Romana Extra Band 51

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HERZKLOPFEN AN DER VIA DELL' AMORE von HENRY, KIM
Trotz seines arroganten Auftretens weckt der gut aussehende Weingutbesitzer Davide Baranello zärtliche Gefühle in der schönen Frances. Gern würde sie ihm anvertrauen, warum sie ins wildromantische Ligurien gereist ist, doch dann müsste sie ihre wahre Identität preisgeben …

AM TRAUMSTRAND ERWACHT DIE SEHNSUCHT von DOUGLAS, MICHELLE
Er will nie wieder kochen! Nach einem Unfall hat sich der berühmte Fernsehkoch Malcolm MacCallum in eine einsame Strandidylle zurückgezogen. Kann ihn die fröhliche Jo wieder an den Herd locken - und in ihr Herz?

DER PRINZ, DER DIE LIEBE VERGAß von MORGAN, RAYE
"Suchen Sie etwas?" Mykals vertraute Stimme lässt Janis’ Herz schneller schlagen. Oh ja. Immer noch zutiefst verletzt vom plötzlichen Ende ihrer leidenschaftlichen Ehe, sucht sie nach Antworten. Aber er scheint sie noch nicht einmal wiederzuerkennen

NIE WIEDER ALLEIN IM PARADIES von HEWITT, KATE
Im Schatten der Palmen träumt Rhia vom großen Glück mit Lukas Petrakides. Und dann macht ihr der attraktive Grieche tatsächlich einen Heiratsantrag! Doch Rhia zögert noch, denn der kühle Milliardär möchte nur eine Zweckehe …


  • Erscheinungstag 24.01.2017
  • Bandnummer 0051
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743703
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Henry, Michelle Douglas, Raye Morgan, Kate Hewitt

ROMANA EXTRA BAND 51

KIM HENRY

Herzklopfen an der Via dell’ Amore

Was hat diese Person in seinen Weinbergen zu suchen? Davide Baranello misstraut Frances, die er für eine Spionin seines größten Widersachers hält. Trotzdem kann er sich ihrem Charme nicht entziehen …

MICHELLE DOUGLAS

Am Traumstrand erwacht die Sehnsucht

Zu groß für eine Frau, zu athletisch … Jo Anderson findet sich überhaupt nicht attraktiv. Das sieht der charismatische Millionär Malcolm MacCallum ganz anders. Kann er sie von seiner Meinung überzeugen?

RAYE MORGAN

Raye Morgan

Der Prinz, der die Liebe vergaß

KATE HEWITT

Nie wieder allein im Paradies

Lukas’ Heiratsantrag ist für die junge Rhia sehr verführerisch. Doch wo bleibt die Liebe bei diesem verlockenden Angebot? Der Milliardär scheint ein Herz aus Stein zu haben …

1. KAPITEL

In einer weiten Linkskurve nahm Flug 927 von London Kurs auf Genua und gewann schnell an Höhe. Frances West klammerte sich mit beiden Händen an die Armlehnen. Oh Gott. Warum hatte ihr niemand gesagt, wie furchtbar sich das anfühlte? Jeder Atemzug brachte mehr Distanz zwischen sie und den sicheren Boden. Es knackte in ihren Ohren. Menschen waren nicht zum Fliegen gemacht, sonst würden ihnen Flügel wachsen.

Vorsichtig wagte Frances einen Blick auf ihren Sitznachbarn. Ein schweigsamer Mensch, der für nichts und niemanden Aufmerksamkeit erübrigte. Das musste er auch nicht. Er gehörte zu dieser Art von Männern, die Aufmerksamkeit anzogen, ganz egal, ob sie sich darum bemühten oder nicht. Schwarze, exakt geschnittene Haare, ein aristokratisches Profil. Der Anzug war garantiert maßgeschneidert, und er trug ihn so, wie Frauen Lingerie trugen. Nicht, um den Körper zu verbergen, sondern um ihn ins rechte Licht zu rücken. Der Duft, der den Mann umgab, erinnerte an feuchten Waldboden und exotische Gewürze. Vermutlich war sein Eau de Cologne genauso maßgefertigt wie sein Anzug. Schnell wandte Frances den Blick wieder ab und schaute aus dem Fenster.

Der Schub der Turbinen presste sie in die Sitzpolster, während die Maschine der Wolkendecke entgegenflog und schließlich von ihr verschluckt wurde. Für einige Momente waberte nichts als Grau vor dem Fenster. Ein Ruck ging durch das Flugzeug, ein Rumpeln und Knarzen. Frances’ Herz stolperte, sie zuckte in ihrem Sitz, und ein kurzer, spitzer Schrei entfuhr ihr. Schnell hielt sie die Hand vor den Mund, um sich vor dem Designeranzug nicht lächerlich zu machen. Dessen aalglatte Perfektion führte ihr die eigene Unsicherheit noch deutlicher vor Augen. Plötzlich funkelte ein Sonnenstrahl durch das Grau, dann durchstieß die Boeing die Wolkenfront und strahlendes Blau empfing sie auf der anderen Seite. Wenn sie jetzt aus dem Fenster blickte, sah sie nur Watte unter sich, auf der sich friedlich das Sonnenlicht spiegelte.

Langsam balancierte sich der Rumpf des Flugzeugs in die Waagerechte. Die Bewegung drückte Frances’ Magen in Richtung Kehle, aber die Turbinen wurden leiser, ihr Geräusch regelmäßiger, sodass sie sich etwas beruhigte. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Gerade mal zwölf Minuten der etwas über zwei Stunden Flugzeit hatte sie überstanden.

Frances zwang sich, ihre Finger zu lockern, und wandte sich an den Fluggast neben ihr. „Ich bin noch nicht so oft geflogen.“ Verlegen hob sie die Schultern. Nicht, dass er gefragt hätte. Er beachtete sie kaum.

„Tatsächlich?“ Unter erhobenen Augenbrauen warf ihr Sitznachbar einen Blick auf ihre verkrampften Hände. Die Lockerungsübungen hatten nicht geholfen. Immer noch stachen ihre Knöchel weiß hervor.

Im selben Moment erlosch mit einem Pling das Anschnallzeichen über den Sitzen. Der Mann neben ihr löste seinen Gurt und wandte ihr dabei das Gesicht zu. Scharf geschnittene Wangenknochen, die eigentlich vollen Lippen ein dünner Strich unter dunklem Bartschatten. Seine Nase sah geradezu adlerhaft aus und verlieh dem Gesicht noch mehr Kühle, als ohnehin darin lag. Starke Brauen gaben den dunklen Augen etwas Durchdringendes, seine Kinnpartie war so scharf geschnitten, dass er damit Diamant ritzen könnte. Wenn dieser Kerl ein Herz hatte, wusste er es unter einer Eisschicht zu verstecken. Typisch reicher Schnösel, natürlich war es unter seiner Würde, auf ihren Gesprächsversuch einzugehen. Er öffnete einen Jackettknopf und griff nach der Lehne zwischen ihnen, um die immer noch Frances’ Finger geschlungen waren.

„Wenn Sie entschuldigen?“ Mit einem Nicken deutete er auf ihre Hand. Er sprach fehlerfrei, aber mit einem starken italienischen Akzent. Melodisch klang das, wäre da nicht dieser arrogante Unterton gewesen. Verwirrt blickte Frances auf die Armlehne. Regte er sich darüber auf, dass sie in ihrer Flugangst beide Lehnen für sich beanspruchte?

„Der Knopf“, erklärte er, die Ungeduld in seiner Stimme kaum unterdrückt. Braune Augen musterten sie genervt.

„Oh.“ Hitze schoss ihr in die Wangen, und sie beeilte sich, ihren Griff zu lösen und die Hände im Schoß zu falten. Fasziniert beobachtete sie, wie er mit seiner Rechten die Armlehne umfasste, mit dem Daumen den Knopf für die Rückenlehne betätigte und sich so mehr Platz verschaffte. Er hatte schöne Hände mit langen, schlanken Fingern. Die Nägel sauber geschnitten, aber auf der Oberseite ein wenig zerkratzt, als wäre er einer, der mit seinen Händen arbeitete. Das wunderte Frances.

Der arrogante Italiener gab ein leises Seufzen von sich, als er versuchte, seine langen Beine auszustrecken, was in den engen Sitzreihen kaum möglich war. Frances fragte sich, wieso er mit der Billiglinie flog, anstatt sich bei einer der großen Gesellschaften in der ersten Klasse einzubuchen. Seine Lippen verjüngten sich noch mehr, während er um eine möglichst bequeme Sitzposition rang und schließlich nach dem Magazin griff, das er beim Einsteigen in der Sitztasche der Rückenlehne vor seinen Knien platziert hatte. Schon bei dieser eigentlich gar nicht nennenswerten Aktion war er Frances aufgefallen. Immerhin, sie war eine Frau, und die Frau, die nicht zweimal hinguckte, wenn ein Mann wie der von Sitz 8a in ihrer Nähe auftauchte, musste erst geboren werden. Er hatte diese Art, sich zu bewegen, wie nur Männer sie haben, die erfolgreich sind und ihren Wert kennen. Einen Wert, der sich ausschließlich in der Höhe ihres Bankkontos bemisst.

Der anthrazitfarbene Nadelstreifenanzug hatte ihre letzten Zweifel beseitigt und sie daran erinnert, warum sie sich das Gucken abgewöhnt hatte. Sie erkannte einen Armani, wenn sie ihn sah. Und ein Kerl, der es sich leistete, sich so etwas auf Maß schneidern zu lassen und dann so zu tragen wie dieser hier – locker aufgeknöpft, mit einem glänzend schwarzen Seidenhemd darunter und einer hellblauen Krawatte in exakt derselben Farbe wie die Nadelstreifen –, der gehörte zweifellos zu genau der Art von Mann, mit der sie nie wieder zu tun haben wollte.

Die Art von Mann, der Grandma Penelope sie immer wieder vorgestellt hatte. Geld gehört zu Geld, war eines der Lebensmottos ihrer Großmutter gewesen. Liebe war nicht vorgesehen. Auch nicht für ein Kind, das gerade seine Eltern verloren hatte. Gut nur, dass Frances mittlerweile alt und reif genug war, selbst bestimmen zu können, mit wem sie sich umgab, und nicht mehr auf die Hoffnung angewiesen war, irgendwann einmal den Ansprüchen ihrer Großmutter gerecht zu werden und dafür einen Funken Zuneigung zu ernten. Frances hatte hart darum gekämpft. Am besten, sie tat einfach so, als sei Signor 8a gar nicht da.

Ihr wunderbarer Plan löste sich in Luft auf, als wenig später erneut ein Ruck das Flugzeug erschütterte, gefolgt von einem Rumpeln und Dröhnen. Ohne ihren Händen den Befehl gegeben zu haben, griff sie wieder nach den Armstützen. Prompt traf ihre Linke seinen Unterarm.

„Entschuldigung“, keuchte Frances, aber sie konnte nicht loslassen. Ihr sich überschlagender Atem vermochte kaum das Rauschen in den Ohren zu übertönen. Auch das Pling der Leuchtanzeige, mit dem die Passagiere angewiesen wurden, sich wieder anzuschnallen, drang nicht bis zu ihr durch. Ihr ganzer Körper bebte vor Angst. Panik verengte ihr Blickfeld, wild hob und senkte sich ihre Brust unter heftigen Atemzügen. Dass der oberste Knopf ihrer türkisfarbenen Bluse offen stand, registrierte sie zwar, fand aber nicht die Ruhe, etwas dagegen zu tun. Ebenso wenig wie gegen den Rock, der zu weit an ihren Oberschenkeln heraufgerutscht war, weil ihre Knie so zitterten.

Alles schien verwischt, surreal, die Wärme, die durch den Anzugstoff vom Körper ihres Nachbarn in ihre Handfläche sickerte, das einzig Echte. Sie konnte nicht loslassen. Nicht einmal, um die blonde Strähne wegzuwischen, die sich aus ihrem Chignon gelöst und in ihren Wimpern verfangen hatte.

Bis zu dem Moment, als sich seine freie Hand über ihre legte. Mit sanfter Gewalt löste der Armani-Mann ihren Griff und legte ihr die Hand zurück in den Schoß.

„Das ist der Ärmelkanal. Beim Überfliegen kann es zu Turbulenzen kommen.“

„D… dann fliegen Sie öfter?“ Vielleicht würde sich ihr Herzschlag wieder normalisieren, wenn sie mit ihm Small Talk betrieb. Ablenkung sollte helfen, hatte sie gelesen. Ging sie ihm auf die Nerven damit? Vermutlich. Aber sie konnte nicht anders.

„Ab und zu.“

„G… geschäftlich?“ Im Stillen zählte sie die Länge ihrer Atemzüge, wie sie es beim Yoga gelernt hatte. Drei beim Einatmen, sechs beim Ausatmen. Dass sie dabei klang wie die Frauen, die in Filmen so taten, als ob sie Wehen wegatmeten, konnte sie nicht ändern. Die verdammte Entspannungstechnik half kein bisschen.

„Was meinen Sie?“ Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Fremde sie musterte. Er lächelte nicht. Wo sein Blick sie traf, rann Hitze über ihre Haut, und etwas Seltsames geschah.

Was die Atemübungen nicht geschafft hatten, seiner eindringlichen Musterung gelang es. Obwohl das Flugzeug immer noch wackelte und rumpelte, beruhigte sich ihr Herzschlag. Lächerlich. Sie war immun gegen diese Art von Mann. Nur weil sie sich in einem Flugzeug befand, zehn Kilometer hoch in der Luft, und das Gefühl hatte, ihr letztes Stündchen hätte geschlagen, würde sich das nicht ändern.

Mit Nachdruck wandte sie sich von ihm ab und starrte auf die Sitztasche vor ihr. Sein Lachen klang, als amüsiere er sich prächtig.

„Sie sollten etwas lesen“, riet er, der Spott in seiner Stimme überdeutlich. „Das beruhigt.“ Bedeutungsvoll schwenkte er das Magazin auf seinem Schoß in ihre Richtung. THE VINEYARD stand in cyanblauen Buchstaben groß auf dem Titelblatt. Der Weinberg. Die Geste war eindeutig. Schon verstanden. Wenn sie ihre Nerven wiederfand, würde sie ihn in Ruhe lassen.

„Ich habe nichts zu lesen dabei. Jedenfalls nicht hier, nur im Koffer.“ Als ob sie es nötig hätte, sich vor ihm zu rechtfertigen. Manche Menschen flogen nicht gern. Na und?

„Dann vielleicht einen MP3-Player? Musik? Oder ein Hörbuch?“, hakte er nach. Was bei anderen Männern wohl mit einem Hauch von Freundlichkeit verbunden gewesen wäre, wirkte bei ihm wie ein Ventil für seine Frustration darüber, dass das Schicksal ihn mit dem Sitznachbar-Super-GAU geschlagen hatte.

Frances verkrampfte sich, und diesmal hatte es nichts mit den Turbulenzen zu tun. „Ich dachte, elektronische Geräte seien an Bord nicht erlaubt.“

Mit einer knappen Bewegung legte er das Magazin zur Seite und streckte sich, um durch eine kurze Berührung des Knopfes an der Überkopfanzeige die Stewardess zu rufen. Keine zwei Minuten später stand eine junge Flugbegleiterin neben ihnen und strahlte Mr. Weinberg an, als hätte sie radioaktive Kekse gegessen.

„Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Sie hatte denselben Akzent wie er.

„Wir brauchen Kopfhörer“, sagte er. Obwohl sie so italienisch sein musste wie er, sprach er Englisch mit ihr. Damit Frances ihn ebenfalls verstand? Kaum möglich, dass dieser Kerl zu so viel Rücksichtnahme fähig sein sollte. Vor allem, wenn sie den Tonfall einkalkulierte, in dem er sprach. Ein einfaches Statement, nicht unfreundlich, dennoch schaffte er es, so viel Autorität in diese paar Worte zu legen, dass das arme Mädchen in der schlecht sitzenden Uniform sichtlich schrumpfte.

„Natürlich, Sir, aber … wir verkaufen die nur. Zwölf britische Pfund das Set.“

„Das ist wirklich nicht …“, versuchte Frances sich Gehör zu verschaffen, aber der Mann beendete ihren Protest mit einer brüsken Handbewegung in ihre Richtung, ohne die Stewardess aus den Augen zu lassen.

„Sie sehen doch, dass diese Frau hier unter Flugangst leidet. Ist es nicht Ihre Aufgabe, in einem solchen Fall für Linderung zu sorgen? Ich bin sicher, dass das in Ihrer Jobbeschreibung steht.“

„Sir, ich …“, stammelte das Mädchen, schluckte und errötete. „Ja, natürlich, Sir, es tut mir leid, ich werde sofort …“

„Und wenn die Airline kein Material zur Verfügung stellt, das Passagieren die Reise erleichtert, kaufe ich die Kopfhörer eben“, fügte Signor Armani gereizt hinzu. Die Stewardess eilte davon und kam wenig später mit den geforderten Kopfhörern zurück.

„Hier, bitte, Sir. Die sind selbstverständlich umsonst, und ich hoffe, dass sie der Dame helfen …“

Ohne ein Wort zu sagen, reichte Signor 8a der Stewardess zwei Zehnpfundscheine und griff nach den Kopfhörern. Die Bemühungen des Mädchens, in ihrer Geldbörse nach Wechselgeld zu suchen, stoppte er mit einem Kopfschütteln, das nicht weniger brüsk war als die Handbewegung, mit der er Frances zum Schweigen verurteilt hatte. Die Stewardess verschwand, hochrot im Gesicht.

8a wickelte die Hörer aus der Plastikfolie, reichte sie Frances und steckte den Pin in den Anschluss im Sitz.

„Auf Kanal 2 läuft entspannende klassische Musik. Guten Flug.“

Frances war zu perplex, um zu widersprechen. Guten Flug? Diese kalte Arroganz war nicht zu überbieten. Das Einzige, was sie jetzt noch hoffen konnte, war, dass der Rest der Reise besser wurde.

Denn falls ihre Suche ebenso katastrophal verlief, konnte sie sich abschminken, den Mann zu finden, für den sie so überstürzt nach Ligurien aufgebrochen war.

Davide Baranello stand am Gepäckband in der Ankunftshalle des Cristoforo-Colombo-Flughafens. Gedankenverloren blickte er zum Ausgang. Seine Ex-Sitznachbarin zog gerade ihren Koffer vom Band. Gleich würde sie durch die Glastür gehen, um aus seinem Leben zu verschwinden.

Davide warf einen Blick auf seine Uhr. Ein Schweizer Meisterwerk, das nie auch nur eine Sekunde falsch ging. So mochte er die Dinge: präzise, verlässlich und pünktlich. Bereits zehn Minuten, seit er das Flugzeug verlassen hatte. Davide seufzte. Er hasste das Nichtstun, diesen Leerlauf, der den Kopf freihielt für sinnlose Gedanken.

Gedanken an die hübsch geformten Unterschenkel zum Beispiel, die unter dem schwarzen Bleistiftrock auf den Ausgang zusteuerten. Daran, dass er erstaunt darüber war, dass diese nervöse Person auf ihren Pfennigabsätzen laufen konnte, als sei sie darin geboren. Mit einem erleichterten „Grazie“ hatte die Frau ihm nach der Landung die Kopfhörer in die Hand gedrückt. Ihre Aussprache klang ein wenig rau, wie das Aneinanderreiben von Mühlrädern. Kratzig, aber charmant, irgendwie. Nicht, dass er darauf viel Wert legte.

Die Ausgangstür schloss sich hinter ihr.

Davide ärgerte sich über sich selbst. Darüber, dass er Mitleid mit diesem verwirrten Persönchen gehabt und versucht hatte, ihr den Flug zu erleichtern. Darüber, dass es einfacher war, sich den Anblick ihrer tollen Beine in Erinnerung zu rufen als den Ärger über das katastrophale Meeting mit Andrew Mackintosh und die Worte, die er sich für die Begegnung mit seinem Vater zurechtgelegt hatte. Er ärgerte sich so sehr über sich selbst, dass er beinahe seine auf dem Band vorbeifahrende Reisetasche verpasst hätte. Sobald er zu Hause war, würde er sich Gedanken darüber machen, wie er die Sache mit dem englischen Weinmagnaten wieder ins Lot bringen konnte.

Und Papá? Den musste er endlich in die Schranken weisen. Er liebte seinen Vater, keine Frage, aber diesmal hatte Gianni den Bogen überspannt. Giannis letzter Coup hatte die Macht, sie beide zu zerstören, und Davide wusste, dass Mackintosh seit Jahren auf genau so eine Möglichkeit wartete.

Schon lange war Davides wachsende Marktmacht dem Engländer ein Dorn im Auge. Mackintosh faselte bei jeder sich bietenden Gelegenheit über die beginnende Monopolstellung von Baranello’s und suhlte sich in seiner Rechtschaffenheit, wenn er vor der Kommission über schwindenden Wettbewerb und die daraus resultierende sinkende Qualität redete. Ein waschechter Skandal wäre genau das richtige Mittel, um Davide in die Knie zu zwingen. Das Letzte, an was Davide jetzt denken sollte, war Miss Kopfhörer.

Als er die Flughafenhalle durchquerte, wurde ihm klar, dass er die Rechnung ohne Fortuna gemacht hatte.

Sie stand am Mietwagenschalter, ein Ausdruck purer Verzweiflung im Gesicht. Mit der ihr eigenen Planlosigkeit kramte sie in ihrem Handtäschchen. Er fing Fetzen eines Dialogs auf. Der Mann hinter dem Schalter redete in stark gefärbtem Englisch auf sie ein, während sie versuchte, in einer hektischen Mischung aus Englisch und ein paar italienischen Brocken Zeit zu schinden.

Noch bevor Davides Kopf sich entschieden hatte, ob er eingreifen wollte oder nicht, schlugen seine Füße bereits die Richtung des Schalters ein. Er nickte dem Mitarbeiter zu und wandte sich an die Engländerin. „Alles in Ordnung bei Ihnen? Kann ich helfen?“

Das hektische Kramen erstarb. Sehr langsam hob sie den Kopf, als sei sie erschrocken, seine Stimme zu hören. In einer wohlkalkulierten Geste legte er seine Hand an ihren Rücken und neigte sich vor. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich.

„Was fehlt denn?“, fragte er.

„Ich weiß nicht, was Sie das angeht“, sagte sie. Ihre Augen schwammen in unterdrückten Tränen. Aber natürlich. Sie gehörte zu den Frauen, die meinten, ein bisschen Wasserkunst würde ihnen jeden Weg ebnen. Träum weiter, ragazza, dachte er und nahm seine Hand von ihrem Rücken, bevor er sich an den Mann hinter dem Schalter wandte. In einem kurzen Gespräch fand er das Problem heraus.

Die Engländerin hatte ihren Führerschein vergessen, und es gab keine Möglichkeit für sie, ohne das Dokument ein Auto zu mieten. Davide wandte sich an die Frau. „Wo wollen Sie denn hin?“

Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Wange, aber das entzückende Rot blieb. „Cinque Terre.“ Ihr gelang es nicht, seinen Blick zu erwidern. „Jetzt helfen Sie mir schon zum zweiten Mal, dabei weiß ich nicht mal Ihren Namen.“

„Davide Baranello.“

Sie reichte ihm die Hand, immer noch ein wenig zittrig. „Frances West. Tut mir leid, das alles. Ich wette, Sie halten mich für die unorganisierteste Person des Universums.“

Das kam der Sache ziemlich nahe, aber das behielt er für sich. Er hatte wahrlich andere Probleme, aber irgendwas hatte diese Frau an sich, das es ihm unmöglich machte, sie einfach links liegen zu lassen. Als ein älteres Paar am Schalter auftauchte, zog er Frances ein Stück zur Seite. „Hören Sie“, sagte er. „Ich fahre nach Levanto. Ich kann Sie mitnehmen.“

Sie runzelte die Stirn. „Wo ist das?“

„Von dort aus können Sie den Zug nehmen.“

Überrascht sah sie zu ihm auf. „Mit der Bahn fahren? Ist das nicht unbequem, mit Gepäck?“

Er musste lachen. „Sie waren noch nie hier, oder? Sonst würden Sie wissen, dass in dieser Gegend das Auto das unbequeme Fortbewegungsmittel ist.“

Sie reagierte nicht, blinzelte ihn aus silbernen Augen an.

Davide seufzte. „Ja oder nein? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Mein Angebot steht, aber nicht mehr lange.“

„Ich bin eine Chaotin“, sagte sie.

Ja, dachte er, aber eine sehr attraktive. „Können wir los?“

Sie sah ihn an, und Davide fühlte sich taxiert. Von Kopf bis Fuß starrte sie ihn an, nahm alles in sich auf. Irritierend war das. Normalerweise war er es, der Frauen unter seinem Blick schrumpfen ließ. Oder zum Beben brachte – je nachdem.

Davide beobachtete, wie ihr Blick von seinen Händen zu seinem Gesicht, schließlich seinem Mund glitt. Nicht immun, dachte er, sehr schön. Zumindest war er nicht der Einzige, der aus dem Tritt geraten war. Das kleine Schauspiel dauerte kaum eine Sekunde, dann straffte sie die Schultern und griff nach ihrer Tasche, die ihr im nächsten Augenblick aus der Hand fiel. Das Chaos war zurück.

Er hatte sich schon immer gewundert, wie viel Kram Frauen in ihren Handtaschen unterbrachten. Feuerrot im Gesicht, sammelte sie Geldbörse, Schminkspiegel, dieses und jenes vom Boden auf. Er ließ sich dazu herab, ihr zu helfen, doch als er nach dem Notizblock griff, stockte seine Hand.

Das Logo auf der Kopfseite des Blockes gehörte zu Mackintoshs Weingroßhandel.

Seine Finger wurden kalt. Er richtete sich auf, reichte ihr den Block und trat zwei Schritte zurück. Er hatte keine Ahnung, was es bedeutete, dass sie einen Block mit dem Logo von Andrew Mackintoshs Firma in ihrer Handtasche trug, aber die Möglichkeiten, die sich dahinter verbargen, machten ihn wütend.

Gab dieser Kerl ihm tatsächlich nicht einmal ein paar Tage Zeit, um der Sache selbst auf den Grund zu gehen? Schickte er ihm schon einen Spitzel hinterher, der Beweise sammeln sollte, damit Andrew Mackintosh Davide Baranello ein für alle Mal aus dem Spiel kicken konnte? Offensichtlich zeigte sich der Stimmungsumschwung deutlich in seiner Miene, denn als Frances West den Kopf hob, um ihn anzusehen, zuckte sie zurück.

Missbilligung vertrieb die Röte aus ihren Wangen. Sie wandte den Blick von ihm ab, ihre Finger kneteten ihre Handtasche. Sie versuchte gar nicht erst, herauszufinden, was passiert war. „Wissen Sie was, Signor Baranello? Ich denke, ich werde einen Bus in die Cinque Terre nehmen. So etwas gibt es doch sicher auch.“

Das Kätzchen hatte Krallen. Bitte schön, wenn sie spielen wollte, das konnte sie haben. Jetzt, wo er wusste, wer sie aller Wahrscheinlichkeit nach war, hatte sich jedes Mitleid in Luft aufgelöst.

Er klebte ein kaltes Lächeln in seine Mundwinkel. „Sicher.“ Seine Stimme troff vor Ironie. „Die Haltestelle ist neben dem Ausgang des Terminals. Mit etwas Glück warten Sie nur zwei Stunden. Ich wünsche Ihnen buone vacanze.“

Auf dem Absatz drehte er sich um und marschierte zur Tür. In seiner Hosentasche kniffen die verdammten Kopfhörer. Er riss sie heraus und warf die Dinger in den Papierkorb neben der Tür, die vom Terminal zum Parkplatz führte.

Sie würden sich wiedersehen. Ein Umstand, der sich leider nicht vermeiden lassen würde. Er würde es erfahren, wenn sie in Riomaggiore herumschnüffelte. Bildete Mackintosh sich tatsächlich ein, er könnte einfach jemanden hierherschicken und so herausfinden, was auf dem Weingut Baranello nicht regelkonform verlief? Davide würde nicht zulassen, dass irgendwer bei Gianni auftauchte und dem alten Mann, der im Leben weiß Gott genug mitgemacht hatte, die letzten Jahre verdarb. Wenn, dann lag dieses Recht einzig bei Davide selbst.

Cazzo. Er hätte Gianni längst davon überzeugen sollen, die Finger aus den Eichenfässern rauszuhalten, in denen die Trauben vom Berg in den Hof gebracht wurden. Doch wie konnte er, der Sohn, der den Vater liebte, Gianni verbieten, sich dem Einzigen zu widmen, das ihm geblieben war? Der einzigen Freude im Leben, die ihm niemand genommen hatte? Giannis Sciacchetrà, der berühmte Dessertwein aus den Cinque Terre, war legendär, so süffig und süß, voller Aromen von Feigen und Honig. Aber er war langwierig und teuer in der Herstellung, selbst die Preise, die ein Mann wie Mackintosh dafür zu zahlen bereit war, holten selten den Aufwand wieder herein.

Gianni hatte nachgeholfen, hatte in größeren Mengen günstigere Rebsorten verwendet. Das hätte er nicht tun sollen. Verdammt, er hätte es niemals tun dürfen. Der Sciacchetrà war ein D.O.C.-Wein, das hieß, er durfte nur aus bestimmten Trauben hergestellt werden. Wer sich nicht daran hielt, verlor die Zulassung, und dass sich Gianni nicht daran gehalten hatte, war deutlich herauszuschmecken gewesen bei der Probe mit Mackintosh.

Auch der Engländer hatte es geschmeckt. Der Blick in Mackintoshs Augen hatte alles gesagt. Wenn ich einen Beweis dafür habe, was mein Gaumen mir sagt, bist du dran. Das war, was Mackintoshs Blick gesagt hatte, und offenbar hatte er keine Minute gezögert, sich daranzumachen, Beweise für einen Betrug zu sammeln, von dem Davide bis vor zwei Tagen keine Ahnung gehabt hatte.

Davide hatte seinem Vater die Herstellung des Sciacchetrà überlassen, weil der Ertrag zu gering war, um davon leben zu können. Er hatte sich darauf verlassen, dass Gianni seinem Hobby nachging und damit zufrieden war. Er hatte nicht weiter darüber nachgedacht, hatte den Wein verkauft wie die anderen, die das Gut produzierte.

Und jetzt war er im Begriff, den Preis für sein blindes Vertrauen zu zahlen. Das hieß, wenn er nicht verhinderte, dass Mackintoshs Kätzchen Dinge erfuhr, die sie nichts angingen. Aber vielleicht gab es ja noch eine andere Möglichkeit.

2. KAPITEL

Verzweifelt versuchte Frances, aus dem Gewirr aus Ortsnamen und Zahlen auf der Bustafel schlau zu werden. Die Cinque Terre, der Küstenstreifen nordwestlich von La Spezia, der für seine pittoresken fünf Dörfer berühmt war, waren nicht als solche angegeben. Statt des Stapels Briefe hätte sie lieber eine Straßenkarte von Ligurien in ihre Handtasche stecken sollen. Aber sie war davon ausgegangen, von der Autovermietung mit Kartenmaterial versorgt zu werden.

Zum Teufel. Diese ganze Suche mutierte, noch bevor sie begonnen hatte, zur Katastrophe. Wenigstens den arroganten Italiener war sie los. Davide Baranello. Im Stillen testete sie den Namen auf ihrer Zunge. Baranello. Das klang wie teurer Rotwein bei Kerzenlicht. Natürlich besaß ein Mann wie er einen klangvollen Namen. Aber Namen waren Schall und Rauch. Frances West. Das klang bodenständig, vernünftig. Genau aus diesem Grund hatte sie sich dafür entschieden. Der Name, mit dem sie zur Welt gekommen war, und der damit verbundene Ruhm hatten ihr nur Unglück gebracht. Eine einsame Kindheit mit einer eiskalten Großmutter und später einen Skandal, von dem sie sich nie erholt hatte. Aber dem Geheimnis, wer sie wirklich war, würde sie hoffentlich bald ein großes Stück näher sein.

Frances seufzte und konzentrierte sich wieder auf die Bustafeln. Wenn sie es richtig verstand, musste sie Richtung La Spezia reisen. Der nächste Bus fuhr in vier Stunden. Großartig. Der Stoff der Bluse klebte unangenehm an ihrer Haut, kleine Schweißperlen rannen aus dem Haaransatz in ihren Nacken. Sie konnte das Meer fühlen. Schon der Anflug auf den Flughafen war so beeindruckend gewesen, dass sie ihre Angst fast völlig vergessen hatte. Die Landebahn schien auf dem Meer zu schwimmen.

Die Berge, die sie vom Flugzeug aus gesehen hatte, schienen plötzlich zum Greifen nah. Palmen säumten die Straße, die in die Stadt führte. Der Himmel war von einem so satten Blau, wie sie es in London nie gesehen hatte, das Licht wirkte geradezu flüssig. Hitze flirrte über dem Asphalt, vermischte sich mit den Abgasen von Bussen und Autos.

Es war bereits früher Nachmittag. Wenn sie den Abendbus nach La Spezia nahm, würde sie erst mitten in der Nacht in den Cinque Terre ankommen. Ob die Touristeninformation dann noch geöffnet hätte, um ihr ein Pensionszimmer zu vermitteln? Bei all dem Pech, das sie heute hatte, würde es sie nicht wundern, wenn sie die erste Nacht ihrer Suche unter einer Brücke verbringen müsste. Sie war eben doch Buchhalterin und keine Privatdetektivin. Ihr Spezialgebiet waren Zahlen und Tabellen, nicht Menschen, Orte und Namen.

Wie von ihren Gedanken heraufbeschworen, röhrte ein Wagen um die Ecke. Direkt neben ihr bremste der Maserati, mit Davide Baranello am Steuer. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt und seine Krawatte gelöst. Ihr Herz machte einen Satz. Das Leben war nicht fair. Warum durfte ein Mensch, der aus jeder Pore Überheblichkeit verströmte, derart gut aussehen?

Angestrengt blickte Frances auf die andere Straßenseite. Wenn er sich daran weiden wollte, dass sie hier stand, plan- und ziellos, sollte er es tun. Sie konnte es aushalten.

„Wollen Sie es sich vielleicht anders überlegen?“ Baranello beugte sich über den Beifahrersitz, um die Tür zu öffnen, hob eine Augenbraue und einen Mundwinkel. Fast charmant sah das aus. Von der Eiseskälte war nichts mehr übrig. Seine Linke mit den langen, schlanken Fingern blieb auf dem Lenkrad liegen.

Frances schwankte. Sie hatte ihren Stolz, aber sie hatte auch ein Ziel, und nur eines davon konnte gewinnen.

„Okay. Es wäre sehr nett, wenn Sie mich mitnehmen würden.“

Sein siegessicheres Lächeln machte sie wütend. Noch wütender machte sie, dass die Art, wie er die Mundwinkel verzog, ihren Blick magisch anzog. Seine Lippen waren ein wenig spröde, aber sehr sinnlich, die Unterlippe deutlich voller als die obere. Hormone waren gemein. Ständig mussten sie daran erinnert werden, was der Kopf wollte und was nicht.

Mit einem leisen Klicken sprang der Kofferraum auf. Bevor Frances dazu kam, ihren Trolley anzuheben, verließ Baranello den Wagen, griff galant nach ihrem Koffer und verstaute ihn neben seiner Reisetasche. Dann trat er um sie herum und zog die Beifahrertür ganz auf.

„Signora.“ Mit der Linken machte er eine auffordernde Geste.

Sie dankte ihm mit einem Nicken und stieg ein. Dass sie dabei nicht mit ihrem Absatz am Bordstein hängen blieb und umknickte, wertete sie an diesem Tag als Erfolg.

Die Fahrt zog sich. Von Genua bekam Frances nur die hässlichsten Seiten mit. Das hoffte sie jedenfalls, oder ihr romantisches Bild von Italien wäre wie eine Seifenblase zerplatzt. Gesichtslose, dreckige Hausfassaden. Dahinter der Industriehafen. Der Verkehr war genauso chaotisch wie zu Hause in London.

In Gedanken ging Frances durch, wie sie ihre Suche am besten angehen sollte, und lenkte sich damit von Baranellos Händen auf dem Lenkrad ab. Als der Wagen die Mautstraße verließ, änderte sich die Szenerie. Von der auf einer hohen Brücke abzweigenden Ausfahrt konnte Frances beinahe unendlich weit ins Tal schauen und erkannte, wie schmale, hell asphaltierte Straßen sich in halsbrecherischen Serpentinen durch das tiefe Grün der bewaldeten Hügel schlängelten.

„Wenn Sie nach rechts gucken, sehen Sie gleich das Meer.“

Sie verrenkte sich beinahe den Hals. Der Atem blieb ihr weg, so schön war der Anblick, der sich ihr hinter der nächsten Biegung bot. Das Meer. Durch einen Einschnitt zwischen zwei Hügeln flimmerte es, zunächst so grell, dass sie es erst beim zweiten Hinsehen erkannte. Weiter vorn schmiegten sich auf einem Hügelkamm die Häuser wie unregelmäßig übereinandergestapelte Schuhkartons ins Grün der Hügel. Noch nie hatte sie solche Farben erlebt.

Vom Fahrersitz kam ein amüsiertes Lachen. „Sie sind wirklich das erste Mal in der Gegend.“ Scheinbar ohne Anstrengung manövrierte Baranello den Wagen über die Serpentinenstraßen.

„Ich war einmal in Frankreich.“ Frances wischte sich eine Strähne aus den Augen, die der Fahrtwind ihr immer wieder ins Gesicht blies. „Ansonsten bin ich noch nie aus England herausgekommen.“

„Und was führt Sie hierher?“ Sein Blick löste sich von der Straße, bereiste ihren Körper. Auf ihren Beinen, wo ihr Rock über den Oberschenkeln nach oben gerutscht war und den Rand ihrer Strümpfe enthüllte, blieb er liegen. Hitze breitete sich in ihr aus. Was fiel diesem Kerl ein? Sie richtete ihre Kleidung. Den kleinen Stich Enttäuschung im Magen, als Baranellos Blick sie losließ und sich erneut auf die Straße richtete, tat sie als Einbildung ab. Oder, noch besser, Reiseübelkeit.

„Ich bin beruflich hier“, sagte sie mit so viel Überzeugungskraft, wie sie aufbringen konnte. Jetzt galt es, zu improvisieren. Nie im Leben würde sie diesem Mann sagen, was sie in die Cinque Terre geführt hatte.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich eine Furche zwischen seine Augenbrauen grub. Plötzlich hatte Frances das Gefühl, die Temperatur im Wagen wäre um mindestens zehn Grad gefallen, und das hatte nichts mit der Klimaanlage zu tun.

Seine Stimme klang jetzt so eisig wie im Flugzeug. „Tatsächlich. Sind Sie Fischerin?“

„Sehr witzig.“ Mit Nachdruck löste sie ihren Blick von ihm und sah wieder auf die Umgebung.

„Das war kein Witz. Tourismus und Fischerei. Viel mehr gibt es in der Region nicht. Wenn Sie also keine Touristin sind, müssen Sie Fischerin sein.“

„Ich bin Schriftstellerin.“ Das war gelogen, aber was ging es ihn an? „Ich bin auf Recherchereise hier. Für einen Roman über Diana Brixton. Kennen Sie sie? Es gibt Hinweise, dass Diana vor ihrer Ehe eine Liebschaft mit einem Mann namens Lorenzo Passi hatte. Ich bin hier, um Passi zu finden und zu befragen.“

„Die Hollywood-Diva?“, fragte Baranello und setzte den Blinker. Die nächste Straße war noch enger und kurviger, schien sich in die Berge hineingefressen zu haben wie ein Bach, der jahrtausendelang die Felsen aushöhlte. Baranello ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Hat die nicht in den englischen Hochadel eingeheiratet?“ Natürlich war es das Erste, an das sich Menschen erinnerten, wenn sie den Namen Diana Brixton hörten. Nicht daran, dass sie für ihre Rolle als Kleopatra mit einem Oscar ausgezeichnet worden war. Nicht an die Tatsache, dass Diana nach dem tragischen Autounfall eine kleine Tochter hinterlassen hatte. Nein, die Menschen erinnerten sich an die Skandale. Nur gut, dass nie jemand erfahren würde, wer Frances West war.

„Genau die. Ich glaube, dass die Ehe mit dem Earl of Westmoreland nur eine Notlösung war. Dass ihre wahre Liebe in den Cinque Terre lebt und sich vielleicht bis heute die Frage stellt, warum Diana ihn verlassen hat. Vielleicht kann mein Roman eine Antwort geben.“

„Sie glauben an die große Liebe?“ Er klang schroff, zynisch sogar. Natürlich konnte ein Mann wie er sich nicht vorstellen, dass die Liebe Zeit und gesellschaftliche Konventionen überbrückte. Sie hatte es von Anfang an gewusst. Er war wie der Earl. Wie Grandma Penelope. Wie Greyson, der Frances verraten und verkauft hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich glaube, am Ende zählt nichts als die Liebe. Geld, Ansehen, gesellschaftlicher Rang sind vergänglich. Am Ende kommt es nur darauf an, wen wir geliebt haben. Und von wem wir geliebt wurden.“

Für die Dauer eines Wimpernschlags sah Davide Baranello direkt in ihre Augen, und sie meinte, etwas anderes in seiner Miene zu erkennen als Arroganz und Hohn. Erstaunen vielleicht. Als wäre eine Mauer gefallen und dahinter käme eine andere Facette des Mannes zum Vorschein. So warm war sein Blick mit einem Mal, dass ihr Magen sich flatternd zusammenzog. Es kostete sie körperliche Anstrengung, sich von seinem Blick zu lösen und wieder aus dem Fenster zu sehen. Weit unter ihnen konnte sie eine Stadt erkennen. Kirchtürme, Häuser, eine weitläufige Bucht mit Hafen.

Baranellos Blick folgte ihrem. „Das ist Levanto. Soll ich Sie am Bahnhof rauslassen? In welches der Dörfer wollen Sie?“

„Sind Sie öfter hier?“, fragte sie. Er schien die Straßen wie seine Westentasche zu kennen.

„Ich wohne hier. Also?“ Er war brüsk, kurz angebunden. Ungeduldig. Ein Mann ohne jede Liebenswürdigkeit.

„Bringen Sie mich einfach zur Touristeninformation. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, meine ich. Ich denke, ich bleibe heute Nacht hier.“

Davide parkte hinter dem Bahnhofsvorplatz und drückte den Knopf für die Kofferraumverriegelung. „Wir sind da. Die Touristeninformation.“

Nervös umklammerte seine Mitfahrerin ihre Handtasche. Auf der einen Straßenseite saßen Männer und Frauen in eleganter Kleidung unter mit wildem Wein berankten Pergolen beim Nachmittagskaffee, während vor ihnen ganze Scharen von Strandtouristen vorbeiflanierten. Das war der Grund, weshalb er gern in Levanto lebte. Die Widersprüchlichkeit, das bunt zusammengewürfelte Miteinander aus Touristen, Einheimischen und Aussteigern.

Unsicher blickte Frances aus dem Fenster. „Danke fürs Mitnehmen“, sagte sie. „Von hier aus komme ich zurecht.“

Als sie ausstieg, fielen ihm einmal mehr ihre Beine ins Auge. Sie sahen aus wie die Beine einer Tänzerin, ebenmäßig und sanft gepolstert. In Szene gesetzt durch diese mörderischen Absätze. Perfekt dazu geeignet, einem Mann jeden vernünftigen Gedanken aus dem Kopf zu wischen, und mit Sicherheit auch aus diesem Grund eingesetzt.

Dass sie zugegeben hatte, beruflich nach Ligurien gekommen zu sein, erhärtete seinen Verdacht. Mackintosh war ein raffinierter Hund, der offenbar nicht davor zurückschreckte, eine schöne Frau zu benutzen, um an sein Ziel zu gelangen. Frances West war eine Frau, deren Augen so unschuldig aussahen, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Dass ausgerechnet sie sich auf dieses Spiel eingelassen hatte, sagte mehr über sie aus als über den Weinfürsten Mackintosh mit der nach außen makellosen weißen Weste.

Davide holte ihren Koffer aus dem Wagen und trug das Gepäckstück um die Wand herum, die den Parkplatz vom kunstvoll gepflasterten Bahnhofsvorplatz trennte. Frances’ Absätze klapperten auf dem Pflaster, als sie ihm folgte.

Die Fenster der Zimmervermittlung waren dunkel. Die Tür abgeschlossen. Feierabend. War ja klar. Aber nicht sein Problem.

Er hatte Frances nach Levanto gebracht, einer Stadt mit etwa einem Dutzend Hotels und ungefähr dem Dreifachen an Pensionen. Irgendwo würde sie unterkommen.

„Alles klar?“, fragte er, ihren Koffer in der Hand. Er hatte nicht ewig Zeit, sie herumzuführen. Mittlerweile war es ihm fast egal, wie barsch seine Stimme klang.

Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich und nickte störrisch. „Alles klar. Ich werde schon etwas finden.“ Sie griff nach dem Koffer. Ihre Finger streiften seine Hand. Ein angenehmes Prickeln flüsterte über seine Haut, wo sie sich berührten. Er überließ ihr den Griff und trat ein wenig zurück.

„Danke fürs Mitnehmen, Signor Baranello.“

„Keine Ursache.“ Niemand sollte ihm vorwerfen können, dass er nicht freundlich sein konnte. „Genießen Sie Ihren Aufenthalt. Die Cinque Terre sind eine schöne Gegend.“

Sie lächelte und wirkte dabei ein bisschen traurig. Ihre Schauspielkünste hatte er bereits an der Autovermietung bewundert. Er war jetzt, zweieinhalb Stunden später, ebenso wenig gewillt, auf ihre Masche hereinzufallen, wie vorhin. Sein Autoschlüssel tanzte an seinem Zeigefinger, als Davide sich abwandte. Doch dann machte er den Fehler, sich zu ihr umzudrehen. Sie hatte sich keinen Zentimeter gerührt. Sosehr ihn sein Kopf daran erinnerte, dass sie für Mackintosh spionierte, etwas an ihr weckte eine Seite in ihm, die ihm so fremd war, dass er sie nicht einmal benennen konnte.

Er stieß einen wenig eleganten Fluch aus und kehrte wieder um. Auch gut, so konnte er sie im Blick behalten, ohne sich viel Mühe zu geben. Aber wenn sie dachte, sie bräuchte nur mit ihrer zugegeben sehr appetitlichen Kehrseite zu wackeln, und er würde ihr seine Geheimnisse verraten, hatte sie sich getäuscht. Er würde den Spieß umdrehen. Ganz einfach. Solange er sich an ihre Fersen heftete, konnte er kontrollieren, was sie herausfand und was nicht. Frei nach dem Motto: Halte deine Freunde nah, aber deine Feinde näher. Noch auf dem Weg zurück zu ihr angelte er sein Handy aus der Hosentasche und rief die Nummer von Mariangela auf.

„Pronto?“

„Mariangela, bella, come stai?“

„Davide? Was ist los? Ich hab gerade gestern mit deinem Papá gesprochen, der sagte, du seist in London.“

„Ich bin gerade erst zurückgekommen. Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Er erreichte Frances, die ihn verwirrt anblickte. Er legte einen Zeigefinger an seine Lippen. „Hast du ein Zimmer frei?“

„Was ist mit deinem Haus? Zu einsam?“

Natürlich, er könnte Frances in einem der Gästezimmer in seiner Villa auf den Felsen direkt an der Küste einquartieren, aber seine Gastfreundschaft kannte Grenzen. Frauen waren in seinem Haus willkommen – solange sie in seinem Bett schliefen und es wieder verließen, sobald er sich an ihnen abgekühlt hatte. Ansonsten bevorzugte er es, seine Zeit mit Menschen zu verbringen, die ihm etwas bedeuteten.

„Es ist für eine junge Frau. Sie will morgen weiterreisen. Die Zimmervermittlung ist geschlossen. Hast du etwas frei?“

Mariangela lachte anzüglich, und er konnte nur hoffen, dass Frances es nicht hörte. „Ich kümmere mich um sie.“

„Du bist ein Engel. Bis gleich.“ Er beendete das Gespräch und griff wieder nach Frances’ Koffer. „Kommen Sie. Ich habe Ihnen ein Zimmer besorgt.“

„Sie haben …“

Halb genervt sah er sie an. Sie hatte eine seltsame Art, ihre Dankbarkeit zu zeigen. „Sie müssen das nicht annehmen.“

„Nein, nein!“ Eilig drehte sie sich um. „Ich danke Ihnen, das ist wirklich nett. Oh Gott, ich bin so unorganisiert. Und stehe schon wieder in Ihrer Schuld. Wenn es irgendwas gibt, womit ich mich erkenntlich zeigen …“

Mit schräg gelegtem Kopf sah er sie an, die Augenbrauen hochgezogen. Es versprach interessant zu werden … Ihm zumindest würden allerhand Wege einfallen, wie sie sich erkenntlich zeigen konnte.

Sie erstarrte, als sein Blick sie traf. „Sie glauben doch nicht, dass ich sagen wollte, dass ich …“

„Ich glaube gar nichts. Mari vermietet das Zimmer an jemand anderen, wenn wir uns nicht beeilen.“ Es fiel ihm nicht schwer, gleichgültig auf die Engländerin hinunterzusehen. Wenn er sie dazu brachte, um ihre emotionale Balance zu ringen, machte das sein Vorhaben so viel einfacher. Solange sie damit beschäftigt war, um ihre Fassung zu kämpfen, würde sie nicht alles daransetzen, Beweise zu finden, die ihn ruinieren konnten.

Per Fernbedienung entriegelte er den Wagen, stellte das Gepäck zurück in den Kofferraum und ließ die Klappe heftiger einrasten als nötig. Dann hielt er Frances wieder die Tür auf. Es war nicht seine Art, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Die Tatsache, dass ihn diese Frau nicht kaltließ, nagte an ihm. Was war bloß los? Er wusste doch, wie so etwas endete. Die Frauen mit den unschuldigsten Augen waren die mit den wenigsten Skrupeln, wenn es darum ging, die Finger nach dem Vermögen eines Mannes auszustrecken.

Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Rückwärts setzte er aus der Parklücke und fädelte sich durch das Gewirr enger Straßen. Mariangelas Pension lag auf halber Höhe auf einem Weinberg, am Ende eines Schotterweges, der nur aus Serpentinen bestand.

Aus dem Augenwinkel betrachtete er Frances. Selbst als die Straße sich so wand, dass das Meer auf seiner Seite war, reckte sie den Hals, um an ihm vorbeisehen zu können. Interessanterweise ließ der Weinberg mit seinen erntereifen Reben sie vollkommen kalt. Sie war am Meer interessiert. Als sie seinen Blick bemerkte, machte sie sich vor Verlegenheit ganz klein in ihrem Sitz.

„Sorry“, sagte sie. „Es ist einfach … ich meine … Sie sehen das wahrscheinlich gar nicht mehr, oder? Wie schön das ist? Aber ich habe es noch nie gesehen. Dieses tiefe Blau. Bei uns in England ist das Meer meist grau. Hier glitzert es wie ein Saphir. Und die Hügel? Was sind das für Bäume, dass die Hänge so dunkel sind? Tannen?“

Er schmunzelte. „Mittelmeereichen, zum größten Teil. Pinien, Akazien, ein paar Kiefern. Aber Sie haben recht. Erst wenn man mehrere Tage in einer Stadt wie London war, kann man es wieder richtig sehen.“

Ihre Begeisterung war ansteckend, aber er wollte sich nicht von ihr um den Finger wickeln lassen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Außerdem: Wer sagte ihm, dass diese Begeisterung nicht ebenso eine Lüge war wie ihre Geschichte über eine Schriftstellerin auf den Spuren von Diana Brixton? Alles sprach dafür, dass Frances West eine raffinierte Schauspielerin war.

Mariangelas Pension tauchte am Ende der Piste auf. Ein altes, mit Efeu überwachsenes, quadratisch gebautes Haus. Vor dem Tor parkte Pietros Traktor, der Hänger beladen mit Transportfässern, über deren Ränder die weißen Trauben quollen. Frances blickte bewundernd an der Fassade hinauf. Die Fenster des Hauses waren mit grün gestrichenen Läden verschlossen, um die Hitze des Tages abzuhalten. „Es ist sehr hübsch. Wird der Weinberg bewirtschaftet?“

Als ob du das nicht wüsstest, Baby, dachte er. Damit waren sie also beim Thema: Weinberge. Wieder spürte Davide die Wut, die in seinen Adern kochte, eine Hitze, die sich fast anfühlte wie Gier. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Frances, in seinem Bett, die Haare zerzaust, die Haut gerötet, die Stimme rau nach dem letzten Orgasmus, bei dem sie nach mehr geschrien hatte. Er würde ihr die Neugier austreiben, er wusste auch schon, wie. Um ihr beim Aussteigen nicht im Weg zu sein, wich er einen Schritt zurück, aber dann trat sie mit einem ihrer Pfennigabsätze in einen Spalt zwischen den uralten Pflastersteinen und knickte um.

Instinktiv fing er sie auf. Sie hielt sich an seinen Armen fest, doch der kleine Schrei, den jede andere Frau affektiert ausgestoßen hätte, blieb aus. Sie sackte lediglich in die Knie. Er half ihr, sich aufzurichten.

„Alles in Ordnung?“, fragte er. Sie duftete. Nach Herbstlaub, das den ganzen Sommer über Sonne getankt hatte. Er inhalierte.

„War ja klar, oder?“

„Was?“

„Ich bin heute kopfüber in jeden Fettnapf gesprungen, der sich mir geboten hat. Irgendwann knickt man halt um.“

Seine Mundwinkel verzogen sich. „Solange Sie sich nicht die Beine brechen …“ Er versicherte sich, dass sie gut stand, dann hob er eine Hand und berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Plötzlich war da dieser Drang in ihm, darauf zu achten, dass Frances nicht noch einmal umknickte, ganz egal, was das Leben ihr für Stolpersteine in den Weg warf. Es war verrückt, denn schließlich war sie es, die ihn zu Fall bringen wollte.

Er sah sie an. Silberfarbene Augen.

Bestimmt schmeckten ihre Lippen nach Sonne.

Sie blinzelte. Weil er so nah war? Aber sie wich nicht zurück. Er sah ihr tief in die Augen, trank sie mit dem Blick, der schon zahlreiche Frauenherzen zum Schmelzen gebracht hatte.

„Hat man hier oben Handy-Empfang? Oder kann ich das Festnetz von der Wirtin benutzen?“ Ihre Stimme klang rau und verunsichert. Fast so, wie er es sich vorgestellt hatte.

„Ich frage sie.“ Seine Finger lagen immer noch an ihrer Wange. Sein Daumen fand ihren Mundwinkel. Ihr Atem schmeckte süß nach frischen Feigen und Birnen.

„Davide!“, fauchte Mariangela von der Haustür her. „Da bist du ja! Kommt ihr rein?“

Frances wich vor ihm zurück, wie ein Schulmädchen, das vom Rektor beim Küssen erwischt worden war.

Davide verdrehte die Augen. „Mari.“

„Du kennst meine Regeln, mein Lieber. Auf meinem Weinberg knutschen nur Verlobte. Wenn du nicht du wärst, würde ich dir jetzt das Fell über die Ohren ziehen. Herzlich willkommen, ragazza.“

„Sie spricht kein Italienisch“, erklärte er.

Als Mariangela sie beide durch die Tür ins Haus schob, umfing sie schon im Hausflur der Duft nach Olivenöl, frisch gebackener Focaccia und Basilikum.

Mit einem Stoßseufzer ließ Frances sich aufs Bett fallen. Sie hatte nur vom Abendessen probieren wollen, das Mariangela angeboten hatte. Und das hatte sie davon. Sie war pappsatt. Davide hatte sich verabschiedet, sobald sie den Zimmerschlüssel in der Hand gehabt hatte. Nicht einmal das fantastische Essen, Focaccia und Trofie, hausgemachte Nudeln mit Pesto, Bohnen und Kartoffeln, hatte ihn zum Bleiben bewegen können. Umso besser. Was war vorhin bloß in sie gefahren?

Noch immer meinte sie, Davides Atem auf ihren Lippen zu schmecken, so nah war er ihr gekommen. In ihrer Brust flatterte es aufgeregt. Und wenn er sie geküsst hätte? Gern hätte sie sich eingeredet, dass sie ihn in die Schranken gewiesen hätte. Doch sicher war sie nicht. Da war dieser Geruch nach Kaffee und frischer Minze, der ihn stets zu umgeben schien. Diese Augen, so dunkel, dass die Pupillen sich kaum abzeichneten. Und die sinnlich geschwungenen Lippen, die in einer Sprache zu ihr redeten, die alt war und betörend und für die man keine Vokabeln lernen musste, um sie zu verstehen.

Sie streifte ihre Schuhe ab. Das Klacken der Pumps auf dem Fliesenboden riss sie aus ihrer Träumerei. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als Gedanken an einen Mann zu verschwenden, der es sich offenbar zum Hobby gemacht hatte, auf Abwege geratene Touristinnen zu umgarnen.

Nicht mit mir, dachte Frances. Sie hatte auf die bittere Art gelernt, welchen Preis man für Vertrauen und Leidenschaft zahlte. Ganz sicher würde ihr das nicht noch einmal passieren. Einem einzigen Mann in ihrem Leben hatte sie sich geöffnet und dafür den Hohn und Spott einer ganzen Nation geerntet.

Aus der Handtasche angelte sie ihr Handy. Sie war erschöpft, das altmodische Bett aus dunkel lasiertem Holz wirkte bequem und einladend. Doch bevor Frances sich Ruhe gönnte, hatte sie etwas zu erledigen. Aus ihrer Kontaktliste suchte sie Andrews Nummer heraus. Während sie dem Rufton lauschte, betrachtete sie die Terrakotta-Fliesen und den antiken Kirschbaumschrank. Langsam legte sich die Ruhe der idyllischen Umgebung auf ihre strapazierten Nerven. Zu schade, dass sie nicht zum Urlaubmachen hier war.

Ihr Freund nahm nach dem vierten Klingeln ab. „Francesca“, begrüßte er sie. „Bist du gut in Bella Italia angekommen?“

Frances hasste es, wenn er sie so nannte. Nur wenige Menschen kannten ihren echten Namen. Andrew gehörte dazu, weil sie sich schon vorher gekannt hatten. Während des Desasters mit Greyson hatte er ihr beigestanden, heute war er für Frances das, was einer Familie am nächsten kam.

„Gut ist relativ“, antwortete sie und ließ sich in die Kissen sinken. Das weiße Bettleinen knisterte und verströmte den seifigen Geruch nach Wäschestärke und Veilchen. „Aber angekommen bin ich. Für die Nacht bin ich in Levanto untergekommen.“

„Was machst du denn dort? Ich dachte, du wolltest nach Riomaggiore.“

Als Frances ihrem Freund und Boss zwischen Tür und Angel von ihrem Plan erzählt hatte, hatte er nachdenklich genickt und erwähnt, dass er gerade erst geschäftlich mit Riomaggiore zu tun gehabt hatte. Er betrieb einen Großhandel für Weine, einige der wichtigsten und teuersten Restaurants kauften regelmäßig bei ihm ein. Darüber hinaus war er der stellvertretende Vorsitzende des britischen Instituts für Qualitätsweine. Frances arbeitete zwar nur in Andrews Finanzabteilung, aber sein persönlicher Einsatz, wenn es um die Einhaltung von Qualitätsvorgaben ging, imponierte ihr. Wenn es sein musste, kämpfte er mit harten Bandagen. Es war nicht mehr genug Zeit gewesen, genauer nachzufragen, was er gerade mit Ligurien zu tun hatte.

„Ja, dachte ich auch. Du musst mir meinen Führerschein nachschicken. In der Aufregung habe ich ihn zu Hause vergessen.“

So knapp wie möglich berichtete sie von der Katastrophe bei der Autovermietung und der Rettung durch ihren Sitznachbarn. Je mehr sie erzählte, desto köstlicher amüsierte sich Andrew.

„Das schaffst auch nur du. Sieht er gut aus, dein Retter? Dann kannst du das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“

Bei der Erinnerung, wie gut Davide Baranello aussah, überlief sie ein Kribbeln. Sie ignorierte es. „Ich bin nicht zum Flirten hier.“ So unnachgiebig er im Berufsleben sein konnte, privat war Andrew ein Herz von einem Menschen und ein schrecklicher Romantiker. Seit er seine große Liebe Carl gefunden hatte, schien es seine größte Ambition zu sein, auch Frances zu verkuppeln.

„Süße, es wird Zeit, dass du die Sache mit Greyson vergisst. Niemand außer dir erinnert sich daran. Die Zeitungen von gestern liegen heute im Müll.“ Andrew würde nie verstehen, warum sie sich in ihrem selbst auferlegten Zölibat wohlfühlte. Sobald jemand erfuhr, wer ihre Mutter war, sahen sie in ihr nur die Tochter von Diana Brixton. Im besten Fall schwelgten sie dann in dem Wissen, mit der Tochter einer Prominenten auszugehen, im schlimmsten Fall versuchten sie, Profit aus jeder persönlichen Information zu schlagen. Auch heute noch gab es Reporter, die ein kleines Vermögen bezahlten, um Insiderinformationen aus dem Leben der verstorbenen Hollywood-Diva zu bekommen.

Frances hatte dieses Thema oft genug mit Andrew durchgekaut. Sie wollte darüber jetzt nicht reden. „Also? Schickst du mir meinen Führerschein?“

„Sicher. Mail mir einfach die Adresse. Und pass auf dich auf.“

Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, hörte sie durch die geschlossenen Fensterläden das Zirpen der Zikaden. Wenn sie die Augen schloss, konnte sich Frances sogar einbilden, von weit entfernt Wellenrauschen zu hören.

Ligurien war ein wunderschönes Fleckchen Erde, kein Wunder, dass Diana sich hier verliebt hatte. Aus ihrer Handtasche holte Frances das Bündel Briefe, das sie nach Italien geführt hatte. Zusammengehalten von einem blauen Seidenband, hatte sie es im Nachlass ihrer Großmutter gefunden. Liebesbriefe von Lorenzo Passi an Diana Brixton aus dem Jahr vor Frances’ Geburt, in denen der Italiener Diana anflehte, ihrer Liebe noch eine Chance zu geben, und versprach, dass sie eine Lösung für die Situation finden würden.

Wahllos zog Frances einen Umschlag aus dem Bündel, nahm den Briefbogen heraus und las die Worte, die so voller Liebe waren. Sie schlief darüber ein. In ihrem Traum nahm ein unbekannter Mann sie lächelnd in die Arme. Mein Kind, sagte er, voll Herzlichkeit, voll Wärme. Es waren Worte, nach denen sie sich ein Leben lang gesehnt, die sie aber nie zu hören bekommen hatte. Der Traum wandelte sich. Die Umarmung wurde leidenschaftlicher, die Arme, die sie hielten, sehniger und fordernder. Eine Stimme flüsterte ihr Koseworte ins Ohr, in einer Sprache, die sie nicht verstehen musste, um ihren Sinn zu erfassen. Ein Mann beugte sich über sie. Sein Körper bewegte sich auf ihrem. In seinen schwarzen Augen glühten Funken aus goldenem Licht. Sie schreckte aus dem Schlaf. Zwischen ihren Schenkeln waren die Laken zerwühlt.

3. KAPITEL

Unter ihren Füßen knirschte trockenes Gras, Zweige knackten. Davide hörte, wie sein Vater mit dem Schuh gegen eine Wurzel stieß, die im Erdreich am Rand des Weinberges ums Überleben kämpfte. Er wandte sich um und legte seine Hand um Giannis Oberarm. Va bene, Papá?“

„Ich bin nicht fußlahm“, grollte Gianni.

Gianni Baranello war fast siebzig Jahre alt, doch es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, mit seinem Sohn den Berg hinaufzuklettern. Weiter oben am Hang stand inmitten sehr alter Reben das kleine Haus, in dem Davide aufgewachsen war und das Gianni erst vor nicht viel mehr als einem Jahrzehnt verlassen hatte. Damals hatte Davide ihm ein vierstöckiges Stadthaus in Riomaggiore gekauft, in dem das Leben für den alternden Mann einfacher war. Die Stürme der vergangenen Winter hatten dem schlecht geschützten Steinbau im Weinberg arg zugesetzt.

Davide blieb stehen, sog tief die Luft ein, die nach trockener Erde, nach Olivenhainen und der salzigen Gischt roch, die tief unter ihnen an die steinernen Hafenanlagen von Riomaggiore brandete. Wind war aufgekommen, trieb Wellen gegen den kurzen Streifen Sand. Nur ein letzter Schimmer von tiefem Orange am Horizont blieb als Erinnerung an den vergangenen Tag.

Grillen zirpten. Irgendwo raschelte ein kleines Tier im Gras. Die Reben hingen schwer von gelblich grünen Bosco-Trauben. In den nächsten ein bis zwei Wochen konnten sie mit der Ernte beginnen.

Sie erreichten das halb verfallene Haus. Der Vater ging nur noch selten in den Berg hinauf. Zu viele böse Erinnerungen, sagte er. Ein ständiges Mahnmal an all das, was Gianni einmal besessen und verloren hatte. Oft wünschte sich Davide, dass Erinnerungen ebenso leicht zerbröckeln würden wie ein verlassenes Haus.

Nach der Hochzeit hatte es kaum zwei Jahre gedauert, bis Giannis zweite Frau, Valentina, es geschafft hatte, ihren Mann um alle Ersparnisse zu bringen. Geblieben war einzig der Hang mit dem alten Haus. Doch nicht genug Energie, um mit nichts als seinem minderjährigen Sohn den mit heftigen Hypotheken belasteten Weinberg weiter zu bewirtschaften.

In den Jahren nach Valentina waren die Geschäfte immer schlechter gelaufen, ehe Davide noch während seines BWL-Studiums angefangen hatte, hier wieder etwas aufzubauen. Nach und nach hatte er dem Weinberg neues Leben eingehaucht. Jedes Jahr steigende Erträge, ein guter Ruf für faires Geschäftsverhalten, ein qualitativ hochwertiger Weißwein, der sich das Prädikat D.O.C. verdient hatte. Davide hatte als Kind davon geträumt, Schiffe zu bauen. Doch im Weinbau, dem Erbe der Baranellos, hatte er seine Lebensaufgabe gefunden.

Die Hypotheken, die er noch als ganz junger Mann aufgenommen hatte, um den Betrieb wieder anzukurbeln, hatte Davide längst zurückgezahlt. Der Wein, der hier wuchs – Bosco, Albarola und ein paar Reihen Rossese Bianco –, genoss einen hervorragenden Ruf. Unten am Fuß des Berges hatte Davide die alten Anlagen zur Verarbeitung der Trauben und Lagerung der Weine teilweise hochmodern erneuert. Er stand hinter dem, was er tat. Mit allem, was er hatte. Über die Jahre hatte er seinen Besitz erweitert, immer mehr Hänge in der Umgebung aufgekauft und begonnen, sie nach seinen Maßstäben zu bewirtschaften. Er wusste, dass Gianni stolz war auf ihn. Seinem Vater etwas Glück zu schenken, war Davides größte Antriebskraft.

Dass Valentina Gianni alles Geld genommen hatte, hätte sein Vater vielleicht verkraftet. Dass sie seine Liebe mit Füßen getreten hatte, hatte Gianni das Genick gebrochen.

Davide hatte sich gefreut, als Gianni vor sechs Jahren begonnen hatte, sich für die Herstellung von Sciacchetrà zu interessieren. Die jährliche Produktion des ligurischen Likörweines war gering, aber unter Weinkennern genoss Sciacchetrà einen exzellenten Ruf. Davide selbst hatte keine Zeit, sich mit der aufwändigen Herstellung zu befassen, aber Gianni schien unerwartete Freude daran zu finden.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass nun ausgerechnet dieser Likörwein ihnen das Genick brechen sollte.

„Du wolltest mir etwas zeigen“, sagte der alte Mann und ließ sich auf der verwitterten Bank vor der Ruine nieder. Davide liebte diesen Ort, um nichts in der Welt wollte er ihn verlieren. Trotzdem schob sich kurz das Bild von Frances zwischen ihn und den Blick in die Ferne, das Beben ihrer Lippen, kurz bevor er sie beinah geküsst hätte, und ein seltsames Ziehen stach ihm in die Brust. Er sollte wieder mehr Sport machen. Seine Kondition ließ nach, das musste es sein.

Davide setzte sich neben seinen Vater. In der Hand hielt er eine Traube mit zartgrünen Beeren, die er unterwegs von einer der Reben gepflückt hatte.

Gianni nahm eine Beere und schnupperte daran. „Vermentino“, sagte er und inhalierte anerkennend. Die Rebsorte verströmte einen so typischen Duft, dass jeder, der etwas davon verstand, sie sofort erkannte.

Davide nickte. „Vermentino. Der beste, der in dieser Gegend angebaut wird. Und daran hast du keinen unwesentlichen Anteil.“ Er kostete zwei Beeren, sie waren süß, würzig und einzigartig im Geschmack. Er fand, dass nach Sonnenuntergang frische Weinbeeren ihren Geschmack erst richtig entfalteten. Wenn sie die Wärme, die sie den ganzen Tag aufgesogen hatten, wie ein Nachtspeicherofen freigaben. „Warum, Papá? Warum hast du es getan?“

„Was getan?“

„Warum hast du den Sciacchetrà von vor vier Jahren aus Vermentino gekeltert? Laut der Kommission dürfen dafür nur die Sorten Bosco und Albarola verwendet werden.“

Gianni seufzte und klang dabei so alt, wie er war. „Wie kommst du darauf?“

Davide schob sich eine weitere Beere in den Mund. Er liebte Gianni. Dass sein Vater sich noch einmal aufgerafft hatte, nach allem, was gewesen war, hatte ihn glücklich gemacht. Jetzt saß er hier und musste Gianni das Messer auf die Brust setzen, damit sie nicht beide noch einmal untergingen. „Streite es nicht ab, Papá. Sogar Mackintosh hat es herausgeschmeckt. Du verwendest zu drei Vierteln Vermentino.“

Gianni streckte seine Hand aus und legte sie um Davides Unterarm. „Du brauchst den Bosco für den D.O.C. Der bringt das Geld. Für den Sciacchetrà ist Vermentino genauso gut. Es ist doch nur ein Hobby. Hör auf, ihn zu vermarkten, wir trinken ihn selbst.“

Davide schüttelte den Kopf. „Das ist zu spät. Ich habe Bestellungen. Was soll ich den Leuten sagen? Sorry, mein Vater ist ein Panscher? Rosinen aus Vermentino haben zu viele Bitterstoffe und ruinieren den Likörwein. Weißt du, von wem ich das gelernt habe?“

Gianni schnaufte. Natürlich wusste er es. Wie oft war Davide als Kind abends viel zu spät ins Bett gegangen, weil all das, was sein Vater ihm über Wein erzählte, viel zu spannend gewesen war?

Davide legte die Traube in die Hand seines Vaters. „Es sind großartige Beeren. Aber du musst Bosco nehmen. Sechzig Prozent, Papá. Stell weniger her, wenn es das ist, was dich verunsichert. Dass mir zu wenig davon bleibt. Wir bepflanzen nach der Ernte über Manarola noch einmal zehn Hektar mit Bosco. Versprich mir, dass du nicht mehr betrügst.“

Gianni antwortete nicht, aber Davide vermutete, dass sein Vater die Augen verdrehte.

„Mackintosh wollte den vier Jahre gereiften Wein haben“, sagte er, um Ruhe bemüht. „Es gab eine Verkostung in London. Ich musste nicht einmal probieren, ich habe es schon gerochen. Papá? Was ist mit den anderen Jahrgängen in den Tanks?“

Dass sein Vater nichts sagte, war Antwort genug. Davide saß auf etwa hundert Litern minderwertigem Dessertwein und würde Weinhändler aus aller Welt, die sich auf den seltenen Sciacchetrà gefreut hatten, verprellen müssen. Er fuhr sich müde mit der Hand über die Stirn und schüttelte den Kopf. Wenn er nur in der Lage wäre, Gianni den Kopf zu waschen für das, was er getan hatte. Aber Davide konnte nicht, denn er hatte immer noch den Vater vor Augen, der Gianni einmal gewesen war. Stark, voller Energie, sein leuchtendes Vorbild. Bis … ja, bis Valentina gekommen war und mit ihrer Habgier und den übersteigerten Ansprüchen aus seinem Vater einen gebrochenen Mann gemacht hatte.

An Valentina zu denken und an alles, was sie Davide genommen hatte, indem sie Giannis Lebensmut gebrochen hatte, brachte die Wut an die Oberfläche, auf die er bisher vergeblich gewartet hatte. Verbissen kniff er die Zähne zusammen, bis seine Kiefer knirschten. Ganz gleich, wie sehr Gianni sich seit Valentinas Betrug verändert hatte, er konnte immer noch in Davide lesen wie in einem offenen Buch.

„Sohn“, sagte der Alte mit kratziger Stimme. „Du machst dir Sorgen um Dinge, die keine Sorgen wert sind. Du bist besessen von dem Wein, dem Betrieb. Aber das ist doch nicht alles im Leben. Du bist ein guter Junge, Davide. Such dir eine Frau. Schenk mir Enkelkinder. Davon haben wir beide mehr.“

Die Diskussion war fast fünfzehn Jahre alt, hatte begonnen, kaum dass Davide das Studium beendet hatte. Such dir eine Frau. Heirate. Gründe eine Familie. Zu diesem Zeitpunkt war Valentina schon fast zehn Jahre lang nicht mehr in ihrer beider Leben gewesen. Gianni war zweimal verheiratet gewesen. Davides Mutter war gestorben, als Davide neun Jahre alt gewesen war. Zwei Jahre später kam Valentina. Als Vierzehnjähriger hatte Davide in aller Klarheit miterleben müssen, was geschah, wenn ein Mann sich zu sehr an eine Frau verlor. Gianni war fast daran zerbrochen, würde allein sterben, als alter Mann mit zweimal gebrochenem Herzen. Davide hatte nicht die Absicht, es seinem Vater gleichzutun. Wer allein blieb, konnte von anderen nicht so enttäuscht werden. Davide hatte seine Lektionen gelernt.

Den Rest der Woche verbrachte Davide in seiner Villa in Levanto, abwechselnd am Computer und am Telefon. Zu viele Dinge waren liegengeblieben. Aber immer wieder schlich sich Frances West in seine Gedanken, lenkte ihn ab. Ob sie noch bei Mariangela wohnte? In Riomaggiore jedenfalls war sie nicht aufgetaucht, das hätte Davide inzwischen erfahren.

Als er am Samstagmorgen aufwachte, hatte er üble Kopfschmerzen. Samstag. Kein Tag, um Lieferanten und Kunden anzurufen. Kein Tag, um sich mit Weinhändlern herumzuärgern. Er blickte zum Fenster hinaus in den blauen Himmel und beschloss, nach Riomaggiore zu fahren und seinen Vater mit hinauszunehmen zum kleinen Friedhof, um das Grab seiner Mutter zu besuchen.

Er holte den Motorroller aus der Garage, das beste Fortbewegungsmittel auf dem Weg zum Bahnhof. Mit dem Zug würde er schneller und entspannter in Riomaggiore ankommen, als wenn er den Maserati nahm.

Gern hätte er sich auf dem Weg in die Stadt den Wind durch die Haare wehen lassen, doch der Helm ließ das nicht zu. Der Geruch nach Salzwasser und Algen verstärkte sich, je näher er dem Strand kam. Dann nach rechts, mitten hinein ins Gewirr aus Einbahnstraßen, wo ein Souvenirgeschäft sich ans nächste reihte. Das Knattern des Motors ging ihm auf die Nerven. Um sich abzulenken, überlegte er, in welches Restaurant er mit Gianni einkehren würde, wenn sie vom Friedhof zurückkehrten.

Das Quietschen von Bremsen katapultierte ihn aus den Gedanken, dann ein Knall. Er wurde ausgehebelt. Der Motorroller kippte, schlitterte. Gerade so schaffte Davide es, sich von dem Drahtesel zu lösen, der unter Geschepper übers Kopfsteinpflaster schabte und mit einem dumpfen Plopp gegen eine Hauswand rauschte und davor liegen blieb. Zwei Touristinnen brachten sich mit einem Sprung in Sicherheit.

Davide schüttelte sich und stellte fest, dass er halb auf der Seite, halb auf dem Rücken lag. Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, die Desorientierung abzuschütteln. Seine linke Handkante blutete. Das Hinterrad des Rollers drehte sich quietschend, wie eine Anklage.

Als er in die andere Richtung blickte, schaute er genau in den Kühlergrill eines roten Fiat 500. Zwischen seiner Nasenspitze und dem Metall blieb ungefähr eine Armlänge Platz. Instinktiv rutschte er zurück. Dabei bemerkte er, dass sein linkes Hosenbein am Oberschenkel aufgerissen war.

Der Fiat stand in falscher Fahrtrichtung in der Einbahnstraße. Am Kennzeichen erkannte Davide, dass es ein Leihwagen war. Welcher Idiot … Er hörte, wie sich die Fahrertür öffnete. Was er dann sah, überraschte ihn nicht. Die Frau, die um die Motorhaube herumging und auf ihn herunterblickte, hatte blonde Haare und silberfarbene Augen. Welcher Wahnsinnige war auf die Idee gekommen, der größten Chaotin der Welt einen Autoschlüssel in die Hand zu drücken?

Sie starrte ihn an, die Hände vor dem Mund.

Er verzog das Gesicht, als er auf die Knie kam. Cazzo. Offenbar hatte Frances West ihre Fahrerlaubnis in einer Packung Cornflakes gefunden. Seine Handkante und der linke Oberschenkel brannten. Davide blinzelte zu ihr hoch. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Mit kaum unterdrückter Wut nickte er zu dem Schild, das die Einfahrt in die Straße verbot. „Das kennen Sie?“

Sie drehte sich halb um, um zu sehen, was er meinte. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hatte sie Tränen in den Augen. „Mist“, sagte sie inbrünstig. „Ich hab es nicht gesehen.“

Er verbiss sich den Schmerz und stand auf. Immerhin, seine Füße trugen ihn. Der Roller war Schrott. „Sagen Sie mir, dass Sie nicht seit vier Tagen durch Ligurien fahren und harmlose Einheimische umnieten.“ Er musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um sie nicht anzufahren. Die Jahre als Chef seiner eigenen Firma mit einer stetig wachsenden Zahl an Mitarbeitern hatten ihn gelehrt, dass sachliche Argumentation mit wohlgesetzten Spitzen die Menschen viel schneller dazu brachte, den Kopf einzuziehen.

Sie verschmierte Mascara, als sie sich mit dem Handballen unter den Augen entlangrieb. Das schon wieder. Wenn er kunstvoll inszenierte Wasserspiele sehen wollte, würde er nach Las Vegas reisen. Zu allen anderen Gelegenheiten konnte er darauf verzichten.

„Ich hab den Wagen gerade abgeholt“, schniefte sie. „Von der Vermietung. Aber das Lenkrad ist auf der falschen Seite, und ich hab nicht darauf geachtet, was das Navigationssystem sagt, und bin falsch abgebo…“

„Das habe ich gemerkt“, unterbrach er sie. Am Ellenbogen blutete er auch. Der Zug war weg. Und er würde nicht ans Grab seiner Mutter treten, wenn er aussah wie nach einer Schlägerei. Er blickte sie an. „Sie schulden mir was.“

Sie nickte heftig. „Schon wieder. Ich rufe meine Versicherung an …“ Zitternd griff sie in ihre Hosentasche und holte ihr Handy heraus. Da erst fiel sein Blick auf ihren Aufzug. Enges T-Shirt, enge Jeans. Schuhe mit hohen Absätzen. Er war sauer auf sie. Stinksauer. Und gleichzeitig konnte er nicht anders, als auf ihre Beine zu starren.

Wieder einmal.

„Vergessen Sie die Versicherung“, sagte er. Das Beben ihrer Unterlippe nagte an seiner Wut. Wenn er wollte, konnte er sie verklagen, bis nicht mal Mackintosh mehr genug Geld aufbringen konnte, um sie rauszuhauen und wieder auf Davides Fährte zu setzen. Seltsamerweise wollte er nicht. „Laden Sie mich auf einen Cappuccino ein.“

Sie ließ das Telefon sinken. „Aber Sie sind verletzt, sollte ich Sie nicht in ein Krankenhaus …“

„Es sind nur Kratzer.“

Ihr Blick glitt zum Roller, dessen Hinterrad sich immer noch drehte. „Und der Roller?“

„Dem ist nicht mehr zu helfen.“ Er nahm den Helm ab, trat dicht vor sie und erwischte einen Hauch ihres Duftes nach sonnengefärbtem Herbstlaub. Er musste den plötzlichen Drang unterdrücken, sie in die Arme zu nehmen, so hilflos wirkte sie inmitten des Schlamassels.

„Geben Sie mir Ihren Autoschlüssel.“

„Ich bringe den Wagen nicht zurück“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. „Ich brauche ihn.“

„Da bin ich zwar anderer Meinung, aber jetzt geben Sie mir den Autoschlüssel. Wir fahren irgendwohin, wo Sie keinen Schaden anrichten können, und trinken einen Kaffee. Allerdings nur unter einer Bedingung.“

„Welche?“

„Ich fahre.“

Zwanzig Minuten später führte Davide Baranello Frances vom Parkplatz im benachbarten Städtchen Bonassola durch die Stadtmauer in einen begrünten Innenhof. Noch immer zitterten ihre Knie, in ihrem Hals saß ein Kloß aus Scham und Panik. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.

Bilder verwischten vor ihrem inneren Auge, das Auftauchen des Motorrollers, Sonnenblitze, die sich auf dem blankpolierten Chrom gespiegelt und sie geblendet hatten, ihr Versuch auszuweichen und dann der Augenblick des Zusammenpralls. Sie erinnerte sich an das Quietschen der Reifen, an den Knall, als Metall auf Metall traf, an ihren eigenen Schrei.

„Setzen Sie sich.“ Mit seiner Hand an ihrem Rücken nötigte Davide sie, auf einem der gusseisernen Stühle Platz zu nehmen. Direkt neben ihnen plätscherte ein Springbrunnen. Weiter weg, im Schatten der Stadtmauer, saßen drei alte Frauen auf Plastikstühlen und tratschten. Ein älterer Mann mit Stock führte seinen Dackel aus. Idyllisch war es hier.

„Warum sind wir hierher gefahren und nicht in Levanto geblieben?“ Es waren die ersten Worte, die sie zu ihm sagte, seit er sie in ihren Mietwagen geschoben hatte.

„Weil es ruhiger ist.“

Frances musterte ihn. Abgesehen von Kratzern an den Handgelenken und einer Schramme am Kinn sah er aus, als würde ihm nichts fehlen. Sie hatte gesehen, dass am Oberschenkel seiner Jeans ein Riss prangte. Doch er schien gelassen. Deutlich ruhiger als sie. Der Gedanke tauchte auf und brachte die Schuldgefühle zurück. Hinter ihren Augen brannte es.

Eine Kellnerin kam, Davide bestellte auf Italienisch. Kurz darauf starrte Frances in eine Tasse mit heißem Kakao, das Schokoladenpulver auf dem Milchschaum verwischte zu dreckigen Schlieren. Davide offen anzusehen, brachte sie nicht über sich.

„Trinken Sie“, sagte er und nippte an seinem doppelten Espresso. „Das beruhigt.“

„Sagen Sie es schon.“ Ihre Stimme klang, als würde sie an einer Kehlkopfentzündung leiden.

„Was soll ich sagen?“

„Dass Sie es gewusst haben.“ Der Knoten in ihrem Hals platzte, sie hustete unterdrückte Schluchzer. „Gott, was Sie von mir denken müssen. Erst vermiese ich Ihnen den Flug, dann schaffe ich es nicht, mir ein Auto oder ein Zimmer zu mieten, und als ich endlich einen Wagen habe, scheitere ich am Rechtsverkehr und werde eine Gefahr für Sie und andere.“ Geschlagen hob sie die Schultern, tupfte sich mit dem Zeigefinger Tränen aus dem Augenwinkel. „Sie haben recht. Ich hab es versaut. Ich sollte ins nächste Flugzeug zurück nach London steigen und mein Vorhaben vergessen. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll, Lorenzo Passi zu finden. Alles, was ich habe, ist ein Stapel alter Briefe, und seit vier Tagen mache ich nichts anderes, als die immer wieder zu lesen und meiner Umwelt auf die Nerven zu gehen.“

Etwas Weiches berührte ihre Wange. Ein Taschentuch. Aus Stoff. Sein eigenes.

„Nehmen Sie das. Und nennen Sie mich Davide.“ Er ließ seine Hand sinken, musterte sie mit dem Sonnenblick aus tiefschwarzen Augen, und wieder zog ihre Kehle sich zusammen.

„Zumindest haben Sie es in sich, sehr damenhaft zu weinen“, fuhr er fort. „Das gelingt nur wenigen. Keine Schluchzer, keine laufende Nase. Eine seltene Gabe.“

„Bringen Sie öfter Frauen zum Weinen?“ Jetzt lagen seine warmen Finger auf ihrer kalten Hand. Sie sollte die Hand wegziehen. Davide Baranello symbolisierte all das, was sie hinter sich gelassen hatte. Geld, Macht, Ruhm. Trotzdem konnte sie die Berührung nicht aufgeben. Wie sollte sie sich einem Mann entziehen, dessen Pfade sie immer wieder kreuzte, als habe es jemand darauf abgesehen, dass sie einander nicht aus den Augen verloren?

„Ich bin ein Mann.“ Er zuckte mit den Schultern. In seiner Miene lag nichts als Ernsthaftigkeit. Er war niemand, der mit Worten kokettierte. „Da bleibt das nicht aus. In Ihrem Fall haben Sie aber selbst für die Tränen gesorgt. Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Danke“, sagte sie und lächelte ihn an. „Dass Sie mir keine Vorwürfe machen.“ Weil sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte, schwieg sie. Eine Amsel setzte sich auf die marmorne Einfassung des Springbrunnens, trank mit zurückgebogenem Kopf und flog wieder davon. In der caffetteria ratterte die Espressomaschine.

„Ich mache Ihnen Vorwürfe“, sagte er. „Und nicht wenige.“

„Und warum sitzen wir dann in einem Café und nicht auf einer Polizeiwache?“

„Weil ich neugierig bin. Verraten Sie mir, wer Sie wirklich sind, Frances. Was hat Sie in Wahrheit nach Italien gebracht? Für eine Schriftstellerin auf Recherchereise sind Sie reichlich unorganisiert, das haben Sie selbst gerade zugegeben.“

Ernsthaft jetzt? Er glaubte ihr nicht? Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sich einlullen zu lassen von seinem Charme, der in einem unerwarteten Augenblick plötzlich aufflackerte. War er in Wahrheit womöglich sogar ein Reporter, der herausgefunden hatte, wer sie war, und ihr deswegen nachstellte? Dort, wo gerade noch ein wohliges Kribbeln in ihrem Bauch geflattert hatte, saß plötzlich ein Eisklotz. Sie war wütend. Auf sich, weil sie begonnen hatte, einen anderen in ihm zu sehen. Keinen berechnenden Mistkerl auf der Suche nach saftigem Klatsch. Wut auf ihn, weil er ihr eine Lüge unterstellte, und auf die ganze Welt, die Menschen nicht so sein lassen konnte, wie sie waren.

Brüsk entzog sie ihm ihre Hand, angelte nach ihrer Handtasche, holte Lorenzos Briefe heraus und knallte sie auf den Tisch. „Reicht Ihnen das, Signor Baranello? Sie können mich eine Chaotin nennen, die weltschlechteste Autofahrerin oder eine Träumerin. Ich habe es verdient. Aber ich lasse mich nicht von Ihnen als Lügnerin bezeichnen.“ Wut war gut. Wut ließ eine Frau wie sie Dinge tun, die sie sonst nie gewagt hätte. Mit mehr Schwung als nötig stand sie auf. „Ich fahre zurück in die Pension.“ Im letzten Moment erinnerte sie sich daran, dass sie ihm die Einladung schuldig war, kramte nach einem Geldschein und tauschte diesen gegen das Päckchen Briefe, das sie wieder einsteckte. „Das ist für die Schokolade und Ihren Espresso. Ein schönes Leben noch, Signor Baranello.“

Davide fluchte und sprang auf. Er hatte das Feingefühl einer Abrissbirne an den Tag gelegt. Auf diese Weise würde es ihm nie gelingen, herauszufinden, ob sie es darauf abgesehen hatte, ihn zu ruinieren. Er war schon mal cleverer gewesen. Bei der schnellen Bewegung scheuerte der Stoff der Jeans an den Abschürfungen unter dem Riss, und er verzog das Gesicht. Es hielt ihn nicht auf.

„Frances!“

Sie drehte sich nicht um. Die Kellnerin stand im Türrahmen und grinste breit, als Davide sich an die Verfolgung machte.

„Es tut mir leid“, rief er. „Jetzt bleiben Sie schon stehen.“ Er erreichte sie und war sich sicher, dass das nur gelang, weil sie diese Absätze trug, die für ligurisches Straßenpflaster so wenig gemacht waren wie Gefährte mit vier Rädern für ligurische Straßen. Er stellte sich ihr in den Weg. „Ich habe gesagt, dass es mir leidtut.“

„Was genau wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen angeboten, dass wir das mit dem Unfall über die Versicherung klären. Ich würde Sie in ein Krankenhaus fahren, aber auch das wollen Sie sicher nicht. Verraten Sie mir, inwiefern unsere Bekanntschaft über derartige Verpflichtungen hinausgeht.“

„Von Ihnen lass ich mich ganz bestimmt in kein Krankenhaus fahren. Da komme ich kränker an, als ich es jetzt bin.“ Sie weigerte sich zu lachen. Er warf die Arme in die Luft. „Sie müssen schon zugeben, dass Ihre Geschichte mit einer italienischen Affäre von Diana Brixton ziemlich an den Haaren herbeigezogen wirkt. Ich meine, so etwas kann man jedem Star andichten. Kann man es beweisen? Wieso hat noch nie jemand von Brixtons amore gehört? Diese Gegend hier ist vom Tourismus abhängig, die Leute würden sich auf ein solches Gerücht stürzen wie die Schotten auf das Ungeheuer von Loch Ness.“

Endlich, da war es. Ein schwaches Zucken ihrer Lippen. Aber gleich zog sie die Stirn wieder kraus. „Was glauben Sie denn, weshalb ich hier bin? Glauben Sie, ich hab mich in Stanstead mit dem Plan in den Flieger gesetzt, mir einen millionenschweren Winzer zu angeln, dem ich das Leben zur Hölle machen kann?“

Er hob beide Augenbrauen. „So sehen Sie mich?“

„Sie fahren einen Maserati.“ Den Satz spuckte sie aus, als sage er alles.

„Stimmt.“ Er konnte ihr nicht sagen, was er glaubte. Wenn er recht hatte und sie für Mackintosh spionierte, würde sie es bestreiten. Wenn er jedoch Gespenster sah, würde er aussehen wie der letzte Trottel.

Er trat an sie heran, griff nach ihrem Ellenbogen. „Kann ich die Briefe noch einmal sehen?“

Sie wich zurück, Misstrauen im Blick. „Warum?“

Innerlich seufzte er. Sie hatte etwas zu verbergen, ganz eindeutig. Er wurde nicht schlau aus ihr. „Offensichtlich wissen Sie nicht, wo Sie mit Ihrer Suche anfangen sollen. Sonst wären Sie schon viel weiter. Sie drehen sich im Kreis und hegen die magere Hoffnung, dass Passi Ihnen einfach über den Weg läuft. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit?“

Sie seufzte, öffnete ihr Täschchen und zog das Bündel heraus. „Er schreibt von einer Galerie in Manarola. Ich war in Manarola.“

Es gab mindestens acht Galerien in Manarola. Einige lagen sehr versteckt, weil sie Geheimtipps bleiben wollten. Unwahrscheinlich, dass Frances alle aufgesucht hatte. „Lorenzo Passi war Maler?“

Sie hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht war er auch eine verkrachte Existenz und hatte keine Ahnung, was er aus seinem Leben machen sollte.“

Es klang, als habe sie einschlägige Erfahrungen mit solchen Menschen gemacht und als wäre es eher eine Angst als eine Hoffnung, die sie aussprach. Warum ging es ihr so nahe, wer Lorenzo Passi war? Selbst wenn Davide ihr die Geschichte mit der Schriftstellerin auf den Spuren der Brixton abkaufte, passte nicht alles zusammen. Die Sache schien viel zu persönlich für eine Recherchereise zu sein.

Seine einzige Chance, herauszufinden, welches Geheimnis Frances West verbarg, war, in ihrer Nähe zu bleiben. Auf diese Weise konnte er auch sicherstellen, dass sie von der Region nur sah, was sie sehen sollte, während er auf dem Berg und in der Abfüllerei dafür sorgte, dass Giannis Fauxpas glattgebügelt wurde. Allein würde Frances nicht weit kommen. Er konnte sich als Übersetzer anbieten und sie im Auge behalten, bis er seine Neugier befriedigt hatte. Und am besten gleich mehr als nur seine Neugier, denn spätestens dann würde sie ihm reinen Wein einschenken. Sein Besuch bei Papá konnte warten.

„Ich kenne Manarola gut“, sagte er. „Ich begleite Sie. Wir schauen uns in den Galerien um, vielleicht finden wir diesen Passi, und wenn nicht, dann …“ Er fing einen hoffnungsvollen Blick auf. Ein seltsames Gefühl zerrte an seiner Brust, und in einem Moment plötzlicher Klarheit erkannte er, was das bedeutete. Er war noch nicht fertig mit dieser Frau. Er musste wissen, was sie zu ihm trieb, ob sie tatsächlich eine kaltherzige Spionin war oder ob das, was er in unvorsichtigen Augenblicken in ihr zu erkennen glaubte, womöglich doch der Wahrheit entsprach. Wenn das bedeutete, dass er sich den Feind ins eigene Bett holte, war das Schicksal. „Dann werden wir uns etwas anderes einfallen lassen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn prüfend. Die unterschiedlichsten Emotionen spiegelten sich in ihrer Miene. Misstrauen erkannte er, Hoffnung und noch etwas … Vorfreude? Schließlich sagte sie: „Das würden Sie tun?“

„Eine Bedingung“, sagte er.

„Schon wieder? Geht es wieder ums Auto?“

„Allerdings. Wir lassen es stehen und nehmen den Zug oder das Linienboot.“

Sie verdrehte die Augen. „Sie lassen nicht locker, oder?“

Er lächelte sie an und war erstaunt über sich selbst, weil er fühlte, wie ehrlich dieses Lächeln war. „Niemals.“

4. KAPITEL

„Nein, es tut mir leid, aber den Namen habe ich noch nie gehört.“ Die Frau mit dem Namen Macy Drew sprach Englisch mit einem so ausgeprägt amerikanischen Akzent, dass Frances kaum glauben konnte, dass sie sich noch in Italien befand. Es war die letzte der acht Galerien von Manarola, in der sie standen, und Frances’ Stimmung verfinsterte sich mit jedem vergeblichen Versuch, jemanden zu finden, der schon einmal von Lorenzo Passi gehört hatte. Trotzdem bemühte sie sich um ein freundliches Lächeln, als sie in ihre Handtasche griff und das Etui mit den Visitenkarten herausholte.

„Darf ich Ihnen die trotzdem geben?“ Auffordernd hielt sie Macy eine Karte entgegen. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Sie mit jemandem sprechen, der sich an Lorenzo oder Diana erinnert, rufen Sie mich an. Ich werde eine Weile in der Gegend sein.“

„Aber natürlich, Liebes.“ Wie nach einem Schatz griff Macy nach der Karte. „Ich werde jedem erzählen, nach wem Sie suchen. Das ist so schrecklich romantisch. Stellen Sie sich das nur vor, vielleicht war Diana Brixton tatsächlich hier in dieser Galerie und hat um die Liebe gekämpft. Gibt es etwas Schöneres als die Liebe?“ Die attraktive Mittvierzigerin mit den blondierten Haaren hob vielsagend die Brauen und lächelte wehmütig. Offenbar erwartete sie keine Antwort, denn bevor Frances auch nur den Mund aufmachen konnte, sprach Macy schon weiter. „Aber was erzähle ich Ihnen? Natürlich wissen Sie, wie das mit der amore ist, nicht wahr?“ Zwinkernd nickte Macy in Richtung Davide. „Da kann keine Frau widerstehen.“

Frances blickte sich zu Davide um. Er tat, als würde er von dem Gespräch nichts mitbekommen. Scheinbar konzentriert musterte er die Bilder an den Wänden wie auch die Arbeiten im Schaufenster. Macy, die nicht nur Inhaberin der Galerie, sondern auch die ausstellende Künstlerin war, musste eine eigentümliche Vorstellung von Romantik haben, falls die Objekte einen Hinweis auf ihr Innenleben gaben.

Alle Bilder und Skulpturen beschäftigten sich mit dem Liebesakt. Sie zeigten Körper in leidenschaftlichen Verrenkungen, verfremdet, sodass man kaum erkennen konnte, wo der eine anfing und der andere aufhörte. Scheinbar willkürliche Ansammlungen aus Gliedmaßen, verzerrten Gesichtern und überdimensional großen Geschlechtsteilen, in dramatischen Farben inszeniert. Alles schien den Betrachter mit unglaublicher Intensität anzuschreien.

Wie Davide sich die Sachen ansehen konnte, ohne rot zu werden, war Frances ein Rätsel. Sie selbst war froh, dass sie sich auf ihre Fragen zu Diana und Lorenzo konzentrieren konnte und so von der Leidenschaft abgelenkt wurde, die die Exponate verströmten. Froh, der unterschwellig sirrenden sexuellen Energie zu entkommen, nickte sie Macy ein letztes Mal zu.

„Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe. Und Sie melden sich sicher, wenn Sie etwas hören?“

„Worauf Sie sich verlassen können.“

Kaum wandte sich Frances zum Gehen, war Davide an ihrer Seite. Galant legte er eine Hand an ihren Rücken. Bis auf das Humpeln und den Kratzer am Kinn war ihm nichts mehr von dem Unfall am Vormittag anzumerken. Bevor sie sich auf den Weg nach Manarola gemacht hatten, hatten sie eine kurze Pause eingelegt, um sich umzuziehen. Sie in ihrer Pension, er bei sich zu Hause. Vom Fähranleger in Levanto aus hatte er auf die eindrucksvolle, grün gestrichene Villa gezeigt, die wie eine Krone auf dem Felsen am Rand der Bucht thronte. Da hatte sie noch daran gezweifelt, ob es wirklich eine gute Idee sei, das Auto stehen zu lassen und sich auf öffentliche Verkehrsmittel zu verlassen. Zähneknirschend hatte sie schließlich eingesehen, dass die Fahrt mit dem Linienboot von Levanto nach Manarola tatsächlich um Welten bequemer und vor allem schneller war als mit dem Auto.

„Fertig?“, raunte Davide ihr ins Ohr und holte sie zurück ins Hier und Jetzt. „Ich muss hier raus. Sie müssen mich retten, Frances. Diese Bilder machen mir Angst. Ich glaube, ich kann heute Nacht nicht schlafen.“ In seiner Stimme lag ein kleines Beben, das gespielt sein konnte oder auch nicht.

Lachend und kopfschüttelnd ließ Frances sich von ihm auf die Straße führen, doch ihr Lachen fühlte sich nicht echt an. Die plötzliche Helligkeit im Freien blendete sie, und sie stockte. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Wieder hatte sie nichts erreicht.

„Das war die letzte. Es tut mir leid, dass ich Sie mitgeschleift habe. Ich hatte wirklich gehofft …“ Ihr gingen die Worte aus. Was hatte sie gedacht? Dass alles anders werden würde, weil Davide dabei war? Dass die Tatsache, dass er auf Italienisch mit den Galeriebesitzern reden konnte, einen Unterschied machen würde? Die Hälfte der Galeristen waren nicht einmal Italiener. Zum größten Teil handelte es sich um Aussteiger aus aller Herren Länder, Künstler mit einem ausgefallenen Geschmack, die nicht lange genug hier waren, um ihr helfen zu können. Wie hatte sie so blauäugig sein können zu glauben, dass die Besitzer noch dieselben sein könnten wie vor fast drei Jahrzehnten?

Mehr und mehr rächte es sich, dass sie sich ins Flugzeug gesetzt hatte, kaum, dass ihr Lorenzos Briefe in die Hände gefallen waren. Vernünftig wäre anders gewesen. Erst richtig zu planen, zum Beispiel. Hilflos zuckte Frances mit den Schultern und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Auf den steil in den Berg hineingebauten Gassen war es beinah unmöglich, ohne Stütze die Balance zu halten. „Ich habe Ihren Tag verschwendet.“

„Frances?“ Plötzlich war er ganz nah. Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn an, sah ihr tief in die Augen. Da war es wieder. Dieses Summen in der Luft, das sie schon gefühlt hatte, als er sie am Tag ihrer Anreise um ein Haar geküsst hätte. Ihr Blick fiel auf seinen Mund, die Lippen, die sich kaum bewegten, als er sich noch weiter zu ihr herabbeugte, um ihr ins Ohr flüstern zu können.

„Finden Sie diesen Tag wirklich verschwendet?“

Oh Gott. Erwartete er wirklich, dass sie antwortete? Sie konnte nicht antworten. Nicht, wenn er so nah war und seine Stimme auf ihrer Haut vibrierte. Wie konnte etwas, das sich so lebendig anfühlte, eine Verschwendung sein? Es war, als hätte Davide nach ihrem Streit heute Vormittag mit seiner Kleidung auch seinen Charakter gewechselt. Was auch immer in ihn gefahren war, das aus dem arroganten Macho einen charmanten Begleiter gemacht hatte, sie konnte es nicht gebrauchen. Sie war sie. Hoffnungslos romantisch, mit großen Träumen im Kopf und zu vielen Enttäuschungen im Nacken, um daran zu glauben, dass diese Träume jemals in Erfüllung gehen würden. Und er war er. Ein Mann, der an jedem Finger zehn Frauen haben konnte.

Was auch immer das zwischen ihnen war, es konnte nur in einer Katastrophe enden. Frances war hin- und hergerissen zwischen Anziehung und Vernunft. Dann nahmen ihre Lippen ihr die Entscheidung ab. Sie hielt Davide ihr Gesicht entgegen. Noch kein Kuss, nur das Versprechen darauf. So süß wie sein Atem, so unaufhaltsam wie das Meer, das weit unter ihnen in gleichmäßigen Wellen an den Fels brandete. Im letzten Moment kam ihr Magen ihr zu Hilfe, indem er ein Gurgeln von sich gab. Der Zauber war gebrochen. Halb amüsiert, halb beschämt trat sie einen Schritt zurück. „Die perfekte Art, den Augenblick zu zerstören, was?“

Davide richtete sich auf, lachte. „Ich bin ein lausiger Fremdenführer. Komm, ich habe eine Überraschung für dich.“ Als wäre es das Natürlichste der Welt, griff er nach ihrer Hand. Ein leichter Wind flüsterte über ihre sonnenwarmen Wangen auf dem Weg hinunter zum Meer. Der Stoff ihres Kleides streichelte bei jedem Schritt ihre Beine, und Davides Hand, die ihre Finger umschloss, fühlte sich warm und fest an. Sie mussten aussehen wie eines der verliebten Pärchen, die auf dem Weg waren, einen perfekten Tag mit einem perfekten Abend ausklingen zu lassen. Wenn sie die Augen schloss und sich nur darauf konzentrierte, was sie fühlte, konnte sie es fast selbst glauben.

Tuckernd näherte sich die kleine Motorjacht den Treppen in der Bucht von Manarola, der Motor wurde langsamer, bis er erstarb. Davide fing das Seil auf, das Enrico ihm zuwarf, und wickelte es um einen Pfosten. Mit einem athletischen Sprung hechtete der magere Neunzehnjährige auf die Stufen herüber. Gemeinsam legten sie die Rampe an, die das Einsteigen vereinfachte. Einen Bootssteg hatte Manarola nicht.

Während Frances in den Galerien herumgefragt hatte, hatte Davide den Sohn seiner Assistentin angerufen und ihn gebeten, etwas zu essen zu besorgen und die Jacht herzubringen. Die wachsende Hoffnungslosigkeit in Frances’ Augen hatte an ihm gerissen, und das Gefühl, ihr etwas Gutes tun zu wollen, war immer stärker geworden.

„Schlüssel steckt“, sagte Enrico. Auf dem Gesicht des Jungen lag ein Grinsen. Davide Baranello und sein Verhältnis zu Frauen waren kein Geheimnis in der Gegend. Davide wusste, dass er für Enrico ein Held war. Die Gesellschaft einer hübschen Frau zu genießen, wann immer er wollte, sich aber nicht mit den anstrengenden Schattenseiten einer Beziehung herumärgern zu müssen, schien für den Jungen ein Traum zu sein.

„Die Tüten stehen vorn auf dem Tisch. Ich hab nicht reingeguckt, aber die ganze Kabine riecht nach Scampi und Zitronensauce.“

„Wein?“ Davide drehte sich zu seiner Begleiterin um, während er mit Enrico sprach. Frances war eine Augenweide. Die Sonne hatte ihre Wangen rot geküsst. Einzelne Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und umspielten keck ihr Gesicht. Er hatte den Tag mit ihr genossen. Viel mehr als erwartet. Er war es nicht gewohnt, Zeit in seine Eroberungen zu investieren. Er hatte einen Ruf und genug Geld, um sich diesen auch leisten zu können.

Mit Frances war es anders. Mit ihr musste er wirklich Zeit verbringen. Einerseits waren da seine Zweifel, weshalb sie in Ligurien war. Andererseits verströmte sie eine so ehrliche Unschuld, dass seine Theorie immer mehr bröckelte. War sie wirklich die, für die er sie hielt? Er musste es herausfinden, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ein einziges Abendessen und ein paar tiefe Blicke reichen würden, um ihren Zielen auf die Spur zu kommen. Aber ein Mann durfte träumen. Noch war der Abend nicht vorbei.

„Kühlschrank.“

Er steckte dem Jungen ein Trinkgeld zu und hielt dann Frances eine Hand hin, um ihr ins Boot zu helfen. Unsicher sah sie ihn an und betrat vorsichtig die Rampe. Enricos schnelle Schritte entfernten sich auf den steinernen Treppen hinauf zum Dorf.

Wie flüssiges Silber tanzten Streifen aus Licht auf dem dunkelblauen Wasser, als Davide das Boot an der Küste entlangsteuerte. Frances war still geworden. Ehrfürchtig beobachtete sie, wie der rote Feuerball den Horizont küsste und das Abendlicht alles weichzeichnete. Davide fand eine kleine Bucht, in der sie allein waren. Nur über ihnen leuchteten die Lichter eines in den Felsen gebauten Restaurants. Leise driftete Klaviermusik zu ihnen herunter, vermischt mit dem Plätschern der Wellen gegen die Jacht.

Selbst ihn, für den das alles etwas Alltägliches war, ließ diese Stimmung nicht kalt. Nachdem sie die Meeresfrüchte genossen hatten und Davide eine zweite Flasche Wein geöffnet hatte, zeigte er Frances, wie man den Motor startete und das Boot steuerte. Der Wein hatte auf eine niedliche Weise ihre Zunge gelockert. Sie erzählte von Taxis in London, von englischen Fish und Chips, die man mit Essig aß, damit das Salz nicht von den Pommes herunterrieselte, und von Supermärkten, die sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden geöffnet hatten. Er lernte viel über Frances West. Nur was ihre wahren Gefühle betraf und die Motive, an seiner Seite zu sein, darüber wusste er nicht mehr als am Morgen.

Mit seinen Händen über ihren am Steuerrad stand er hinter ihr, spürte die Wärme ihres Körpers. Hatte er sie schon? Es fühlte sich anders an als sonst, wenn er eine Frau verführte. Unschuldiger. Es wurde immer schwerer, an seinem Plan festzuhalten, sie auf seine Weise dazu zu bringen, ihm zu verraten, was sie hierher trieb. Gemächlich näherten sie sich der Bucht von Manarola.

„Ehe ich ganz beschwipst bin …“, begann sie und brach ab. Ihre Stimme klang atemlos und rauer als sonst. Alles Blut begann sich in seinen Lenden zu sammeln. Noch ein bisschen, und die Versorgung zu seinem Gehirn wäre in Gefahr.

„Ja?“

„Ich möchte dir danken“, sagte sie leise, sehr ernst. „Der Tag hatte das Zeug dazu, eine Katastrophe zu werden, doch du hast das geändert. Ich hatte eine wirklich schöne Zeit. Einen tollen Abend. Ja, vor allem einen schönen Abend.“

„Du hast nicht erreicht, was du wolltest“, erwiderte er. Sie musste seine Erregung spüren, und doch wich sie nicht zurück. Bald würde er erfahren, was sie zu verbergen hatte.

„Dazu habe ich auch morgen noch Zeit.“ Sie lehnte den Kopf zurück, bis ihr Hinterkopf an seinem Schlüsselbein lehnte und ihr Sommergeruch ihn einhüllte. Er schloss die Augen. Atmete tief ein. Das alles fühlte sich zu gut an. Er lief Gefahr zu vergessen, warum sie bei ihm war. Aber ein einziger Moment der Unachtsamkeit würde ihn nicht umbringen.

„Stell den Motor aus.“ Ohne die Augen zu öffnen, wies er in Richtung des Zündschlüssels. „Die Wellen tragen uns zu den Treppen am Anleger. Wenn der Motor läuft, rammen wir die Steine.“

Er wartete, dass der Motor erstarb, aber es tuckerte weiter unter ihm, ein abgehacktes Vibrieren. Frances’ Körper schien plötzlich steif wie ein Brett zu werden. Die Angespanntheit erinnerte ihn an eine Katze vor dem Sprung. Er hielt sie fester und hob die Lider. Bis auf wenige Meter waren sie an die Felsen heran. „Was ist?“ Er griff um sie herum, schaltete den Motor aus. Schaukelnd driftete das Boot näher an die Küste.

Sehr langsam hob sie die Hand. „Siehst du das?“ Wo ihre Stimme zuvor atemlos vor romantischer Erwartung gewesen war, bebte sie jetzt vor Aufregung. Was zur Hölle?

Er kniff die Augen zusammen. Sie wies auf eine Stelle hoch über dem in die Felswand geschlagenen Pfad, das Ende der Via dell’Amore, eines Wanderweges, der sich von Riomaggiore nach Manarola an der felsigen Küste entlangzog. Lange Ranken mediterraner Pflanzen wischten über den abendgrauen Stein, doch je länger er auf die Stelle starrte, desto mehr hatte er das Gefühl, da wäre tatsächlich etwas. Das letzte Abendlicht fiel gegen die Wand, die Linien wurden herausgehoben von den Schatten, die der tief hängende Mond schräg darüberwarf. Eine in den Fels geschlagene Zeichnung von jemandem, der ein wenig lebensmüde gewesen sein musste. Das Relief war fast verblasst von Alter und Witterung.

„Ein Herz?“, fragte er. „Ist es das, was ich sehe?“

„War das schon immer da?“

Autor

Kate Hewitt
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