Romana Traumziele der Liebe Band 18

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HIMMLISCHE WUNDER WERDEN WAHR von ANNA KELLER
Im Weihnachtspostamt von Himmelstadt beantwortet Luzia liebevoll die Wunschzettel der Kinder, die an das Christkind geschrieben haben. Ein Brief rührt sie zu Tränen: Johann vermisst seine Mami so sehr! Obwohl Luzia seine Adresse nicht kennt, macht sie sich auf die Suche nach ihm … und findet seinen Vater. Wie wird der verwitwete Architekt reagieren, wenn sie ihm von Johanns sehnsüchtigsten Wunsch erzählt?

SCHLITTENFAHRT INS WINTERGLÜCK von LILLI WIEMERS
Was für ein eingebildeter Kerl! Zimmermädchen Josefine ist empört über die Arroganz von Hollywoodstar Russell Bishop. Doch als das Schicksal sie zwingt, eine gemeinsame Nacht in einer einsamen Berghütte zu verbringen, ahnt sie plötzlich, dass auf Russells Seele ein Schatten liegt … Kann der Zauber der Weihnacht sein verletztes Herz heilen?

LEBKUCHENKÜSSE UND ZIMTSTERNDUFT von KIM HENRY
Der nostalgische Christkindlesmarkt in Nürnberg, festliche Klänge, verschneite Gassen - all das erinnert Schlossbesitzer Maximilian von Ebner an die schrecklichste Zeit seines Lebens! Aber die hübsche Marlene versucht, ihn mit verführerischen Lebkuchenküssen von der Kraft der Liebe zu überzeugen. Wer er wirklich ist, darf Marlene jedoch nie erfahren …


  • Erscheinungstag 28.09.2018
  • Bandnummer 0018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744748
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anna Keller, Lilli Wiemers, Kim Henry

ROMANA TRAUMZIELE DER LIEBE BAND 18

1. KAPITEL

Luzia zitterte am ganzen Körper, während sie in ihrem Engelskostüm auf einem Podest mitten auf dem Himmelstadter Weihnachtsmarkt stand. Zum Glück hörte man das ihrer Stimme nicht an, während sie die letzten Zeilen aus dem Weihnachtsgedicht des berühmten Dichters Joseph von Eichendorff aufsagte:

„… Sterne hoch die Kreise schlingen,

Aus des Schnees Einsamkeit

Steigt’s wie wunderbares Singen –

O du gnadenreiche Zeit!“

Besonders die Kinder schauten sie mit großen, staunenden Augen an, und Luzia wurde direkt ein bisschen wärmer, als sie daran dachte, dass manch kleines Mädchen und manch kleiner Junge bestimmt glaubten, hier stände das Christkind leibhaftig vor ihnen.

„Und ihr lieben Kinder denkt daran, jeder eurer Briefe wird vom Christkind persönlich beantwortet. Ihr könnt euch sicher sein, dass ihr nie allein auf dieser großen, weiten Welt seid!“

„Ich dachte, du bist das Christkind“, rief ein Junge mit dicker Wollmütze und Skijacke vorwitzig. Die Kälte hatte seine Wangen rot werden lassen, und vor dem Gesicht zauberte sein Atem eine Wolke, wie Luzia durch die Weihnachtsbeleuchtung trotz der Dunkelheit sehen konnte. Kein Wunder, dass ich bei diesem Wetter zittere, redete Luzia sich ein und schob den Gedanken an einen Schüttelfrost, mit dem alles andere angefangen hatte, beiseite. Über ganz Himmelstadt hingen schon schwere Wolken, die nur darauf warteten, endlich auf das malerische Dörfchen herunterschneien zu dürfen. Da würde jeder frieren, vor allem, wenn er nur ein weißes Kleid und Engelsflügel trug.

Luzia sah dem Jungen in die Augen. „Mit dieser Vermutung hast du wohl recht, mein liebes Kind. Ich erwarte auch deinen Brief in unserer Weihnachtspostfiliale.“

„Darf ich auch ein Bild malen, wenn ich noch nicht schreiben kann?“, fragte ein kleines Mädchen, das zu Luzia hochsah.

„Natürlich. Dann bitte aber deine Mama oder deinen Papa, eure Adresse auf den Brief zu schreiben, damit wir auch antworten können.“

Luzias blonde Locken fielen schon fast auf ihre Schultern. Es hatte etwas gedauert, bis ihre Haare wieder nachgewachsen waren, aber jetzt sah man ihr von ihrer Krankheit nichts mehr an. Gut, sie wirkte sehr zierlich, aber das war sie eigentlich schon immer gewesen. Manch einer unterschätzte sie deshalb, aber Luzia war alles andere als schwach. Vor allem, wenn es darum ging, anderen zu helfen, konnte sie sogar richtig stur sein. Aber nicht nur dann war sie ein Dickkopf.

Das Mädchen nickte und lief an der Hand seiner Mutter weiter. Als sich auch der Rest der Zuschauer wieder auf dem Weihnachtsmarkt verteilte, schlüpfte Luzia durch die Hintertür der Bühne und schlich sich zum Café Himmelswolke, das nur ein paar Schritte entfernt von dem Marktplatz lag. Noch heute machte ihr Herz immer einen kleinen Sprung, wenn sie das zauberhafte kleine Kaffeehaus betrat. Der Raum sah aus, als sei die Zeit stehen geblieben: Vor einer opulenten Blumentapete verteilten sich überall kleine Sessel und Tischchen, die nur gemeinsam hatten, dass sie schon Jahrzehnte alt, aber gut erhalten waren. Auf jedem Tisch brannte ein Teelicht, und den ganzen Raum durchströmte der Duft von Zimt, Vanille und Kaffee. Luzias beste Freundin Eva stellte gerade ein Tablett mit zwei dampfenden Tassen und dem hausgemachten Weihnachtsstollen auf einen Tisch, an dem zwei ältere Damen verzückt auf die Leckerei schauten. Alle anderen Gäste starrten Luzia an. Ein Mädchen flüsterte seiner Mutter etwas zu und lächelte dann schüchtern. Als Luzia an sich heruntersah, wurde ihr bewusst, warum. Sie trug ja noch das Engelskostüm! Ob sie dem Mädchen jetzt die Illusion zerstören würde, dass es das Christkind wirklich gab? Aber selbst, wenn die Kinder tatsächlich an das Christkind glaubten, kaum eines würde davon ausgehen, dass es so einfach in Himmelstadt über den Marktplatz lief. Wenn es wirklich existierte, würde es doch über den Wolken schweben. Luzia musste schmunzeln, strahlte alle Gäste an und begrüßte dann Eva.

„Es tut mir leid, dass ich dich mit der ganzen Arbeit allein gelassen habe. Ich gehe mich schnell in der Küche umziehen, dann helfe ich dir“, raunte sie ihrer Freundin so leise zu, dass keiner der Gäste es hörte.

Eva zog Luzia in die Küche hinter dem Gastraum und schloss Tür hinter sich.

„Nichts da! Du setzt dich jetzt erst mal hin und trinkst einen heißen Tee! Deine Lippen sind ja schon ganz blau! In diesem Kleid hast du doch wohl nicht zwei Stunden auf dem Marktplatz gestanden, oder?“, fragte Eva in einem mütterlichen Ton.

„Hast du schon mal ein Christkind in Winterjacke und Uggs gesehen? Ich nicht. Außerdem waren es nur eineinhalb Stunden“, widersprach Luzia. Trotzdem war sie dankbar, als Eva ihr eine Tasse köstlichen Apfeltee mit Zimt, Muskat und Nelken in die Hand drückte. Eva war nur ein paar Jahre älter, aber sie verhielt sich oft so, als wäre sie Luzias Mutter. Und auch wenn Luzia das immer abstritt, insgeheim genoss sie die Fürsorge ihrer Freundin. Schließlich waren ihre Eltern schon lange tot. Nachdem ihre Mutter nach schwerer Krankheit gestorben war, ging auch ihr Vater kurz darauf. Die Todesursache war ein gebrochenes Herz. Selbst die Liebe zu seiner damals sechzehnjährigen Tochter war nicht genug, um durchzuhalten. Nichts hatte ihm seine Lebensfreude zurückgeben können. Das war jetzt zehn Jahre her.

Als könnte Eva ihre Gedanken lesen, strich sie Luzia über den Rücken.

„Alles wird gut. Lass uns nach Feierabend noch zusammen ausgehen, du musst mal etwas nur für dich tun!“, schlug Eva vor. Luzia schaute sich in der Küche um. Nach Feierabend würden sie hier erst mal für Ordnung sorgen müssen. Gerade an den Wochenenden war das Café, das die beiden Freundinnen vor gut einem Jahr von einer alten Dame übernommen hatten, rappelvoll.

Trotzdem nickte Luzia. Bei dem Gedanken, dass die Gäste im Nebenraum bestimmt schon ungeduldig warteten, wurde sie selbst ganz nervös.

„Na gut, gehen wir heute Abend noch etwas zusammen trinken. Aber nur, wenn du nicht wieder versuchst, mich mit irgendjemandem zu verkuppeln.“

Von Männern hatte Luzia erst einmal die Nase voll, nachdem ihr Ex-Freund sie ausgerechnet dann im Stich gelassen hatte, als sie seine Liebe am meisten gebraucht hatte.

Obwohl Luzia sich gestern mit Eva nur einen einzigen Weihnachtspunsch gegönnt hatte, fühlte sie sich, als hätte sie die letzte Nacht mit zu viel Prosecco durchgefeiert. Einen Moment hatte sie überlegt, ob sie Vroni, der Leiterin des Christkindpostamts, absagen sollte, aber das brachte sie nicht übers Herz. Als Kind hatte sie mit ihren Eltern zusammen jedes Jahr persönlich ihren Brief an das Christkind in dem Postamt abgegeben. Und sie wollte dabei helfen, diese wunderschöne Tradition auch für andere Kinder aufrechtzuerhalten. Außerdem lenkte es sie von der Sorge ab, hinter ihrem Kater könnte doch etwas anderes stecken als das Glas Punsch.

Ihr Café öffnete montags erst mittags, sodass sie sich an diesem Vormittag in Ruhe um einen Stapel Briefe kümmern konnte. Als sie vor dem Himmelstadter Rathaus stand, das jedes Jahr ab dem 1. Advent zur Hauptpostzentrale des Christkindes wurde, rauschte Vronis Mann Klaus an ihr vorbei. Unter jedem Arm trug er eine dieser dicken, gelben Postwannen, die vor lauter Briefen geradezu überquollen.

„Morgen Luzia, gut, dass du da bist! Das ist schon die zweite Lieferung heute.“

Luzia hielt dem älteren Herrn die Tür auf und schlüpfte nach ihm in das Gebäude.

„Gerne! Ich bin froh, dass ich wieder dabei sein kann!“

Tatsächlich fühlte es sich an, wie nach Hause zu kommen, als sie sich an den großen Tisch in dem weihnachtlich geschmückten Raum setzte, an dem schon fünf andere Damen mit dem Sortieren von Briefen beschäftigt waren. Jede von ihnen hätte Luzias Mutter oder Oma sein können. Vielleicht fühlte sie sich auch deshalb so wohl hier. Außerdem machte es sie glücklich, anderen Menschen Freude zu schenken.

„Guten Morgen allerseits!“, grüßte sie in die Runde und ließ sich auf den letzten freien Stuhl fallen. In der Mitte des Tisches stand eine Schüssel mit selbstgebackenen Zimtsternen und Anis-Laabla. Die Plätzchen mit dem fenchelartigen Aroma, die nicht nur in Ober-, sondern auch in Unterfranken sehr beliebt waren, erinnerten an Macarons, nur dass die Füllung in dem zart knusprigen Teig fehlte.

„Alles in Ordnung, mein Kind? Du siehst etwas blass um die Nase aus“, fragte Vroni besorgt, während sie einen Brief öffnete, der außen schön mit Sternen und Geschenkpäckchen bemalt war.

„Alles in Ordnung! Ich glaube, gestern war es einfach etwas kalt auf dem Weihnachtsmarkt, aber es geht schon …“, beeilte Luzia sich zu sagen und musste niesen.

„Gesundheit!“, riefen die Frauen im Chor.

„Danke!“, antwortete Luzia und schnappte sich auch einen Brief aus der Postwanne, die vor ihr auf dem Tisch stand.

Im Hintergrund lief leise Weihnachtsmusik, während sich alle konzentriert ihrer Arbeit widmeten. Die ersten Briefe von Kindern aus aller Welt trudelten schon um Ostern herum ein, aber die meisten schrieben dem Christkind erst auf den allerletzten Drücker. Und trotzdem beantworteten die Mitarbeiter dieses himmlischen Postamts jeden einzelnen Brief. Gut, der Brief von dem Christkind war meistens der gleiche – ein liebevoll gestaltetes vorgedrucktes Schreiben, auch wenn bei jeder Kopie mit der Hand der Name eingetragen wurde. Aber manchmal, und zwar immer dann, wenn die Engel auf Erden das Gefühl hatten, das Kind brauche nicht nur Spielsachen, sondern himmlischen Beistand, schrieben sie einen ausführlichen und persönlichen Brief.

Luzia faltete den Brief in ihrer Hand auseinander.

Liebes Christkind,

ich wünsche mir so sehr eine ältere Schwester, weil meine kleine Schwester nervt. Von einer großen Schwester könnte ich mir bestimmt immer coole Klamotten leihen. Aber wenn das zu kompliziert ist, kannst Du mir auch direkt coole Klamotten schenken,

Deine Annkathrin

Luzia musste lachen. Hoffentlich kannten die Eltern von Annkathrin, die nach ihrer Handschrift zu urteilen noch in der Grundschule war, den Geschmack ihrer Tochter. Sonst würde dem Christkind noch Unkenntnis darüber nachgesagt werden, was junge Mädchen heute gerne tragen.

„Heute ist bisher ein einfacher Tag. Ich sitze hier schon seit zwei Stunden, und bei allen Briefen bin ich bisher zuversichtlich, dass die Eltern oder Großeltern die Wünsche erfüllen können“, sagte Vroni, die jeden Brief zwar mit Freude, aber auch zögerlich öffnete. Erst gestern hatte ein Junge das Christkind darum gebeten, seinem Papa einen neuen Job zu schenken, damit er endlich aufhörte, jeden Tag traurig am Küchentisch zu sitzen oder Mama und Sohn wegen jeder Kleinigkeit anzuschreien. Und wie immer in solchen Fällen schrieb Vroni den Kindern auch Telefonnummern auf, bei denen sie sich ganz menschliche, seelische Unterstützung holen konnten.

Luzia nickte, während sie den nächsten Brief nahm, der sich las wie die Inventarliste eines Spielzeuggeschäfts. Auch bei diesem Brief war das Antwortschreiben schnell beschriftet und der Umschlag adressiert. Letztes Jahr waren 80.000 Briefe auf diesem Tisch gelandet. 80.000! Sogar aus China war einer dabei gewesen. Sie hatten auch dieses Jahr wieder viele, fleißige Helfer, vier Dutzend Ehrenamtliche waren es, aber selbst die mussten in den Wochen vor Weihnachten Schwerstarbeit leisten.

Peter, der einzige Mann am Tisch, stempelte die fertigen Antwortbriefe mit dem extra dafür angefertigten Weihnachtspoststempel ab. Jedes Jahr bekam die Weihnachtspost in Himmelstadt ein neues Motiv. Diesmal war ein hübscher kleiner Tannenbaum in der Mitte des Stempels.

Und dann öffnete Luzia einen Brief, der alles für sie verändern sollte. Der sie mit voller Wucht zu dem Moment zurückwarf, in dem sie ihre Mutter verloren hatte. Und kurze Zeit später auch noch ihren Vater, der ohne die Mutter nicht mehr leben konnte. Davor muss ich diesen Jungen bewahren, schoss es ihr durch den Kopf, während sich ihr Herz voll Schmerz zusammenzog.

Sie musste noch einmal von vorn lesen, um den Inhalt wirklich an sich heranzulassen.

Liebes Christkind,

als ich noch kleiner war, habe ich jedes Jahr den Brief selbst in den Briefkasten geworfen. Weil wir nämlich um die Ecke gewohnt haben. Und alle meine Wünsche haben sich auch immer erfüllt.

Aber letztes Jahr ist Mama gestorben. Und da war kein einziges Geschenk unter dem Christbaum, das ich mir gewünscht habe. Nur so ein Kinderzeug, für das ich zu alt bin. Also habe ich kapiert, dass Mama das Christkind war.

Papa ist zu traurig, so zu tun, als wäre er das Christkind. Er hat nicht mal einen Weihnachtsbaum gekauft, obwohl ich ihm ganz fest versprochen habe, beim Schmücken zu helfen. Und dann sind wir nach Hamburg gezogen, damit Papa alles Schlimme vergessen kann. Aber Papa sieht immer noch so traurig aus.

In Hamburg regnet es nur, und wir haben noch keine richtigen Freunde. Vielleicht kann Papa in Himmelstadt doch wieder glücklich sein. Dann könnten wir Mama auf dem Friedhof besuchen. Und bei Oma und Opa Weihnachten feiern. Vielleicht würde Papa dann mal wieder lachen. Ich wünsche mir ja gar nicht, dass du Mama lebendig machst. Das kannst du nicht. Und eigentlich glaube ich ja eh, dass du nur ein Mensch bist. Aber vielleicht bist du ja wirklich das Christkind und kannst meinen Wunsch erfüllen, dass Papa wieder glücklich wird und wir Weihnachten in Himmelstadt feiern. Damit ich weiß, dass es dich wirklich gibt, schreibe ich keinen Absender auf den Brief. Wenn du das Christkind bist, dann weißt du ja alles. Auch wo ich wohne. Und dass ich neun Jahre alt bin.

Sonst habe ich keinen Wunsch.

Viele Grüße

Johann

Luzia umklammerte den Brief und suchte nach einem Absender auf dem Umschlag. Vielleicht hatte Johanns Vater ihn noch draufgeschrieben. Oder vielleicht gab es außer dem Poststempel noch einen Hinweis? Die Tränen in ihren Augen verschleierten ihren Blick so sehr, dass sie kaum etwas entziffern konnte. Hamburg. Das war auf jeden Fall ziemlich weit weg. Und für jemanden, der seine Heimat Bayern unfreiwillig verlassen hatte, war es bestimmt schlimm, auf einmal so weit entfernt, im kühlen Norden leben zu müssen. So oft Luzia den Umschlag auch drehte und wendete, es fand sich keine Adresse.

Sie legte den Brief erst einmal beiseite und griff zum nächsten Stapel aus der Postkiste. Lauter fröhliche Wunschlisten, in denen Kinder nicht mehr als eine neue Puppe oder ein ferngesteuertes Auto brauchten, um glücklich zu sein.

„Alles in Ordnung?“, fragte Vroni, der Luzias Traurigkeit nicht verborgen blieb. Vroni war im Grunde wirklich die Mutter der ganzen Truppe von freiwilligen Helfern, die seit über dreißig Jahren mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit Kinder aus der ganzen Welt glücklich machten.

„Ich habe nur gerade einen traurigen Brief gelesen“, antwortete Luzia knapp, ohne auf den Inhalt einzugehen. Jeder von ihnen hatte schon einmal einen besonders rührenden Brief vor sich gehabt, sie wollte die anderen nicht auch noch mit diesem hier belasten.

„Ich weiß, wie das ist. Aber mehr als tröstende Worte oder vielleicht eine Anlaufstelle kannst du nicht geben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft im Leben ich schon wirklich gern ein allmächtiges Christkind sein wollte. Aber unsere Macht ist begrenzt. Wir müssen lernen, ein offenes Ohr für die Sorgen der Kinder zu haben, sie aber nicht mit nach Hause zu nehmen. Sonst haben wir vor lauter Kummer irgendwann nicht einmal mehr die Kraft zu tun, was in unserer Macht liegt“, versuchte die Dame mit den grauen Locken Luzia zu trösten.

„In diesem Fall kann ich aber nicht mal tröstende Worte für den Jungen finden, weil der Absender fehlt“, entgegnete Luzia.

„Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als es bei ein paar guten Gedanken oder einer Kerze in der Kirche zu belassen“, antwortete Vroni und widmete sich weiter dem Stapel Briefe, der vor ihr lag. Manch eine der Damen nickte beipflichtend. Die meisten von ihnen waren schon viele Jahre dabei, sie wussten, wo ihre Grenzen lagen.

Aber Luzia wollte sich nicht damit abfinden. Sie würde Johann und seinen Vater finden. Koste es, was es wolle! Ihr Schicksal durfte sich nicht bei einem anderen Kind wiederholen. Und schon gar nicht bei einem Kind, das so viel jünger war als sie damals.

Heimlich steckte sie den Brief von Johann in ihre Handtasche und machte sich weiter an die anderen Wunschzettel.

Nachdem Luzia an diesem Vormittag fast hundert Briefe beantwortet hatte, brauchte sie eine kurze Auszeit, bevor sie ihre Schicht im Café beginnen konnte. Und wie immer, wenn sie Ruhe und Antworten suchte, die ihr eigentlich keiner geben konnte, machte sie sich auf den Weg zur letzten Ruhestätte ihrer Eltern.

Himmelstadt war ein so kleines, beschauliches Fleckchen mit nur knapp zweitausend Einwohnern. Luzia musste nie lange laufen, um durch den Blick auf die Wälder und Weinberge Kraft zu tanken. Sie liebte die Aussicht auf das Grün und die Nähe zur Natur. In den Ferien gab es jede Menge Touristen; vor allem rund um die Weihnachtszeit besuchten die Menschen den berühmten Weihnachtsmarkt und die Ausstellung über die himmlische Postfiliale, die das ganze Jahr geöffnet war.

Luzia und Eva waren einige der wenigen gewesen, die nach dem Schulabschluss in ihrem Heimatort geblieben waren. Luzia hatte ihre Ausbildung bei einem Konditor in Würzburg gemacht und liebte es bis heute, Torten, Gebäck und Kuchen zu kreieren, inzwischen für ihr eigenes Café. Das Café Himmelswolke war schon immer ein Magnet für Touristen und Einheimische gewesen, aber seit Luzia und Eva es übernommen hatten, schwärmten die Gäste noch mehr von den Köstlichkeiten, die die beiden jungen Frauen ihnen an den kleinen Tischen servierten.

Luzia zog ihren Schal enger um den Hals, als sie durch die eiskalte Winterluft schritt. Sie lief vorbei an alten Fachwerkhäusern, grüßte hier und da die Menschen, denen sie begegnete, und legte auf dem Marktplatz einen Euro in den Geigenkasten eines Mannes, der mit rot gefrorenen Fingern „Oh du fröhliche“ auf seiner alten Violine spielte. Dann nahm sie den Weg zum Friedhof am Burkhardstuhl und war nur ein paar Minuten später auf dem kleinen Gottesacker, auf dem die Himmelstadter schon seit Jahrhunderten ihre letzte Ruhe fanden.

Der Himmel war immer noch wolkenverhangen, nur ein winziger Spalt tat sich auf, doch die Kraft der Sonne war im Dezember noch schwach.

Ich hätte mir eine Mütze anziehen sollen, dachte Luzia, während sie zielstrebig zum Grab ihrer Eltern lief. Der kurze Spaziergang hatte ihren Puls so beschleunigt, als wäre sie am Main entlanggejoggt. Sie nahm sich fest vor, das im Frühling tatsächlich wieder zu tun, um fitter zu werden. Den Gedanken, dass mit ihrer Gesundheit vielleicht irgendetwas nicht stimmte, schob sie beiseite. In zwei Monaten hatte sie sowieso den nächsten Nachsorgetermin, bis dahin wollte sie sich ihre Hoffnung, endgültig geheilt zu sein, nicht zunichtemachen.

„Paul und Maria Berger“ stand auf dem Grabstein, den ein Engel zierte. Den hatte sie sich damals mit ihrer Großtante Hilde, ihrer einzig nahen Verwandten, aussuchen dürfen. Tante Hilde war nach einem langen, erfüllten Leben vor zwei Jahren im Alter von fünfundachtzig gestorben. Es schien fast so, als habe sie so lange damit gewartet, bis Luzia vorläufig als geheilt galt.

„Jetzt kann ich in Frieden gehen, weil ich weiß, dass du noch ein langes, glückliches Leben vor dir hast“, hatte sie ihrer Nichte auf dem Sterbebett zugeflüstert und war dann für immer eingeschlafen, friedlich, mit einem Lächeln auf den Lippen. Tante Hilde war für sie wie eine Mutter gewesen.

Luzia kniete sich hin, um die Kerze in der Laterne auf dem Grab anzuzünden. Ein paar Christrosen blühten noch in ihrem warmen Weiß, und der Efeu breitete sich unbeirrt aus und versteckte so die Erde unter einem tröstlichen Grün.

Ein zweites Mal an diesem Tag schossen Luzia Tränen in die Augen, doch im Gegensatz zu vorhin konnte sie ihnen hier freien Lauf lassen.

„Warum seid ihr nicht mehr da? Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie oft ich euch gerne um Rat fragen würde! Und das, obwohl ich früher nichts weniger hören wollte als eure Tipps. Aber ich weiß, dass ihr das verstanden habt. Schließlich war ich ein Teenager.“ Luzia schaute sich um, als sie ein Rascheln hörte. Wurde sie belauscht? Wenn ja, dann nur von einem Rotkehlchen, das in der Erde nach Futter scharrte.

Sie schmunzelte und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Genau jetzt bräuchte ich euch!“ Sie zog Johanns Brief aus ihrer Tasche. „Wie soll ich diesen Jungen finden? Wisst ihr, welches Grab seiner Mutter gehört? Dann hätte ich wenigstens einen Nachnamen.“

Vielleicht war das die Idee? Jeden Grabstein zu überprüfen und ein Datum zu suchen, das noch nicht allzu lang zurücklag. Vielleicht half ihr das bei der Suche nach Johanns Mutter, zumindest grenzte es die Sache ein.

Sie nahm den Brief aus dem Umschlag und faltete das dicke Papier auseinander. Fast als würde ihr eine innere Stimme dazu raten, hielt Luzia das Blatt hoch.

Genau in diesem Moment wurde der Spalt in den Wolken noch ein kleines Stückchen weiter, sodass die Sonne auf den Brief schien. Sie blendete, also kniff Luzia die Augen zusammen. Hatte sie da nicht gerade etwas entdeckt, was ihr vorher nicht aufgefallen war? Um noch einmal auf den Brief zu schauen, öffnete sie die Augen vorsichtig wieder. Da war nichts.

Noch einmal hielt sie den Brief gegen die Sonne. Und jetzt erkannte sie, was ihr vorher verborgen geblieben war: Das Papier enthielt ein Wasserzeichen. Ein Haus, das auf einer Welle schwamm. Darüber stand „Weller & Partner, Architektur Hamburg“.

Luzia konnte nicht anders, als mit der Sonne zu strahlen. Natürlich konnte sie das eben Geschehene als Zufall abtun, aber für sie war es ein Beweis, dass ihre Eltern immer noch mit ihr verbunden waren und ihr zur Seite standen. Auch wenn die Hand, die sie ihr reichten, nicht immer genau auszumachen war. Sie würde Johann finden! Wahrscheinlich verbrachte er die Nachmittage manchmal im Büro seines Vaters und hatte dort Zeit, auf dem Firmenpapier Briefe zu schreiben oder Bilder zu malen.

„Danke“, sagte sie nur, warf dem Grab eine Kusshand zu und eilte zu ihrem Café. Auf dem Rückweg schlug ihr Herz ruhiger, obwohl sie schneller lief und aufgeregt war.

Luzia riss die Tür des Cafés Himmelswolke auf und betrat den warmen und gemütlichen Raum. Noch waren keine Gäste da, sodass sie sofort mit der Neuigkeit herausplatzen konnte.

„Ich fahre diese Woche nach Hamburg“, sagte sie und umarmte Eva. Dann hängte sie ihren Mantel und Schal an die Garderobe und stellte sich neben die Heizung an der Wand, die vor sich hin bollerte wie ein hungriger Magen.

Eva schaute sie verwundert an und schob die Hände in die gepunktete Vintageschürze, die sie im Café meistens während der Arbeit trug.

„Nach Hamburg? Was willst du denn da? Jetzt sag nicht, du hast die ganze Zeit im Internet nach einem netten Mann gesucht und sagst mir erst jetzt, dass du jemanden kennengelernt hast?!“, fragte Eva lachend.

„Nein, und du wärst die Erste, die erfahren würde, wenn ich jemanden kennenlernen würde. Schon allein, damit du mich nicht weiter verkuppeln willst“, antwortete Luzia.

Eva hob entschuldigend die Hände. „Okay, ich bekenne mich schuldig, dass ich mir wünsche, dass meine beste Freundin endlich den Mann fürs Leben trifft. Ich merke doch, dass dir etwas fehlt.“

Luzia schüttelte energisch den Kopf und stemmte ihre Arme in die Hüften. Der petrolfarbene, schmal geschnittene Wollpulli betonte ihre blauen Augen und die blonden Locken. Es gab kaum einen Mann, der sich nicht nach ihr umdrehte, aber Luzia schien das meist zu ignorieren.

„Mir fehlt überhaupt nichts. Ich freue mich ja für dich, dass du glücklich verheiratet bist, aber glaube mir, im Moment geht es mir als Single besser. Erinnerst du dich noch daran, wie ich gelitten habe, als Stefan mit mir Schluss gemacht hat? Zufällig war ich da mitten in der Chemotherapie! Er hätte keine Kraft mehr, so eine Beziehung zu führen! Und als er weg war, ging es mir auch körperlich langsam besser“, fuhr Luzia fort und legte ihre Hände auf die Heizung.

„Ja, weil er der Falsche war. Aber es sind nicht alle Männer wie Stefan“, versuchte Eva es weiter.

„Vielleicht“, sagte Luzia, um das Thema vorerst abzuschließen. „Ich fahre jedenfalls wegen eines kleinen Jungen nach Hamburg und nicht wegen eines Mannes.“

Jetzt schaute Eva noch verblüffter. „Erzählst du mir alles Weitere in der Küche? Wir müssen noch die Suppe und die Quiche für heute Mittag vorbereiten.“

Tatsächlich studierten ein paar Leute draußen schon die Mittagskarte, die an der Tür angebracht war. Eva ging zum Eingang, drehte das „Geschlossen“-Schild um und steckte ihren Kopf nach draußen. „Sie können auch gerne drinnen warten, um sich aufzuwärmen.“

Das ließen sich die Leute nicht zweimal sagen, sie traten ein und suchten sich im Café einen Platz, während Eva Luzia mit sich in die Küche zog.

„Und jetzt erzähl mir mal, was dich als waschechtes unterfränkisches Mädchen nach Hamburg verschlägt?!“

Keine zehn Minuten später blubberte die hausgemachte Kartoffelsuppe auf dem Herd vor sich hin, während Luzia die Wintersalate putzte, die neben der Pilzquiche angerichtet werden sollten. Essen zubereiten entspannte Luzia immer, fast noch mehr, als es danach zu genießen.

„Ich finde es toll, dass du dem Jungen helfen willst, aber was ist, wenn du ihn in Hamburg nicht findest?“, fragte Eva, nachdem sie sich die Geschichte angehört hatte.

„Ich werde ihn finden. Und selbst wenn nicht, ich würde es mir nicht verzeihen, es nicht wenigstens versucht zu haben“, erwiderte Luzia und zupfte Feldsalat vom Strunk.

„Warum versuchst du es nicht erst mal über die sozialen Medien? Vielleicht meldet sich der Vater ja?“, schlug Eva vor, während sie einen Apfelstrudel mit Puderzucker bestäubte.

„Wenn Johann so einen Brief schreiben muss, geht der Vater doch schon lange mit Scheuklappen durch die Welt. Er scheint ja gar nicht zu merken, wie sehr sein Sohn leidet. Also wird er sich bestimmt nicht auf irgendwelche rührseligen Aufrufe melden.“

Der Duft von Muskat und Liebstöckel erfüllte die Küche. Die Suppe, die sie gestern vorgekocht hatten, war köstlich geworden. Luzia lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl sie gerade noch völlig aufgewühlt war.

„Und was willst du in diesem Architekturbüro machen? Dich mit einem Lautsprecher in den Flur stellen und rufen, alle Witwer, die einen traurigen Sohn haben, sollen bitte zum Haupteingang kommen?“, fragte Eva und spähte in den Gastraum, in dem sich ein paar Gäste schon ungeduldig umschauten.

„Keine schlechte Idee!“, antwortete Luzia bestimmt, obwohl sie noch gar keinen echten Plan hatte. Sie ging zu den Gästen, um Bestellungen aufzunehmen, und notierte sich alles auf einem kleinen Block. Sich jeden Wunsch zu merken, war unmöglich, vor allem weil sie mit den Gedanken gerade ganz woanders war. Was wäre, wenn sie Johann und seinen Vater finden, aber dann merken würde, dass die Situation aussichtlos war? Was wäre, wenn Johanns Vater in seiner Trauer für immer blind war – ein hoffnungsloser Fall –, ohne zu merken, dass er damit seinen Sohn im Stich ließ, der schon seine Mutter verloren hatte?

Zurück in der Küche, füllte Luzia gemeinsam mit Eva Suppenteller auf und verteilte die herzhaften Kuchen mit Salat auf weißen Porzellantellern mit Goldrand.

„Willst du es dir nicht noch mal in Ruhe überlegen?“, fragte Eva mit sanfter Stimme.

„Nein“, antwortete Luzia energisch. In knapp drei Wochen ist Weihnachten. Ich habe also nicht mehr lange Zeit, Johanns Wunsch zu erfüllen. Ich werde mir noch heute eine Bahnfahrkarte nach Hamburg kaufen. Kommst du zwei Tage ohne mich klar?“ Luzia klang fest entschlossen. Sie musste alles in die Wege leiten, bevor der Mut sie verlassen konnte, sich in einer fremden Stadt auf die Suche nach einem fremden Mann und seinem Sohn zu machen.

2. KAPITEL

Johann hasste diese Stadt, in der er nicht Fahrrad fahren durfte, weil sein Vater meinte, dass er nicht unverletzt über die große Kreuzung auf dem Schulweg kommen würde. Diese Stadt, in der er nie auf einen Berg oder eine Wiese schaute, sondern fast nur gegen Häuserwände. Er musste schon den Kopf ganz nach hinten biegen, um den Himmel zwischen all den hohen Häusern sehen zu können. Das machte er oft, weil er hoffte, seine Mutter könnte ihm dann in die Augen sehen, auch wenn er selbst sie dort oben nicht entdeckte. Mit seinem Vater wohnte er in einem der modernen Wohnblocks in der Hafencity. Allein der Weg vom Aufzug in die Wohnung im achten Stock dauerte länger als der Weg zur Schule in Himmelstadt. Da nützte es auch nichts, dass sein Vater sagte, dass er hier aber zum Gymnasium laufen könnte, während Himmelstadt so klein war, dass es nur eine winzige Grundschule gab. Aber in der saß immerhin sein bester Freund Leo, den er fast genauso vermisste wie seine Mutter.

„Meinst du, dein Vater kommt gleich?“, fragte Lena, eine Betreuerin aus der Ganztagsschule, die mit Johann auf dem Schulhof wartete, bis er als letztes Kind endlich abgeholt würde.

„Natürlich. Sie brauchen nicht auf ihn zu warten. Ich setze mich einfach vor das Schultor, dann können Sie nach Hause gehen. Wirklich“, antwortete Johann nachdrücklich. Die junge Frau strich ihm über die braunen Locken und schaute ihn mitfühlend an.

„Natürlich lasse ich dich nicht alleine! Und da hinten kommt dein Vater auch schon!“ Sie zeigte in Richtung Schultor. Da entdeckte Johann auch, wie sein großer Vater, der die gleichen braunen Locken hatte wie er, auf den Schulhof schritt, als hätte er einen unangenehmen Gerichtstermin. Der Kragen seines schwarzen Wintermantels war hochgeschlagen, der Blick gesenkt. In der einen Hand hielt er noch seine Laptoptasche. Johann wusste, dass das bedeutete, dass er sich heute Abend wieder einmal weiter an die Arbeit setzen würde. Am liebsten wäre Johann in die Arme seines Vaters gerannt, aber er wartete nur stumm, bis dieser bei ihm war, während Lena sich verabschiedete. Er hatte das Gefühl, sein Vater wäre aus Stein. Wie eine Statue, an der man sich nur stoßen, und dann abprallen würde, wenn man auf sie zurannte. Als Mama noch gelebt hatte, war das ganz anders gewesen.

„Servus Papa“, sagte er nur matt, als der ihn erreicht hatte. Immerhin schob er seine freie Hand in die des Jungen, während sie zusammen zur nächsten U-Bahnstation liefen.

„Können wir am Wochenende nicht mal nach Hause fahren? Ich vermisse Oma und Opa. Und der Weihnachtsmarkt hat bestimmt schon offen“, fragte Johann seinen Vater, als sie fast zu Hause angekommen waren.

„Du weißt genau, dass ich am Samstag auch arbeiten muss. Das neue Hafenquartier plant sich nicht von alleine, und nächste Woche müssen wir die Pläne präsentieren“, antwortete sein Vater und blieb vor ihrem Haus stehen. Sie spiegelten sich in der Eingangstür, die im Gegensatz zu der Tür zu Hause völlig frei von einer persönlichen Note war. Na ja, so richtig schön war der Kranz mit Weihnachtssternen am Ende auch nicht mehr gewesen, der auch ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Mutter an der Holztür gehangen hatte.

„Und Sonntag?“, hakte Johann nach.

„Für einen Tag ist der Weg viel zu lang“, entgegnete der Vater.

„Ich könnte auch Freitag in den Zug steigen und allein zu Oma und Opa fahren. Dann könntest du ganz in Ruhe arbeiten.“ Johann gab nicht auf.

„Auf gar keinen Fall. Das ist viel zu gefährlich“, entgegnete er, schaute seinen Sohn an und lächelte auf einmal zaghaft, als wäre ihm gerade aufgefallen, dass er doch eigentlich Glück hatte mit diesem kleinen Jungen.

„Aber weißt du was, Johann? Hamburg hat auch tolle Weihnachtsmärkte. Es gibt einen direkt in der Nähe der Elbphilharmonie. Wir bringen eben Laptop und Schulranzen nach oben, und dann gehen wir dort hin. Was hältst du davon? Wir können dort auch etwas zu Abend essen!“, schlug er vor.

„Okay, gerne“, antwortete Johann, weil er froh war, dass sein Vater überhaupt etwas mit ihm unternehmen wollte. Wie oft hatte er das Gefühl, nur eine Last für ihn zu sein? Wenn er nicht da wäre, könnte Papa so viel arbeiten, wie er wollte. Darüber hatte er sich ja auch immer mit Mama gestritten, als sie noch lebte.

Sie starteten ihren Ausflug mit einem heißen Kakao und frischen Franzbrötchen. Johann liebte die Hefeteilchen, die so wunderbar nach Zimt und Zucker schmeckten. Immerhin eine gute Sache gab es in Hamburg. Der Weihnachtsmarkt war nicht sehr groß, aber trotzdem noch voller als der in Himmelstadt. Johann hörte viele Stimmen – auch Englisch und Sprachen, die er noch nie gehört hatte. War das gerade Chinesisch? Auf jeden Fall sah die Gruppe von Männern in Anzügen genauso aus, als käme sie aus dem fernen China.

„Und jetzt noch ein Fischbrötchen?“, fragte sein Vater, und Johann nickte eifrig.

Am Rande des Weihnachtsmarktes, fast direkt an der Elbe, die durch eine hohe Kaimauer mit beleuchteter Absperrung von den Menschenmassen getrennt war, stand eine Fischbrötchenbude. Dahinter stand ein dicker, bärtiger Mann in blau-weiß gestreiftem Fischerhemd und sagte: „Moin, moin“, obwohl es doch längst Abend und stockdunkel war. Na ja, durch die ganzen blinkenden Lichter und Sterne war es nicht ganz so dunkel, aber auf keinen Fall Morgen, dachte Johann, der sich einfach nicht an das Leben in der Großstadt gewöhnen konnte.

Als er noch einmal in den Himmel schauen wollte, um seiner Mutter einen stummen Gruß zu schicken, blieb sein Blick an der Elbphilharmonie hängen. Wie ein riesiges Schiff ragte die weltberühmte Konzerthalle in den Himmel. Und selbst hoch oben, rund um die Halle, liefen Menschen, als bestiegen sie ein Schiff. Johann musste an einen ganz traurigen Film denken, den er neulich mit seinem Vater geschaut hatte. Titanic oder so. Seine Mutter hätte ihm so einen Film nie erlaubt. Am Ende waren fast alle gestorben, und Johann erinnerte sich noch ganz genau daran, dass sein Vater Tränen in den Augen hatte, als der Mann im Meer ertrunken ist. Ob er da an Mama denken musste? Aber das Liebespaar in dem Film hatte sich wenigstens nicht vor dem Tod gestritten, so wie seine Eltern. Niemand hatte mit ihm darüber geredet, und vielleicht wussten sie nicht einmal davon, aber Johann hatte gehört, wie seine Mutter seinen Vater angeschrien hatte, dass er schon sehen würde, was er von seinem Verhalten hätte. Und dann war die Haustür zugeknallt.

Der Matrose in der Fischbude reichte Johann und seinem Vater je ein Brötchen, was Johann von seiner Grübelei abhielt. Zwischen zwei Hälften lag saftiger, panierter Seelachs mit Remouladensoße, Zwiebeln und ein paar Salatblättern. Johann biss in das Fischbrötchen, und etwas von der Soße spritzte auf seine Jacke.

„Mann, sind die lecker! So was gibt es in Himmelstadt nicht.“ Sein Vater machte die Ablenkung wieder zunichte.

„Trotzdem war es da viel schöner“, entgegnete Johan mit vollem Mund.

„Du wirst dich schon an unsere neue Heimat gewöhnen, mein Junge“, entgegnete der Vater und warf auch einen Blick in die Sterne. Ob er in Gedanken auch noch mit Mama sprach? Wie schön wäre es, wenn sie miteinander über sie reden könnten, dachte Johann. Aber sein Vater wurde immer noch trauriger, wenn die Rede von ihr war, also bemühte Johann sich, seine Mutter nur ganz selten zu erwähnen.

Um seinen Vater nicht zu betrüben, nickte Johann stumm und biss wieder in das Brötchen, obwohl er genau wusste, dass er sich nie an diese Stadt gewöhnen würde.

Einen Haufen Polizisten, die den Weihnachtsmarkt bewachten wie hier, gab es in Himmelstadt auch nicht. Ein Obdachloser mit fünf zerrissenen Tüten und einer blutenden Wunde am Kopf redete auf einen Polizisten ein, bis eine Sanitäterin kam und den Mann zu einem offenen Krankenwagen führte. Der Obdachlose betrat den Wagen bereitwillig. Wahrscheinlich, weil es dort drinnen warm war. Der Mann sah aus wie der Nikolaus, nur in ganz arm, und hatte nicht mal eine Mütze an, obwohl er bestimmt fror. Unschlüssig griff Johann nach der schwarzen, ziemlich locker sitzenden Mütze, die er von seinem Vater bekommen hatte, als der sie nicht mehr brauchte.

„Ich hole mir noch einen Glühwein, möchtest du einen Kinderpunsch?“, fragte sein Vater, nachdem er sich die Hände an einer Serviette abgewischt und diese dann in den Mülleimer geworfen hatte, der aussah wie ein offenes Fischmaul.

„Nein, danke, ich warte hier und esse mein Brötchen in Ruhe auf“, antwortete Johann und überlegte, ob er die Gelegenheit nutzen und dem alten Mann seine Mütze schenken sollte.

Sein Vater stellte sich an dem Glühweinstand an. Johann ging vor bis zur Absperrung an der Kaimauer und versuchte einen Blick auf den offenen Krankenwagen zu erhaschen, an dem noch ein paar Jugendliche standen, die offensichtlich zu viel Glühwein getrunken hatten und nun von den Sanitätern bewacht wurden, bis die Eltern sie abholten. Der bärtige, alte Mann kam wieder aus dem Wagen. Auf seiner Stirn klebte ein dickes Pflaster. Der lange Bart flatterte fast in dem eisigen Wind, der an der Elbe entlang pfiff.

Johann nahm seine Mütze vom Kopf, doch weil er sie nicht fest genug hielt, wehte der nächste Windstoß sie fort. Sie flog über die Absperrung und landete auf der Kaimauer.

Mist, dachte Johann und schaute sich kurz um. Sein Vater stand noch immer in der Schlange. Bis er an der Reihe war, hätte er die Mütze längst zurückgeholt. Die Kaimauer hinter der Absperrung war breit genug. Da würde er nicht so schnell in die Elbe stürzen. Und selbst wenn, er war doch ein guter Schwimmer!

Sebastian wurde langsam unruhig. Die Frau an der Glühweintheke schenkte den Glühwein so langsam aus, dass er nervös wurde. Jetzt hielt sie auch noch ein Schwätzchen mit dem jungen Mann, der vor ihm dran war! Er drehte sich um, um Johann anzudeuten, dass es nicht mehr lange dauern würde, und ließ seinen Blick über die Stelle wandern, an der er Johann vermutete. Doch Johann war nirgendwo zu sehen. War er mit einem Fremden mitgegangen? Sebastians Herz schlug schneller. Was, wenn er verunglückt war?

Die Elbe! An der Kaimauer ging es über fünf Meter in die Tiefe! Selbst für einen guten Schwimmer wäre das eiskalte Wasser inmitten des Hafenverkehrs lebensgefährlich!

Ein Containerschiff mit Weihnachtsbeleuchtung fuhr auf dem Fluss entlang, der Hamburg zu einer der größten Handelsstädte der Welt gemacht hatte. Was war, wenn Johann abgestürzt war und die Schiffsschrauben ihn ansogen?

Er rannte auf die Kaimauer zu. War da nicht eine Gestalt hinter der Absperrung zu sehen? War das Johann?

„Johann!“

Sein Herz raste so schnell, dass es ihm fast den Atem abschnürte. Panisch schob er ein Pärchen, das ihm im Weg stand, zur Seite und sprang selbst über die Absperrung. In Gedanken sah er schon, wie Johann abstürzte. Panik machte sich in ihm breit. Panik und Ohnmacht. So wie damals, als er nichts weiter tun konnte, als zu bereuen, dass er seine Frau nicht aufgehalten hatte. Er hätte ihr alles verziehen, wenn sie nur am Leben geblieben wäre! Und sie hätten von vorn anfangen können, selbst wenn sie ihm damals so wehgetan hatte.

„Nein!“, schrie er so laut, dass sich alle, vor allem aber die Polizisten, zu ihm umdrehten.

Er erkannte die blaue, dicke Daunenjacke und die Locken seines Sohnes, packte ihn am Kragen, nahm ihn auf den Arm und sprang mit ihm über die Absperrung.

„Papa, ich habe nur meine Mütze wiedergeholt“, antwortete Johann, der völlig überrascht von der Rettungsaktion war, die in seinen Augen total unnötig war.

„Mach das nie wieder! Hörst du? Mach das nie wieder!“, schrie Sebastian seinen Sohn an Er war vor ihm auf die Knie gegangen und schüttelte ihn am Kragen. Und dann fing er an zu weinen.

Johann hatte seinen Vater noch nie weinen sehen. Nicht einmal am Grab seiner Mutter. Er war immer nur aus Stein gewesen. Und Steine können nicht weinen. Er stellte sich immer vor, wie alle Tränen in dem Stein eingesperrt waren. Aber jetzt hatte der Stein wohl Risse bekommen.

„Mach das nie, nie wieder!“, schluchzte sein Vater, und Johann nickte nur.

„Brauchen Sie Hilfe?“ Eine der Sanitäterinnen kam auf die beiden zu.

„Nein, alles in Ordnung“, sagte Sebastian, erhob sich und nahm Johann an die Hand.

„Sie machen den Eindruck, als hätten Sie einen Schock erlitten. In solchen Fällen ist es besser, professionelle Hilfe anzunehmen.“ Die Frau im weißen Anzug und der roten Jacke klang mitfühlend.

„Hören Sie, ich hatte einen Moment Angst um meinen Sohn! Ihm ist nichts passiert, alles ist in Ordnung“, presste er hervor.

Der Polizist neben der Sanitäterin schüttelte fast unmerklich den Kopf, als er einen flüchtigen Blick mit ihr wechselte.

„Sie sehen nicht so aus, als wäre alles in Ordnung“, blieb die Frau hartnäckig.

Nachdem sie ihre Tasche kurz durchwühlt hatte, holte sie ein Päckchen Visitenkarten heraus und reichte Sebastian eine davon.

„Hier gibt es Hilfe für Familien, in welcher Notlage auch immer“, sagte sie mit sanfter Stimme, als hätte sie einen Blick dafür, wer Hilfe brauchte.

„Nein, danke, wir kommen bestens alleine klar. Wir brauchen keine Hilfe!“

Sebastian steckte die Karte nur ein, damit er unbehelligt mit seinem Sohn nach Hause verschwinden konnte.

Nach einer heißen Dusche und einer ultrakurzen Gute-Nacht-Geschichte – sein Vater las ihm jeden Abend aus den Chroniken von Narnia vor –, wurde Johann früh ins Bett verfrachtet.

„Wie gemein, es ist doch erst Viertel nach acht“, maulte er, während er in seinem Bett die Arme über der Brust verschränkte. Zwar lief ein Hörbuch, darauf konnte er sich aber nicht konzentrieren, weil er die ganze Zeit auf ein bestimmtes Geräusch wartete.

Und tatsächlich hörte er irgendwann die Tür ins Schloss fallen – und ein Frauenlachen. War das ein Küsschen? Oder bildete er sich das Schmatzen nur ein? Sein Vater hatte ihn gebeten, leise zu sein, weil er heute Abend Besuch von einer Kollegin bekommen würde.

„Bist du in sie verliebt?“, hatte er im Bad gefragt, als sein Vater ihm die Haare trocken rubbelte.

„Als Erwachsener verliebt man sich nicht mehr so schnell …“, hatte er ausweichend geantwortet.

So ein Blödsinn, dachte Johann jetzt und spitzte die Ohren. Sein Vater wollte ihm eindeutig was vormachen.

Manchmal wünschte Johann sich sogar, dass sein Vater sich neu verliebte, aber es musste schon eine sehr nette Frau sein. Eine, die auch ihn mochte.

„Hey, Sebastian, ich wusste ja gar nicht, dass du in Jeans und T-Shirt noch besser aussiehst als im Anzug! Und du riechst gut!“

Das klingt alles andere als harmlos, dachte Johann. Er hatte genau gesehen, dass sein Vater sich im Bad noch etwas Aftershave aufgetragen hatte. Er wollte diese Frau also beeindrucken.

„Und du siehst wie immer bezaubernd aus, Corinna“, hörte er seinen Vater.

„Möchtest du ein Glas Wein? Ich habe auch noch etwas Sushi vom Feinkostladen um die Ecke besorgt.“

Pah, gerade hatte sein Vater noch behauptet, nach dem Fischbrötchen vollkommen satt zu sein.

„Gerne!“

„Ich hätte dich am liebsten in ein Restaurant ausgeführt. Aber du kennst ja meine Situation …“, sagte er.

Johann ballte wütend seine Hände zu Fäusten. Er war also im Weg!

„Ich weiß. Du hast sowieso meine vollste Bewunderung. Wie du dein Leben als alleinerziehender Vater meisterst, das ist bestimmt nicht immer einfach.“ Diese Corinna sprach mit einer Stimme, die Johann an die Stiefmutter aus einer Schneewittchenverfilmung erinnerte, die er letztens gesehen hatte. Und jeder wusste, was böse Stiefmütter mit Kindern wie ihm machten, wenn sie den Vater für sich wollten.

Er musste diese Frau aus der Nähe begutachten. Johann schlüpfte aus seinem Bett, zog die Hausschuhe über, da es ihn trotz Frotteeschlafanzug fröstelte, und schlich ins Wohnzimmer. Dort saßen sein Vater und eine sehr gut aussehende Frau mit langen, braunen Haaren und einem dunkelroten Kleid auf dem Sofa.

Auf dem Couchtisch aus Glas, auf dem er selbst nie essen durfte, weil der angeblich so teuer war, standen ein Porzellanteller mit Sushiröllchen, Weingläser, eine Flasche Wein und das Auffälligste, ein paar brennende Kerzen. Johann war zwar erst neun, aber er wusste, was das bedeutete. Er durchbohrte die Frau mit seinem Blick. Immerhin sah sie sehr fit aus, was bedeutete, dass sie lange leben könnte. Wenn sie nicht gerade einen Unfall haben würde. Sie schaute Johann ebenfalls an und suchte dann den Blick seines Vaters, der seinen Sohn im Türrahmen noch gar nicht bemerkt hatte.

„Und das ist dein Kleiner? Wie süß! Er sieht dir wirklich ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten!“

Sein Vater drehte sich zu ihm um, und Johann fand, dass er nicht besonders erfreut aussah.

„Ich habe Durst, Papa. Und ich kann nicht schlafen“, sagte Johann und fixierte die Frau, die ihn jetzt anlächelte, als wäre sie ein Freundlichkeitsroboter. Dann stand sie auf, ging in die offene Küche, machte verschiedene Schränke auf, bis sie die Gläser gefunden hatte, holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, füllte das Glas und lief damit zu Johann. Sebastian schaute die beiden nur an, als ob er nicht wusste, wie er die Situation finden sollte.

„Hier hast du etwas zu trinken, mein Süßer. Und nun husch-husch ins Bett! In deinem Alter müssen Kinder längst schlafen. Und dein Papa braucht jetzt wirklich einen entspannten Abend. Der Arme arbeitet so viel! Ich hoffe, du weißt, was für einen tollen Papa du hast!“

Johann starrte die Frau mit offenen Augen an, als wäre sie nicht bloß eine böse Stiefmutter, sondern viel eher eine Hexe oder, noch schauriger, ein Drache. Die fühlte sich wohl als Bestimmerin! Und sein Vater saß nur da und sagte gar nichts.

„Papa, muss ich wirklich ins Bett?“, fragte er deshalb seinen Vater.

„Corinna hat recht. Es ist spät, und ich brauche jetzt wirklich etwas Ruhe“, sagte er.

Johann stemmte die Arme in die Seiten. „Ich könnte mich auch auf den freien Sessel setzen und ganz ruhig sein.“

Sein Vater musste lächeln und wollte gerade den Mund öffnen, doch Corinna kam ihm zuvor.

„Die Tricks kenne ich alle aus meiner Kinderzeit. Ab ins Bett, kleiner Mann!“

„Na gut“, antwortete Johann, obwohl er stinkwütend war. Aber er musste sich erst in Ruhe eine Strategie überlegen und dann lieber unter vier Augen mit seinem Vater darüber reden. Diese Frau würde niemals seine Mutter ersetzen können!

Ob ich doch lieber zum Arzt hätte gehen sollen, anstatt mich in den Zug zu setzen? fragte sich Luzia, während sie sich auf den letzten freien Platz in dem Zugabteil quetschte. Sie hatte in Himmelstadt gerade noch den Regionalzug erreicht. Und auch in Würzburg war es knapp gewesen, den ICE zu bekommen. Ganz Franken war über Nacht unter einer dicken weißen Schneedecke vergraben worden, sodass alles etwas langsamer lief.

Eine ältere Dame neben Luzia nieste in ein Taschentuch aus Baumwolle.

„Gesundheit“, sagte Luzia und hoffte, dass keine Keime sie erwischten. Seit ihrer Krankheit war ihr Immunsystem sehr empfindlich. Sie tastete ihren Hals ab und fühlte ein paar geschwollene Lymphknoten. Das kann auch vollkommen harmlose Ursachen haben, redete sie sich ein und schwor sich, zum Arzt zu gehen, sobald sie wieder in Himmelstadt war. Wenn sie heute gegangen wäre und Dr. Humboldt etwas Schlimmes gefunden hätte, hätte sie ohnehin nicht mehr nach Hamburg fahren können. Deshalb war es gut, diese Mission zuerst hinter sich zu bringen. Sollte sie einen Rückfall bekommen und sterben, hätte sie wenigstens vorher noch eine gute Tat vollbracht – zumindest, wenn es ihr gelang, Johann und seinen Vater davor zu bewahren, ihr eigenes, tragisches Schicksal zu wiederholen.

„Danke“, sagte die Frau und vertiefte sich wieder in ihr Buch.

Luzia sah aus dem Fenster und träumte vor sich hin. Je näher der Zug Hamburg kam, desto mehr verwandelte sich der Schnee in Regen. Und obwohl es so kalt war, stand Luzia etwas Schweiß auf der Stirn. Bitte, lieber Gott, lass mich keinen Rückfall haben, bat sie in Gedanken. Die Vorstellung, irgendwann in einer anderen Welt ihre Eltern und ihre geliebte Tante wiederzusehen, tröstete sie zwar ein wenig, aber sie spürte doch immer mehr eine ganz neue starke Sehnsucht in sich, auf dieser Welt noch etwas zu erleben. Vielleicht sogar die große Liebe zu finden? Aber vielleicht gab es die genauso wenig wie das Christkind. Machten sich erwachsene Frauen genauso etwas vor wie kleine Kinder? Und machte Liebe nicht vor allem schwach? Ihr Vater war zerbrochen, weil er ohne ihre Mutter nicht leben konnte. Ihr Ex-Freund war schon daran gescheitert, ihr in einer schwierigen Lage zur Seite zu stehen. Vielleicht war Freundschaft das höchste der Gefühle. Eva war während ihrer Krankheit so oft an ihrer Seite gewesen, hatte sie zum Arzt und zur Chemotherapie begleitet. Ihr Ex hatte gemeint, er könnte die Krankenhausatmosphäre nicht ertragen. Und dann konnte er den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Aber wieso zog er sich dann aus der Beziehung zurück, statt um sie zu kämpfen?

Der Summton ihres Handys riss Luzia aus ihren Gedanken.

„Du bist also tatsächlich gefahren!“, hörte sie Evas warme Stimme.

„Ja, drück mir die Daumen, dass ich Johann und seinen Vater finde.“

„Mache ich, Luzia. Aber nur, wenn du mir versprichst, auf dich aufzupassen. Ich meine, du kennst den Mann genauso wenig wie die Stadt.“

„Ich habe auch nicht vor, ihn zu heiraten. Ich möchte ihm einfach nur klarmachen, dass er den Wunsch seines Sohnes erfüllen soll. Und nach vorne schauen muss. Seinem Kind zu Liebe!“, antwortete Luzia.

„Du kannst nicht die ganze Welt retten.“ Eva seufzte.

„Nein, ich weiß, aber wenn ich nur diese beiden rette, wird die Welt trotzdem ein klein wenig besser!“, erwiderte Luzia. Die Blicke der Mitreisenden wurden mittlerweile neugierig.

„Du, ich rufe dich an, sobald es etwas Neues gibt. Grüße mir unser Café. Übermorgen bin ich wieder da.“

„Das hoffe ich, meine liebe Luzia!“, sagte Eva und legte auf.

Und ich hoffe das auch, dachte Luzia. Sie hoffte wirklich so sehr, dass sie gesund bleiben würde, und hatte doch eine schreckliche Angst davor, sich der Wahrheit zu stellen. Selbst wenn das schnelle Wissen darüber, dass der Krebs zurückgekommen war, vielleicht ihr Leben retten konnte.

3. KAPITEL

Luzia war noch nie in Hamburg gewesen. Mithilfe der Navigations-App ihres Handys hatte sie die kleine Pension nur ein paar Stationen vom Hauptbahnhof entfernt jedoch schnell gefunden. Während in Himmelstadt zweimal in der Stunde der Zug fuhr, kam hier alle zwei Minuten eine neue Bahn an. Und so viele Leute, wie sich in der Hansestadt heute mitten in der Woche schon tummelten, waren in ihrer Heimat selbst an den Adventswochenenden kaum da.

Obwohl Hamburg zu den Metropolen dieser Welt gehörte, gab es in Luzias schlichter Unterkunft in Hafennähe nicht einmal einen Aufzug. So war der günstige Preis wohl zu erklären, dafür nahm sie gerne ein paar Treppen in Kauf. Schließlich hatte schon die Fahrkarte ein Loch in ihre Kasse gerissen. Ihr Café lief zwar wunderbar, aber da sie nur den besten Kaffee und die hochwertigsten Zutaten für ihre Snacks und Kuchen verwendeten und die Renovierung auch eine Menge Geld verschlungen hatte, blieb am Monatsende meist nicht viel übrig.

Als Luzia die schmalen Treppen in den zweiten Stock geschafft hatte, musste sie sich an der Wand abstützen, weil ihr Herz raste wie nach einem Dauerlauf.

In dem Zimmer, in dem alles in Braun und Orange gehalten und wohl seit Jahrzehnten nicht mehr verändert worden war, ließ sie sich sofort auf das Bett fallen. Die Decke über ihr drehte sich. Nach ein paar Minuten ging es wieder. Sie ließ sich im Bad kaltes Wasser über die Arme laufen, um den Kreislauf zu aktivieren, und schaute in den Spiegel. Nein, so konnte sie nicht unter die Leute! So sah sie nicht aus wie ein rettender Engel, sondern wie ein schauriger Geist. Fast wie eine dieser dämonischen Berchtgestalten, die sich angeblich zur Weihnachtszeit in Bayern überall herumtrieben, um unartigen Kindern das Fürchten zu lehren.

Sie trug eine getönte Tagescreme und etwas Rouge auf. Auch die Wimpern tuschte sie kräftig. Jetzt gefiel sie sich sogar selbst ganz gut. Sich attraktiv zu fühlen, war wie eine Ritterrüstung. Also trug sie noch etwas Lippenstift auf, atmete tief durch und machte sich auf den Weg, vorbei an der Elbphilharmonie, die in der Nähe des Architekturbüros Weller & Partner lag.

Die Gebäude, an denen sie vorbeikam, erinnerten sie ein wenig an eine Stadt aus einem Computerspiel. So viel Grau und Glas, so viel Rollrasen in schmalen Streifen dazwischen, der unnatürlich grün und dicht wirkte. Als hätte einfach jemand über Nacht einen Stadtteil gebaut.

Endlich kam sie auf dem Platz vor der Elbphilharmonie an. Sie hatte gehört, dass es Jahre gedauert hatte, diesen modernen Prunkbau fertigzustellen. Und als sie hochsah – es waren über hundert Meter bis ganz oben –, konnte sie verstehen, warum Touristen aus aller Welt kamen, um die modernste Oper der Welt zu bewundern. Sie sah in echt noch viel beeindruckender aus als in den Fernsehreportagen oder Nachrichten.

So kalt und ungemütlich und vor allem einschüchternd groß Hamburg Luzia im Gegensatz zu ihrer Heimatstadt vorkam, sie freute sich darüber, endlich mal wieder etwas Neues zu wagen.

Anscheinend gab es viele Menschen, die von der Aufmerksamkeit des berühmten Gebäudes noch etwas abzapfen wollten. Postkartenstände, Buden mit Franzbrötchen oder Fischbrötchen, mehrere Pantomime und ein Seifenblasenkünstler bevölkerten den Platz ebenfalls. Selbst einen Weihnachtsmarkt gab es, doch Luzia konnte sich kaum vorstellen, dass er nur halb so schön war wie der in Himmelstadt.

Am meisten faszinierte sie der Seifenblasenkünstler. Mit großen Augen beobachtete sie, wie ihr melonengroße Seifenblasen entgegen schwebten. Es wurden immer mehr! Wie hatte sie es doch als Kind geliebt, den geheimnisvollen Kugeln hinterherzulaufen. Den Regenbogenschimmer im Sonnenlicht zu bewundern. Blasen platzen zu lassen! Als die riesengroße Seifenblase vor ihren Augen immer noch nicht zersprang, wich sie ihr aus.

„Mensch! Können Sie nicht aufpassen!“ Hinter sich hörte sie eine männliche Stimme. Luzia spürte etwas Nasses an ihrer Hand. Allerdings etwas ziemlich Warmes. Das war mit Sicherheit nicht die Seifenblase. Außerdem roch es nach Kaffee.

Sie sah auf dem Boden einen Coffee-to-go-Becher liegen. Der Pfütze nach zu urteilen, war nicht mehr viel drin. Dennoch hob sie den Becher auf und schaute einem Mann in die Augen, der offensichtlich sehr schlecht gelaunt war. Dabei hätte er richtig nett aussehen können, wenn er nicht so verbissen geschaut hätte. Braune, dichte Locken, in denen sich schon vereinzelt ein paar graue Härchen versteckten. Braune Augen, die aussahen, als hätte er mehr als einen Kaffee verloren. Er war ziemlich groß, sehr schlank und schick gekleidet. Garantiert auf dem Weg zur Arbeit. Hoffentlich waren keine Kaffeeflecken auf seinem Mantel.

„Entschuldigung. Ich habe Sie nicht gesehen!“, antwortete Luzia und wich einer weiteren Seifenblase aus. Der Seifenblasenkünstler zwinkerte ihr zu, als hätte er mit seiner Seifenblase Amor gespielt. Luzia fand das weniger lustig und warf dem Spaßvogel einen grimmigen Blick zu.

„Davon gehe ich aus, dass Sie das nicht extra gemacht haben, aber in dieser verdammten Großstadt muss man eben die Augen aufmachen! Meine Güte, woher kommen Sie denn, dass ein paar Seifenblasen Sie so aus dem Konzept bringen …“, murrte er weiter und schaute enttäuscht in den Kaffeebecher.

„Aus Himmelstadt“, hätte Luzia beinahe geantwortet. Da sie sich aber nicht als echtes Landei outen wollte, ließ sie es.

„Und woher kommen Sie, dass Sie ein umgeschütteter Kaffee so aus dem Konzept bringt, dass Sie eine fremde Frau so anmotzen müssen?“, konterte Luzia. Was bildete der sich eigentlich ein? Sie war hier in Hamburg, um einem Jungen zu helfen und der erste Mensch, der – nach der Rezeptionistin in der Pension – in dieser Stadt mit ihr sprach, fuhr sie dermaßen unfreundlich an.

„Das kann ich Ihnen gerne sagen! Ich habe eine schreckliche Nacht hinter mir und einen schrecklichen halben Arbeitstag und wollte nichts anderes als noch schnell einen Kaffee trinken, bevor ich zum nächsten Termin muss!“, schimpfte er und wischte sich tatsächlich ein paar Kaffeetropfen vom Mantel weg.

„Es tut mir wirklich leid!“ Luzia kramte in ihrer Jackentasche nach Kleingeld. „Ich hole Ihnen einen neuen Kaffee, okay?“, fragte sie auch noch, obwohl eine Entschuldigung nun wirklich gereicht hätte. Aber sie wollte es gutmachen. Irgendetwas rührte sie an diesem Mann … Als wäre so viel Freundlichkeit in seinem Herzen, die aber nur hinauskonnte, wenn ihm selbst mehr davon entgegengebracht wurde.

Und tatsächlich lächelte er sie an.

„Das Angebot nehme ich gerne an. Aber nur, wenn wir den Kaffee im Sitzen trinken. Noch ein Missgeschick kann ich heute nicht verkraften.“

Luzia stutzte einen Moment. Mit einem fremden Mann einen Kaffee trinken? Das hatte sie noch nie getan. Aber vielleicht wäre das eine gute Übung, um später einen wildfremden Mann mit einem außergewöhnlichen Anliegen anzusprechen. Immerhin war sie deswegen hier. Außerdem war es kalt, sie war die ganze Zeit unterwegs gewesen und hatte außer ihrer weihnachtlichen Mission nicht viel vor.

„Warum nicht?“, antwortete sie deshalb und ließ sich von dem Unbekannten in ein nahe gelegenes Café führen.

Die Decken waren viel höher als in den meisten Gebäuden in ihrer Heimatstadt. Dennoch wirkte der riesige Raum gemütlich, weil er gekonnt moderne Architektur mit altertümlichen Einrichtungselementen verband. Weißer Stuck auf hellblauer Tapete, goldene Spiegel, Rahmen und Lüster verzauberten den Raum genauso wie die gewaltige Kuchentheke. Ansehnliche Torten, Gebäck und Cupcakes türmten sich dort, die jeden Foodblogger verzückt hätten. Und das Schönste war ein Adventskranz, der von der Decke hing. Er war so riesig, dass er nicht einmal auf Luzias Küchenboden gepasst hätte.

Der Mann folgte ihrem Blick an die Decke.

„Der ist wirklich gigantisch, oder? Ich frage mich, wer da morgens mit der Leiter hochklettert, um die Kerzen anzuzünden!“

Das war das Auffälligste an dem Kranz: Er hatte nicht die üblichen vier Kerzen, sondern eine ganze Menge, die in Laternen geschützt waren.

„Es sind vierundzwanzig Kerzen“, sagte er, als er ihren verwunderten Blick bemerkte. Vierzehn Kerzen brannten schon. Heute war der 14. Dezember. Dann zog er einen Stuhl an einem gemütlichen Fenstertisch hervor und nahm ihr die Jacke ab. Luzia war seit Ewigkeiten nicht mehr von einem Mann so an einen Tisch geführt worden. Dabei war sie es doch, die etwas gutzumachen hatte! Dennoch genoss sie es.

„Ich bin übrigens Sebastian.“ Er reichte ihr die Hand, die trotz der Kälte draußen angenehm warm war.

„Ich bin Luzia“, stellte sie sich vor. Einen Moment schauten sie sich verlegen an, doch dann kam die Kellnerin auch schon an den Tisch und nahm die Bestellung auf.

„Sie kommen nicht von hier, oder?“, fragte Sebastian, worauf Luzia versuchte, jede Art von Dialekt zu vermeiden.

Luzia schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nur zu Besuch. Und Sie leben hier?“

„Ja, ich lebe in Hamburg. Eine tolle Stadt. Ich möchte hier nicht mehr weg.“ Er sagte es fast so, als müsste er sich das selbst einreden. Luzia bemerkte eine Unsicherheit in seinem Blick und wollte nicht weiter darauf eingehen.

„Wenn Sie nicht aus Hamburg kommen, müssen Sie die Gelegenheit nutzen und in diesem Café ein Franzbrötchen essen. Hier gibt es weit und breit die allerbesten! Schön fluffig und zimtig und nicht zu süß. Ich bestelle uns welche, in Ordnung?“

Eigentlich hatte er keine Zeit, aber da er genau wusste, dass in dem Meeting sowieso nur über die anstehende Weihnachtsfeier diskutiert wurde, beschloss er, seine Pause zu überziehen.

Luzia nickte. Sie hatte wirklich Appetit auf etwas Süßes, und sie war gerne in der Gesellschaft dieses Mannes. Und wenn diese Zeit um ein Franzbrötchen verlängert wurde, umso besser.

„Wussten Sie, dass der Adventskranz in Hamburg erfunden wurde? Und dass er zu Beginn immer vierundzwanzig Kerzen hatte?“ Sebastian zog seinen Mantel aus und hängte ihn über seinen Stuhl. Luzia entdeckte einen winzigen Kaffeefleck auf seinem weißen Hemd. Ob sie ihn darauf aufmerksam machen sollte? Lieber nicht, dachte sie. Er würde wohl kaum nach Hause fahren, um ein neues Hemd anzuziehen. Und mit Reinigungsversuchen würde es nur schlimmer werden.

„Sie lächeln mich so geheimnisvoll an, als wäre es Ihr Ururgroßvater gewesen, der Mitte des 19. Jahrhunderts den Adventskranz erfunden hat“, sagte Sebastian. Sie fand ihn umso attraktiver, je länger sie sein fein geschnittenes Gesicht betrachtete. Obwohl sie das überhaupt nicht wollte. Es war lange her, dass ihr überhaupt aufgefallen war, dass ein Mann gut aussah. Abgesehen von Colin Firth, dessen Filme sie sich gern mit Eva auf dem Sofa ansah.

„Da muss ich passen. Ich freue mich einfach über diese überraschende Einladung in dieses zauberhafte Café. Normalerweise bin ich es, die serviert. In meinem eigenen Café, das zwar viel kleiner, aber genauso zauberhaft ist“, sagte Luzia stolz. Die Kellnerin stellte zwei dampfende Kaffeepötte und zwei Franzbrötchen auf den Tisch.

„Ich dachte, Sie laden mich ein“, antwortete er frech. Luzia spürte, wie die Röte in ihre Wangen stieg und dem Rouge bestimmt Konkurrenz machte. Dieser Mann brachte sie völlig durcheinander.

„Ja, natürlich, immerhin habe ich Sie um den Kaffee gebracht.“ Insgeheim war sie froh über ihr Missgeschick. So unbeschwert hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Dieser Mann wusste nichts von ihrer Krankheit und schaute sie also auch nicht voller Mitleid an. Zum Glück, sie konnte das nämlich gar nicht ausstehen, denn sie hatte in solchen Situationen immer das Gefühl, den anderen auch noch beruhigen zu müssen.

„Und das ist das Beste, was mir diese Woche passiert ist.“ Er lächelte, aber das konnte die Traurigkeit in seinen Augen nicht verbergen. Luzia gingen diese Worte durch Mark und Bein. Verlegen griff sie zu dem süßen Gebäck und biss ein Stück ab. Es schmeckte himmlisch.

„Dann muss es eine ziemlich schlimme Woche gewesen sein“, antwortete sie verlegen.

„Das war es in der Tat. Wo liegt denn Ihr Café?“, fragte er, als hätte er nie eine Andeutung gemacht, die sie in Verlegenheit bringen konnte.

„Ziemlich weit weg“, antwortete sie vage.

„In Bayern?“, fragte er und nahm noch einen Schluck von dem Kaffee.

„Wie kommen Sie darauf?“ Luzia hoffte, er konnte nicht auch noch Gedanken lesen.

„Ihr Dialekt kommt mir bekannt vor“, sagte er achselzuckend.

Sie war hin- und hergerissen; sie konnte ihm gleich die hübsche Visitenkarte ihres Cafés in die Hand drücken, aber vielleicht wirkte das auch zu aufdringlich. Luzia hatte nicht das Gefühl, dass dieser Mann so anders sprach als sie, aber sie hatte auch bisher den typischen Hamburger Dialekt noch nicht gehört. Und wer sprach heute überhaupt noch in landesüblichem Dialekt? Kaum jemand! Und sie doch schon gar nicht!

„Okay, Sie haben richtig geraten. Ich komme aus Bayern“, antwortete Luzia schließlich und schaute aus dem Fenster. Es begann zu regnen, doch kaum einer spannte einen Schirm auf, als wären die paar Tropfen nicht der Rede wert. Zu Hause lag inzwischen bestimmt eine noch dickere weiße Decke auf allem. So nett es hier mit Sebastian war, sie vermisste ihre Heimat jetzt schon.

„Und was treibt Sie mitten in der Hochsaison für gemütliche Kaffeestunden so weit weg?“, fragte Sebastian.

„Eine geheime Mission …“ Sie lächelte ihn verschwörerisch an.

„Ich mag Geheimnisse. Weihen Sie mich ein?“, fragte er und warf einen Blick auf seine edle Armbanduhr.

Sie überlegte, ob sie ihm tatsächlich von dem traurigen Brief erzählen sollte. Vielleicht kannte er Johann und seinen Vater sogar? Oder das Architekturbüro Weller & Partner? Aber Hamburg war riesig, solche Zufälle gab es doch nicht mal in Geschichten! Und er sollte sie auch nicht für verrückt halten.

„Eine wirklich hübsche Uhr“, sagte Luzia stattdessen und biss sich auf die Lippen. Warum sagte sie nicht einfach, dass die geheime Mission auch geheim bleiben sollte?

„Danke, die hat mir meine Frau mal geschenkt“, antwortete er in einem Ton, als wäre das nicht weiter wichtig.

Luzia war in dieser Hinsicht altmodisch. Mit einem verheirateten Mann Kaffee trinken zu gehen, war grenzwertig für sie. Vor allem, wenn es einer war, in den sie sich irgendwann möglicherweise verlieben könnte – und das könnte sie in diesem Fall bestimmt, wenn sie noch mehr Zeit mit ihm verbringen würde. Vielleicht liebte er diese Art von Geheimnissen! Vielleicht hatte er deshalb sofort die Gelegenheit genutzt, mit ihr ins Café zu gehen, weil er auf … Ja, auf was überhaupt aus war? Dass ihm diese Woche noch nichts Besseres passiert war, als sie zu treffen, war für Luzia ein eindeutiger Flirtversuch. Auf den sie auch noch voll eingegangen war! Aber vielleicht hatte er wirklich einfach eine schlechte Woche hinter sich und genoss es, mal mit einer fremden Person unbeschwert zu plaudern?

„Apropos Uhr, ich muss jetzt dringend los.“ Mehr brachte Luzia nicht heraus, und auch das klang etwas unbeholfen. Sie nahm ihre Geldbörse aus der Jackentasche.

„Lassen Sie mich das machen. Sie können mich ja gerne beim nächsten Mal einladen“, bot er ihr an. So gerne Luzia Ja gesagt hätte, so sicher war sie sich, dass es kein nächstes Mal geben durfte. Vielleicht war er gar nicht mehr mit seiner Frau zusammen? Aber dann hätte er doch Ex-Frau gesagt! Und die Uhr mit Sicherheit nicht mehr angezogen!

Luzia hatte sogar jedes einzelne Buch verschenkt, das sie von ihrem Ex bekommen hatte, weil die Erinnerung an die gescheiterte Beziehung zu sehr schmerzte.

Also holte Luzia einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

„Nein, nein, ich übernehme, schließlich habe ich Ihren Kaffee verschüttet. Und diesen Fleck da auf Ihrem Hemd verursacht.“ Sie lehnte sich vor und zeigte auf den winzigen braunen Fleck neben dem weißen Kragen. In dem Moment hob auch er überraschend seine Hand und deutete darauf. Einen Augenblick lang berührten sich ihre Finger. Luzia zog ihren zurück, obwohl die Berührung ihr gefiel.

„Ach der!“ Sebastian lachte unbekümmert. „Das war mein Sohn heute Morgen mit seinem Kakao. Der ist ihm umgekippt und muss wohl bis hierhin gespritzt haben. Aber das habe ich leider erst im Büro gemerkt.“

Auch noch ein Familienvater, schoss es Luzia durch den Kopf. Jetzt verbot sie sich endgültig, mit ihm einen weiteren Kaffee zu trinken.

„Und ich dachte schon, ich wäre das gewesen“, antwortete sie und zog sich den Mantel über, bevor er ihr wieder dabei helfen konnte. Ein Pärchen kam Hand in Hand auf sie zu und zeigte auf den Tisch.

„Dürfen wir?“, fragte der Mann.

Das Café war so voll, dass es keinen freien Platz mehr gab. Luzia nickte.

„Wann fahren Sie denn wieder?“, fragte Sebastian Luzia, während sie das Café verließen. Luzia kam das Stimmengewirr um sie herum auf einmal unerträglich laut vor.

„Übermorgen“, antwortete sie mit fester Stimme.

„Also wenn Sie noch etwas Gesellschaft wünschen, dann rufen Sie mich gerne an“, er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche, die Luzia in ihre Jackentasche steckte, ohne sie überhaupt anzusehen. Sie bedankte sich, obwohl sie vorhatte, ihn niemals anzurufen.

„Es war sehr schön mit Ihnen, Luzia. Ich freue mich auf ein Wiedersehen.“ Er gab ihr die Hand.

„Ja, vielen Dank, das Franzbrötchen war fantastisch.“ Bewusst lenkte sie von allzu Persönlichem ab, sie wollte sich distanzieren. Trotzdem schüttelten sie einander zwei Sekunden länger die Hände als üblich.

Und genau deshalb zerknüllte Luzia die Visitenkarte in ihrer Tasche, als Sebastian in die andere Richtung abgebogen war, und warf sie in den nächsten Mülleimer.

Diesen Mann wiederzutreffen, wäre falsch, auch wenn sie in diesem Moment nichts lieber getan hätte als das.

Luzia war guter Dinge, obwohl es ihr einen kleinen Stich versetzte, dass dieser Mann verheiratet war und die beiden ihr schönes Treffen deshalb niemals wiederholen würden. Sie war schließlich in Hamburg, um Johann ausfindig zu machen. Schnell öffnete sie die Navigations-App und machte sich zu Fuß auf den Weg zu dem Architekturbüro Weller & Partner, das offenbar ganz um die Ecke war.

Als Luzia vor dem einschüchternd hohen Klinkerbau stand, musste sie sich ein Herz fassen, sich mit in die Drehtür einzuordnen. Zuerst ließ sie ein paar andere Menschen vor, die alle im Anzug oder Kostüm in dem Gebäude verschwanden. Hoffentlich würde sie in ihrer Jeans, dem taubenblauen Wollmantel und der bunten Strickmütze überhaupt in das Architekturbüro hereingelassen? Vielleicht hätte sie auch das Grau oder Schwarz wählen sollen, das hier fast jeder trug.

Egal, dachte sie, Johanns Situation ist noch viel schlimmer als das hier! Er wartet auf die Hilfe des Christkindes und vermisst nicht nur seine Mutter und Großeltern, sondern auch noch seine Heimat. Mehr als abwimmeln kann mich hier keiner, sagte sie sich und wusste nicht, ob ihr Herzklopfen und der Schweiß auf der Stirn von dem flotten Spaziergang oder der Aufregung kamen.

Als sie durch die Drehtür geschlüpft war, sah sie sich in der beeindruckenden Eingangshalle um. Auch hier hätte halb Himmelstadt reingepasst. Na ja, zumindest das Postamt. Sie schmunzelte und drückte den Knopf vor den Aufzügen. Das Architekturbüro war tatsächlich hier. Und zwar in der fünften Etage.

Sie vermied es, im Aufzug auf die verspiegelte Wand zu schauen, da sie immer noch die Hitze in ihren Wangen spürte – sie war bestimmt knallrot im Gesicht. Sie würde heute Abend einfach ganz früh ins Bett gehen und sich an der Rezeption vorher eine Kanne Tee bestellen. Vielleicht würden ihre merkwürdigen Symptome bis morgen verschwinden.

In der fünften Etage angekommen, schritt sie über den Marmorboden und stand tatsächlich vor der Tür des Architekturbüros. Johanns Brief hatte sie in der Handtasche und hoffte, diesen nur im Notfall zeigen zu müssen. Schließlich wollte sie den kleinen Jungen vor der Neugier anderer Menschen schützen.

Sie drückte auf die Klingel und betrat den Raum, in dem sich eine ausladende Theke befand, die sie an die Praxis in München erinnerte, in der sie damals die schreckliche Diagnose bekommen hatte. Die Empfangsdame dahinter wirkte ähnlich mütterlich wie die Frau in der Arztpraxis, die einen trotz schlimmer Nachrichten immer so herzlich angelächelt hatte.

„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Ja, das wäre toll, da ich in einer etwas heiklen Mission hier bin.“

„Sie sind aber nicht vom Bauamt?“, fragte die ältere Dame ganz direkt. An ihrem Kaschmirpulli trug sie ein Namensschild: Hanne Albrecht / Weller & Partner.

„Nein, ganz im Gegenteil, ich bin privat hier.“ Luzia seufzte und fasste sich ein Herz. „Ich arbeite ehrenamtlich in einer Weihnachtspostfiliale und beantworte die Briefe ans Christkind. Und einer dieser Briefe wurde auf dem Briefpapier dieses Büros geschrieben.“

Die Dame lachte kurz auf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand hier noch an das Christkind glaubt. Das tun ja selbst meine Enkel nicht mehr.“

Luzia sah die Fotos an der Wand, die allesamt moderne Gebäude zeigten. Auf einem Sideboard stand ein filigranes Modell aus weißer Pappe. Machte die Frau sich über sie lustig? Wirkte sie vielleicht lächerlich in ihren bunten Klamotten und dem verrückten Anliegen?

„Normalerweise suche ich keinen Absender persönlich auf, aber in diesem Fall ist es mir wirklich wichtig!“ Nun holte sie doch Johanns Brief aus der Tasche und faltete ihn auseinander. „Dieser Junge möchte das Christkind auf die Probe stellen und hat deshalb auf den Absender verzichtet.“ Luzia hielt der Frau den Brief vor die Nase.

Autor

Kim Henry
Kim Henry ist das Pseudonym des deutsch-dänischen Autorinnen-Duos Nicole Wellemin und Corinna Vexborg. Corinna und Nicole lernten sich 2011 in einem Hobby-Schriftstellerforum kennen und stellten bald fest, dass sie die Leidenschaft für romantische Geschichten mit Happy End teilen. Seither lassen sie das Internet zwischen der dänischen Insel Fünen und dem...
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Anna Keller
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Lilli Wiemers
<p>Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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