch das.

Zu sagen, ihren Eltern gehörte halb Paris, wäre übertrieben gewesen. Aber ein paar Straßenzüge waren es schon. Sie war unermesslich reich. Ludivine spielte einmal die Woche im Country Club Bridge mit ihrer Mutter. So hatten sie sich kennengelernt. Seither versuchten die beiden, ihre Kinder miteinander zu verkuppeln.

Maman, ich muss jetzt Schluss machen“, fiel David ihr ins Wort. „Wir sprechen später, ja?“

Kaum hatte er aufgelegt, klingelte es an der Haustür.

„Himmel noch mal!“, fluchte David. „Was zum Teufel ist hier heute eigentlich los? Es ist Sonntag! Wer wagt es jetzt schon wieder, mich in meiner verdienten Wochenendruhe zu stören?“

Als er kurz darauf die massive, aus zweihundert Jahre altem Holz gearbeitete Eingangstür aufriss, wusste er, wer es wagte.

Es war die kleine Engländerin. Wie war ihr Name noch gleich? Hinter ihr auf der Kiesauffahrt wartete ein Taxi mit laufendem Motor. Was um Himmels willen wollte sie schon wieder hier? Er hatte sie doch eben erst in Gordes abgesetzt, mitsamt ihrem schrottreifen Mietwagen. Verfolgte sie ihn etwa? Die Hunde schienen seine Befürchtungen nicht zu teilen, sondern stürmten an ihm vorbei, um die Engländerin vor der Haustür zu begrüßen wie eine alte Bekannte. Sofort pfiff er die beiden zurück, denn sie schien von dem tierischen Begrüßungskomitee etwas eingeschüchtert zu sein.

„Entschuldigen Sie bitte … ich bin wirklich kein Stalker oder so etwas in der Art“, piepste sie ängstlich mit Lauras Stimme, als ahne sie bereits, dass weitere Eindringlinge an diesem Tag unerwünscht waren. „Aber ich muss meine Tasche in Ihrem Garten vergessen haben. Und ohne die kann ich weder meine Pension bezahlen noch das Taxi. Könnten Sie vielleicht einmal für mich nachsehen?“

David blickte sie fragend an. Er musste diese Frau so schnell wie möglich wieder loswerden, so viel stand fest. Ihre Stimme würde ihn noch verrückt machen.

„Kein Problem“, log er. „Folgen Sie mir bitte.“ Er ging ihr voraus in den Garten.

„Oh, da ist sie ja, Gott sei Dank“, rief seine Besucherin aus, kaum hatte sie ihr Eigentum auf dem Gartentisch entdeckt. Es war ihm gar nicht aufgefallen. Er hatte andere Dinge im Kopf. Wichtigere Dinge als das Handgepäck englischer Touristinnen.

„Tausend Dank!“, rief sie aus, kaum hatte sie sich ihre Tasche geschnappt. „Sie ahnen gar nicht, wie erleichtert ich bin.“

„Keine Ursache“, antwortete er knapp, um das Gespräch nicht unnötig in die Länge zu ziehen. „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Urlaub.“

Doch ganz so schnell wurde er sie nicht los. Er sah es in ihren Augen. Dass sie vorhatte, ihn aus seiner selbstgewählten Lethargie zu wecken.

„Sie haben mir wirklich sehr geholfen, David“, setzte sie an. „Sie ahnen gar nicht, wie sehr. Ohne Sie wäre ich wirklich aufgeschmissen gewesen und würde wahrscheinlich in diesem Moment gerade zu Fuß den Berg hinauflaufen.“

„Aber nein, das war doch eine Selbstverständlichkeit“, beeilte er sich zu erwidern. Er wollte sie schnellstmöglich davon überzeugen, dass er keineswegs so edelmütig war, wie sie dachte. Dass jeder andere exakt genauso gehandelt hätte.

„Darf ich Sie vielleicht als kleines Dankeschön heute Abend auf dem Marktplatz in Gordes zum Essen einladen? Oder zu einem Glas Wein? Bitte tun Sie mir den Gefallen.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, aber wirklich nicht nötig“, versuchte er sie abzuwimmeln. Es war ja nicht so, dass sie ihm nicht sympathisch war oder dass er sie verletzen wollte, aber wie gesagt: Er hatte momentan anderes um die Ohren. Die Geister der Vergangenheit waren so wach, dass sie ihm jede Zeit raubten, die er auf das Leben in der Gegenwart hätte verschwenden können.

„Ich bestehe darauf“, beharrte sie auf ihrer Einladung. „Sonst käme ich mir zutiefst undankbar vor. Das verstehen Sie doch, oder?“

David stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Nun kommen Sie schon: Geben Sie sich einen kleinen Ruck“, forderte sie ihn lächelnd auf. „Wie gesagt: Ich bin kein Stalker oder so was.“

„Das wollte ich auch nicht behaupten“, stellte er klar.

„Es ist nur ein kleines Dankeschön, kein Date oder so etwas, falls Sie das denken. Ich habe einen … Freund.“

Das letzte Wort betonte sie auf eine Art und Weise, als wäre sie nicht wirklich und hundertprozentig überzeugt davon.

„Wird er uns auch Gesellschaft leisten?“, hakte David nach, nur zur Sicherheit.

Sie wurde augenblicklich blass. „Nein, das … wird er nicht.“

Bildete er es sich nur ein oder klang ihre Stimme auf einmal trauriger als noch vor einer Sekunde?

„Nun gut, in Ordnung“, willigte David schließlich ein. Offensichtlich gab es keine andere Möglichkeit, sie loszuwerden.

„Dann so gegen sieben?“, verabschiedete sie sich und stieg in ihr Taxi. Während der Wagen über den leise unter den Reifen knirschenden Kies vom Hof fuhr, nickte sie ihm noch einmal freundlich durch das heruntergekurbelte Fenster zu.

Ihn einzuladen war eine nette Geste, das war ihm klar.

Genauso wie ihm klar war, dass er nicht hingehen würde.

Er wartete noch, bis das Taxi aus seinem Blickfeld verschwunden war und schloss dann die Tür hinter sich. In der inständigen Hoffnung, dass es für heute mit den Störungen seiner ihm heiligen Ruhe vorbei war.

Friedhofsruhe konnte man auch sagen. Aber so war das Leben nun mal. Das Leben selbst in seiner kalten Unbarmherzigkeit hatte ihm dieses Joch aufgezwungen. Aus freien Stücken jedenfalls hatte er sich diese bemitleidenswerte Existenz nicht ausgesucht. Und doch gab es nichts, was er dagegen unternehmen konnte.

Also tat er das, was er ohnehin vorgehabt hatte. Er folgte seinem immer gleichen Tagesablauf und legte eine DVD ein. Nicht irgendeine. Sondern eine ganz bestimmte – es war ihr Film. Und er sah ihn sich jeden Sonntagnachmittag an, obwohl er ihn in- und auswendig kannte und jedes einzelne Wort, das die Akteure von sich gaben, mitsprechen konnte. Vier Hochzeiten und ein Todesfall.

In ihrem gemeinsamen Leben hatte es nur eine Hochzeit gegeben. Und einen Todesfall.

Du warst mir Nord, mir Süd, mir Ost und West,

des Sonntags Ruh’ und der Woche Stress,

mein Tag, mein Gesang, meine Rede, meine Nacht,

ich dachte, Liebe währet ewig – falsch gedacht.

Hätte er bei Lauras Begräbnis auch nur ein Wort herausbringen können, er hätte dieses Gedicht von W.H. Auden gewählt, so wie es in ihrem Lieblingsfilm vorkam.

Aber er konnte nicht.

Er blieb stumm.

Stumm und starr.

Kein Wort kam über seine Lippen.

Doch seine Tränen sagten mehr als tausend Worte.

3. KAPITEL

Anna schwebte über den Wolken. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn ihre kleine Pension thronte wie ein Adlernest auf dem höchsten Punkt von Gordes, an einen mächtigen Felsen geschmiegt. Die Auberge du Ciel trug ihren Namen ohne jede Frage zu Recht, denn tatsächlich hatte man das Gefühl, sich im Himmel zu befinden. Und das betraf nicht nur den Ausblick. Annas Zimmer ging nicht nach vorne auf die kleine Straße hinaus, die in wenigen Gehminuten auf den idyllischen Marktplatz führte, sondern überblickte in himmlischer Ruhe und soweit das Auge reichte den atemberaubenden Naturpark des Luberon. Die Provence lag ihr zu Füßen.

Die Zimmerwände waren hellblau getüncht, die Fensterrahmen aus zartrosa lackiertem Holz gezimmert, und in der Mitte des Raums wartete ein strahlend weiß bezogenes Himmelbett auf sie. Kurz gesagt: Es war paradiesisch. Für einen Moment ließ Anna sich auf das Bett fallen – einfach nur, um zu Atem zu kommen. Nach all der Aufregung hatte sie das hier nicht erwartet.

Nachdem sie sich ein Viertelstündchen ausgeruht hatte, ließ sie erneut den Blick hinausschweifen. Jetzt erst erkannte sie es – was für ein Zufall! Von ihrem Zimmer aus blickte sie doch tatsächlich auf einen riesigen Lavendelgarten hinab, der vom Fuß des Berges durch die Spätnachmittagssonne zu ihr hinaufstrahlte wie ein violett leuchtendes Feuermeer: Das Anwesen von David Lefleur.

An der Rezeption war sie auf eine sympathische und darüber hinaus ungewöhnlich kommunikative Hotelmitarbeiterin getroffen, die ungefähr in ihrem Alter sein musste. Marion. Sie hatte eine interessante Unterhaltung mit ihr geführt. Eine überaus interessante Unterhaltung.

„Sie haben den Lavendelmann also schon kennengelernt“, hatte Marion ihr beim Einchecken zugeraunt. In perfektem, akzentfreien Englisch. Vater Engländer, Mutter Französin, aufgewachsen in Gordes und London, hatte sie Anna aufgeklärt. Nun führte sie die Pension, einen Familienbetrieb.

„Den Lavendelmann?“, hakte Anna nach.

„David Lefleur – der Gentleman, der Sie abgeschleppt hat …“ Marion betonte das Wort auf eine Weise, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Aussage durchaus bewusst war. Um ihr daraufhin verschwörerisch zuzuzwinkern, so als wüsste sie bereits mehr als sie selbst. „Ich habe Sie vorhin vom Fenster aus gesehen. Machen Sie sich keine Hoffnungen: Der Mann ist eine Festung. Uneinnehmbar.“

Anna blickte sie fragend an, riss sich dann aber zusammen.

„Oh, gut zu wissen“, antwortete sie. „Gott sei Dank habe ich gar nicht vor, irgendwelche Festungen einzunehmen. Ich möchte nur ein paar Tage Urlaub machen. Ohne Männer, wenn möglich.“

Marion nickte zustimmend. „Ja, den Traum habe ich auch manchmal“, schmunzelte sie.

Anna fühlte sich schon fast wie zu Hause. Marion war ihr auf Anhieb sympathisch. Würden sie am gleichen Ort wohnen, sie wären sicher gute Freundinnen.

„Und trotzdem: David ist einer von den Guten. Auch wenn er ein wenig komisch ist.“

„Komisch?“, fragte Anna, als wäre es ihr nicht bereits selbst aufgefallen. Obwohl er ihr eher das genaue Gegenteil von komisch zu sein schien. „Sie meinen traurig?“, schob sie hinterher.

Marion nickte. „Er war nicht immer so. Soweit ich weiß, hat er in Paris als Architekt gearbeitet, er war so eine Art junger Star, der nächste Norman Foster, Sie wissen schon. Aber dann, vor ungefähr fünf Jahren, ist seine Frau gestorben, und alles ging den Bach runter. Sie war wohl seine große Liebe. Jedenfalls hat er alles stehen und liegen gelassen und ist hierher gezogen.“

Das ist wirklich eine traurige Geschichte, dachte Anna.

„Und weil sie Lavendel über alles liebte, legte er dieses, nun ja, Feld für sie an. Lavendel, nichts als Lavendel, soweit das Auge reicht. Als könne sie es vom Himmel aus betrachten. Sein Engel …“

Romantisch war er also auch. Sehr romantisch. Oh Gott, der arme Mann. Nun wurde Anna einiges klar. Seine todtraurigen Augen. Jetzt verstand sie. Sie nahm sich vor, dieses Thema heute Abend auszusparen.

„Aha …“, erwiderte sie gedankenverloren. Bis sie Marions fragenden Blick bemerkte und wieder zurückkehrte in die reale Welt. „Nun … können Sie mir vielleicht einen Tipp geben, wo man hier gut zu Abend essen kann? Gut und nicht zu teuer, wenn möglich …?“

„Da gehen Sie am besten zu Pierre’s, das ist ein kleines Bistro, sehr hübsch und auf französische Art und Weise einfach, soll heißen: magnifique!“, empfahl Marion ihr.

Zwei Stunden später saß Anna frisch geduscht und in einem Kleid, das so glutrot leuchtete wie die langsam hinter den Häusern verschwindende Sonne, unter einer schattigen Platane auf dem Marktplatz vor dem Pierre’s.

Sie war ein bisschen nervös, obwohl es eigentlich gar keinen Grund dafür gab. Nun, wahrscheinlich lag es daran, dass sie nicht wusste, worüber sie mit David reden sollte, ohne seine Frau anzusprechen. Sie konnte ja noch nicht einmal den Lavendelgarten loben, ohne ihn an sie zu erinnern. Paris war ebenfalls nicht angeraten und Beziehungen im Allgemeinen wohl besser auch nicht. Was um Himmels willen blieb dann noch? Langsam bereute sie es fast, ihn eingeladen zu haben. Wahrscheinlich würden sie den ganzen Abend nur dasitzen und stumm in die Gegend starren. Was für ein Urlaubsauftakt!

„Was darf es sein, mademoiselle?“, fragte der herbeigeeilte Kellner. „Ein Pastis als Aperitif?“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich noch einen Moment“, erwiderte Anna. „Ich erwarte noch jemanden.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war bereits zehn nach sieben.

Und weit und breit keine Spur von dem Lavendelmann.

Halb acht. Anna bestellte den Pastis. Hatte sie sieben gesagt oder acht? Sie versuchte, sich zu erinnern, doch vergeblich. Vielleicht war es ihr Fehler und sie war eine Stunde zu früh dran?

Acht. Nun müsste er definitiv kommen. Fehlanzeige.

Zehn nach acht. Anna ließ sich die Karte bringen und bestellte. Wenn du schon mal hier bist, kannst du auch bestellen, dachte sie bei sich. Etwas essen musst du ohnehin. Ob allein oder in Gesellschaft – welchen Unterschied macht das schon. Wenn er nicht will, dann eben nicht.

Es war merkwürdig, denn sie kannte ihn ja überhaupt nicht. Und doch war sie insgeheim sauer auf ihn. Darauf, dass er sie einfach so hier sitzen ließ, ohne die kleinste Rückmeldung. Was war nur mit den Männern los auf dieser Welt? Warum waren sie so, wie sie waren – unzuverlässig und gemein? Kaum hatte sich dieser Gedanke in ihren Kopf geschlichen, musste sie augenblicklich an Tom denken. Denn er war der eigentliche Empfänger des leider unzustellbaren Gedankens. Genauso augenblicklich verging ihr der Appetit. Lustlos stocherte sie in ihrem Salade niçoise herum, solange bis schließlich der Kellner zu ihr herüberkam, fragend den Kopf auf die Seite legte und sie mit betrübter Miene ansprach.

„Stimmt irgendetwas mit dem Salat nicht, mademoiselle?“

„Nein, er ist wunderbar … wirklich“, stotterte sie. „Ich glaube eher, mit mir stimmt heute Abend was nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Der Kellner blickte sie mitfühlend an. Er war schon ein bisschen älter, in etwa so alt wie ihr Vater. Die tiefen Falten auf seiner Stirn ließen darauf schließen, dass er schon einiges an Lebenserfahrung auf dem Buckel hatte. Und bestimmt nicht nur Glanz und Gloria.

„Natürlich verstehe ich das, mademoiselle. Darf unser Haus Sie auf ein Glas Vin rouge einladen? Das ist gut für die Seele.“ Er lächelte sie verschmitzt an. Es war ein Lächeln, das Anna einfach erwidern musste, denn es kam von Herzen.

„D’accord“, bestätigte sie auf Französisch, begleitet von einem Augenzwinkern. „Einverstanden.“

Nachdem das Haus sie auf ein zweites Glas eingeladen hatte – es sollte sich herausstellen, dass ihr freundlicher Kellner niemand geringeres als Pierre selbst war, der Inhaber und Namensgeber des Bistros – und Anna ihren Salat brav aufgegessen hatte, beschloss sie, an diesem Abend früh zu Bett zu gehen.

Der Lavendelmann war nicht aufgetaucht. Und wenn schon! Mittlerweile, unter dem Einfluss guten Weins, guten Essens und ungeahnter französischer Gastfreundlichkeit, machte es ihr im Grunde nichts mehr aus, so ungalant versetzt worden zu sein. Die leise Glückseligkeit, die Menschen aus dem regenreichen hohen Norden befällt, sobald sie südliche Gefilde erreichen, hatte auch sie schließlich und endlich in ihre gütigen Arme geschlossen.

In diesem Moment, in dem sie gemütlich die schmale, kopfsteingepflasterte Gasse entlangspazierte, die zu ihrer Pension führte, war sie zufrieden mit sich und der Welt. Was auch daran liegen mochte, dass sie hundemüde war. Ein langer, nervenaufreibender Tag lag hinter ihr. Anna hoffte, dass sich der Rest ihres Urlaubs als entspannender erweisen würde. Dass sie von morgen früh an endlich die sehnlich erhoffte Gelegenheit finden würde, nichts weiter zu tun, als ihre Seele baumeln zu lassen.

Auszuspannen und aufzuatmen – bevor es in einer Woche wieder zurück nach England ging. Wo nichts, aber auch rein gar nichts, auf sie wartete. Weder ihre kleinen Schützlinge noch ihr Freund. Exfreund, um genau zu sein. Ihr Leben, so wie sie es gekannt hatte, hatte sich unversehens und ohne Vorwarnung in ein schwarzes Loch verwandelt. Schon bald würde sie die Miete für ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können, sollte sie nicht schleunigst einen neuen Job finden.

Vielleicht sollte sie bei Pierre als Kellnerin anfangen? Einen Augenblick lang reizte sie dieser Gedanke. Auf diese Weise hatte sie sich bereits ihr Studium verdient. Und sie sprach sowohl Französisch als auch Englisch. Ihre Sprache hingegen, die Sprache der Touristen, der Geschäftsleute und nahezu gesamten westlichen Welt unter vierzig, war den meisten Franzosen bis zum heutigen Tag nur bruchstückhaft geläufig. Zumindest lautete so das weithin verbreitete Vorurteil. Es hieß, dass die Franzosen das einzige Volk im modernen Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts waren, das es geschlossen ablehnte, irgendeine Fremdsprache zu erlernen. Anna hatte sich schon manches Mal gefragt, ob es an französischen Schulen überhaupt Englischlehrer gab. Das wäre es, dachte sie. Eine tolle Aufgabe. Eine Aufgabe, die ihr Freude bereiten würde.

Wach auf, Anna! rief sie sich streng zur Ordnung. Du träumst schon wieder. Obwohl sie natürlich wusste, dass Träume theoretisch in Erfüllung gehen konnten. Solange man nur fest genug daran glaubte und hart genug dafür arbeitete. Solange man bereit war, Entbehrungen und Tiefschläge einzustecken. Wie gesagt: Theoretisch.

„Bonne nuit“, wünschte Marion ihr, als sie an diesem Abend an der Rezeption vorbeischlich, um die schmale Treppe hinauf zu ihrem Zimmer zu nehmen. Hinein in das Himmelbett, das mit seinem überaus verlockenden Anblick bereits auf sie wartete.

Am nächsten Morgen holte sie das fröhliche Lied einer Lerche, die singend auf dem Fenstersims saß, aus ihren Träumen. Anna hatte geschlafen wie ein Murmeltier. Kein Wunder, nach dem gestrigen turbulenten Tag.

Ausgeruht und gut gelaunt stieß sie das Fenster auf und sog die frische Morgenluft tief ein. Es war, als erfüllten die Düfte der Provence wie ein seidiges Parfüm ihre Lungenflügel. Wie gut das tat! Anna hatte das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. Zuerst einmal würde sie die Autovermietung anrufen, um noch heute einen Ersatzwagen zu bekommen. Nachdem das erledigt wäre, stand als Tagesordnungspunkt zwei ein ausgiebiges Frühstück auf dem Plan. Nicht in der Pension, sondern unter freiem Himmel. Bei Pierre’s, das nach dem gestrigen Abend beste Chancen hatte, ihr Stammbistro für diesen Urlaub zu werden.

Als Anna wenig später den kleinen Marktplatz erreichte, wehte ihr das Aroma von Orangen und anderen Südfrüchten durch die warme Luft entgegen. Vor ihren Augen tat sich ein bunter Markt auf: Obst und Gemüse, heimischer Käse, urige Brotwaren und exotische Speisen und Gewürze aller Art lagen an Ständen aus, die rund um den kleinen Platz gruppiert waren.

Das also war der Wochenmarkt von Gordes. Anna beschloss, eine Runde zu drehen, bevor sie sich zum Frühstück an einen der runden Bistrotische vor dem Pierre’s setzte. Es war noch relativ früh, aber dennoch herrschte schon einiger Trubel.

Kurz darauf stoppte sie neugierig vor einer Auslage kleiner, orangefarbener Melonen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie erinnerten sie ein wenig an Honigmelonen, nur in einer anderen Farbe.

„Das sind unsere lokalen Charentais-Melonen“, informierte die Verkäuferin sie mit stolzem Blick. „Gibt es nur hier, in der Provence. Schmecken ein wenig nach Papaya, möchten Sie probieren, mademoiselle?“

Anna nickte interessiert. Und ob sie wollte. Während die Verkäuferin ihr einen vorbereiteten Teller mit kleinen saftigen Melonenstückchen entgegenstreckte, fiel Annas Blick auf die andere Seite des Obststands.

Sie erschrak.

„Oh Gott, nein …“

Keine zwei Meter von ihr entfernt stand David Lefleur!

Der Lavendelmann.

Mit einem Einkaufskorb in der Hand.

Anna sah blitzschnell weg, aber zu spät. Ihre Blicke hatten sich bereits getroffen. Wie peinlich! Was nun?

Schnell bedankte sie sich bei der Verkäuferin und verschwand hinter dem nächsten Stand. Sie hatte nicht die geringste Lust, von ihm angesprochen zu werden. Doch auch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Während sie hastig auf das Pierre’s zusteuerte, spürte sie ihren Verfolger im Nacken. Nun, es war nicht so, dass er ihr hinterherrannte, aber er folgte ihr, das konnte sie aus den Augenwinkeln feststellen.

Schon vernahm sie seine Stimme.

„Entschuldigung? Mademoiselle? Mademoiselle!“ Er ließ sich nicht abschütteln. „Verzeihung, bitte warten Sie!“

Sie stoppte und drehte sich zu ihm um. Was blieb ihr anderes übrig?

„Ich … nun, ich muss Sie um Verzeihung bitten für gestern Abend“, sagte er, kaum hatte er sie erreicht. Er wirkte ein wenig aufgeräumter als am Vortag. Oder kam es ihr nur so vor, weil sie selbst aufgeräumter war? Weil sie ausgeschlafen und der kurzzeitige Ärger über sein Fernbleiben längst verraucht war?

„Vergessen Sie’s einfach“, erwiderte sie kühl, vielleicht sogar ein wenig zu kühl. „Ich habe auch ohne Sie sehr gut gegessen.“

Sie standen direkt vor dem Lokal.

„Hier bei Pierre? Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, sagte er. Und blickte sie dann mit diesem Hundeblick an, dem sie einfach nichts abschlagen konnte. „Darf ich Sie zur Wiedergutmachung hier und jetzt auf einen Kaffee einladen? Oder zu einem Frühstück?“, fragte er.

Anna stieß einen Seufzer aus. Eigentlich nicht, dachte sie bei sich. Doch stattdessen sagte sie: „In Ordnung. Aber ich habe nicht viel Zeit.“

Das war gelogen. Denn sie war im Urlaub. Sie hatte so viel Zeit wie der Tag Stunden. Aber das ging ihn wohl kaum etwas an.

„Die Croissants hier sind einmalig“, versprach ihr Gegenüber, als sie sich an einen der kleinen Tische unter einer schattigen Platane setzten. „Wegen gestern Abend: Ich würde Ihnen das wirklich gerne erklären.“

„Keine Sorge: Das ist absolut nicht nötig“, erwiderte sie.

„Bonjour mademoiselle!“ Es war Pierres sonore Stimme, die sie aus ihrem unbequemen Wortwechsel erlöste. Er hatte sich direkt vor ihnen aufgebaut. Mit seinem Bestellblock in der Hand starrte er sie und vor allem David an wie das achte Weltwunder. „Monsieur Lefleur, David – schön, Sie hier zu sehen in … Begleitung.“

Das letzte Wort sprach er aus, als käme es einer Sensation gleich.

Als wäre David Lefleur hier noch nie mit einer Frau gesehen worden. Dann stimmt die Geschichte also, dachte Anna bei sich. War er tatsächlich so ein Eremit, ein Einsiedler, der sein Haus nur verließ, um nicht zu verhungern und zu verdursten?

„Danke, äh … Pierre …“, erwiderte der Lavendelmann auf eine Weise in sich gekehrt, als spräche er nicht mit dem Gastwirt vor ihnen, sondern mit sich selbst.

Kaum hatte Pierre die Bestellung aufgenommen – zwei Café au lait – und war wieder aus ihrem Sichtfeld verschwunden, ergriff David das Wort.

„Ihr Name ist Anna, nicht wahr?“

Sie nickte. Zumindest das hatte er sich behalten.

„Nun, Anna – was ich sagen wollte, ist Folgendes: Es tut mir wirklich leid wegen gestern Abend, normalerweise mache ich so etwas nicht.“

„Sie meinen, lästige Touristinnen versetzen, die Sie zum Essen einladen?“

Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Nein, ich meine: Ausgehen. Abendessen. Mit einer Frau.“

Anna blickte ihn kopfschüttelnd an. „Oh …“

„Nicht mehr jedenfalls seit …“

„… sie nicht mehr da ist?“, beendete Anna gedankenlos seinen Satz, so wie er ihn vermutlich hatte aussprechen wollen. Augenblicklich schlug sie sich eine Hand vor den Mund. Woher sollte sie das wissen?

David schaute urplötzlich überrascht auf. Und schüttelte dann den Kopf. „Das ist das Gute daran, in einem kleinen Dorf zu leben“, sagte er. „Man muss sich Fremden nicht einmal selbst vorstellen – das erledigen schon die Nachbarn … Sie haben den Klatsch und Tratsch, der Gordes seit fünf Jahren in Atem hält, also bereits mitbekommen?“

Anna brauchte keinen Spiegel. Sie wusste auch so, dass sie knallrot wurde. Alles, was ihr dazu einfiel, war schuldbewusst zu nicken.

„Keine Sorge: Ich bin das gewöhnt“, beruhigte David sie. „Dann wissen Sie jetzt ja auch von neutraler Stelle, dass es nicht an Ihnen liegt, dass ich Sie versetzt habe, sondern an mir. Nun ja, abgesehen von einer winzigen Kleinigkeit vielleicht.“

Anna runzelte fragend die Stirn.

„Einer Kleinigkeit?“ Was hatte sie falsch gemacht? Besaß sie einen Charakterfehler, der ihr selbst noch nicht aufgefallen war, abgesehen von ihrer Leidenschaft für schöne Schuhe und Handtaschen?

„Sie haben ihre Stimme“, erwiderte er und schaute sie dabei ungewöhnlich scharf an, fast so als hätte sie ein Verbrechen begangen. „Sie klingen genau wie meine Frau. Jedes Wort, das aus Ihrem Mund kommt.“

Anna schaute ihn noch eine Spur irritierter an.

„Was es mir nicht unbedingt leichter macht, hier mit Ihnen zu sitzen.“

„Sie … müssen sie sehr geliebt haben“, sagte Anna schließlich, um die sich daraufhin zwischen ihnen ausbreitende peinliche Pause in der Konversation zu beenden.

„Ja, das habe ich“, sagte er. „Mehr als alles andere in der Welt. Waren Sie schon mal im Winter in Paris?“

Was war das wieder für eine Frage?

„Nein, ich … war noch nie in Paris, ehrlich gesagt.“ Ein bisschen schämte sie sich dafür, schließlich liebte sie Frankreich und war Französischlehrerin. Aber das Geld hatte nie gereicht.

„Das macht nichts“, erwiderte er. „Im Winter ist Paris kalt und grau.“

„Aha …?“

„Und es war auch kalt und grau in jenem Winter, in dem ich Laura kennengelernt habe. Sie hatte gerade in dem Architekturbüro angefangen, in dem ich arbeitete. Und wissen Sie was?“

Anna schaute ihn fragend an und schüttelte langsam den Kopf, wie in Zeitlupe.

„Auf einmal war Paris nicht mehr kalt und grau. Alles leuchtete!“ David sprang fast auf von seinem Stuhl, so beseelt kamen ihm die Worte über die Lippen. Als hätte ihm jemand eine Dosis Leben gespritzt. „Es war, als hätte jemand an einem verregneten Nachmittag eine Glühbirne angeknipst, ein Meer von Kerzen aus dem Schrank geholt und ein warmes Feuer im Kamin entzündet. Sie müssen wissen, ich bin in Paris groß geworden, aber in die Stadt verliebt habe ich mich erst, als ich mich in Laura verliebt habe. Und von da an war es jeden Tag so. Das Licht ging einfach nicht mehr aus, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Es leuchtete und leuchtete und leuchtete …!“

Auch die Augen des Lavendelmanns leuchteten. So sehr, dass Anna es ihm, dem Fremden, nur zu gut nachfühlen konnte. Als wären sie einander gar nicht mehr so fremd. Ganz ähnlich war es ihr auch mit Tom gegangen, als sie ihn kennengelernt hatte. Sie verscheuchte den ungewünschten Gedanken an ihren untreuen Ex in derselben Sekunde.

„Nun … bis zu ihrem … Tod“, ergänzte David, und der Glanz verschwand sofort aus seinen Augen.

Im selben Moment tauchte Pierre auf und servierte den Kaffee. „Voilà!“, sagte er und rauschte wieder ab.

„Sie muss Ihnen sehr fehlen …“

David nickte.

„Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer es Ihnen fällt, sie loszulassen“, versuchte Anna ihn zu trösten.

Kaum hatte sie ausgesprochen, schaute ihr Gegenüber von seinem Kaffee auf und blickte sie erstaunt an. So als hätte sie einen Scherz gemacht.

„Sie loslassen?“, fragte er stirnrunzelnd. „Wieso … sollte ich das tun?“

Anna starrte ihn an. Unfähig, irgendetwas darauf zu entgegnen.

„Ich weiß, es mag verrückt klingen – aber ich weiß genau, dass sie noch da ist. Ich fühle es einfach. Laura ist nicht tot. Sie ist da oben und blickt jeden Tag und jede Nacht auf mich herab. Wie eine Art Engel – vielleicht verstehen Sie das …“

Anna blickte verlegen zu Boden. „Ich … ja, ich glaube … schon“, antwortete sie leise. Was sonst sollte sie auf diese Erklärung entgegnen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, ob es Engel gab. Und bisher war auch niemand in ihrer Familie gestorben, niemand, den sie liebte. Also hatte sie bis zum heutigen Tag nicht wirklich über dieses Thema nachgedacht. Im Gegensatz zu ihm. Und sie konnte nur zu gut verstehen warum. Denn solange es Engel gab, gab es auch seine Laura noch. Sie war immer noch da – irgendwie. Anna sah keinen Grund, ihm diese Hoffnung zu nehmen. Denn diese Hoffnung war sein letzter Draht zu ihr, ein unsichtbarer hauchdünner Faden, der ihn noch mit ihr verband.

Unvermittelt meinte sie in seinen Augen etwas aufblitzen zu sehen. Täuschte sie sich oder waren sie wirklich auf einmal ein wenig heller und leuchtender? Nun, zumindest schienen sie ihr weniger müde, weniger traurig.

„Deshalb habe ich auch den Lavendelgarten für sie angelegt“, fuhr er fort und eine liebevolle Begeisterung schlich sich in seine Stimme. „Das war eine Arbeit – das können Sie mir glauben! Sie sind ja selbst von der Straße durch das Feld gewandert und wissen, wie weitläufig es ist. Das habe ich alles allein gepflanzt.“

Anna konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Er war stolz wie ein kleiner Junge, der etwas Tolles geleistet hatte. Und das hatte er ja auch. Es machte ihn irgendwie – nun: sympathisch.

„Sie müssen wissen: Laura liebte Lavendel über alles … aber darüber sind Sie ja wahrscheinlich bereits im Bilde … der Dorfklatsch!“

Ein kleines Lächeln spielte um seinen Mund.

„Ja, der Dorfklatsch“, bestätigte sie, erleichtert, dass sich die trübe Stimmung aufhellte, und erwiderte sein Lächeln.

„Wissen Sie was?“, fragte er sie mit fester Stimme. „Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich das alles anhören – ich hoffe, ich gehe Ihnen nicht zu sehr auf den Geist damit.“

„Nein, tun Sie nicht“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Denn sie war schon immer eine gute Zuhörerin gewesen. Es machte ihr nichts aus, hin und wieder die Seelentrösterin zu spielen. Solange sie ihren Mitmenschen damit etwas Gutes tun konnte, warum nicht? Ein offenes Ohr und ein Herz für die Probleme anderer zu haben, kostete schließlich nichts. Es war etwas, das man ohne Bedenken verschenken konnte.

„Pardon, möchten die Herrschaften für heute Mittag einen Tisch reservieren?“ Es war Pierre, der sie fragte. Er hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt. „Dann würde ich diesen hier für Sie freihalten.“

David zuckte fragend mit den Schultern. Seine Laune schien sich auf wundersame Weise aufgeheitert zu haben.

„Warum nicht?“, schlug er vor. „Was sagen Sie?“

Anna suchte händeringend nach einem triftigen Grund, um davonzurennen, aber ihr fiel keiner ein. Im Grunde war er sympathischer, als sie es nach seinem unentschuldigten Fernbleiben am gestrigen Abend gedacht hatte. Unentschuldigt, aber nicht unentschuldbar – nicht nach dem, was sie nun über ihn und seine Vergangenheit wusste. Was soll’s, dachte sie. Lass dich einfach treiben.

Sie würde ihm einfach weiter zuhören, wie er von seiner Frau schwärmte. Wie er Laura mit seinen Worten, die aus tiefstem Herzen zu kommen schienen, in den Himmel erhob, sie in einen Engel verwandelte. Und während Anna ihm lauschte, würde sie sich vorstellen, dass es Tom wäre, der ihr gegenübersaß, hier an diesem friedlichen Sommermorgen unter einer schattigen Platane am Marktplatz von Gordes. Und dabei von ihr sprach – seinem Engel.

„Einverstanden“, willigte Anna schließlich ein.

Und spürte erst jetzt, errötend, dass sie David – Tom – wohl zu lang und zu tief in die Augen geblickt hatte, während ihre Gedanken sie fortgetragen hatten.

Sofort wandte sie den Blick ab. Hoffend, dass ihr Gegenüber sie nicht missverstanden hatte.

4. KAPITEL

Wieso war er nicht schon früher auf die Idee gekommen? Sich ein Ventil zu suchen. Seit nunmehr fünf Jahren fraß er den Schmerz über Lauras Verlust still und leise in sich hinein – und nun, hier und jetzt, wo er einer völlig Fremden seine intimsten Gefühle anvertraute, schien er auf einmal wieder frei atmen zu können. Dieses Druckgefühl in der Brust, das ihn belastete, seit sie nicht mehr da war – es war nahezu verschwunden!

Diese Anna war die reinste Therapie! Und er konnte ihr gefahrlos alles, aber auch wirklich alles erzählen, denn schon in wenigen Tagen wäre sie wieder auf dem Heimweg nach England.

Sie würden einander nie wiedersehen.

Genau damit stand und fiel die … Therapie. Denn wie eine solche fühlte es sich in diesem Augenblick tatsächlich an. Der Morgen war nahtlos in die Mittagsstunde übergegangen, so flott ging ihre Konversation voran. Vielleicht hatte das Schicksal sie aus diesem Grund zu ihm geführt? Damit er sich endlich Luft machte? Sie war eine gute Zuhörerin. Vielleicht sollte er die nächsten Tage ebenfalls mit ihr verbringen, solange sie noch da war? Er würde sie mit den Köstlichkeiten der Provence verwöhnen, und sie ihn mit einem offenen Ohr.

„… er heißt Tom …“

Tom? Wer war das? David nahm wie durch einen akustischen Schleier gedämpft wahr, was sie sagte. Wahrscheinlich der Freund, von dem sie gesprochen hatte. Er war immer noch ganz in seinen Gedanken und bei dem leckeren Coq au vin, den Pierre soeben serviert hatte. „Tom … hm …“, erwiderte er kauend und schaute sie an, als würde es ihn wirklich interessieren.

Möglicherweise einen Augenblick zu lang und zu tief.

Denn auf einmal errötete sie.

Sofort wandte er den Blick ab. Hoffend, dass sein Gegenüber ihn nicht missverstanden hatte.

„Die Wahrheit ist, es ist aus. Wir haben uns getrennt.“

David blickte überrascht von seinem Teller auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine weitere Gemeinsamkeit. Wie es aussah, war er nicht allein allein. Sondern sie waren es zusammen. An ihrem Tisch in dieser paradiesischen Umgebung, die so wirkte, als könnten hier nur überglückliche Menschen speisen. Es war einfach zu schön hier, als dass Unglück, Schmerz und Einsamkeit in diese perfekte Postkartenwelt eindringen konnten. Und doch taten sie es – sie schwebten als dunkle Schatten über ihren Köpfen.

„Es ist mein erster Urlaub ohne ihn“, hörte er Anna sagen. „Ich habe Sie gestern angelogen, ich bin allein hier.“

„Nun, angelogen ist ein starkes Wort“, erwiderte David, um sie ein wenig zu trösten. „Allein zu sein ist nichts, wofür man sich schämen muss.“

„Ich weiß …“, bestätigte sie, während sie ein wenig lustlos mit ihrer Gabel in ihrem Essen herumstocherte. „Aber es tut weh – vor allem, wenn man nicht daran gewöhnt ist.“

„Ich war auch nicht daran gewöhnt, bevor es passierte. Sie wissen schon, die Sache mit Laura. Aber die Zeit …“

„… heilt alle Wunden?“, fuhr sie ihm ins Wort. Mit einer Kalenderspruch-Weisheit, die nicht das Geringste mit dem zu tun hatte, was er eigentlich hatte sagen wollen.

Er blickte sie streng an. Und schüttelte den Kopf. „Nein“, entgegnete er seufzend. „… das tut sie leider nicht. Sie … nun, ich glaube eher, sie lässt uns abstumpfen. Raubt uns jeden Lebensgeist und den Glanz aus den Augen, den wir hatten, als wir noch jung waren und glaubten, dass das Leben Gutes mit uns vorhat.“ Er schluckte den sich plötzlich in seinem Hals bildenden Kloß aus Enttäuschung herunter, um dann fortzufahren: „Glauben Sie mir: Ich war immer ein positiver Mensch. Ein Optimist, wie er im Buche steht. Und überzeugt davon, dass das Leben im Kern gut ist. Aber ich musste lernen, dass manche Menschen einfach bestraft werden sollen, dass leben in Wahrheit nichts anderes ist als leiden. Eine Reise, die voller Hoffnung beginnt und voller Enttäuschung endet.“

Es fiel ihm alles andere als leicht es auszusprechen, denn im Grunde wollte er daran glauben, dass eines Tages alles gut werden würde. Allein – es gelang ihm schlicht und einfach nicht mehr. Er hatte den Glauben verloren. Er fühlte sich innerlich – nun: tot.

„Man darf trotzdem nicht aufgeben, oder?“, wandte sie ein. „Dann könnte man sich ja gleich den Strick nehmen.“

„Ich habe schon daran gedacht“, setzte er sie in Kenntnis. Tatsächlich hatte er diesen Ausweg kurz nach Lauras Tod in Erwägung gezogen. Dass es nicht dazu gekommen war, lag allein daran, dass er nicht mutig genug gewesen war, es bis zum Ende durchzuziehen. Dass ihn irgendein absurder Lebensgeist davon abgehalten hatte. Es war derselbe Lebensgeist, der ihn jetzt bereits seit Jahren durch die Hölle der Einsamkeit schickte. Durch ein Leben ohne sie, das kein Leben mehr war.

„An so etwas dürfen Sie nicht mal denken, David“, belehrte sein Gegenüber ihn. „Es gibt so viel Schönes im Leben, und wenn sich irgendwo eine Tür schließt, öffnet sich im selben Moment eine andere.“

David schaute sie kopfschüttelnd an. Wie konnte man nur so … naiv sein!

„Das haben Sie in einer Frauenzeitschrift gelesen, oder?“

„Nein, habe ich nicht – ich glaube ganz fest daran. Und das sollten Sie vielleicht auch tun!“

„Nun, dann müssen Sie sich ja keine Sorgen machen, Anna“, erwiderte er ungewollt scharf. Keine Frage: Sie hatte einen Nerv bei ihm getroffen. „Die Tür, hinter der Ihr geliebter Tom steht, bleibt ab sofort für den Rest Ihres Lebens verschlossen, aber schon bald wird eine andere Tür aufgehen. Und hinter dieser wird jemand stehen, der noch viel besser zu Ihnen passt als er, richtig? Alles wird immer besser, das Leben will nur, dass wir uns stetig zum Besseren entwickeln. Und da müssen manchmal eben Köpfe rollen!“

Er hatte sich richtiggehend in die Sache hineingesteigert, das merkte er jetzt. David stoppte seinen Redefluss und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Anna war verstummt. Die kleine, zart gebaute Engländerin wirkte noch zerbrechlicher, als es ihre Statur ohnehin schon suggerierte. Sie blickte ihn an, mit Tränen in den Augen. Offensichtlich war das Bild, dass geliebter Tom nun für immer hinter einer Tür von ihr weggeschlossen stand, etwas zu drastisch gewesen. Er war einen Schritt zu weit gegangen.

„Hören Sie, es tut mir leid“, beeilte er sich zu sagen. „Sie und Ihr Freund werden wieder zusammenkommen.“

Doch alles, was er für sein Einlenken erntete, für seine gefällige Anstandslüge, war ein trotziger Blick.

„Nein, das werden wir nicht!“, widersprach sie ihm. „Denn er hat die Tür absichtlich zugeschlagen, und ich werde sie ihm ganz bestimmt nicht wieder öffnen!“ Sie wirkte zu allem entschlossen. So als hätte seine kleine Ansprache etwas in ihr ausgelöst, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Auf einmal tat sie David fast leid. So wie sie nun vor ihm saß, ein Häufchen aufgebrachtes Elend. Und dass ausgerechnet er dafür verantwortlich war, weil er seine Zunge nicht im Zaum halten konnte, gefiel ihm wiederum ganz und gar nicht.

Es war, wie es nun einmal war: Seit Jahren hielt er sich möglichst von Menschen fern, und diese selbstgewählte Distanz hatte einen Grund. Er war schlicht und ergreifend nicht gesellschaftsfähig. Nicht mehr. Das einzige, was er tat, war, sein Unglück auf andere Menschen zu übertragen. Auf unschuldige Menschen wie Anna.

Ohne ein Wort nahm er die Weinflasche und goss ihr nach. Und danach sich.

„Auf eine bessere Zukunft“, sagte er leise und erhob sein Glas.

Sie tat es ihm nach. Der leise helle Klang zweier Gläser, die einander vorsichtig berührten, wurde von einer leichten Sommerbrise davongetragen.

Ein Weilchen saßen sie einfach nur so da und sagten gar nichts.

„Die Zukunft ist ein unsichtbares Land, durch das wir wandeln Hand in Hand …“, unterbrach er die Stille schließlich, indem er eine weitere Erinnerung aus seinem schier unendlichen Fundus an Geschichten aus der Vergangenheit holte.

„Das ist ein schönes Gedicht“, erwiderte sie leise.

„Es stand auf unserer Hochzeitskarte.“

„Oh.“

„Hatten Sie auch vor zu heiraten?“

Sie hob den Blick von ihrem Teller und schaute ihn verdutzt an.

„Ich … weiß es nicht, ehrlich gesagt. Es wäre an der Zeit gewesen, denke ich. Aber irgendwie haben wir wohl den richtigen Zeitpunkt verpasst.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Nun, was soll’s – wahrscheinlich war es richtig so.“

David nickte zustimmend. Dieses Mal war es ihm gelungen, auch ihr zuzuhören. Nicht nur oberflächlich, sondern mit ihr zu fühlen.

„Ja“, bestätigte er. „Ich bin mir sicher, dass es richtig war. Die Menschen warten immer auf den perfekten Zeitpunkt: zum Heiraten, zum Kinderkriegen, zum Glücklichsein. Aber die Wahrheit ist doch: Wenn man den richtigen Menschen dazu gefunden hat, will man eigentlich keine Minute länger warten als nötig, oder?“

Offensichtlich hatte er damit einen Treffer gelandet. Jedenfalls schenkte sie ihm ein zustimmendes Lächeln.

„Ja, das ist wahr“, gab sie ihm recht.

„Und wenn man einen Menschen getroffen hat, mit dem man gut reden kann, gilt dafür möglicherweise dasselbe …“

Sie legte den Kopf auf die Seite und blickte ihn neugierig an. „Was meinen Sie damit?“, fragte sie.

„Was ich damit meine? Nun: Hätten Sie vielleicht Lust, morgen wieder mit mir zu essen? Als kleine Wiedergutmachung für die unnötigen Schmerzen, die ich Ihnen heute zugefügt habe?“, fragte er schließlich, ergänzt um ein freundliches Augenzwinkern. „Ich meine, nicht als Date – einfach nur als … nun, sagen wir: Leidensgenossen? Um ein wenig zu reden? Ich habe das Gefühl, dass Sie mir irgendwie guttun.“ Er schaute sie fragend an. „Obwohl ich ahne, dass es umgekehrt nicht so ist“, schob er entschuldigend hinterher.

Ein zurückhaltendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Gefolgt von einem schwer zu deutenden Kopfschütteln. Hieß es nein, ja oder vielleicht? Es war absolut nicht auszumachen.

„Doch, ich glaube, umgekehrt ist es auch so“, sagte sie zu seiner größten Überraschung. Und lieferte gleich die nächste Überraschung nach: „Heute sind Sie eingeladen.“

„Nein, das geht auf keinen Fall“, widersprach er.

„Warum nicht?“, fragte sie, während sie ihr Portemonnaie zückte.

„Weil … es einfach nicht geht. Sie haben schon genug bezahlt, indem Sie mir zugehört haben. Dass Sie sich von mir Ihren Urlaub vermiesen lassen, ist im Grunde … unbezahlbar.“

Nun hatte er ihr tatsächlich ein richtiges Lachen entlockt. Ein Lachen, in das er gerne einstimmte.

„Das geht schon in Ordnung“, sagte sie und schenkte ihm einen Blick, als wären sie bereits uralte Freunde, die einander eine Ewigkeit kannten. Mit all ihren guten und schlechten Seiten.

Er winkte nach der Rechnung. Und riss sie, kaum hatte Pierre sie auf ihren Tisch gelegt, mit einem entschlossenen Ruck an sich.

„Dann morgen gegen zwölf hier?“

Er zählte das Geld in die kleine Schatulle auf dem Tischchen, ergänzt um ein großzügig bemessenes Trinkgeld.

Sie nickte und erhob sich nahezu synchron mit ihm von ihrem Platz. Als wären sie bereits ein eingespieltes Team. Allein an der Verabschiedung mussten sie noch arbeiten: Zuerst reichte sie ihm in distanziert englischer Manier die Hand, während er sie nach französischer Art auf die Wange zu küssen versuchte – und dann umgekehrt. Schließlich beließen sie es bei dem unbeholfenen Mix aus beiden gescheiterten Versuchen und einem peinlich berührten Lächeln.

Und doch – für David war das Treffen befreiend gewesen, außerordentlich befreiend sogar. Damit hätte er nicht gerechnet. Als er wieder hinter dem Steuer seines Rovers saß und langsam der sich den Berg hinabwindenden Straße folgte, verspürte er dieses angenehm warme Gefühl in der Bauchregion, an das er sich kaum noch erinnern konnte – zu lange lag es mittlerweile zurück. Sicher: Es mochte an dem leckeren Coq au Vin liegen, den er eben zu sich genommen hatte, aber irgendwie ahnte er, dass es nicht allein auf das Essen zurückzuführen war.

Apropos! Eine Sache durfte er nicht vergessen.

Seine kleine Familie, die zu Hause auf ihn wartete: Bell und Ross, die Hunde. Auch sie sollten ihren Anteil haben an diesem bisher so unerwartet glücklich verlaufenen Tag.

Am Fuß des Berges stoppte er an einer Tankstelle. Der Gedanke an die Hunde hatte ihn davor bewahrt, die letzten Kilometer nach Hause zu Fuß zu laufen, denn der Tank war leerer als leer, wie er gerade noch rechtzeitig feststellte. Das wäre dann doch zu viel an unerwarteten Wendungen, wenn er nach fünf Jahren ohne einen einzigen Zwischenfall mit dem Auto liegen blieb – exakt einen Tag, nachdem er eine nette englische Touristin aus eben dieser misslichen Situation gerettet hatte.

Während sich der Tank langsam füllte, musste er daran denken, welche nicht zu unterschätzende Rolle der Zufall doch im Leben spielte. Rein zufällig, um nicht zu sagen auf beinahe abenteuerliche Weise, hatte er Anna gestern kennengelernt. Und heute hatte er sie genauso zufällig wiedergetroffen, obwohl er ihr eigentlich hatte aus dem Weg gehen wollen. Und nun fühlte er sich auf einmal deutlich besser, als er sich in diesem Augenblick fühlen würde, wäre ihm sein Ausweichmanöver gelungen.

Es schien fast so, als wolle der Zufall ihm ein wenig auf die Sprünge helfen. David musste an die Geschichte denken, die er vor Jahren in der Zeitung gelesen hatte: Sie handelte von einem Mann, der seinen Flug verpasste und dadurch als einziger den Absturz der Maschine überlebte. Nur um drei Wochen später bei einem Fallschirmabsprung ums Leben zu kommen. Ironie des Schicksals oder mehr? Vielleicht stimmte es ja wirklich, was C.G. Jung behauptete, der berühmte Psychoanalytiker und Freud-Schüler: Dass alles zusammenhing und dass es keine Zufälle gab. Das menschliche Hirn war nur zu klein, um diese Zusammenhänge zu verstehen.

Vielleicht glauben wir nur, wir hätten unseren freien Willen, überlegte David, aber möglicherweise haben wir auch nur den Anschein von freiem Willen. Während in Wahrheit irgendjemand dort oben die Fäden für uns zieht.

Der Mensch denkt, Gott lenkt – möglicherweise war mehr dran an diesem alten Sprichwort, als die Menschen heutzutage, in dieser wenig spirituellen Zeit, glauben wollten.

Im Tankstellenshop griff David nach einem großen Pack Würstchen für Bell und Ross. Ein Festmahl, das sie in Sekundenschnelle verschlingen würden. Er freute sich auf ihre glänzenden Augen, sobald sie entdecken würden, was ihr Herrchen ihnen Schönes mitgebracht hatte. Es war schon komisch: Er wusste selbst nicht, warum er auf einmal so fröhlich und ausgelassen war. Es war, als wäre es nach einem langen harten Winter, der sein Leben in den vergangenen Jahren im Würgegriff gehalten hatte, unerwartet Frühling geworden. David hatte das Gefühl, das Eis, das sich über sein Herz gelegt hatte, auftauen zu sehen. Langsam, versteht sich – denn die Antarktis taute nicht innerhalb von Stunden –, aber immerhin.

Ließ sich all das auf das Treffen mit dieser Anna zurückführen?

Nun, soweit wollte er auch wieder nicht gehen. Aber fest stand: Sie schien ihm gutzutun. Es war, als würde sie mit ihrer leisen, sonnigen Art das schwere Joch, das Lauras Tod ihm auf die Schultern gelegt hatte, ein wenig anheben. Durch ihre bloße Anwesenheit. So wie er es sah, hatte dieser Tom einen schweren Fehler begangen, indem er sie verlassen hatte. Ihm jedenfalls schien sie nicht nur von außen hübsch anzusehen zu sein, sondern kam dem, was sich eigentlich jeder Mann wünschte, vom ersten Eindruck her ziemlich nahe: Eine Frau, die verstand, wie Männer ticken. Und die sie trotz aller ihrer Unzulänglichkeiten gut behandelte, anstatt ihnen noch zusätzliche Schwierigkeiten zu bereiten.

Wie auch immer: Das war Toms Problem, nicht seines. Merkwürdig, dass er überhaupt darüber nachdachte. Er kannte sie doch überhaupt nicht.

Er hoffte nur, dass sie seine Einladung, ihn morgen wieder zu treffen, nicht falsch verstand. Dass sie seine Signale nicht missdeutete. Es ging ihm einzig und allein um – nun: Freundschaft. Falls das überhaupt möglich war zwischen einem Mann und einer Frau. Vielleicht war das Wort auch zu groß für das, was ihm eigentlich vorschwebte: die Abschaffung der Einsamkeit. Wenn auch nur für die paar Tage, die sie noch hier in Gordes verbringen würde. Jemanden zu haben, mit dem er sich austauschen konnte. Sich endlich Luft machen zu können.

Wie gesagt: Nicht, dass Anna nicht attraktiv genug wäre, im Gegenteil. Es hatte ihm Spaß gemacht, ihr beim Essen zuzusehen, beim Reden und beim Zuhören. Beim Lächeln und dabei, wie sich ihre von der Sonne leicht gerötete Stirn in tiefe Sorgenfalten legte, wenn er ihr von Laura erzählte. Das kleine Grübchen, das sich dann exakt in der Mitte über ihrer Nase bildete, hatte ihm gefallen. Sie erinnerte ihn sogar ein wenig an diese Schauspielerin, die er und Laura so sehr mochten: Amy Adams – ja, so hieß sie.

Und doch, es ließ sich nicht verleugnen.

„Seit Laura bist du blind für jedes andere weibliche Wesen“, warf seine Mutter ihm seit Jahren vor. Zu Recht, aber so war es nun mal. „Es wird Zeit, dass du die Augen wieder öffnest, mein Junge.“

Leider war das nicht so einfach, wie sie dachte.

Fest stand: Er war immer noch blind. Blind für die äußeren Attribute eines jeden weiblichen Wesens. Und mochten sie noch so attraktiv und verlockend sein. Das galt auch für Anna. Denn sie war attraktiv, ohne jeden Zweifel. Doch er war blind dafür, er nahm es nicht wirklich wahr.

Etwas anderes jedoch nahm er wahr.

Denn dafür brauchte er keine Augen: Es war ihr Herz. Es strahlte eine ungeheure Wärme aus. Fast wie ein glühender Kachelofen, an dem man sich an einem eiskalten Wintertag wärmen konnte, damit man wieder zu Kräften kam. So erfroren und erschöpft man auch war. Dieses Herz vermochte es, einen wieder aufzupäppeln.

Es versprach es geradezu.

Das konnte selbst ein Blinder sehen.

5. KAPITEL

„Und? Hatten Sie einen schönen Tag so weit?“ Es war Marion, die Rezeptionistin und Juniorchefin der Auberge du Ciel, die sie das fragte, kaum war Anna durch das Eingangsportal getreten. Dabei strahlte sie sie an, als läuteten bereits von irgendwoher die Hochzeitsglocken.

„Ja, so weit … schon …“, erwiderte Anna ein wenig perplex.

„Man sieht es.“

Anna schaute sie fragend an.

„So ein Urlaub in der Provence wirkt Wunder“, löste Marion das Rätsel auf. „Schon am zweiten Tag strahlen die Gäste und fühlen sich wie neugeboren.“

Anna atmete auf. Für einen Moment hatte sie befürchtet, der neueste Dorfklatsch wäre bereits vor ihrer Rückkehr in die Pension bei Marion gelandet, und sie wäre gezwungen, ein klares Dementi abzugeben. Alles abzustreiten. Nein, der Lavendelmann und ich sind kein Liebespaar. Nicht im Entferntesten. Nun, wir verstehen uns gut, aber eher in einem freundschaftlichen Sinn. Sie hoffte, dass David es genauso sah. Nicht, dass sie ihn nicht interessant fand – sie konnte verstehen, warum sich der Dorfklatsch um ihn drehte. Denn es bestand kein Zweifel: Man konnte sich von ihm angezogen fühlen. Nicht nur optisch, sondern auch von seiner Art. Von seinem Charme. Und von der leisen Traurigkeit, die fortwährend in seinen Augen lag. Sie weckte den Instinkt in ihr, sich um ihn zu kümmern. Ihm etwas Gutes zu tun. Mit Worten, versteht sich. Und guten Ratschlägen. Mehr war da nicht.

„Leider habe ich keine so guten Nachrichten von der Werkstatt“, schnitt Marion ein anderes Thema an – Gott sei Dank. „Bertrand war eben hier und sagte mir, dass Ihr Wagen nicht vor Ende der Woche fertig sein wird. Und die Autovermietung hat auch zurückgerufen, sie sind komplett ausgebucht – es ist Hochsaison, das haben Sie ja sicher schon festgestellt.“

Na großartig!

Das hatte ihr noch gefehlt. Jetzt stand sie ohne fahrbaren Untersatz da. Sie würde die ganze Woche in Gordes und direkter Umgebung verbringen müssen. Und doch: Eigentlich hätte ihr diese Nachricht den Tag gehörig vermiesen müssen, aber merkwürdigerweise war es nicht so. Den morgigen Tag würde sie ohnehin mit David verbringen, und wer weiß, vielleicht konnten sie einen kleinen Ausflug zusammen unternehmen? Obwohl: Besser nicht, zähmte Anna ihre Fantasie. Am Ende passierte dabei noch etwas, das sie beide nicht wollten. Aus welchen Gründen auch immer.

„Die Mietgebühr wird noch heute Ihrer Kreditkarte gutgeschrieben“, holte Marion sie aus ihren mal wieder mit ihr durchgehenden Gedankenspielen. „Ich habe denen ganz schön den Hintern heiß gemacht – Sie sind nicht der erste Gast, der Probleme mit dieser Autovermietung hat. Wenn das Geld nicht ruck, zuck wieder bei Ihnen ist, habe ich diesen Halsabschneidern gesagt, kriegen sie es mit mir zu tun. Persönlich.“

Anna musste innerlich lächeln bei dem Gedanken daran, denn Marion mochte alles sein – aber furchteinflößend war sie ganz bestimmt nicht.

„Das ist wirklich lieb von Ihnen“, bedankte sie sich artig.

Im selben Moment flitzte ein kleiner Wirbelwind in den Raum. Ein Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren, mit azurblauen Augen und einem dichten Schopf aus tausend winzigen kleinen Löckchen, die ihr bezauberndes Gesicht einrahmten.

Maman – kommst du nun?“ Sie blickte auf zu Marion.

„Einen Moment, Schatz – du siehst doch, dass ich arbeite, oder?“

Die Kleine sandte ein kleines Kichern aus und wandte sich dann an Anna. „Und wie heißt du?“

„Ich? Anna. Und du?“

„Audrey.“

„Das ist aber ein schöner Name!“

„Ja, stimmt. Und wie alt bist du?“

„Audrey!“, rief Marion ihre Tochter zur Ordnung. „Das geht dich nichts an.“

„Ist schon okay“, beschwichtigte Anna sie. „Ich bin siebenundzwanzig. Und du?“

Das Mädchen riss die Augen auf, als hätte sie soeben etwas Unglaubliches vernommen. „Siebenundzwanzig? Das ist aber ganz schön … alt …“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Marion. „Ich bin auch siebenundzwanzig. Und bin ich alt? Hm?“

„Ja, bist du!“, erwiderte die Kleine trocken. Um dann genauso schnell wieder abzurauschen, wie sie in die Vorhalle gestürmt war.

„Entschuldigung, das war meine Tochter“, sagte Marion.

Offensichtlich hatte Anna sie einen Moment zu lange angeblickt und abgeschätzt, wann Marion sie bekommen hatte, denn ihr Gegenüber beantwortete die Frage augenblicklich – ohne dass auch nur ein Wort über Annas Lippen gekommen wäre.

„Der schönste Betriebsunfall meines Lebens“, gestand sie lächelnd. „Ich hatte kaum die Schule abgeschlossen und – schwups – da war sie auf einmal! So wurde nichts aus der Uni, aber das ist okay. Irgendjemand hätte die Pension ohnehin führen müssen, ob mit Studium oder ohne. Eigentlich wollte ich Lehrerin werden, aber so ist das Leben nun mal – voller Überraschungen.“

„Das ist ja ein Zufall!“, erwiderte Anna in Anbetracht dieser Gemeinsamkeit. „Ich bin Lehrerin.“ Nun ja, theoretisch wenigstens. Praktisch momentan nicht mehr.

„Oh, wirklich?“ Marion blickte sie interessiert an. „Dann bleiben Sie doch gleich hier bei uns – unsere Grundschule sucht nämlich verzweifelt eine Englischlehrerin. Audrey wird nach dem Sommer eingeschult, und wir sind schon ganz verzweifelt, weil die Stelle bis heute nicht besetzt ist. Sie wissen schon: Wir Franzosen und Englisch, das funktioniert nur in den seltensten Fällen …“

Anna war baff. Noch heute Morgen hatte sie davon geträumt, wie es wäre, hier zu unterrichten – und jetzt diese Nachricht!

„Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein, wieso?“, erwiderte Marion. „Sie sprechen fließend Französisch und Englisch und sind Lehrerin. Damit wären alle Anforderungen erfüllt. Nun, mal abgesehen davon, dass wir Franzosen euch Engländer eigentlich nicht besonders ausstehen können, aber vielleicht würde die Gemeinde Gordes in diesem Notfall mal eine Ausnahme machen“, scherzte sie. „Die bisherige Englischlehrerin, Charlotte, war auch Engländerin – genau wie Sie. Aber sie hat sich diesen Sommer in den Ruhestand verabschiedet. War wahrscheinlich auch besser so, sie hat zuletzt so schlecht gehört und gesehen, dass sie nicht mit Sicherheit wusste, ob sie vor einem gefüllten oder einem leeren Klassenraum saß.“

Anna musste sie ungläubig angestarrt haben, denn Marion schüttelte sofort den Kopf.

„Ich hab Sie nur auf den Arm genommen“, klärte Marion sie lächelnd auf. „Aber alles andere stimmt. Davon abgesehen wird bald eine neue Grundschule gebaut, die Ausschreibung läuft gerade. Dann wird das Arbeiten hier sogar noch schöner. Aber mir ist natürlich klar, Ihr Leben spielt sich in England ab. Arbeit, Familie, Freunde und die Liebe, das gibt man so schnell nicht auf. Würde ich auch nicht machen.“

Anna beeilte sich, mit einem bestätigenden Nicken auf diesen Einwand zu antworten. Wobei ihr in derselben Sekunde auffiel, dass es eigentlich überhaupt nicht so war. Nicht mehr.

Autor

Kate Hewitt
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