So nah und doch so fern

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ein Blick in die kalten Augen von Ricardo Emiliani, und Lucy weiß, dass sie niemals hätte zurückkehren dürfen: Weder in die luxuriöse Villa am See noch in die Arme ihres Exmannes, der sie für eine Betrügerin hält. Wird es ihr diesmal gelingen, ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen?


  • Erscheinungstag 26.05.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768744
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Endlich schwand die Hitze des Tages, die Luft kühlte langsam ab. In den länger werdenden Schatten des Abends steuerte Lucy das alte Ruderboot vorsichtig an den Strand der kleinen Insel und sprang heraus.

Das flache Wasser umspülte ihre Zehen und Knöchel. Die Hosenbeine ihrer Jeans hatte Lucy aufgerollt, damit sie sich nicht voll Wasser saugen würden, während sie das Boot an Land zog. Nervös kaute sie an ihrer Lippe, als der Rumpf über den Sand knirschte. Ob das jemand gehört hatte?

Sie durfte jetzt nicht ertappt werden. Bis zum Haus war es noch weit. Wenn einer von Ricardos Sicherheitsleuten Alarm schlug, hatte sie schon verloren, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte. Man würde sie, ohne Aufsehen, zum italienischen Festland zurückbringen, zu der ärmlichen Pension, in der sie für diese Woche untergekommen war, da sie sich nichts anderes leisten konnte.

In dieser enorm wichtigen Woche.

Falls sie überhaupt in Italien bleiben konnte. Wenn Ricardo erst herausfand, dass sie wieder zurück war, würde er wahrscheinlich sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um sie aus dem Land ausweisen zu lassen. Aus dem Land und aus seinem Leben, ein für alle Mal. Allerdings glaubte er, das hätte er bereits erreicht.

„Oh, Himmel!“

Sie merkte, dass sie die Luft anhielt, und zwang sich, wieder bewusst zu atmen. Mit einer Hand strich sie sich die blonden Strähnen zurück, die sich aus dem Band gelöst hatten, während ihre blauen Augen unstet die Gegend absuchten. Falls jemand das Knirschen im Sand gehört hatte, dann wäre er doch schon aus dem Haus gekommen, oder?

Ganz bestimmt. Also musste sie jetzt sicher sein. Lucy holte ihre Segelschuhe aus dem Boot und setzte sich ins Gras, um sich den Sand von den Füßen zu wischen und die Schuhe anzuziehen.

Sie wünschte, sie könnte das Boot weiter an Land ziehen. Vielleicht sollte sie es mit Blättern und Ästen zudecken, bis es nicht mehr zu sehen war? Aber dazu war sie nicht stark genug, und das nervöse Hämmern ihres Herzens drängte sie dazu, schnell weiterzugehen.

Nun, da sie schon einmal hier war, konnte und wollte sie es nicht länger hinauszögern. Sie hatte alles lange geplant und alles sorgfältig vorbereitet. Als ihr Brief an Ricardo ungeöffnet an den Absender zurückgekommen war, da wusste sie, dass es keinen anderen Weg gab. Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen.

Lucy hatte es auf die höfliche Art versucht, auf die zivilisierte Art und war dennoch eiskalt zurückgewiesen worden. Sie hatte an Ricardos gutes Herz appelliert, aber scheinbar besaß er so etwas gar nicht – zumindest nicht, was sie anbetraf.

Also sah sie sich gezwungen, heimlich herzukommen, wie ein Dieb in der Nacht. Sie hatte die Stelle auf der Insel angesteuert, die der einzig mögliche Schwachpunkt in Ricardos dichtem Sicherheitsnetz war. Hier konnte man sich unter den dichten Büschen verstecken, die über den See hingen. Sie war auch nicht gerudert, sondern gepaddelt, um so wenig Geräusche wie nur möglich zu machen. Bis an Land hatte sie es geschafft, ohne gesehen worden zu sein, jetzt konnte sie nur beten, dass das Glück sie nicht verließ, bis sie das Haus erreichte.

Sie musste bittere Tränen verdrängen, als sie zu der großen neugotischen Villa hinaufschaute, die auf der Hügelkuppe stand. Sorgfältig angelegte Terrassenbeete, begrenzt mit Naturstein, zogen sich über den Hang, eine gewundene Steintreppe führte den Hügel hinauf zu dem weißen Haus, das einst ein Kloster gewesen war, später dann als Palast gedient hatte. Im Glas der großen Fenster brachen sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, am Ende des Westflügels reckte sich der hohe steinerne Turm in den Himmel. Lucy wusste, dass man von den Fenstern der Villa San Felice auf die blauen Wasser des Gardasees blickte. Im Südosten erstreckte sich die Provinz Verona, im Westen Brescia. Direkt davor lag San Felice del Benaco, das der Insel und der Villa seinen Namen verliehen hatte.

Dieser wunderbare Ort, diese fantastische Villa waren einst ihr Zuhause gewesen.

Jetzt nicht mehr. Schon seit Monaten nicht mehr. Es hatte sich auch nie wirklich wie ein Zuhause angefühlt, die ganze Zeit über nicht, die sie hier gelebt hatte.

Trotz des warmen Abends erschauerte Lucy bei diesen Erinnerungen. Sie hatte hier gelebt und sich doch nie heimisch gefühlt.

„Ich kann’s nicht“, murmelte sie vor sich hin. „Ich kann es einfach nicht.“

Abrupt schüttelte sie den Kopf, um die entmutigenden Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich dem stellen, musste es schaffen. Denn die Villa barg nicht nur die Erinnerungen an die schlimmsten Monate ihres Lebens, sondern auch das eine, das ihr das Wichtigste auf der Welt war. Das ihrem Leben einen Sinn gab.

Sie folgte dem ausgetretenen Pfad zu dem kleinen hölzernen Tor, das in die Privatgärten der Villa führte. Als sie es vorsichtig öffnete, quietschten die rostigen Angeln.

Oh bitte, lass es niemanden hören, dachte sie und eilte im Schatten des üppigen Buschwerks über das Gras. Gerade hatte sie sich tiefer in die Büsche zurückgezogen, als sie über sich eine Tür gehen hörte. Das waren die Glastüren, die vom großen Salon auf die Terrasse hinausführten. Jene Türen, durch die sie vor nicht ganz sieben Monaten geflohen war, ohne sich umzuschauen, aus Angst, jemand könnte erkennen, was sie vorhatte, und sie aufhalten.

„Buona sera …“

Die Stimme, die vom Haus zu ihr drang, ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen. Ricardo. Nur ein Mann besaß diese dunkle, leicht raue Stimme, die jeder Silbe etwas Lockendes verlieh.

Wie oft hatte sie nicht ihren Namen von ihm mit dieser Stimme ausgesprochen gehört, mit den verschiedensten Betonungen? Heiter und amüsiert, verächtlich und wütend. Und auch in fiebriger Leidenschaft, voller Bewunderung. Er hatte sie seine Lucia genannt, seine Liebe, sein Leben …

Seine Frau.

Ihr Herz zog sich zusammen, als sie sich an den Stolz erinnerte, der in der Stimme von Ricardo Emiliani mitgeschwungen hatte, wenn er sie so nannte.

„Meine Frau“, hatte er gesagt, als er ihre Hand fasste und sie vom Altar wegführte, wo der Priester sie soeben zu Mann und Frau erklärt hatte. „Mia moglie.“

Und sie hatte sich in diesem Titel gesonnt, hatte es geliebt, wenn man sie mit Signora Emiliani ansprach. Sie hatte alle Zweifel tief begraben und die Rolle der glücklichen Braut gespielt, für die alle Träume in Erfüllung gegangen waren, hatte gelächelt, bis ihr die Wangen schmerzten.

Während sie doch die ganze Zeit über die Wahrheit ahnte – aus welchem Grund Ricardo sie geheiratet hatte.

Liebe hatte dabei nie eine Rolle gespielt.

„Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn Sie mehr herausfinden …“

Da war wieder die einst geliebte Stimme. Aber wieso sprach Ricardo Englisch und nicht Italienisch? Mit wem?

Furcht einflößende Bedenken meldeten sich in Lucy, sie könnte vielleicht einen fatalen Fehler gemacht haben. Sie war aus ihrem Versteck hervorgekommen und hatte sich mit Ricardo in Verbindung gesetzt. Und durch ihren Brief, selbst wenn sie diesen aus drängender Verzweiflung geschrieben hatte, würde Ricardo auch wissen, wo sie sich aufhielt. Und Ricardo, als unermesslich reicher, unermesslich mächtiger Mann, würde diese Information mühelos einsetzen können, um mehr herauszufinden. Er brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, und schon stand ihm eine ganze Armee von Leuten zur Verfügung, die sie suchen würden und …

Und was?

Was sollte ein Mann schon tun, der ihr ins Gesicht gesagt hatte, dass die Heirat mit ihr der größte Fehler seines Lebens war?

„Ich wünsche die Angelegenheit so schnell wie möglich erledigt zu wissen.“

„Natürlich, ich mache mich sofort an die Arbeit. Die Dokumente werden Ihnen morgen zur Unterschrift vorliegen.“

Die Stimme des anderen Mannes brachte Lucy zurück in die Wirklichkeit. Fast hätte sie laut aufgelacht. Wieso sollte Ricardo irgendetwas mit ihr zu tun haben wollen? Er hatte sie gehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Niemand war ihr nachgekommen und hatte versucht, sie in das Haus zurückzuschleifen. Die Tatsache, dass ihr Brief ungeöffnet zurückgekommen war, sprach deutlicher für sich als alle Worte.

Verträge und Unterschriften, natürlich. Was anderes sollte Ricardo im Kopf haben als den Handel mit teuren Luxusautos? Mit ihr wollte er nichts mehr zu tun haben. Er würde ihr nie vergeben, was sie getan hatte. Er war froh, dass sie aus seinem Leben verschwunden war, und so sollte es seinem Wunsch nach auch bleiben.

Sie zog sich tiefer ins schützende Gebüsch zurück, als er die Terrassenstufen hinab in den Garten stieg. Auch wenn er in die entgegengesetzte Richtung ging, raubte ihr doch allein seine Präsenz den Atem. Reglos verharrte sie mit hämmerndem Herzen und starrte auf seinen Rücken.

Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, da war er auch von ihr weggegangen. Ihr erster Eindruck hatte aus der stolzen Haltung seines schwarz schimmernden Schopfes, den breiten gebräunten Schultern, schmalen Hüften und endlos langen Beinen in ausgewaschenen Jeans bestanden. Ihr Mund war trocken geworden, als sie das Spiel seiner Muskeln bei jedem Schritt mitverfolgt hatte. Auch damals war er barfuß gewesen, nichts hatte darauf hingedeutet, wie reich und mächtig er war.

Sie hatte sich schon halb in ihn verliebt gehabt, bevor sie überhaupt wusste, wer er war.

Heute trug er ebenfalls Jeans, aber dazu ein weißes Polohemd. Doch sie wusste, was sich unter dem Hemd verbarg. Wie oft hatte sie die Finger über die samtene Haut darunter gleiten lassen, hatte das Zucken der Muskeln als Antwort auf ihre kühnen Zärtlichkeiten an den Fingerspitzen gespürt. Wie oft hatte sie nicht die Fingernägel in seine Rückenmuskeln gegraben, fiebrig und voller Gier, bis seine Leidenschaft sie über die Klippe hinaus in die Ekstase getrieben hatte …

Nein! Daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie durfte sich nicht daran erinnern, wie es mit ihm gewesen war. Nur aus einem einzigen Grund war sie hier.

Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Einen Moment lang meinte sie, es sich nur eingebildet zu haben, weil sie sich so sehr danach sehnte, es zu hören. Doch dann ertönte der Laut ein zweites Mal – ein leises Weinen, gedämpft, als würde es gegen etwas Weiches ausgestoßen werden.

Ihre Welt glitt aus den Angeln, der Boden wollte sich unter ihr auftun, ihr schwindelte. Sie fasste nach einem tief hängenden Ast, musste sich festhalten …

Sie schluckte schwer und blinzelte. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie sah, dass Ricardo etwas in seinen Armen hielt, auf das er konzentriert hinunterschaute.

„Schh, caro …“

Diese Stimme, so sanft, so voller Zärtlichkeit …

„Zeit zum Schlafen, figlio mio …“

Großer Gott!

Mio figlio

Ricardo hatte sich leicht gedreht, sodass Lucy einen besseren Blick hatte. Jetzt konnte sie sehen. Und was sie sah, versetzte ihr Herz in ein wildes Schlagen, als wollte es ihr aus der Brust springen.

Sie sah das kleine Bündel, das er auf seinen Armen hielt, sah den Schopf schwarzen Haars, das kleine Köpfchen, das sich vertrauensvoll in die kräftige Armbeuge schmiegte.

Natürlich, warum auch nicht? Der kleine Junge war sicher in den Armen seines Vaters.

Einst hatte sie befürchtet, dass er in den Armen seiner Mutter niemals sicher sein würde.

„Oh, Marco …“

Ihre Sicht verschwamm, als brennende Tränen in ihre Augen stiegen. Der Schmerz, der an ihrem Herzen zerrte, wollte sie schier zerreißen. Erschreckt stellte sie fest, dass ihr Arm sich wie von allein ausstreckte. Nicht nach dem Mann, der noch immer mit dem Rücken zu ihr stand und nichts von ihrer Anwesenheit ahnte. Nein, nach dem Kind, das er hielt. Der Grund, warum sie hier war. Der Grund, weshalb sie bereit war, sich Ricardos Rage und Hass zu stellen.

Sie hatte geglaubt, ihren Mann nie wiederzusehen. Mit diesem Gedanken hatte sie sich abgefunden. Aber sie hatte sich nie damit abfinden können, das Baby nicht mehr zu sehen, das sie von ganzem Herzen liebte, auch wenn sie nicht stark genug gewesen war, den kleinen Jungen so zu lieben, wie er es verdient hatte.

Ricardos Sohn – und ihrer.

Ihr Sohn.

2. KAPITEL

Ihr Sohn war nur wenige Meter von ihr entfernt.

Nie zuvor hatte der Ausdruck „so nah und doch so fern“ mehr Sinn besessen. Nie zuvor war diese Wahrheit grausamer gewesen. Marco war Lucy so nah, dass sie nur zwei, drei Schritte zu machen brauchte, und sie würde ihn ansehen können, sehen können, wie sehr er gewachsen war, wie sehr er sich verändert hatte in der Zeit, die sie nicht hier gewesen war.

Sie könnte ihn halten und …

Nein! Dieser Traum ging viel zu weit. Ricardo würde ihr nie erlauben, ihren Sohn zu halten. Und tief in ihrem Innern wusste sie auch, dass sie selbst es kaum würde ertragen können. Wie sollte sie nach all der langen Zeit eine Verbindung zu ihrem kleinen Jungen aufbauen? Sie wusste doch, was die ganze Welt von ihr dachte, einschließlich Ricardo – welche Mutter würde ihr Baby aufgeben, sich einfach umdrehen, gehen und ihr Kind allein beim Vater zurücklassen?

Eine lange Zeit war vergangen, bevor sie akzeptiert hatte, dass sie krank gewesen war. Die Ärzte sagten, jetzt sei sie geheilt. Aber sie fühlte es nicht, nicht mit ihrem Herzen.

Lucy wusste nur, dass sie dieses grausame „So nah und doch so fern“ nicht aushielt, ebenso wie sie sich nicht zu erkennen geben konnte.

Sie fühlte sich, als würde sie in tausend Stücke zerrissen, und doch war es der Grund, weshalb sie hergekommen war, weshalb sie sich durch den Sicherheitsgürtel geschlichen hatte – um ihren kleinen Sohn zu sehen.

Doch nicht so, nicht, wenn Ricardo sie mit seinen kalten Augen vernichtend ansehen würde. Darauf war sie einfach nicht vorbereitet.

Schwankend wandte sie sich ab. Nicht mehr darauf achtend, wohin sie trat, schlug sie die Richtung zum Ufer ein. Sie konnte nur hoffen, dass sie das Boot erreichte, bevor sie zu Boden stürzte und sich vor Schmerzen heulend wie ein Tier wand.

Ein trockener Ast knackte unter ihren Füßen, das Geräusch durchschnitt störend laut die abendliche Stille. Lucy versteifte sich und wartete auf das Unvermeidliche.

„Wer ist da?“ Jetzt klang Ricardos Stimme scharf, ganz anders als vorhin noch, als er mit dem Baby gesprochen hatte.

Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und nachzusehen, ob er sie bereits erblickt hatte. Stattdessen lief sie weiter, bahnte sich einen Weg durch das Gebüsch, in der Hoffnung, nicht erkannt zu werden.

„Halt!“

Diesem Befehl würde sie ganz bestimmt nicht folgen …

„Marissa! Hier …“

Schon hörte Lucy flinke Schritte – weibliche Schritte – auf den Steinstufen.

„Nehmen Sie Marco.“

Das waren die letzten Worte, die Lucy vernahm. Panisch spurtete sie los, stieß Äste und Zweige aus dem Weg, die sie aufhalten wollten. Sie konnte nur daran denken, dass sie zum Boot gelangen und über den See zurück zum anderen Ufer rudern musste. Alles, nur sich nicht einem wütenden Ricardo stellen.

„Halt!“

Wie konnte er schon bereits so dicht hinter ihr sein? Er hatte doch gerade erst das Baby an Marissa – das Kindermädchen – übergeben. Und doch hörte sie seine schweren Schritte hinter sich.

„Giuseppe … Frederico …“

Während er rannte, sprach er in sein Handy, das sagte ihr ein hektischer Blick über die Schulter zurück. Eine Folge knapper harscher Anordnungen in Italienisch wurde in die Muschel gestoßen, und das Adrenalin raste durch ihre Adern.

Er rief seine Sicherheitsleute, die dafür sorgten, dass niemand ungebeten die Insel betrat und seine Privatsphäre störte. Oder seinen Sohn bedrohte. Jetzt setzte er seine Bluthunde auf sie an.

Sie kannte diesen Ton aus der gemeinsamen Zeit mit ihm. Einem Eindringling war es gelungen, die Sicherheitsbarriere zu durchbrechen. Seine Leute hatten versagt. Für Versagen brachte Ricardo Emiliani nicht das geringste Verständnis auf. Schon bald würden Köpfe rollen.

Einem wütenden Ricardo wollte Lucy nicht unter die Augen treten. Sicher, sie war hergekommen, um mit ihrem Mann zu reden, aber sie hatte das Überraschungsmoment als ihren Vorteil eingeplant. Jetzt jedoch hatte sich alles geändert. Marco so unerwartet zu sehen, hatte ihr den schwachen Schutzschild aus der Hand geschlagen und sie zutiefst aufgewühlt. Sie musste hier fort, musste sich erst wieder sammeln und neue Kraft finden, bevor sie einen neuerlichen Versuch wagen konnte.

Das Ufer war nicht mehr weit. Wenn sie die letzten Reserven aus sich herausholte, konnte sie es schaffen. Ob sie aber das Boot ins Wasser schieben und davonrudern konnte, war eine ganz andere Frage …

„Hab ich dich!“

Eine Hand kam mit Wucht auf ihrer Schulter nieder. Sie stolperte, wurde zurückgerissen, fiel hart gegen die Brust des Mannes hinter sich. Der Aufprall ließ auch ihn straucheln, dennoch lockerte er den Griff an ihren Armen nicht, die Umklammerung wurde nur noch fester, dann riss er sie herum.

„Wer zum Teufel bist du?“

Lucy konnte nicht antworten, sie brachte keinen Ton hervor. Ihre Zunge klebte am Gaumen, ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Aber sie brauchte auch nicht mehr zu antworten. Ricardo hatte sie erkannt.

„Du!“

Es kostete sie jede Unze ihrer Kraft, um ihn anzusehen. In seine Augen konnte sie dennoch nicht blicken, ihr grauste vor der Verachtung, die sie darin lesen würde.

„Ja, ich“, brachte sie brüchig hervor.

Das jäh einsetzende Schweigen zerrte an ihren sowieso schon so schwachen Nerven. In dem verzweifelten Wissen, dass er es nicht brechen würde, zwang sie sich dazu, etwas zu sagen, ihm zu zeigen, dass er nicht die totale Kontrolle über die Situation hatte.

Buona sera, Ricardo.“

Das Zischen, mit dem er die Luft durch die Zähne stieß, und der Griff seiner Finger, der jetzt schmerzhaft fest wurde, sagten ihr, dass sie ihn überrumpelt hatte. Es ließ sie den Kampf erahnen, den er mit sich um Beherrschung focht.

„Lucia …“

Nur ihr Name, mehr sagte er nicht. Oder besser, die italienische Form ihres Namens, die außer Ricardo niemand benutzte. Der Name glitt ihm über die Zunge und hätte ebenso Liebkosung wie auch das warnende Zischeln einer angriffslustigen Schlange sein können. Es war die Ungewissheit, die sie dazu brachte, ihren Blick auf seine Augen zu richten, und das dunkle Eis, das sie darin erkannte, ließ sie schaudern.

„Lucia.“ Er wiederholte ihren Namen, dieses Mal konnte kein Zweifel daran bestehen, wie er es meinte. Gift spritzte aus jedem einzelnen Laut. „Was zur Hölle willst du hier?“

Sag ihm ja nicht die Wahrheit. Kein Wort über Marco. Wenn du ihm diese Waffe in die Hand gibst, wird er sie gnadenlos einsetzen.

„Ich habe dich gefragt, was du hier …“

„Was glaubst du denn, was ich hier will?“ Von irgendwoher holte sie die Kraft, um die Worte auszusprechen, um sogar noch einen Anflug von Trotz in ihre Stimme zu legen und das Kinn rebellisch anzuheben, auch wenn sie sich alles andere als mutig fühlte. Sicher, sie gab sich den Anschein, in sein Gesicht zu sehen, doch stattdessen schaute sie bewusst durch ihn hindurch, sodass sie nur einen hellen Fleck in der Dunkelheit sah. „Ganz bestimmt nicht, um unsere Ehe zu kitten.“

„Als wenn ich das annehmen würde.“ Sein Ton war rau, doch absolut kontrolliert. Nicht der Anflug eines Gefühls war aus seinen Worten herauszuhören. „Unsere Ehe ist vorbei. Das war sie eigentlich schon, bevor sie angefangen hat.“

Und zwar von dem Moment an, als er sie beschuldigt hatte, ihn absichtlich mit einer Schwangerschaft zur Heirat erpresst zu haben, um auf diese Art an sein Vermögen zu kommen. „Nun, immerhin in einer Hinsicht sind wir uns einig.“ Ansatzweise versuchte sie, sich aus seinem Griff freizumachen, was diesen jedoch nur noch eiserner werden ließ.

„Das ist es also nicht, grazie a Dio. Was dann?“ Nach und nach erholte er sich von dem Schock, sie hier zu finden – die Frau, die er für den Rest seines Lebens nicht mehr hatte sehen wollen. Die Frau, die ihn zum Narren gemacht hatte. Die Frau, die er für immer verschwunden geglaubt hatte, zum Besten aller Beteiligten.

Autor

Kate Walker
Kate Walker wurde zwar in Nottinghamshire in England geboren, aber ihre Familie zog nach Yorkshire, als sie 18 Monate alt war, und deshalb sah sie Yorkshire immer als ihre Heimat an. In ihrer Familie waren Bücher immer sehr wichtig, und so lasen sie und ihre vier Schwestern schon als Kind...
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Sündige Nächte mit dem Milliardär