Schenk mir dein Lächeln

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Dr. John Griffin ist Schwester Polly ein Rätsel: Für seine kleinen Patienten im Angel’s hat er immer ein Lächeln übrig, ihr jedoch zeigt er die kalte Schulter. War es ein Fehler, sich von ihm zum Dinner einladen und zu einer zärtlichen Liebesnacht verführen zu lassen?


  • Erscheinungstag 24.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728151
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Polly Seymour hastete in die Eingangshalle des Angel Mendez Children’s Hospital, von allen liebevoll nur Angel’s genannt, und eilte über den spiegelblanken Marmorfußboden. Ausgerechnet heute an ihrem ersten Tag als Krankenschwester in der Orthopädie hatte die U-Bahn von der Lower East Side bis zum Central Park länger gebraucht. Und Polly wollte an diesem Montag auf keinen Fall zu spät kommen.

Um sich nicht in einen der überfüllten Fahrstühle zwängen zu müssen, entschied sie sich fürs Treppenhaus. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie hinauf in den sechsten Stock. Dabei ging ihr durch den Kopf, was sie in der letzten Woche bei der allgemeinen Einführung in den Organisationsablauf des Krankenhauses gelernt hatte. Oberster Grundsatz: Das Angel Mendez Children’s Hospital weist nie ein Kind ab.

Eine Philosophie, mit der sie gut leben konnte.

Sie hatten ja sogar sie akzeptiert, ein Mädchen, das von Tanten und Onkeln immer nur mitleidig „die arme Polly“ genannt wurde. Im Angel’s war sie jedoch mit offenen Armen aufgenommen worden.

Atemlos stürzte sie in den Flur, rannte weiter und dabei einen Mann im Arztkittel über den Haufen. Oder beinahe. Athletisch gebaut wie ein Football-Spieler, mit kurzem braunen Haar, in dem sich viele attraktive silbergraue Strähnen zeigten, blieb er stehen wie ein Baum, fasste sie bei den Schultern und bewahrte sie dadurch vor einem peinlichen Sturz.

„Vorsicht, Küken“, sagte er und klang wie ein bärbeißiger Cowboy aus einem Clint-Eastwood-Streifen.

Zutiefst verlegen holte sie bebend Luft. „Verzeihen Sie, Dr. …“ Sie blickte von den braunen Augen hin zu seinem Namensschild. „Dr. Griffin.“ Ach, du Schande, stand da wirklich Ltd. Chefarzt Orthopädie? Dann war er ihr Boss. Auch das noch!

Der erste Eindruck zählt, hieß es doch immer. Und den hatte sie gründlich verdorben. Ohne ihm eine weitere Gelegenheit zu geben, sie „Küken“ zu nennen – für wie alt hielt er sie? Dreizehn? – deutete sie auf die Automatiktüren zur Station und ließ ihn mit einem zerknirschten „Entschuldigung …“ stehen.

An der Schwesternstation zog sie den Riemen der Umhängetasche über den Kopf, schälte sich aus ihrer Jacke und deponierte beides, Jacke und Tasche, schwungvoll auf dem Tresen. „Ich bin Polly Seymour. Ich fange heute hier an. Ist Brooke Hawkins da?“

Die junge Frau mit den unzähligen winzigen Zöpfchen, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug, hob den Kopf, sah Polly mit ihren großen schokoladenbraunen Augen an, lächelte gezwungen und zeigte den Flur hinunter. „Die lange Rothaarige“, gab sie knapp Auskunft und tippte weiter Laborwerte in den Computer ein.

Polly raffte ihre Sachen zusammen und flitzte zu der Stationsschwester. Brooke begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln, und das nervöse Flattern in Pollys Magen legte sich ein wenig.

„Sie sind früh dran“, meinte Brooke nach einem Blick auf ihre Uhr. „Ich habe Sie nicht vor sieben Uhr erwartet.“

„Ich wollte die Übergabe nicht verpassen, und außerdem habe ich keine Ahnung, wo ich meine Sachen unterbringen oder meine Arbeitszeit eingeben soll“, stieß sie hastig hervor, immer noch außer Atem.

„Kommen Sie.“ Die Stationsschwester deutete auf eine Tür, zu der der Weg leider an dem hochgewachsenen Arzt vorbeiführte. „Wie ich gesehen habe, sind Sie unserem Chef schon in die Arme gerannt. Buchstäblich“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Polly legte eine Hand an die linke Schläfe, um ihr Gesicht vor dem Mann zu verbergen, der einige Schritte entfernt stand und sie immer noch betrachtete. „Ich glaube, er hat mich für eine Patientin gehalten.“

„Hat er Sie angelächelt?“

„Ja.“

„Dann hat er auf jeden Fall gedacht, Sie wären eine Patientin. Mitarbeiter lächelt er nie an.“

Eine Stunde später stand Polly in einem Vierbettzimmer, um bei jedem Kind die Vitalzeichen zu kontrollieren, als eines von ihnen herzzerreißend zu weinen anfing.

Polly blickte über die Schulter. „Was ist los, Karen?“ Das kleine Mädchen hatte Sichelfüße gehabt, eine Fußfehlstellung, bei der die Zehen und der Mittelfuß nach innen gewölbt waren. Jetzt trug sie beide Beinchen in Gips, verbunden mit einer Metallstange, damit ihre Füße in genau der richtigen Position blieben.

Karen brüllte aus Leibeskräften, und Polly nahm sie aus dem Gitterbett. Mit dem Gips wog die Kleine gut zehn Pfund mehr. „Honey, was hast du denn?“, murmelte Polly und strich ihr beruhigend über den Rücken.

Ohne Ergebnis. Das Geschrei wurde noch lauter, und Polly versuchte es mit Singen. Aber auch das muntere Kinderlied half nichts. Womit konnte sie die Kleine noch ablenken?

„Oh, sieh mal! Sieh mal da!“ Sie stellte sich mit ihr ans Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Central Park hatte. „Wie schön, siehst du?“ Hoffnungsvoll zeigte sie auf die prachtvollen grünen Bäume, von denen einige selbst Ende Juni noch mit weißen und rosa Blüten bezauberten.

„Nein!“ Wild schüttelte Karen den Kopf und plärrte weiter.

Polly setzte sich das Mädchen auf die Hüfte, soweit der Gips es zuließ, und hüpfte mit ihr durchs Zimmer. „Hoppe, hoppe, Reiter …“, sang sie. „Hüh, Pferdchen, hüh!“

„Nein hüh!“, protestierte ihr Schützling ungnädig und bekam einen Schluckauf.

„Dann fresse ich dich!“ Polly tat, als wollte sie ihr in die Schulter beißen. „Rrrr, Rrrr!“

„Nicht fressen, nein, nicht fressen!“

„Ich will auch reiten!“, verlangte Felicia, die Fünfjährige mit dem Gipsarm.

Polly tanzte zu dem Bettchen in der Zimmerecke. „Hörst du, Karen, Felicia will reiten.“

Aber Karens Kummer schien ansteckend zu sein, denn jetzt weinten beide Mädchen. Weder die albernen Grimassen noch die lustige Kinderlieder, die Polly zum Besten gab, konnten die Welle der Traurigkeit, die das Vierbettzimmer überschwemmte, aufhalten. Auch Erin in Bett C, deren rechter Arm in einer Schlinge lag, stimmte in das Geheul mit ein. Nur das Mädchen in Bett D schlief seelenruhig.

Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Kind schreiend seinen Unmut kundtun würde.

„Hallo, hallo!“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Als sie sich verwundert umdrehte, entdeckte sie Dr. Griffins breitschultrige Gestalt an der Tür. Er griff in seine Kitteltasche, förderte eine Hand voll bunter Gummischlangen zutage und wedelte damit herum. Dann fing er an zu schielen, spitzte die Lippen und stieß einen trompetenden Laut aus, als wäre ein Elefant im Anmarsch.

Polly konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen. Blitzschnell blies er gelbe und grüne Gummischlangen auf und formte sie zu einem Schwan. Alle Kinder waren so fasziniert, dass sie prompt aufhörten zu brüllen und den Magier im weißen Kittel mit großen Augen anstarrten.

„Bitte schön, Karen. Hier hast du einen neuen Freund zum Spielen“, sagte Dr. Griffin.

Zu Pollys Erstaunen nahm Karen das Geschenk mit einem glücklichen Lächeln entgegen. Wären da nicht die Tränenspuren auf den nassen Wangen gewesen, niemand hätte vermutet, dass sie noch vor wenigen Minuten ergreifend geschluchzt hatte.

„Ich auch!“ Felicia streckte den gesunden Arm aus.

Dr. Griffin ging zu ihr ans Bettchen und tätschelte ihr die Hand. „Welche Farbe möchtest du?“

„Rot.“

„Möchtest du eine Krone oder ein Äffchen?“

„Beides!“

Sekunden später trug Felicia eine rote Ballonkrone und gab ihrem lila Äffchen einen quietschenden Kuss.

Als Dr. Griffin Polly ansah, blitzten seine dunklen Augen triumphierend. Der Mann strahlte einen rauen Charme aus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Im Handumdrehen hatte er zwei weitere Luftballons aufgeblasen und sie geschickt zu lustigen Tieren geformt. Eins reichte er dem dritten Kind, das zweite legte er auf die Bettdecke des schlafenden Mädchens.

Auf dem Weg zur Tür blieb er bei Polly stehen, die Karen gerade wieder ins Bett gelegt hatte, und blies einen letzten Ballon auf. Ein himmelblaues Schwert entstand, das er Polly in die Hand drückte. „Nutzen Sie das, wenn Sie mal wieder Ihren Tag retten wollen.“ Zufrieden sah er sich um. Alle Kinder waren ruhig und friedlich. „So macht man das.“

Sie hätte schwören können, dass er es sich gerade noch verkniffen hatte, sie wieder „Küken“ zu nennen.

Er verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, und Polly kam sich mit dem blauen Ballonschwert in der Hand ein bisschen albern vor. Aus dem Flur drangen Stimmen herein, die eines Jungen und seiner Krankenschwester.

„Ich hab keine Lust, laufen zu üben“, beschwerte er sich.

Auch hier übernahm Dr. Griffin sofort. „Wetten, du traust dich nicht, noch zehn Schritte zu schaffen, Richie?“, sagte er aufmunternd. „Mal sehen, wer von uns schneller an der Wand da ist.“

War das wirklich der Mann, von dem alle behaupteten, er würde nie lächeln?

Leicht beschämt bei dem Gedanken daran, wie großartig der grimmige Doktor mit Kindern umging, widmete sich Polly ihren Pflichten. Sie verteilte Medikamente und badete drei ihrer vier Patientinnen. Am frühen Vormittag kam die Spieltherapeutin und nahm ihr Karen und Felicia für eine Stunde ab. Inzwischen war auch Erins Mutter gekommen, sodass sich Polly ganz auf ihr Dornröschen Angelica konzentrieren konnte.

Die Kleine litt an der Glasknochenkrankheit und war zur Schmerzkontrolle stationär aufgenommen worden. Außerdem war sie infolge der Erkrankung schwerhörig, was sicher erklärte, warum sie inmitten des Chaos vorhin einfach weitergeschlafen hatte.

Polly beschloss, die Dreijährige schlafen zu lassen, und verließ das Zimmer, um ihre morgendlichen Notizen in den Computer einzugeben.

„Na, wie steht’s?“, fragte Darren, ein Pflegehelfer mittleren Alters, der seine grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Das verblasste Tattoo auf seinem Oberarm verriet, dass er früher bei der Marine gewesen war.

„Sehr gut. Und selbst?“

„Alles wie immer. Hart arbeiten, Kindern helfen, anständig verdienen und sich auf die freien Tage freuen.“

Polly war nicht gerade begeistert von der Stimmung, die auf der Station herrschte. Sicher, sie war von erfahrenen Pflegekräften umgeben, die gewissenhaft ihrer Arbeit nachgingen. Doch obwohl sich alle duzten, schien die Freude zu fehlen, die Begeisterung. Eine Atmosphäre, die Polly nur schwer ertrug. Sie selbst hatte früh gelernt, sich die Sonne ins Leben zu holen. Reine Überlebenstaktik. Irgendwann, so nahm sie sich vor, würde sie einen Weg finden, auch hier mehr Licht in den Laden zu bringen.

Eine Krankengymnastin kam vorbei, begleitete einen ungefähr Zehnjährigen, der sich mit seiner Gehhilfe abmühte. Polly winkte ihnen fröhlich zu. Die Physiotherapeutin nickte kaum merklich, doch der Junge war so sehr in seine Aufgabe vertieft, dass er nicht einmal aufblickte.

Was hatte jemand während der Einführung noch gesagt? Das Angel’s ist der freundlichste Ort der ganzen Stadt.

Wirklich?

Polly wandte sich an Darren. „Zeigst du mir, wie der Patientenlifter funktioniert? Ich muss eine Patientin wiegen und ihr Bett neu beziehen.“

„Klar.“

„Das ist nett. Danke!“

„Jetzt?“

„Was du heute kannst besorgen …“, antwortete sie munter, speicherte ihre Eintragungen und ging mit Darren zu ihrem Zimmer.

Behutsam hoben sie Angelica aus dem Bett. Stumm blickte die Kleine sie dabei an. Der normalerweise weiße Teil um ihre hübschen grauen Augen war bläulich verfärbt, auch eine Begleiterscheinung ihrer Krankheit.

„Kommst du aus New York, Darren?“, fragte Polly.

„Ja, hier geboren und hier aufgewachsen. Und du?“

„Aus Dover, in Pennsylvania.“ Lächelnd dachte sie an ihr Heimatstädtchen. „Unsere größte Berühmtheit erlangten wir, als wir während des Sezessionskriegs praktisch über Nacht von den Konföderierten eingenommen wurden.“

Darren, der in seiner Haltung immer noch etwas Militärisches hatte, schmunzelte und wirkte plötzlich ziemlich entspannt.

„Bloß nicht blinzeln, wenn du durch den Ort kommst, du könntest ihn verpassen.“ Mit selbstironischem Humor ließ sich das Eis schnell brechen. Die Erfahrung hatte Polly schon oft gemacht.

Und tatsächlich, Darren stimmte in ihr Lachen ein, sodass sie das befriedigende Gefühl hatte, einen Schritt weiter zu sein. Ich schaffe das, dachte sie. Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, und eines Tages würden die Kolleginnen und Kollegen wirklich miteinander reden und lachen.

Vergnügt begleitete Polly Darren zur Tür und setzte sich dann an den kleinen PC-Tisch mit dem Laptop, um weitere Notizen einzugeben.

„Hey, du … wie auch immer du heißt.“ Rafael, der Stationssekretär, lugte über den Rand seines Monitors. „Ich habe ein paar Laborergebnisse für dich.“

Rasch blickte sie nach links und nach rechts, um sich zu vergewissern, dass die Bahn frei war. Dann rollte Polly auf ihrem Schreibtischstuhl quer über den Flur zu Rafael. „Für mich? Wie schön. Ich liebe Post!“

Der Kollege sah sie an, als käme sie von einem anderen Planeten. Doch als Polly ihn strahlend anlächelte, besann er sich und ließ sich dazu hinreißen, ihr Lächeln zu erwidern. Zwar etwas argwöhnisch, aber immerhin.

„Nur für dich“, sagte er und drückte ihr einen Stapel Ausdrucke in die Hand. „Verlier sie nicht.“

Brooke trat zu ihr, während Polly die Unterlagen studierte. „Wie geht’s?“

„Großartig! Mir gefällt es hier. Natürlich ist das Angel’s ungefähr zehnmal größer als das Kleinstadtkrankenhaus, in dem ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe.“

„Wir sprechen hier von kontrolliertem Chaos – an guten Tagen. Ich sage dir nicht, wie wir es an schlechten nennen.“ Die große schlanke Frau lächelte.

Wieder fiel Polly etwas aus der Einführungsveranstaltung ein: Teamwork ist am Angel’s der Schlüssel zum Erfolg.

Hmm. Vielleicht sollten alle auf dieser Station noch einmal die Themen aus der Einführung auffrischen?

„Solange wir uns gegenseitig helfen, schaffen wir das schon, oder? Teamwork.“

Brooke blickte sich um. Jeder war mit irgendetwas beschäftigt und arbeitete stumm vor sich hin. Die Stationsschwester zog eine Grimasse. „Manchmal frage ich mich, ob wir vergessen haben, was das Wort bedeutet.“

Polly kam ein Gedanke. Sobald Brooke weitergegangen war, überzeugte sie sich, dass in ihrem Patientenzimmer alles in schönster Ordnung war, und ging zu einer Kollegin, die ziemlich hektisch und angespannt wirkte.

„Kann ich dir bei irgendwas helfen?“

Abwesend blickte die andere von dem Testgerät auf, in dem ein Streifen zur Blutzuckerbestimmung steckte. „Also …“, begann sie verdutzt, so als hätte man ihr noch nie in ihrem Leben Hilfe angeboten.

„Braucht jemand eine Bettpfanne? Soll ich einen Patienten ins Bad begleiten?“

Da leuchteten die honigbraunen Augen auf, und die Schwester strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du könntest meinen Patienten mit der Hüftfraktur in 604 fragen. Der braucht vielleicht eine.“

„Kein Ding“, entgegnete Polly und bekam noch den verblüfften Blick mit, bevor sie in Zimmer 604 eilte.

Ihre Mittagspause verbrachte Polly mit zwei Krankenschwestern und einem Atemtherapeuten im Personalraum. Wie sie hatten sich auch die anderen drei ihr Essen von zu Hause mitgebracht. Polly war schnell klar geworden, dass sie jeden Cent mindestens zweimal umdrehen musste, wenn sie hier in New York mit ihrem Geld auskommen wollte.

„Sind das Naturlocken?“ Die jüngere Kollegin deutete auf Pollys Haare.

Polly ließ die Schultern sinken. „Ja. Meistens machen sie mich wahnsinnig.“

„Ist das dein Ernst? Manche bezahlen einen Haufen Geld, um sich solche Locken machen zu lassen.“

„Und manche blättern ordentlich was hin, um sich die Haare glätten zu lassen“, sagte die andere Schwester.

„Tja, ich kann nur viel Miete bezahlen“, sagte Polly. Die Krankenschwestern und der Atemtherapeut grinsten und nickten zustimmend. „Deshalb vertraue ich meinem Haarband und hoffe, dass es mich nicht enttäuscht.“

Sie war schon lange davon überzeugt, dass es auf dem gesamten Globus keine widerspenstigeren Haare gab als ihre. Und als wäre das nicht schon ein Fluch, musste es auch noch aschblond sein. Spülwasserblond, sagte ihre Tante immer. Wie oft hatte sich Polly gewünscht, dass sie sich Strähnchen leisten könnte, warme apricotfarbene oder platinblond schimmernde. Und dazu einen modischen Haarschnitt. Ach, einmal schick aussehen.

Träume sind Schäume, dachte sie. Niemand würde auf die Idee kommen, Polly Seymour als schick zu bezeichnen, und ein Friseurbesuch war absolut nicht drin.

Sie biss in ihr Sandwich und stellte fest, dass ihre Tischgenossen stumm ihren Gedanken nachhingen. Die Stille erinnerte sie zu sehr an ihre Kindheit, als sie von einem Onkel und einer Tante zum nächsten Onkel und zur nächsten Tante geschoben wurde. Bei allen war sie nur aus Pflichtgefühl mehr oder weniger geduldet worden. Um sich die traurigen Gedanken vom Leib zu halten, fing sie ein neues Gespräch an.

„Geht ihr manchmal nach der Arbeit einen trinken? Ich weiß, ich habe gerade gesagt, dass ich mein Geld zusammenhalten muss, aber heute ist mein erster Tag, und … na ja, ich fänd’s ganz nett, euch alle besser kennenzulernen. Ihr wisst schon, nicht hier auf der Station. So mehr in zwangloser Atmosphäre.“

Der Blick, den ihr auch diese drei zuwarfen, war ihr inzwischen vertraut. Ungläubig, als käme sie von einem anderen Stern. „Ein, zwei Drinks, das kann ja nicht die Welt kosten“, fuhr sie fort. „Außerdem sind die U-Bahnen nicht mehr so voll, wenn wir ein bisschen später nach Hause fahren.“

„Ich kann mich nicht erinnern, wann wir zuletzt zusammen losgezogen sind.“ Die junge Kollegin schob sich einen Bissen Enchilada in den Mund.

„Haben wir das überhaupt jemals gemacht?“, fragte die andere und trank von ihrer Dosenlimonade.

„Soweit ich weiß, haben wir vor Urzeiten mal zusammen gefrühstückt, und da hat jeder etwas mitgebracht …“ Der Atemtherapeut kratzte sich am Kopf. „Ich hätte nichts gegen ein Bier nach der Arbeit. Wie sieht’s bei euch aus?“

„Tolle Idee.“ Polly tat, als hätte er die Sache ins Rollen gebracht. „Ich bin dabei.“

„Wo gehen wir hin?“ Eine dritte Krankenschwester hatte den Raum betreten und die letzten Sätze gehört.“

„Am besten zu O’Malley“, sagte die erste. „Sein Pub ist nur eine Straße weiter. Und montags soll es dort köstliche Chicken Wings geben. Lasst uns fragen, wer mitkommt.“

Auf einmal herrschte eine völlig andere Atmosphäre im Zimmer. Polly freute sich im Stillen darüber und beobachtete, wie die anderen über Lieblingsgetränke und Snacks plauderten, sich anlächelten, miteinander lachten.

Es fühlte sich jedes Mal wieder gut an, Menschen zum Lachen zu bringen, ihnen Freude zu machen. Diese Gabe war ihre Rettung gewesen, als sie unter mehr als trostlosen Bedingungen aufwuchs. Dunkelbraune Augen und eine Reibeisenstimme kamen ihr in den Sinn. „Und wer sagt Dr. Griffin Bescheid?“

Augenblicklich wurde es still. Polly sah von einem zum anderen. Jeder starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

„Was? Ihr ladet euren Chef nicht ein, wenn ihr euren Feierabend begießt?“

Eine Schwester räusperte sich. „Der will mit uns nichts zu tun haben.“

„Genau. Für den sind wir Luft. Wenn er uns nicht für seine Patienten bräuchte, würde er uns überhaupt nicht beachten.“

„Aber er genehmigt eure Gehaltserhöhungen, oder?“

Die Lippen fest aufeinandergepresst, nickten die Schwestern.

„Frag du ihn doch“, sagte die, die zuletzt hereingekommen war und sich gerade Suppe in der Mikrowelle aufwärmte. Die anderen lachten.

„Glaubt ihr, ich trau mich nicht?“

„Wer weiß?“ Die Kollegin kam mit ihrer Suppe an den Tisch und setzte sich. In ihren Augen blitzte es herausfordernd, als sie Polly ansah.

Aha, die erste Mutprobe. Mal sehen, ob die Neue sich an den griesgrämigen Boss heranwagt. Doch Polly hatte heute Morgen eine andere Seite an ihm kennengelernt. „Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen. Einer, der Luftballontiere für seine kleinen Patienten zaubert, kann nicht so schlimm sein“, sagte sie.

Statt zu antworten, warfen sich die vier anderen nur bedeutungsvolle Blicke zu. Finde es selbst heraus, schienen sie zu sagen.

Der Nachmittag verging, und Polly stellte erstaunt fest, wie aufgedreht alle waren, seit sie beschlossen hatten, sich nach der Arbeit noch zu treffen.

Brooke sprach sie sogar darauf an. „Das war genau die Injektion Begeisterung, die uns hier gefehlt hat. Du hättest den Spitznamen Pollyanna verdient“, spielte sie auf die Filmfigur des kleinen Mädchens an, das überall Freude und Optimismus verbreitete.

Polly verzog das Gesicht. „Bitte nicht.“ Auch wenn es netter war als Arme Polly

Um vier Uhr endete der Frühdienst, und ein neues Team übernahm die Patienten. Inzwischen hatte sich überall herumgesprochen, dass man noch ins O’Malley’s gehen wollte. Die halbe Belegschaft wollte mitkommen. Und nicht wenige von der Spätschicht machten lange Gesichter, weil sie auch gern dabei gewesen wären.

Nicht schlecht für den ersten Tag … Polly schlang sich ihre Jacke um die Hüften und verknotete entschlossen die Ärmel. „Okay, wir sehen uns in ein paar Minuten unten in der Halle.“

Sie hatte versprochen, Dr. Griffin einzuladen, und sie hielt ihre Versprechen. Immer.

Vor seiner Tür angekommen, holte sie tief Luft und hob die Hand.

Jemand klopfte an seine Tür. Unterbrach den Strom der Gedanken, die er heute immer wieder verdrängt hatte. Gäbe es nur einen Tag … Mehr wollte er nicht. Einen einzigen Tag, an dem ihn nicht die Erinnerungen an jenen Morgen vor dreizehn Jahren verfolgten. Wie hungrige Wölfe, bereit, ihn in Stücke zu reißen. Es klopfte zum zweiten Mal.

„Wer ist da?“, fragte er barsch.

Eine leise Stimme antwortete, flüsternd wie ein Kind, aber er verstand kein einziges Wort. Irritiert sagte er etwas lauter: „Herein!“ Dann warf er seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück.

Langsam wurde die Tür aufgeschoben. Als Erstes sah er große blaue Augen. Die blauen Augen. Sieh an, das Küken, dachte er. Die neue Krankenschwester, die er heute Morgen irrtümlicherweise für eine Patientin gehalten hatte. Zierlich, aber von einem sprudelnden Temperament, jung und voller Begeisterung. Jemand, der das Leben liebte – und das Letzte, was er am heutigen Tag gebrauchen konnte.

Schweigend blickte er ihr entgegen.

Als sie im Zimmer stand, eine Hand hinter dem Rücken verborgen, räusperte sie sich verhalten. „Hallo, Dr. Griffin.“

John rührte sich nicht. Natürlich hatte er davon gehört, dass man sich auf einen Drink nach Feierabend traf und der Neuzugang mit den strahlenden Augen den Stein ins Rollen gebracht hatte. Wie auch immer, das war absolut nicht sein Ding. Er hielt nichts davon, sich mit den Mitarbeitern zu verbrüdern. Abgesehen davon wäre heute der letzte Tag im Jahr, an dem er seinen Vorsatz über Bord werfen würde.

„Äh …“ Polly wagte sich einen winzigen Schritt vor. „Ein paar von uns gehen gleich zu O’Malley, auf ein Bier und Chicken Wings, wer mag, und …“ Sie wich seinem ungnädigen Blick aus, sah sich flüchtig um. „Nun ja, ich dachte … ich meine, wir dachten, vielleicht möchten Sie mitkommen?“

„Und warum sollte ich?“ Das kam selbst für seine Verhältnisse schroffer heraus, als er beabsichtigt hatte.

Sie inspizierte ihre Schuhe. „Um die Moral der Truppe zu stärken?“

„Moral? Inwiefern?“

„Weil man besser arbeitet, wenn man gern zur Arbeit kommt?“ Sie sah aus wie fünfzehn, wie sie so dastand mit ihren großen blauen Augen, den dichten dunkelblonden Locken, die ihr auf die Schultern fielen, den hinter dem Rücken verschränkten Händen. Trotz ihrer Unsicherheit hatte sie etwas Mutiges an sich.

„Und Sie sind das Opfer? Hat man Sie in die Höhle des Löwen geschickt, weil Sie neu in der Truppe sind?“

Autor

Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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