Stürmische Begegnung mit dem geheimnisvollen Millionär

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Eigentlich wollte Jessica den Leuchtturm nur für ein Kunstprojekt fotografieren. Doch als der düster-attraktive Besitzer des Anwesens sie unwirsch verjagt, ist ihre Neugierde geweckt. Welches Geheimnis hütet der Leuchtturm - und welches Schicksal verbergen die Schatten in den Augen des zurückgezogen lebenden Millionärs? Entschlossen macht sie sich auf die Suche nach Antworten - nicht ahnend, in welche Gefahr sie sich und ihr Herz damit bringt.


  • Erscheinungstag 29.12.2020
  • Bandnummer 262020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714635
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nur ein Blick auf den Leuchtturm war nötig, um zu wissen, dass sich die Suche gelohnt hatte. Seit Monaten hatte Jess nicht mehr gezeichnet. Kein Motiv erschien ihr gut genug, um es auf Papier zu bannen. Und jetzt stand sie hier vor dem alten Leuchtfeuer, dessen rote und weiße Streifen dringend einen neuen Anstrich benötigten. Unter ihr brachen sich die Wellen an der zerklüfteten Küste Neuschottlands, und der Wind umtoste den mächtigen Turm.

Sie überlegte, was sie so sehr an diesem Motiv rührte. Lag es daran, dass sie sich darin wiedererkannte? Ein bisschen angeschlagen vom Sturm des Lebens, einsam den Elementen trotzend?

Ihr Agent setzte sie unter Druck, endlich wieder eine Ausstellung in Angriff zu nehmen. „Deine letzte Präsentation war ein Riesenerfolg“, hatte er sie gedrängt. „Die Kunstwelt reißt sich um ein Original von Jessica Blundon.“

„Ich kann die Muse nicht herbeizaubern und auf Bestellung malen“, hatte sie entgegnet und sich dabei um einen lässigen Tonfall bemüht.

Tatsächlich malte sie gar nicht mehr. Seit Anas Tod war sie wie gelähmt, wenn sie ihre Pinsel nur ansah. Ana war ihre Mentorin gewesen und ihre beste Freundin. Die große Schwester, die sie nie gehabt hatte. Ana zu verlieren hatte sie in eine unermessliche Schaffenskrise gestürzt. Plötzlich war ihr Leben farblos und leer. Es gab niemanden mehr, der ihr wichtig war. Sie war allein.

Ein Jahr hatte sie um Ana getrauert und sich dabei viel zu sehr abgekapselt. Aber nun hatte sie beschlossen, sich nicht länger zu verkriechen, sondern zu sehen, was das Leben noch für sie bereithielt. Und nichts eignete sich dafür besser, als ihre Leidenschaft für die Kunst wiederzuentdecken.

Also hatte sie ihre Farben und die Leinwand hervorgeholt, sich an die Staffelei gesetzt und den Pinsel in die Farbe getaucht. Doch es war ihr nicht gelungen, den ersten Strich zu machen. Die Blockade war ein Schock für sie gewesen, und es hatte ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis sie es wenigstens geschafft hatte, wieder Skizzen anzufertigen.

Jess war auf Reisen gegangen, hatte Chicago und die Seen hinter sich gelassen und war weiter nach Westen gefahren. Seattle, San Francisco und schließlich an der Küste entlang bis nach San Diego. Am Pazifik war es wunderschön gewesen, gleichzeitig aber hatte sie begriffen, dass es nicht das war, was sie suchte. Es gab diesen einen Moment, in dem sie tief in sich spürte, wann der richtige Augenblick, das perfekte Motiv gekommen war. Der Golf von Mexiko war es definitiv nicht, auch wenn sie die Zeit dort genossen hatte. Sie war in New Orleans gewesen, hatte die Landzunge durchstreift und festgestellt, dass es ihr besser ging, je weiter sie nach Norden fuhr.

Also war sie weitergefahren – vorbei an South Carolina und den kleinen vorgelagerten Inseln zu den Stränden von New Jersey und an der zerklüfteten Küste von Maine entlang. Aus einer Laune heraus war sie in Bar Harbour auf die Fähre gestiegen und hatte nach Kanada übergesetzt. Mittlerweile war ihr Skizzenblock voll mit Zeichnungen von einsamen Buchten, farbenfrohen Häusern und dunklen Felsen, an denen die Wellen ihre Spuren hinterlassen hatten. Das milde Frühlingswetter hatte die Bäume zum Erblühen gebracht. Auch das hatte Jess auf Papier gebannt. All diese Motive waren schön – aber ihnen fehlte die echte Inspiration. Noch immer brannte sie nicht für das, was sie malte.

Und jetzt stand sie hier vor diesem Leuchtturm und spürte zum ersten Mal wieder das erregende Gefühl des richtigen Motivs. Ihr Herz schlug schneller, und ihr Blut pulsierte prickelnd durch ihre Adern.

„Das ist es, Ana“, murmelte sie. „Jetzt ist endlich der Zeitpunkt gekommen.“

Der heftige Wind zerzauste ihr Haar und blies durch die dünne Baumwollbluse. Der Mai war eindeutig nicht der wärmste Monat in Neuschottland, auch wenn die Sonne schon spürbar Kraft hatte. Sie musste sich unbedingt einen anderen Aussichtspunkt suchen, der windgeschützter war. Allerdings stand der Leuchtturm auf einer Klippe. Die einzige Möglichkeit, näher heranzukommen, führte durch das Tor, vor dem sie stand. Und auf diesem Tor prangte ein Schild mit der unmissverständlichen Aufschrift Privatgrundstück – Betreten verboten.

Von hier aus konnte sie das Haus nicht sehen, das offensichtlich links lag. Zum Leuchtturm dagegen ging es nach rechts hinunter. Trotzig schob Jess die Unterlippe vor, schulterte ihre Tasche und setzte vorsichtig einen Fuß auf die unterste Zaunlatte.

„Elektrisch geladen ist er nicht“, stellte sie fest, schwang sich mühelos über die Absperrung und landete mit einem Sprung auf der anderen Seite.

Nach ein paar Schritten lag das Wohnhaus vor ihr. Es war imposant, gleichzeitig aber wunderschön. Das Haus war aus grauem Stein, die Kanten mit Sandstein eingefasst, und es lag in einem Garten, der im Sommer vermutlich prächtig blühte. Vom Haus aus hatte man einen fantastischen Blick auf den Atlantik. Ein schmaler Pfad schlängelte sich bis zum Rand der Klippen. Jess fragte sich, ob es unterhalb der Felskante wohl einen Privatstrand gab.

Vielleicht würde sie später noch nachsehen, doch zuerst wollte sie sich auf dem Grundstück umschauen und zum Leuchtturm hinübergehen, um ein paar Fotos zu schießen und ein, zwei Skizzen anzufertigen.

Über den steinigen Pfad machte sie sich auf den Weg zu dem schmalen, hohen Bauwerk. Im nahe gelegenen Hotel, dem Strandläufer-Resort, hatte sie sich mit einer Mitarbeiterin angefreundet. Und von Tori kam auch der Tipp, hierherzufahren. „Es wird dir gefallen. Der Turm ist ein bisschen verfallen, aber das tut seinem Charme keinen Abbruch“, hatte sie gesagt. Jess erkannte sofort, was Tori gemeint hatte.

Die verwitterten Fensterläden brauchten dringend einen neuen Anstrich, die Türangeln waren rostig von der salzigen Luft. Ob sich die Tür überhaupt noch öffnen ließ? Nachdenklich schaute sie nach oben zum Leuchtfeuer. Funktionierte es noch und sandte allabendlich sein Signal hinaus aufs Meer?

Das Gebäude hatte einen ganz eigenen Charakter und schien geheimnisumwittert – genau das Motiv, das sie gesucht hatte.

Sie zog die Kamera aus der Tasche und fotografierte aus verschiedenen Perspektiven. Detailaufnahmen, Totalen mit dem tosenden Meer im Hintergrund, der Leuchtturm von unten. Der Atlantik war aufgewühlt, und es gefiel Jess, wie die Kamera die weißen Schaumkronen einfing und die Gischt, die über die Felsen spritzte.

Nachdem sie fertig war, wollte sie auch vom Haus ein paar Aufnahmen machen. Es wirkte zwar recht modern und gut erhalten, aber auch hier war zu spüren, dass die Bausubstanz den Elementen schon lange trotzte. Sie wandte sich um und wollte den Pfad zurück zum Haus nehmen, als sie direkt in ein Paar sehr wütend funkelnder Augen blickte. Der Mann, zu dem sie gehörten, sah zum Fürchten aus.

„Was tun Sie hier auf meinem Grundstück?“, wollte er mit scharfer Stimme wissen.

Er wirkte wie ein Einsiedler. Sein Alter war schwer zu schätzen, denn sein Haar war zerzaust und der Bart bedurfte dringend einer Rasur. Doch Jess schätzte ihn auf etwa vierzig. Das dunkle Hemd, das er trug, war zerknittert und etwas zu groß, die Jeans waren zerschlissen, und auch die Stiefel wirkten ziemlich abgenutzt. Alles in allem wirkte er nicht gerade vertrauenerweckend. Ganz offensichtlich war er verärgert und gab sich keine Mühe, es zu verbergen.

Trotzdem fand sie ihn auf seltsame Weise anziehend. Er war rau und ein bisschen geheimnisvoll, und seine Gesichtszüge waren durchaus attraktiv. Sie hätte ihn gern gezeichnet. Auf den zweiten Blick schien er auch nicht wirklich furchterregend, sondern nur grimmig.

„Entschuldigen Sie, ich habe nur ein paar Fotos von dem Leuchtturm gemacht.“

„Der Leuchtturm liegt auf meinem Grundstück“, wies er sie zurecht. „Ganz offensichtlich haben Sie das Schild gesehen und ignoriert.“

Dagegen ließ sich nichts sagen, schließlich hatte er recht. Allerdings war ihr nicht bewusst gewesen, dass auch der Leuchtturm zu seinem Privatgrund gehörte. Waren solche Seezeichen nicht eigentlich in staatlicher Hand? Wer besaß schon einen eigenen Leuchtturm?

Jess setzte eine möglichst schuldbewusste Miene auf. Wenn sie tatsächlich noch einmal zurückkommen wollte, um zu malen, musste sie an seine Hilfsbereitschaft appellieren. Falls er so etwas besaß.

„Es tut mir wirklich leid. Mir war nicht klar, dass der Leuchtturm auf Ihrem Land liegt. Verstehen Sie, ich bin Malerin. Jemand im Strandläufer-Resort hat mir den Tipp gegeben, mich hier einmal umzusehen. Natürlich wäre ich nicht hier herumgelaufen, wenn ich gewusst hätte, dass ich Sie damit störe.“

Wortlos verschränkte er die Arme vor der Brust.

Langsam wurde auch sie ärgerlich. War es denn so schlimm, was sie getan hatte? Noch einmal nahm sie einen Anlauf und bot ihm lächelnd die Hand.

„Mein Name ist Jessica Blundon.“

Doch er ergriff sie nicht. Stattdessen musterte er sie mit seinen dunklen Augen ungeniert von Kopf bis Fuß. Als er sie wieder direkt ansah, hielt sie seinem Blick stand. Wenn er sie einschüchtern wollte, war er bei ihr an der falschen Adresse. Abgesehen von seinen entsetzlichen Manieren fand sie ihn kein bisschen bedrohlich. Er war einer dieser Hunde, die bellten, ohne zu beißen.

Allerdings lag etwas in seinem Blick, auf das sie ansprach. Er wollte in Ruhe gelassen werden, und das respektierte sie, denn ihr war es lange genauso gegangen. Während sie sich fragte, was der Grund für seine abweisende Haltung sein mochte, ließ sie die Hand sinken.

„Nun, Miss Blundon, Sie sind hier widerrechtlich eingedrungen. Ich möchte Sie bitten, die Fotos zu löschen und hier zu verschwinden.“

Er verlangte allen Ernstes, dass sie die Fotos löschte?

„Ist das wirklich notwendig?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Ich meine, immerhin ist der Leuchtturm ja kein besonderes Geheimnis.“

„Es ist mein Leuchtturm, er steht auf meinem Grund und Boden, und darum werden Sie diese Fotos löschen.“ Damit zog er ein Mobiltelefon aus der Hosentasche. „Andernfalls werde ich die Polizei rufen.“

Nun überspannte er den Bogen wirklich, und jegliche Sympathie für ihn erlosch.

„Ich werde jetzt gehen und die Fotos behalten. Wenn Sie das verhindern wollen, müssen Sie mich schon selbst aufhalten.“

Entschlossen reckte sie das Kinn und sah ihn kampflustig an. Eine unerklärliche Spannung zog durch ihren Körper. Es war keine Angst, aber doch das Bewusstsein, diesem Mann hier draußen ausgeliefert zu sein. Mr. Einsiedel war ein undurchschaubarer Typ, und unter seiner rauen Schale war er durchaus attraktiv. Außerdem kam er ihr seltsam vertraut vor.

Er ließ den Blick über ihren Mund wandern, dann schaute er ihr wieder direkt in die Augen. Und zum ersten Mal war auf seinen Lippen der Anflug eines Lächelns zu erahnen. „Na dann, viel Glück“, gab er zurück. „Ich kenne Ihren Namen und weiß, in welchem Hotel Sie wohnen. Es wird also nicht besonders schwierig sein, Ihnen die Polizei auf den Hals zu hetzen.“

Er wollte die Polizei wegen einiger lächerlicher Fotos einschalten? Seufzend schaltete Jess die Kamera an. „Also gut, ich werde die verdammten Bilder löschen.“ Schweren Herzens verschob sie die ersten Motive in den Papierkorb. Es war die erste echte Inspiration seit zwei Jahren gewesen. Doch als sie den Mann noch einmal ansah, war ihr klar, dass er nicht scherzte.

„Sie könnten mir einfach die Speicherkarte geben.“

„Auf keinen Fall. Darauf sind noch andere Bilder. Ich lösche nur die, die ich hier geschossen habe, und keines mehr, Sie Vollidiot.“

„Ich bin schon schlimmer beleidigt worden“, gab er ungerührt zurück.

Frustriert löschte Jessica sämtliche Fotos vom Leuchtturm. Sie waren so schön geworden, dass sie innerlich jedes Mal fluchte, wenn sie auf die „Löschen“-Taste drückte. Kurz spielte sie mit der Idee, wenigstens ein paar Bilder zurückzuhalten, doch da streckte er schon auffordernd die Hand aus.

„Sie machen sich lächerlich“, murmelte sie verärgert, streifte aber den Halteriemen ab und reichte ihm den Apparat.

Er scrollte sich durch die verbliebenen Aufnahmen und gab ihr die Kamera zufrieden zurück. „Danke. Sie können jetzt gehen.“

So rüde des Grundstücks verwiesen zu werden hatte sie nicht erwartet. Unwillkürlich färbten sich ihre Wangen flammend rot. Wütend steckte sie die Kamera zurück in die Tasche. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sich ihr nicht einmal vorgestellt hatte.

Aufgebracht funkelte sie ihn an. „Es gibt keinen Grund, so unhöflich zu sein.“

Dann ging sie hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei. Sie bildete sich ein, ihn „Oh doch, den gibt es“ rufen zu hören. Doch als sie sich noch einmal umwandte, stand er mit dem Rücken zu ihr und sah hinaus aufs Meer.

Als sie an der letzten Wegbiegung angekommen war, konnte sie sich nicht zurückhalten und drehte sich noch einmal um. Er stand reglos am selben Fleck. Schon seine Haltung verriet, dass er aufgebracht war, aber auch einsam.

Hastig zog Jess die Kamera aus der Tasche, drückte ein einziges Mal auf den Auslöser und ging zu ihrem Wagen.

Bran spürte, dass sie gegangen war, und atmete tief durch.

Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und keine Menschenseele sehen. Die Monate in New York, in denen er sich hatte verstellen müssen, hatten ihn unendlich viel Kraft gekostet. Sobald er allein gewesen war, hatte er sich in seiner Trauer vergraben. Nur seine Freunde Cole und Jeremy hatten es gelegentlich geschafft, ihn aus dem tiefen Loch herauszuholen. Manchmal hatten sie sogar zusammen gelacht.

Doch sobald er nach Hause zurückgekehrt war, wo ihn so unendlich viele Dinge daran erinnerten, wie sein Leben gewesen war, hatte die Trauer mit aller Macht wieder Besitz von ihm ergriffen. Es hatte ihn zerrissen, jedes einzelne verfluchte Mal.

Als er angefangen hatte, zu viel zu trinken, war ihm klar geworden, dass er etwas ändern musste. Es hatte völlig harmlos mit Bier begonnen. Irgendwann war er auf Scotch umgestiegen, und zum Schluss hatte er alles getrunken, was er im Haus hatte. An diesem Punkt hatte er sich eingestanden, dass er das Haus mit all den Erinnerungen verkaufen und neu anfangen musste.

Jennie wäre wütend geworden, wenn sie gewusst hätte, dass er sich betrank, um seine Gefühle zu betäuben. Um Jennies Andenken willen hatte er sich zusammengerissen. Sie hatte Besseres verdient.

Dieses Haus in Neuschottland war nahezu perfekt für ihn. Manchmal kamen Jeremy und seine frischgebackene Ehefrau vorbei und verhinderten so, dass er vom Exzentriker zum völlig Verrückten mutierte. Hier kannte ihn niemand – und wenn, hängten sie es nicht an die große Glocke. Seine Lebensmittel ließ er sich nach Hause liefern, und auch die meisten anderen Dinge, die er brauchte, bestellte er online. So gab es keinen Grund, das Haus häufig zu verlassen.

An manchen Tagen verbrachte er Stunden damit, einfach aufs Meer hinauszuschauen und zu versuchen, einen Sinn in dem zu erkennen, was passiert war. Würde er jemals aufhören können, ständig darüber zu grübeln?

Wäre er jemals wieder in der Lage zu schreiben?

Anfangs war der Leuchtturm einer der Gründe gewesen, das Anwesen zu kaufen. Ihm hatte die Idee gefallen, ein eigenes Leuchtfeuer zu haben. Es war interessant und ungewöhnlich. Allerdings hatte er nicht mit den Massen an Touristen gerechnet, die sich von dem Leuchtturm angezogen fühlten. Sie kamen mit Kameras und Picknickkörben und … Vor einer Woche hatte er ein benutztes Kondom auf dem Grundstück gefunden. Konnten die Leute so etwas nicht wenigstens wieder einsammeln?

Heute hatte es ihm endgültig gereicht. Als er gesehen hatte, wie die Frau Fotos vom Leuchtturm gemacht hatte, hatte er noch überlegt, ob er deshalb wirklich seine Stiefel anziehen sollte. Doch als sie sich anschickte, auch das Haus zu fotografieren, war ihm der Kragen geplatzt.

Wenigstens hatten ihn die Reporter noch nicht aufgespürt, die ihn in New York ständig belästigt hatten. Doch auch das war nur eine Frage der Zeit. Zwar hatte die junge Frau nicht wie eine Journalistin oder eine Paparazza gewirkt, aber man konnte ja nie wissen.

Gedankenverloren sah er einer Möwe zu, die gegen den Wind ankämpfte, und seufzte. Sie hatte recht, er war ein Vollidiot. Das lag zum Teil daran, dass sie einfach über sein Grundstück getrampelt war, aber auch daran, dass ihm sofort aufgefallen war, wie hübsch sie war.

Sie dürfte Anfang dreißig sein, und in ihren blauen Augen funkelten goldene Streifen, die dunkler wurden, als er sie verärgert hatte. Ihre Nase zierten ein paar Sommersprossen, die sie jünger aussehen ließen. Doch er hatte auch ihren Kummer bemerkt. Und es hatte ihn noch wütender gemacht, dass er zu gern mehr über diese Frau gewusst hätte.

Während Bran zum Haus zurückkehrte, dachte er noch einmal über die Begegnung nach. Jessica Blundon. Der Name kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Vielleicht war sie doch eine Reporterin.

Er schloss die Haustür hinter sich, zog die Stiefel aus und ging direkt in sein Arbeitszimmer. Es war ein großer Raum mit einem halbrunden, komplett verglasten Erker. Den Kamin an der Längsseite hatte er im Winter oft genutzt, um die Feuchtigkeit zu vertreiben. Ein Bücherregal nahm komplett die gegenüberliegende Wand ein. Davor stand ein bequemes Sofa, das zum Lesen einlud.

Bran setzte sich an seinen Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch und öffnete die Suchmaschine.

Es war nicht schwierig, Jessica Blundon ausfindig zu machen. Der erste Hinweis führte auf ihre Website, der zweite zu einer Galerie in Chicago. Auf ihrer Internetseite gab es mehrere Presseberichte über ihre Ausstellungen und einen Katalog ihrer Bilder. Gespannt klickte er sich durch. Sie war gut. Richtig gut. Auf der Seite der Galerie fand er einen lobenden Artikel über eine Ausstellung vor … zwei Jahren. Zurück auf ihrer eigenen Seite, stellte er fest, dass auch diese zuletzt vor über einem Jahr aktualisiert worden war.

Malte sie nicht mehr? Oder hatte sie sich zurückgezogen, um ein größeres Werk zu vollenden?

Ein schmerzhaftes Gefühl durchzuckte ihn, und er begriff, dass er neidisch war. Er wusste nicht, ob er jemals wieder würde schreiben können. Sein Verlag hatte ihm signalisiert, er könne jederzeit ein Manuskript einreichen, wenn er wieder etwas veröffentlichen wolle. Offensichtlich hatte sein Verleger mehr Vertrauen in ihn als er selbst. Der einzige Grund, warum er nicht alles hinwarf, war sein Alter. Er war Ende dreißig. Was sollte er mit seinem Leben anfangen, wenn er nicht mehr schrieb? Zu wissen, dass ihm die Türen des Verlages offen standen, gab ihm einen Funken Hoffnung.

Und dann war plötzlich sie aufgetaucht mit ihrem zerzausten Haar, den leuchtenden Augen und den geröteten Wangen. Sie hatte sich nicht von ihm einschüchtern lassen.

Er war zu einem menschenverachtenden Monster geworden, und er hasste sich selbst dafür.

Gleichzeitig war er überzeugt, dass er es nicht besser verdiente.

Lustlos klappte Bran den Laptop zu und schob ihn beiseite. Er griff nach seiner Tasse. Der Kaffee war längst kalt, doch auch das spielte keine Rolle mehr.

Er hatte mit dem Alkohol aufgehört. Aber sonst hatte sich in seinem Leben nichts geändert. Und das machte ihm Angst.

Jessica ließ den Blick durch den Garten von Tori und Jeremy schweifen und seufzte zufrieden. Er hatte nicht die ungezügelte Wildheit von dem Grundstück, auf dem sie die Fotos am Leuchtturm gemacht hatte. Doch auch hier lag der Salzgeruch des Meeres in der Luft, und die üppigen Stauden sorgten für Farbkleckse.

Tori hatte sie zum Dinner eingeladen, und jetzt saßen sie draußen, lauschten dem Meeresrauschen und tranken Tee. Tori hielt ihr drei Wochen altes Baby im Arm, und die Kleine gab im Schlaf leise Töne von sich.

Jessica unterdrückte den Anflug von Eifersucht, der sie immer überkam, wenn sie glückliche Mütter sah. Auch sie hatte die Chance gehabt, eine Familie zu gründen, doch damals, mit fünfundzwanzig, war es ihr verlockender erschienen, durch die Welt zu reisen und zu malen.

Der Mann hatte nicht auf sie gewartet. Und sie hatte zum ersten Mal erlebt, was es bedeutete, ein gebrochenes Herz zu haben.

Jetzt war sie Anfang dreißig, und es war keine Beziehung am Horizont zu entdecken. Sie hatte angefangen zu akzeptieren, dass ihr offensichtlich keine Familie vorherbestimmt war. Vielmehr schien es so, als könnte sie keinen Menschen, der ihr wichtig war, halten. Denn letztlich blieb sie immer allein zurück. Sie hatte es satt, niemals die Früchte ihrer Liebe zu ernten. Ihr Herz war müde.

Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sie eine leichte Wehmut überkam, als sie Tori und ihr Baby beobachtete.

„Könntest du die Kleine kurz halten? Ich möchte eine Decke holen, damit sie sich nicht erkältet“, bat Tori in diesem Moment. Jess blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.

Mit ihrer zarten Haut und den dichten Wimpern sah die kleine Rose aus wie ein Porzellanpüppchen. Im Schlaf bewegten sich ihre Lippen saugend, und sie duftete himmlisch nach Baby. Staunend betrachtete Jess das kleine Bündel in ihren Armen. Sie liebte Babys.

Als Tori zurückkam, streckte Jess die Hand nach der Decke aus. Sie wollte Rose zu gern noch einen Moment im Arm halten.

„Sie schläft gerade so fest, und so kannst du mal einen Moment Pause machen“, erklärte sie.

„Du meinst, ich könnte meinen Tee ein einziges Mal trinken, während er noch heiß ist?“, erwiderte Tori lachend.

„Genau“, stimmte Jess in ihr Lachen ein. Liebevoll schlang sie die Decke um das Baby und lehnte sich zurück. „Danke noch einmal für eure Einladung zum Dinner. Das Essen im Hotel ist gut, aber selbst gekocht schmeckt es immer noch besser.“

„Es war doch nichts Besonderes“, wehrte Tori ab.

Sie hatten Salat, gegrilltes Hühnchen und Gemüse gegessen. Jetzt war Jeremy im Haus, weil er noch arbeiten musste, während die beiden Frauen den lauen Frühlingsabend genossen.

„Es war köstlich. Und ich hatte wirklich Hunger. Jemand hat mich so wütend gemacht, dass ich erst mal eine Runde am Strand laufen musste, um Dampf abzulassen.“

„Wer hat dich wütend gemacht? Hoffentlich niemand vom Personal?“, erkundigte sich Tori besorgt und beugte sich vor.

Zwar arbeitete Tori nicht mehr im Strandläufer-Resort, aber sie fühlte sich den ehemaligen Kollegen trotzdem noch eng verbunden. Bei Veranstaltungen half sie gelegentlich noch aus, und ihre Nachfolgerin durfte sie immer um Rat fragen. Bei einer solchen Gelegenheit hatten sich Tori und Jess kennengelernt, und sie waren gleich so intensiv ins Gespräch gekommen, dass sie beschlossen hatten, sich zum Lunch zu treffen.

„Nein, nein“, beruhigte Jess sie. „Du hattest mir doch von dem Leuchtturm erzählt, erinnerst du dich? Ich bin hingefahren und habe ein paar Fotos gemacht. Er ist wirklich spektakulär, da hast du nicht zu viel versprochen. Ich war wie elektrisiert. Das habe ich lange nicht erlebt. Bis der Eigentümer auftauchte. Mann, was für ein Idiot.“

Eigentlich hatte sie erwartet, dass Tori sich ebenso entrüsten würde wie sie selbst. Stattdessen sah die Freundin sie nur leicht belustigt an.

„Du bist also Bran begegnet?“

„Kennst du ihn? Ich meine, persönlich?“

„Er ist einer von Jeremys engsten Freunden.“

Erstaunt hob Jess eine Augenbraue. „Du hättest mich vorwarnen müssen. Was für ein Monster! Schwer vorstellbar, dass er nett sein kann.“

Doch schon als sie das aussprach, erinnerte sie sich an den Ausdruck der Verletzlichkeit in seinen Augen. Und im nächsten Moment drängte sich sein Bild in ihr Bewusstsein – das dichte, braune Haar, das vom Wind zerzaust wurde und ihn jungenhaft, beinahe schelmisch wirken ließ.

„Bran hat eine Menge durchgemacht. Er ist erst im Februar hierhergezogen. Das Haus ist wunderschön, nicht wahr?“

„Leider habe ich nicht viel von ihm gesehen. Nachdem ich ein paar Fotos vom Leuchtturm geschossen hatte, ist dieser Bran wütend aus dem Haus gestürmt, hat mich angebrüllt und gezwungen, alle Bilder zu löschen.“

„Normalerweise ist er nicht so unfreundlich“, meinte Tori stirnrunzelnd.

„Er war richtiggehend unverschämt.“ Jess seufzte. „Dabei wäre der Leuchtturm genau das Motiv gewesen, auf das ich so lange gewartet habe. Er hat mich sofort inspiriert. Wenn ich doch wenigstens ein einziges Foto hätte, könnte ich eine erste Skizze anfertigen.“

Genau genommen hatte sie eine Aufnahme – von Bran, wie er ihr den Rücken zuwandte und aufs Meer hinausblickte. Als sie im Hotel angekommen war, hatte sie sich das Foto genau angesehen und die Einsamkeit des Mannes förmlich gespürt.

Noch etwas anderes klickte plötzlich in ihrem Kopf. „Er heißt Bran, sagst du?“

„Branson“, erklärte Tori. Dann deutete sie mit einem Kopfnicken auf ihr Baby, das noch immer in Jessicas Armen schlief. „Soll ich die Kleine wieder nehmen?“

„Wenn es für dich okay ist, kann sie gern bei mir weiterschlafen.“

„Natürlich, umso entspannter bin ich.“ Tori machte es sich wieder in ihrem Sessel gemütlich.

Wieder und wieder dachte Jessica über den Fremden am Leuchtturm nach. Branson. Das dunkle Haar, diese Augen …

„Branson Black“, platzte sie dann atemlos heraus. „Das ist er, nicht wahr? Der Schriftsteller?“

Zögernd nickte Tori. „Hier im Ort weiß niemand, wer er ist, und das ist ihm ganz recht.“

„Er ist ziemlich bekannt. Aber er hat lange nichts mehr veröffentlich. Genau gesagt, seit …“

Sie überlegte kurz; jetzt erinnerte sie sich wieder an die ganze Geschichte. Er hatte nicht mehr geschrieben, seit seine Frau und sein kleiner Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

Nun passte alles zusammen. Seine selbst gewählte Isolation, die Trostlosigkeit, die harschen Umgangsformen. Er hatte sich in seiner Trauer vergraben, ein Gefühl, das Jess bestens nachvollziehen konnte. Voller Mitgefühl dachte sie daran, wie sie nach Anas Tod gelitten hatte. Wie verzweifelt er sein musste!

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Tori sie fragend ansah. „Es kam in den Nachrichten.“

Tori nickte. „Versteh mich bitte, er ist ein Freund, und ich möchte nicht indiskret sein. Aber er hat sich in seiner Trauer hier draußen verkrochen.“

„Deshalb verteidigt er seine Privatsphäre so vehement. Jetzt verstehe ich es.“ Ihr Zorn war verflogen und einer Welle aus Sympathie gewichen.

Autor

Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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