Sündiger Pakt mit dem Teufel

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Ein Mann ist in ihr nächtliches Schlafgemach eingedrungen! Doch statt entsetzt um Hilfe zu schreien, beschließt Lady Felicity Faircloth mutig, sich anzuhören, was der faszinierende Fremde zu sagen hat: Unerhörtes! Denn er weiß offenbar, dass sie ein bemitleidenswertes Mauerblümchen ist, und bietet ihr an, sie in eine begehrte Schönheit zu verwandeln. Selbst eine Verlobung mit dem umschwärmten Duke of Marwick stellt er ihr in Aussicht. Welche Verlockung, doch noch eine gute Partie zu machen! Im Dunkel der Nacht schließt Felicity atemlos den sündigen Pakt. Nicht ahnend, was dabei der Gewinn für diesen teuflischen Verführer namens Devil ist …


  • Erscheinungstag 08.11.2019
  • Bandnummer 117
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758691
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Die vergangenheit

Die drei waren miteinander verwoben, lange bevor sie sich dessen bewusst waren, wie verschlungene Stränge geschmeidigen Stahls, unlösbar verschmolzen – mochte das Schicksal sie auch noch so sehr zu trennen trachten.

Brüder, geboren am selben Tag, zur selben Stunde, in derselben Minute, von unterschiedlichen Frauen. Der kostspieligen Kurtisane. Der Näherin. Der Soldatenwitwe. Geboren am selben Tag, zur selben Stunde, in derselben Minute, von demselben Mann gezeugt.

Der Duke, ihr Vater, den das Schicksal für seine Arroganz und Grausamkeit gnadenlos strafen würde, indem es ihm das Einzige vorenthielt, das er sich mit Geld und Einfluss nicht erkaufen konnte – einen Erben.

Es sind die Iden des März, vor denen die Seher warnen, da sie Verrat und Rache, Umwälzungen und schicksalhafte Fügungen verheißen. Doch für diesen Erzeuger – er war nie mehr als das, war nie auch nur annähernd ein Vater – sollten sich die Iden des Juni als fatal erweisen.

Denn am selben Tag, zur selben Stunde, in derselben Minute wurde ein weiteres Kind geboren, von einer vierten Frau. Einer Duchess. Und es war diese Geburt – die alle Welt für eine eheliche hielt –, der der Duke beiwohnte, obgleich er wusste, dass der Sohn, der seinen Namen und sein Vermögen erben und seine Zukunft sein würde, nicht von ihm war und dennoch seine einzige Hoffnung darstellte.

Allerdings entpuppte sich dieser Sohn als eine Tochter.

Und mit ihrem ersten Atemzug stahl sie ihnen allen die Zukunft, schon als Kind so mächtig, wie sie es in einer fernen Zukunft als Frau sein sollte. Doch von ihr ein andermal mehr.

Diese Geschichte beginnt mit den Jungen.

1. KAPITEL

die gegenwart

Mai 1837

Devil stand vor Marwick House, im dunklen Schatten einer alten Ulme, und beobachtete seinen Bastardbruder im Innern des Hauses.

Flackernder Kerzenschein und Ornamentglas verzerrten die Schemen der Feiernden im Ballsaal und verwandelten sie – Aristokratie und betuchter niederer Adel – in ein wogendes Einerlei. Devil fühlte sich an die Gezeiten der Themse erinnert, abebbend und anschwellend, ölig schillernd und stinkend.

Gesichtslose Leiber – die Männer dunkel in formeller Garderobe, die Frauen in Seide und Satin leuchtend – schienen miteinander zu verschwimmen, eingekeilt in der Menge, in der Hälse gereckt und mit wedelnden Fächern Klatsch und Gerüchte durch die stickige Luft im Ballsaal gesandt wurden.

Und mittendrin der Mann, auf den sie es abgesehen hatten – der einsiedlerische Duke of Marwick, frisch wie der junge Frühling, obwohl er den Titel bereits seit dem Tod seines Vaters trug. Seit dem Tod ihres Vaters.

Nein. Nicht Vater. Erzeuger.

Der neue Duke, jung und attraktiv, war wie der sprichwörtliche verlorene Sohn nach London zurückgekehrt – einen Kopf größer als alle Übrigen, blond, mit ausdrucksloser Miene und bernsteinfarbenen Augen, wie sie den Dukes of Marwick seit Generationen eigen waren. Stattlich und ledig und mit sämtlichen Attributen gesegnet, nach denen die Aristokratie lechzte.

Und doch war er ganz anders, als diese annahm.

Devil malte sich das törichte Getuschel aus, das sich wie ein Lauffeuer durch den Ballsaal fraß.

Weshalb sollte sich ein solch bedeutender Mann wie ein Eremit gebärden?

Wen kümmert es, solange er ein Duke ist?

Glauben Sie, die Gerüchte sind wahr?

Wen kümmert es, solange er ein Duke ist?

Wieso ist er nie in die Stadt gekommen?

Wen kümmert es, solange er ein Duke ist?

Was, wenn er so wahnsinnig ist, wie behauptet wird?

Wen kümmert es, solange er ein Duke ist?

Ich habe gehört, er sei auf einen Erben aus.

Letzteres hatte Devil aus der Dunkelheit gelockt.

Denn sie hatten einen Pakt geschlossen, vor zwanzig Jahren, als Waffenbrüder. Und obwohl seit jenem Pakt viel geschehen war, blieb eines doch unumstößlich: Niemand wurde Devil gegenüber wortbrüchig.

Nicht ungestraft.

Und daher wartete er unendlich geduldig im Garten des Londoner Hauses, das seit Generationen die Dukes of Marwick beherbergte, auf den Dritten im Bunde. Es war Jahrzehnte her, seit er und sein Bruder Whit – gemeinsam waren sie in den verruchteren Ecken Londons als die „Bareknuckle Bastards“ bekannt, weil sie mit bloßen Fäusten zu kämpfen verstanden – den Duke gesehen hatten. Seit sie bei Nacht und Nebel vom Landsitz des Herzogtums geflohen waren und Geheimnisse und Frevel hinter sich gelassen hatten, um sich ein eigenes, anders geartetes Reich aus Geheimnissen und Frevel aufzubauen.

Vor zwei Wochen waren Einladungen an die feudalsten Domizile Londons gegangen – an die Häuser mit den altehrwürdigsten Namen –, und zeitgleich waren Bedienstete in Marwick House eingefallen, bis an die Zähne bewaffnet mit Staubwedeln und Wachs, mit Plätteisen und Wäscheleinen. Eine Woche zuvor waren Kisten angeliefert worden – Kerzen und Tuch, Kartoffeln und Portwein sowie für den riesigen Marwick-Ballsaal ein halbes Dutzend Sofas, auf denen sich nunmehr, Girlanden gleich, die Röcke der begehrtesten heiratsfähigen Damen Londons reihten.

Vor drei Tagen war die News of London im Hauptquartier der Bastardbrüder in Covent Garden eingetroffen, und auf Seite vier hatte in verschmierter Tinte die Schlagzeile geprangt: „Mysteriöser Marwick auf Brautschau?“

Devil hatte die Zeitung sorgfältig zusammengefaltet und Whit auf den Schreibtisch gelegt. Als er am folgenden Morgen an seinen Arbeitsplatz gekommen war, steckte ein Wurfmesser in der Zeitung, das bis ins Eichenholz gedrungen war.

Die Entscheidung war gefallen.

Ihr Bruder, der Duke, war zurückgekehrt, war ohne Vorwarnung an diesem Ort aufgetaucht, der für bessere Herrschaften bestimmt war und an dem es doch von den übelsten wimmelte; auf dem Stück Land, das er mit der Übernahme seines Titels geerbt hatte, in einer Stadt, die heute die ihre war. Und damit hatte er seine Habgier bewiesen.

Doch Habgier wurde an diesem Ort, auf diesem Stück Land, nicht geduldet.

Also wartete Devil und beobachtete.

Nachdem lange Minuten verstrichen waren, nahm er neben sich eine Bewegung wahr. Whit erschien, lautlos und tödlich wie militärische Verstärkung. Der Vergleich war treffend, denn dies war nichts Geringeres als ein Krieg.

„Gerade rechtzeitig“, raunte Devil.

Ein knurrender Laut.

„Der Duke will eine Braut?“

Ein Nicken im Dunkeln.

„Und Erben?“

Schweigen. Kein unwissendes – ein zorniges.

Devil verfolgte, wie sich ihr beider Bastardbruder im Ballsaal einen Weg durch die Menge bahnte, auf das hintere Ende zu, von wo aus sich ein finsterer Korridor tiefer ins Innere des Hauses zog. Nun war es an ihm zu nicken. „Wir beenden dies, bevor es beginnt.“ Er schloss die Hand um den Knauf seines Gehstocks aus Ebenholz. Die kühle Mähne des silbernen Löwenkopfes, abgenutzt vom häufigen Gebrauch, schmiegte sich in seine Handfläche, als wäre sie ein Teil von ihm. „Rein, raus und eine solch gründliche Abreibung, dass er uns nicht folgen kann.“

Whit nickte, ohne auszusprechen, was sie beide dachten – dass sie den Mann, der in London als Robert, Duke of Marwick, galt, einst als Jungen namens Ewan gekannt hatten. Dass dieser mehr Bestie denn Aristokrat und der Einzige war, von dem sie je beinahe besiegt worden wären. Aber das war gewesen, bevor Devil und Whit die Bareknuckle Bastards, die Könige von Covent Garden geworden waren und gelernt hatten, Waffen so versiert zu führen, dass sie Drohungen Taten folgen lassen konnten.

Heute Nacht würden sie ihm zeigen, dass London ihr Pflaster war, und ihn zurück aufs Land jagen. Sie mussten nur hineingelangen und ebendies tun – ihn an das gemahnen, was sie einander vor langer Zeit geschworen hatten.

Ewan würde keine Erben zeugen.

„Hals- und Beinbruch!“ Whits Worte glichen einem leisen Knurren, seine Stimme war rau, denn er sprach nie viel.

„Hals- und Beinbruch!“, wünschte auch Devil, ehe sie sich auf den undurchdringlichen Schatten der langen Terrasse zubewegten, wobei sie sorgsam jedes Geräusch vermieden. Sie wussten, dass sie rasch handeln mussten, um nicht entdeckt zu werden.

Gewandt erklomm Devil die Terrasse, sprang über das Geländer und landete lautlos in der Finsternis dahinter, gefolgt von Whit. Sie hielten auf die Tür zu in dem Wissen, dass der dahinterliegende Wintergarten verschlossen und den Gästen nicht zugänglich war, die ideale Stelle also, um ins Haus einzudringen. Sie trugen formelle Abendgarderobe – um in der Menge unsichtbar zu sein, bis sie sich Ewan vorknöpfen konnten.

Ewan war weder der erste Adelige noch würde er der letzte sein, den sich die Bareknuckle Bastards zur Brust nahmen, aber nie zuvor hatten Devil und Whit dem so sehr entgegengefiebert.

Kaum hatte Devil die Hand auf den Türgriff gelegt, als dieser ohne sein Zutun nachgab. Sofort ließ er ihn los, wich zurück und verschmolz mit der Dunkelheit, derweil Whit sich geräuschlos über die Terrassenbrüstung auf den darunterliegenden Rasen schwang.

Und dann erschien die junge Frau.

Hastig schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, als könnte sie mit nichts als schierer Willenskraft verhindern, dass andere ihr folgten.

Seltsamerweise traute Devil ihr das durchaus zu.

Sie war sichtlich angespannt, hielt den Kopf gegen die Tür gepresst, ihr langer Hals blass im Mondschein. Ihre Brust hob und senkte sich, während sie sich eine behandschuhte Hand auf die vom Schatten verdunkelte Haut oberhalb ihres Ausschnitts legte, als könnte sie so ihren keuchenden Atem beruhigen. Seine in vielen Jahren geschulte Menschenkenntnis sagte Devil, dass ihre Gesten nicht einstudiert, sondern ungekünstelt waren – sie wusste nicht, dass sie beobachtet wurde. Sie wusste nicht, dass sie nicht allein war.

Der Stoff ihres Kleides schimmerte im Mondlicht, doch es war zu dunkel, um die Farbe zu erkennen. Blau vielleicht. Grün? Das Licht zeichnete es an manchen Stellen silbern und an anderen schwarz.

Mondlicht. Es wirkte, als wäre sie in Mondlicht gehüllt.

Dieser merkwürdige Gedanke kam ihm, als sie an die steinerne Balustrade trat, und einen umnachteten Sekundenbruchteil lang erwog Devil, aus dem Schatten zu kommen, um sie eingehender betrachten zu können.

Allerdings nur, bis er das weiche, verhaltene Trällern einer Nachtigall vernahm – Whit, der ihn zur Ordnung rief. Ihn an ihren Plan gemahnte, mit dem das Mädchen nichts zu tun hatte. Abgesehen davon, dass sie die Ausführung behinderte.

Sie ahnte nicht, dass der Vogel gar kein Vogel war. Sie wandte das Gesicht gen Himmel und ließ die Hände auf dem Steingeländer ruhen, wobei sie langsam ausatmete und ihre wachsame Haltung aufgab. Ihre Schultern entspannten sich.

Sie war vor irgendwem hierhergeflohen.

Leises Unbehagen beschlich ihn angesichts der Vorstellung, dass sie sich in einen dunklen Raum und hinaus auf eine noch dunklere Terrasse gerettet hatte, auf der ein Mann lauerte, der an Schändlichkeit alles im Innern des Hauses übertrumpfen dürfte. Und dann, völlig unerwartet, lachte sie. Devil erstarrte, seine Schultermuskeln versteiften sich, und er krampfte die Hand um den Silbergriff seines Gehstocks.

Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sich ihr nicht zu nähern. Sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er jahrelang auf diesen Moment gewartet hatte – so lange, dass er sich kaum eines Moments entsann, in dem er nicht für eine Konfrontation mit seinem Bruder gewappnet gewesen war.

Er würde sich nicht von einer Frau aus der Bahn werfen lassen. Sie war nur schemenhaft erkennbar, und dennoch gelang es ihm nicht, den Blick abzuwenden.

„Jemand sollte ihnen zu verstehen geben, wie furchtbar sie allesamt sind“, sagte sie zum Himmel. „Jemand sollte schnurstracks auf Amanda Fairfax zumarschieren und ihr bescheiden, dass niemand ihren Schönheitsfleck für echt hält. Und irgendwer sollte Lord Hagin verraten, dass er nach Parfüm stinkt und gut daran täte, ein Bad zu nehmen.

Und ich würde Jared liebend gern daran erinnern, wie er einst auf einer Geselligkeit im Landhaus meiner Mutter mit dem Allerwertesten voran im Teich gelandet und nur dank meiner Herzensgüte an trockene Kleider gelangt ist, ohne ertappt zu werden.“

Sie verstummte gerade so lange, dass Devil glaubte, sie hätte dem Firmament nichts mehr mitzuteilen.

Da jedoch platzte sie heraus: „Und muss Natasha derart gemein sein?“

„Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein?“

Seine Worte entsetzten ihn selbst – jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um mit einem einsamen Plappermaul auf einer Terrasse zu plaudern.

Whit schockierte er weit mehr, nach dem schrillen Nachtigallenschrei zu urteilen, der sogleich folgte.

Doch am meisten erschreckte er die junge Frau.

Sie gab einen überraschten Laut von sich und fuhr zu ihm herum, eine Hand auf die Haut oberhalb ihres Mieders gelegt. Welche Farbe hatte ihr Mieder? Das Mondlicht ließ den Stoff nach wie vor changieren, sodass es unmöglich war, den Farbton zu bestimmen.

Sie legte den Kopf schräg und starrte in den Schatten. „Wer ist da?“

„In Anbetracht der Tatsache, dass Sie in einem fort reden, frage ich mich das ebenfalls, Teuerste.“

Ihr angestrengtes Blinzeln wich einem finsteren Blick. „Ich habe mit mir selbst gesprochen.“

„Und weder Sie noch Ihr Selbst finden eine trefflichere Bezeichnung für diese Natasha als ‚gemein‘?“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, ehe ihr offenbar Zweifel kamen, ob es ratsam war, sich einem Fremden im Dunkeln zu nähern. Sie blieb stehen. „Wie würden Sie Natasha Corkwood beschreiben?“

„Gar nicht, da ich sie nicht kenne. Aber bedenkt man, wie genüsslich Sie auf Hagins Hygienevorstellungen und Faulks vergangener Blamage herumgeritten sind, verdient Lady Natasha doch gewiss ein ähnliches Maß an Kreativität, meinen Sie nicht?“

Eine ausgedehnte Minute lang starrte sie in den Schatten, den Blick auf einen Punkt irgendwo oberhalb von Devils linker Schulter gerichtet. „Wer sind Sie?“

„Niemand von Belang.“

„Da Sie auf einer dunklen Terrasse vor einem leeren Zimmer im Hause des Duke of Marwick stehen, erscheinen Sie mir alles andere als belanglos.“

„Diese Argumentation beweist, dass Sie Ihrerseits keine unbedeutende Größe sind.“

Sie lachte laut auf. Es kam unerwartet und verblüffte sie anscheinend ebenso sehr wie ihn. Sie schüttelte den Kopf. „Kaum einer würde Ihnen darin zustimmen.“

„Die Meinung anderer interessiert mich für gewöhnlich nicht.“

„Was beweist, dass Sie nicht dem ton angehören“, erwiderte sie spöttisch, „denn anderer Leute Meinung wird hier gehandelt wie Gold. Über die Maßen geschätzt.“

Wer ist sie?

„Was hatten Sie im Wintergarten zu suchen?“

Sie blinzelte. „Woher wissen Sie, dass es ein Wintergarten ist?“

„Ich lege Wert darauf, mich auszukennen.“

„In Häusern, die nicht Ihnen gehören?“

Dieses Haus hätte einmal fast mir gehört. Er schluckte die Worte hinunter. „Niemand frequentiert diesen Raum. Warum Sie?“

Sie hob eine Schulter. Ließ sie sinken.

Nun war es an ihm, finster dreinzublicken. „Wollen Sie sich mit einem Mann treffen?“

Ihre Augen wurden groß. „Wie bitte?“

„Dunkle Terrassen eignen sich vortrefflich für ein Rendezvous.“

„Davon weiß ich nichts.“

„Von Terrassen? Oder von Rendezvous?“ Nicht dass es ihn kümmerte.

„Von beidem, um ehrlich zu sein.“

Die Antwort hätte ihn nicht derart zufrieden stimmen sollen.

Sie fuhr fort: „Würden Sie mir glauben, wenn ich behauptete, dass ich Wintergärten schätze?“

„Nein, würde ich nicht. Und zudem haben Gäste keinen Zutritt zum Wintergarten.“

Sie legte den Kopf schräg. „Tatsächlich?“

„Den meisten ist geläufig, dass sie dunkle Räumlichkeiten nicht zu betreten haben.“

Sie winkte ab. „Ich bin nicht die Klügste.“ Auch das nahm er ihr nicht ab. „Wissen Sie, ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen.“

„Die da wäre?“ Ihm gefiel nicht, wie sie mit Worten spielte und das Gespräch nach ihrem Gutdünken lenkte.

„Sind Sie wegen eines Stelldicheins hier?“

Flüchtig, aber intensiv blitzte ein Bild in ihm auf, von einem Stelldichein mit ihr, hier auf dieser dunklen sommerlichen Terrasse. Davon, was sie ihm zugestehen mochte, während gleich nebenan halb London tanzte und tratschte.

Davon, was er ihr zugestehen mochte.

Er malte sich aus, wie er sie auf die steinerne Balustrade heben, wie sich ihre Haut anfühlen, wie sie duften würde. Welche Laute sie vor Lust von sich gäbe. Würde sie seufzen? Würde sie laut aufschreien?

Er erstarrte. Diese Frau mit dem unauffälligen Gesicht und dem unscheinbaren Körper, die Selbstgespräche führte, zählte nicht zu der Sorte, die er sich gemeinhin für ein unverbindliches Schäferstündchen auserkor. Was war nur los mit ihm?

„Ihr Schweigen werte ich als Ja. Dann überlasse ich Ihnen die Bühne für Ihr Rendezvous, Sir.“ Sie bewegte sich fort von ihm, die Terrasse entlang.

Er hätte sie ziehen lassen sollen.

Stattdessen rief er ihr nach: „Es gibt kein Rendezvous.“

Wieder die Nachtigall. Hektischer und durchdringender als zuvor. Whit war ungehalten.

„Weshalb sind Sie dann hier?“, fragte sie.

„Vielleicht aus demselben Grund wie Sie, Teuerste.“

Sie lächelte schief. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie eine alternde Jungfer sind, die es hinaus in die Dunkelheit zieht, weil sie von Menschen verspottet wurde, die sie einst für Freunde gehalten hat.“

Also stimmte es. Sie war geflohen. „Ich muss Ihnen beipflichten, das klingt nicht so recht nach mir.“

Sie lehnte sich an das Geländer. „Treten Sie ins Licht.“

„Das kann ich leider nicht.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich gar nicht hier sein dürfte.“

Sie deutete ein Schulterzucken an. „Ich auch nicht.“

„Sie sollten nicht auf der Terrasse sein. Ich sollte mich nicht einmal auf dem Grundstück befinden.“

Sie öffnete den Mund, sodass ihre Lippen ein kleines O bildeten. „Wer sind Sie?“

Er ignorierte die Frage. „Warum sind Sie ledig?“ Im Grunde war es unwichtig.

„Weil ich unvermählt bin.“

Er widerstand dem Drang zu lächeln. „Das habe ich verdient.“

„Mein Vater würde Ihnen raten, Ihre Fragen präziser zu formulieren.“

„Wer ist Ihr Vater?“

„Wer ist der Ihre?“

Sie war nicht eben das fügsamste Frauenzimmer, dem er je begegnet war. „Ich habe keinen Vater.“

„Jeder hat einen Vater.“

„Nicht unbedingt einen, zu dem man sich bekennen möchte“, sagte er gelassener, als er war. „Somit stehen wir wieder am Anfang. Warum sind Sie ledig?“

„Niemand möchte mich heiraten.“

„Wieso nicht?“

Spontan setzte sie zu einer aufrichtigen Antwort an. „Ich bin nicht …“ Sie brach ab, die Arme ausbreitend. Er hätte sein gesamtes Vermögen dafür gegeben, den Rest zu hören, vor allem, als sie einen erneuten Versuch unternahm und anfing, die Gründe an ihren langen, behandschuhten Fingern abzuzählen. „Nicht mehr die Jüngste.“

Sie wirkte nicht alt.

„Unscheinbar.“

Das hatte auch er zunächst gedacht, dabei war sie es keineswegs. Nicht, wenn man genauer hinsah. Eigentlich war sie das genaue Gegenteil von unscheinbar.

„Uninteressant.“

Das stimmte absolut nicht.

„Ich bin von einem Duke verschmäht worden.“

Noch immer nicht die ganze Wahrheit. „Und da liegt der Hase im Pfeffer?“

„Ganz recht“, antwortete sie. „Obwohl das ungerecht ist, da der fragliche Duke nie vorhatte, mich zu ehelichen.“

„Warum nicht?“

„Er war unsterblich in seine Gattin verliebt.“

„Wie bedauerlich.“

Sie wandte sich ab und schaute abermals zum Himmel hinauf. „Nicht für sie.“

Nie zuvor hatte es Devil so sehr danach verlangt, einer Frau nahe zu sein. Doch er blieb im Schatten, an die Wand gedrückt, und beobachtete die Frau. „Wieso vergeuden Sie hier Ihre Zeit, wenn Sie aus all diesen Gründen nicht unter die Haube zu bringen sind?“

Sie lachte leise, ein tiefer, angenehmer Laut. „Wissen Sie das nicht, Sir? Jeder Augenblick, den eine unvermählte Frau in der Nähe lediger Gentlemen verbringt, ist mitnichten vergeudet.“

„Ah, Sie haben die Suche nach einem Gatten noch nicht aufgegeben.“

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, erwiderte sie.

Die trockene Bemerkung hätte ihn beinahe zum Lachen gebracht. Beinahe. „Und?“

„Die Suche gestaltet sich schwierig, da meine Mutter inzwischen hohe Ansprüche an Verehrer stellt.“

„Zum Beispiel?“

„Noblesse.“

Das ließ ihn nun doch auflachen, kurz, rau und laut, womit er sich selbst zu Tode erschreckte. „Angesichts eines derart ehrgeizigen Standards überrascht es nicht, dass Sie in dieser Hinsicht Schwierigkeiten haben.“

Sie lächelte breit, und ihre Zähne schimmerten hell im Mondlicht. „Ich weiß, es grenzt an ein Wunder, dass der Duke of Marwick noch nicht alles darangesetzt hat, mich zu erobern.“

An seine Absichten gemahnt zu werden, traf ihn so jäh wie scharf. „Sie sind hinter Marwick her.“

Nur über meine verrottende Leiche.

Sie machte eine wegwerfende Geste. „Meine Mutter ist hinter ihm her, so wie alle Mütter in London.“

„Es heißt, er sei verrückt“, stellte Devil heraus.

„Bloß, weil niemand versteht, wie sich jemand für ein Leben fernab der Gesellschaft entscheiden kann.“

Ewan lebte fernab der Gesellschaft, weil er vor langer Zeit einen Pakt eingegangen war, der ihm eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben versagte. Aber das behielt Devil für sich. Stattdessen sagte er: „Die Leute haben ihn kaum zu Gesicht bekommen.“

Ihr Lächeln wurde mokant. „Die Leute wissen um seinen Titel, Sir. Und der ist verlockend wie die Sünde. Auch ein einsiedlerischer Duke macht aus einer Frau eine Duchess.“

„Das ist lächerlich.“

„Das ist der Heiratsmarkt.“ Sie verstummte kurz. „Wie dem auch sei, ich bin nicht für ihn bestimmt.“

„Warum nicht?“ Es war ihm gleich.

„Weil ich nicht für einen Duke bestimmt bin.“

Wieso zum Teufel nicht?

Er äußerte die Frage nicht laut, aber die Frau beantwortete sie dennoch, so beiläufig, als spräche sie zu einem Salon voller Tee trinkender Damen. „Es gab eine Zeit, da glaubte ich, dass ich es womöglich wäre“, begann sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. „Und dann …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was es verhindert hat. Vermutlich all das Genannte. Unscheinbar, uninteressant, in die Jahre kommend, Mauerblümchen, alte Jungfer.“ Sie lachte über die Aufzählung. „Vermutlich hätte ich nicht so lange warten dürfen in der Überzeugung, dass ich schon noch einen Mann finden würde, denn das ist nicht geschehen.“

„Und jetzt?“

„Und jetzt“, fuhr sie resigniert fort, „sucht meine Mutter nach einem Mann mit Noblesse.“

„Wonach suchen Sie?“

Erneut ertönte Whits Nachtigall in der Dunkelheit, und das Mädchen antwortete gleich darauf. „Das hat mich noch niemand gefragt.“

„Also?“, drängte er, obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte. Obwohl er wusste, dass er sie der Terrasse und ihrer wie immer gearteten Zukunft überlassen sollte.

„Ich …“ Sie blickte zum Haus, zum unbeleuchteten Wintergarten, hinter dem der Korridor lag, der in den glitzernden Ballsaal mündete. „Ich wäre gern wieder Teil all dessen.“

„Wieder?“

„Früher habe ich …“ Sie brach ab. Schüttelte den Kopf. „Das ist unerheblich. Sie haben weit Wichtigeres zu tun.“

„Richtig, aber da ich dem nicht nachkommen kann, solange Sie hier sind, Mylady, bin ich mehr als gewillt, Ihnen zu helfen, die Sache zu klären.“

Das ließ sie lächeln. „Sie sind amüsant.“

„In meinem ganzen Leben hat es nicht einen Menschen gegeben, der Ihnen darin zustimmen würde.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Die Meinung anderer interessiert mich für gewöhnlich nicht.“

Ihm entging nicht, dass sie seine eigenen Worte wiederholte. „Das glaube ich nicht eine Sekunde lang.“

Sie winkte ab. „Früher habe ich dazugehört. Habe im Mittelpunkt gestanden. Ich war ungemein beliebt. Alle Welt hat mich umschwärmt.“

„Und was ist passiert?“

Wieder breitete sie die Arme aus, eine Geste, die ihm allmählich vertraut war. „Ich weiß es nicht.“

Er hob eine Braue. „Sie wissen nicht, wie Sie zum Mauerblümchen geworden sind?“

„Ganz recht“, erwiderte sie leise, und in ihrer Stimme lagen Verwirrung und Traurigkeit. „Ich habe mich nie auch nur in der Nähe von Mauern aufgehalten. Und dann, eines Tages …“, sie zuckte mit den Achseln, „… war es plötzlich passiert. Ich war Efeu. Wenn Sie mich also fragen, wonach ich suche …“

Sie war einsam. Mit Einsamkeit kannte Devil sich aus. „Sie wollen wieder aufgenommen werden.“

Ihr Lachen klang leise und verzagt. „Niemand wird je wieder aufgenommen. Nicht ohne eine Partie zu machen, über die die Welt für alle Zeiten spricht.“

Er nickte. „Der Duke.“

„Eine Mutter darf träumen.“

„Und Sie?“

„Ich möchte wieder dazugehören.“ Eine weitere Warnung ertönte von Whit, und die Frau schaute über die Schulter. „Eine äußerst beharrliche Nachtigall.“

„Sie ist verärgert.“

Fragend neigte sie den Kopf zur Seite, und als Devil nicht antwortete, fügte sie an: „Werden Sie mir verraten, wer Sie sind?“

„Nein.“

Sie nickte knapp. „Das ist wohl auch besser so, denn schließlich bin ich nur herausgekommen, um einen Moment lang meine Ruhe zu haben, ohne herablassend angegrinst zu werden oder mir spitze Bemerkungen bieten lassen zu müssen.“ Sie wies auf das andere, hellere Ende der Terrasse. „Ich werde mir dort drüben einen geheimen Winkel suchen, und Sie können weiterhin hier herumschleichen, wenn Sie möchten.“

Er entgegnete nichts, weil er nicht abzusehen vermochte, was ihm entschlüpfen würde. Weil er womöglich nicht sagen würde, was er sagen sollte.

„Ich werde nicht ausplaudern, dass ich Sie gesehen habe“, ergänzte sie.

„Sie haben mich nicht gesehen.“

„Dann werde ich mich zudem der Wahrheit rühmen können“, parierte sie liebenswürdig.

Abermals die Nachtigall. Whit traute ihm nicht im Hinblick auf diese Frau.

Und vielleicht zu Recht.

Sie knickste leicht. „Tja, also dann, zurück zu Ihren zwielichtigen Geschäften?“

Das Zucken um seine Lippen fühlte sich ungewohnt an. Ein Lächeln. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal gelächelt hatte. Diese fremde Frau hatte ihm ein Lächeln entlockt, wie eine Zauberin.

Sie war fort, bevor er etwas erwidern konnte. Er sah ihre Röcke um die Ecke verschwinden, in Richtung Licht. Es kostete ihn alle Kraft, ihr nicht nachzusetzen. Einen Blick auf sie zu erhaschen – auf den Ton ihres Haars, ihren Teint, ein Blitzen ihrer Augen.

Nach wie vor wusste er nicht, welche Farbe ihr Kleid hatte.

Er brauchte ihr nur zu folgen.

„Dev.“

Der Ruf holte ihn zurück in die Gegenwart. Er sah Whit an, der wieder neben ihm im Schatten auf der Terrasse stand.

„Los“, sagte Whit. Höchste Zeit, ihren Plan durchzuführen. Sich den Mann vorzunehmen, den Devil geschworen hatte zu vernichten, sollte er je nach London kommen. Sollte er je versuchen einzufordern, was er einst gestohlen hatte. Sollte ihm je einfallen, den jahrzehntealten Schwur zu brechen.

Und vernichten würde er ihn. Jedoch nicht mit den Fäusten.

„Gehen wir, Bruder“, raunte Whit. „Na, los.“

Devil schüttelte knapp den Kopf, den Blick auf die Stelle geheftet, an der die Röcke dieser geheimnisvollen Frau verschwunden waren. „Nein. Noch nicht.“

2. KAPITEL

Felicity Faircloth pochte das Herz nun schon so lange, dass sie allmählich fürchtete, einen Arzt zu benötigen.

Es hatte zu pochen begonnen, als sie sich aus dem funkelnden Ballsaal von Marwick House gestohlen und die verschlossene Tür vor sich gemustert hatte, gegen den kaum zu bezähmenden Drang ankämpfend, eine Haarnadel aus ihrer Frisur zu ziehen.

Wohl wissend, dass sie auf gar keinen Fall eine Haarnadel zücken durfte. Und erst recht keine zweite – ganz zu schweigen davon, sie in das kaum sechs Zoll entfernte Schlüsselloch zu stecken und die darin befindlichen Stifte geduldig zum Nachgeben zu bewegen.

Wir können uns keinen weiteren Skandal leisten.

Sie hörte die Worte ihres Zwillingsbruders Arthur so deutlich, als stünde er neben ihr. Der arme Arthur, der sich verbissen bemühte, seine altjüngferliche Schwester – die mit siebenundzwanzig zum uralten Eisen gehörte – in die Obhut eines anderen, bereitwilligeren Mannes zu geben. Der arme Arthur, dessen Gebete niemals erhört werden würden – nicht einmal, wenn sie aufhörte, Schlösser zu knacken.

Doch seine Worte wurden in ihrem Kopf von anderen übertönt. Von den höhnischen Kommentaren. Den Spottnamen. Verzweifelte Felicity. Verlorene Felicity. Und der schlimmste … Vernichtete Felicity.

Wieso ist sie überhaupt hier?

Sie kann unmöglich glauben, irgendein Mann würde sie noch nehmen.

Ihr armer Bruder, so verzweifelt darauf aus, sie zu verheiraten.

… Vernichtete Felicity.

Einst wäre eine Nacht wie diese ihr Traum gewesen – ein neuer Duke in der Stadt, ein Willkommensball, die üblichen Hänseleien ob der Aussicht auf eine Verlobung mit einem unverbrauchten, ansehnlichen heiratswürdigen Junggesellen. Es wäre perfekt gewesen. Kleider und Juwelen und ein großes Orchester, Klatsch und Geplauder und Tanzkarten und Champagner. Felicity hätte kaum leere Felder auf ihrer Tanzkarte gehabt, und wenn doch, so nur, weil sie es selbst so verfügt hätte. Um darin schwelgen zu können, dieser glamourösen Welt anzugehören.

Vorbei.

Nun mied sie Bälle, sofern sie konnte, da sie wusste, dass sie sich stundenlang am Rande des Saals herumdrücken würde, statt in dessen Mitte zu tanzen. Hinzu kam die heiße Scham, die sie befiel, wann immer sie auf einen alten Bekannten traf. Wann immer sie daran erinnert wurde, wie es gewesen war, mit den anderen zu lachen. Sich gemeinsam mit ihnen überlegen zu fühlen.

Doch ein Ball, auf dem sich ein brandneuer Duke die Ehre gab, ließ sich nicht vermeiden. Daher hatte sie ein altes Kleid angelegt, war in ihres Bruders Kutsche gestiegen und hatte sich vom armen Arthur in den Ballsaal der Marwicks schleifen lassen. Und war geflüchtet, kaum dass er ihr den Rücken zugewandt hatte.

Felicity war einen dunklen Korridor entlanggeflohen. Mit klopfendem Herzen hatte sie zwei Haarnadeln aus ihrer Frisur gezogen, sie behutsam zurechtgebogen und erst die eine und danach die andere ins Schlüsselloch geschoben. Als ein kaum vernehmliches Klicken erklungen war und der Verriegelungsmechanismus nachgegeben hatte wie ein gutmütiger alter Freund, hatte ihr das Herz so heftig in der Brust gehämmert, als wollte es diese sprengen.

Und das war gewesen, noch bevor sie diesen Mann getroffen hatte.

Wobei „getroffen“ nicht das richtige Wort war.

Auch „begegnet“ erschien ihr nicht passend.

„Wahrgenommen“ traf es eher. Vom ersten Augenblick an hatte sich der Klang seiner tiefen Stimme in der dunklen Frühlingsluft wie Seide um sie gelegt, hatte er sie betört, als wäre er das personifizierte Laster.

Sie spürte, wie sie errötete, als sie daran zurückdachte, dass sie sich magisch zu ihm hingezogen gefühlt hatte, als wären sie durch eine Schnur verbunden. Als könnte er sie umgarnen, ohne mit Widerstand rechnen zu müssen. Er hatte gar weit mehr getan, als sie bloß zu betören. Er hatte ihr die Wahrheit entlockt, und sie hatte sie willig preisgegeben.

Sie hatte ihre Makel aufgelistet, als spräche sie über einen Wetterumschwung. Fast hätte sie alles offenbart, sogar die Dinge, die sie bislang niemandem gebeichtet hatte. Die Dinge, die sie in Dunkelheit gehüllt hatte. Denn ihm gegenüber hatte es sich nicht wie eine Beichte ausgenommen. Es hatte sich angefühlt, als hätte er schon alles gewusst. Und vielleicht hatte er das. Vielleicht war er gar kein Mann in der Finsternis gewesen, sondern die Finsternis selbst. Nicht greifbar, rätselhaft und verführerisch – viel verführerischer als das Tageslicht, das Schwächen und Makel und Fehlschläge für jedermann sichtbar machte.

Die Finsternis hatte sie immer gelockt. Türschlösser. Barrieren. Das Unmögliche.

Genau darin bestand das Problem, nicht wahr? Sie wollte stets das Unmögliche. Und sie war keine Frau, der es zuteilwurde.

Doch was war geschehen, als jener mysteriöse Mann behauptet hatte, sie sei jemand Besonderes? Einen Moment lang hatte sie ihm geglaubt. Als wäre nicht die bloße Vorstellung lachhaft, sie könne den Sieg davontragen – sie, die reizlose unvermählte Tochter des Marquess of Bumble, die von mehr als einem heiratswürdigen Junggesellen aufgrund ihres persönlichen Scheiterns verschmäht worden und auf diesem Ball herzlich fehl am Platze war.

Das Unmögliche.

Also war sie geflohen, war in ihre alten Gewohnheiten zurückgefallen und in die Dunkelheit gestolpert, weil die Dunkelheit mehr Möglichkeiten bot als das kalte, gnadenlose Licht.

Und auch das hatte er anscheinend gewusst, dieser Fremde. Was sie beinahe bewogen hätte, ihn nicht im Schatten zurückzulassen. Was sie beinahe bewogen hätte, sich zu ihm zu gesellen. Denn in jenen kurzen Augenblicken hatte sie sich gefragt, ob sie womöglich gar nicht in diese Welt zurückkehren, sondern eine andere, dunkle Welt betreten wollte, in der sie neu anfangen konnte. In der sie eine andere wäre als die Vernichtete Felicity, Mauerblümchen und alte Jungfer. Und der Mann auf der Terrasse war ihr wie jemand erschienen, der ihr genau das bieten konnte.

Was natürlich verrückt war. Man brannte nicht mit einem Fremden durch, den man auf einer Terrasse angetroffen hatte. Zum einen waren es Situationen wie diese, in denen Menschen ermordet wurden. Und zum anderen hätte ihre Mutter es nicht gutgeheißen. Zudem musste sie an Arthur denken. Den biederen, mustergültigen bedauernswerten Arthur mit seinem Wir können uns keinen weiteren Skandal leisten.

Daher hatte sie getan, was man nach einem bizarren Moment im Dunkeln eben tut: Sie hatte sich umgedreht und war auf das Licht zugestrebt, wobei sie den Stich des Bedauerns ignoriert hatte, als sie um die Ecke der erhabenen Steinfassade gebogen war und den hell erleuchteten Ballsaal hinter den riesigen Fenstern betreten hatte, in dem ganz London sich drängte und lachte und lästerte und um die Aufmerksamkeit des attraktiven, geheimnisvollen Gastgebers buhlte.

In dem sich die Welt, der sie einst angehört hatte, ohne sie weiterdrehte.

Eine geraume Weile hatte sie zugesehen, um schließlich einen Blick auf den Duke of Marwick am anderen Ende des Saals zu erhaschen. Er war groß und blond und, objektiv betrachtet, gut aussehend mit seinen aristokratisch geschnittenen Zügen, die sie hätten schmachten lassen sollen und doch unberührt ließen.

Sie wandte den Blick ab vom Mann der Stunde und ließ ihn kurz auf dem kupferfarben glänzenden Schopf ihres Bruders ruhen, der sich ebenfalls auf der anderen Seite des Ballsaals befand und sich mit einigen Männern unterhielt, die ernster als ihr Umfeld wirkten. Sie fragte sich, worüber sie sprachen – etwa über sie? Versuchte Arthur, einen weiteren Trupp Herren von den Qualitäten der Vernichteten Felicity zu überzeugen?

Wir können uns keinen weiteren Skandal leisten.

Sie hatten sich ja nicht einmal den letzten leisten können. Oder den davor. Aber das wollte sich ihre Familie nicht eingestehen. Und so waren sie hier, auf einem herzoglichen Ball, und weigerten sich, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Taten so, als wäre alles möglich.

Ihre Familie weigerte sich einzusehen, dass die unscheinbare, unzulängliche, ungewollte Felicity niemals das Herz und den Geist und – weit wichtiger – die Hand des Duke of Marwick erobern würde, und mochte er auch noch so umnachtet und weltabgewandt sein.

Wenngleich es eine Zeit gegeben hatte, da ihr dies womöglich gelungen wäre. Da ein abgeschieden lebender Duke wie er auf die Knie gefallen wäre und sie angebettelt hätte, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Nun, vielleicht wäre er nicht gerade auf die Knie gefallen und hätte gebettelt, aber er hätte mit ihr getanzt. Und sie hätte ihn zum Lachen gebracht. Und vielleicht … hätten sie einander gemocht.

Doch das war zu einer Zeit gewesen, da sie nicht im Traum darauf gekommen wäre, dass sie die feine Gesellschaft eines Tages von außen betrachten würde – da sie nicht einmal geahnt hatte, dass es ein solches Außen gab. Schließlich hatte sie dazugehört, jung und begehrt und adelig und voller Esprit.

Sie hatte Dutzende Freunde und Hunderte Bekannte gehabt und haufenweise Einladungen zu Besuchen und Hausgesellschaften und Spaziergängen am Serpentine-See erhalten. Eine Veranstaltung hatte nur als lohnenswert gegolten, wenn sie und ihre Freunde teilgenommen hatten. Sie war nie einsam gewesen.

Und dann … war alles anders geworden.

Eines Tages war die Welt nicht länger glamourös gewesen. Oder vielmehr war Felicity nicht länger glamourös gewesen. Ihre Freunde verschwanden oder, schlimmer noch, kehrten ihr den Rücken, ohne ihre Verachtung zu verhehlen. Sie machten sich einen Spaß daraus, sie zu schneiden. Als wäre sie nie eine von ihnen gewesen. Als wären sie nie befreundet gewesen.

Das waren sie wohl tatsächlich nie gewesen. Wie hatte sie dermaßen verblendet sein können? Wie hatte sie übersehen können, dass sie im Grunde unerwünscht gewesen war? Und die grausamste aller Fragen: Warum war sie plötzlich unerwünscht gewesen? Was hatte sie getan?

Vertrauensselige Felicity, so viel steht fest.

Die Antwort war längst unerheblich geworden – dies alles war so lange her, dass sich vermutlich niemand mehr auch nur daran erinnerte. Was zählte, war, dass kaum jemand sie noch beachtete, außer um sie mitleidig oder geringschätzig zu mustern.

Schließlich verachtete keiner eine alte Jungfer mehr als die Welt, aus der sie hervorgegangen war.

Felicity war einst ein Diamant der Aristokratie gewesen (nun, vielleicht kein Diamant, aber ein Rubin, auf jeden Fall ein Saphir – Tochter eines Marquess mit entsprechender Mitgift). Nun war sie eine alte Jungfer, ganz im Sinne des Wortes, und blickte einer Zukunft entgegen, die geprägt war von Spitzenhauben und Einladungen aus purer Barmherzigkeit.

Würde sie doch nur heiraten, pflegte Arthur zu sagen, dann könnte sie dieser Zukunft entgehen.

Würde sie doch nur heiraten, pflegte ihre Mutter zu sagen, dann könnten sie alle dieser Zukunft entgehen. Denn so peinlich der Jungfernstand für die betreffende Jungfer selbst war, stellte sie auch für deren Mutter eine Schande dar – vor allem für eine, die eine gute Partie mit einem Marquess gemacht hatte.

Daher ignorierte ihre Familie ihren altjüngferlichen Ruch und tat alles, um ihr zu einer vorteilhaften Ehe zu verhelfen. Ebenso ignorierte ihre Familie, was Felicity sich in Wahrheit wünschte – und wonach jener Mann im Schatten sich sogleich erkundigt hatte.

Was sie sich in Wahrheit wünschte, war das Leben, das ihr in Aussicht gestellt worden war. Sie wollte wieder Teil all dessen sein. Und konnte sie dies nicht haben – im Grunde war ihr klar, dass es unmöglich war; schließlich war sie keine Närrin –, so wollte sie zumindest mehr, als sich mit einer x-beliebigen Ehe zu trösten. Genau das machte sie so heikel. Sie hatte immer schon mehr gewollt, als sie haben konnte.

Deshalb stand sie heute mit gar nichts da, nicht wahr?

Sie seufzte wenig damenhaft. Ihr Herzklopfen hatte sich gelegt. Vermutlich war das ein gutes Zeichen.

„Ob ich unbemerkt verschwinden könnte?“

Die Worte waren kaum heraus, da öffnete sich die riesige Glastür zum Ballsaal, und heraus strömte unter Gelächter eine Handvoll Feiernde, Champagner in der Hand.

Nun war es an Felicity, in den Schatten zu tauchen und sich an die Wand zu drücken, während die Gruppe atemlos und in lärmender Aufgeregtheit die steinerne Balustrade erreichte. Blitzartig erkannte sie die Leute.

Natürlich!

Es handelte sich um Amanda Fairfax und deren Gatten Matthew, Lord Hagin, nebst Jared, Lord Faulk, dessen jüngere Schwester Natasha und zwei weitere – noch ein Paar, jung und blond und glimmernd und glitzernd. Amanda, Matthew, Jared und Natasha gefiel es, neue Jünger um sich zu scharen. Mit Felicity hatten sie es einst genauso gehalten.

Früher war sie das Anhängsel dieses Quartetts gewesen. Zuerst beliebt, später nicht mehr.

„Einsiedler hin oder her, Marwick ist umwerfend attraktiv“, verkündete Amanda.

„Und reich“, hob Jared hervor. „Ich habe gehört, er hat dieses Haus erst vergangene Woche einrichten lassen.“

„Das wurde mir auch zugetragen“, meinte Amanda, die vor Aufregung anscheinend kaum Luft bekam. „Und mir ist zu Ohren gekommen, dass er in den Teesalons der großen Damen des ton ein und aus geht.“

Matthew stöhnte. „Wenn ihn das nicht verdächtig macht, weiß ich es auch nicht. Wer trinkt schon freiwillig Tee mit einer Horde Witwen?“

„Ein Mann, der auf eine Braut aus ist“, antwortete Jared.

„Oder einen Erben“, ergänzte Amanda sehnsüchtig.

„Ähem, werte Gattin“, meinte Matthew gespielt indigniert, und alle lachten, was Felicity daran erinnerte, wie es war, an ihren Witzen und Späßen und Lästereien teilzuhaben. Zu ihrer glamourösen Welt zu gehören.

„Er musste doch bei den Witwen vorstellig werden, um dafür zu sorgen, dass London heute Abend hier erscheint, oder nicht?“, warf die dritte Frau in der Gruppe ein. „Ohne ihre Billigung wäre niemand gekommen.“

Darauf folgte ein kurzes Schweigen, ehe das ursprüngliche Quartett lachte, ein Laut, der rasch vom Kameradschaftlichen ins Grausame abdriftete. Faulk neigte sich vor und tippte der jungen Frau ans Kinn. „Du bist nicht gerade die Klügste, hm?“

Natasha schlug ihrem Bruder auf den Arm und heuchelte Empörung. „Jared, lass das. Woher soll Annabelle wissen, wie es in der Aristokratie zugeht? Die Glückliche hat so hoch über ihrem Stand geheiratet, dass sie es nicht nötig hat!“ Bevor Annabelle das ganze boshafte Ausmaß der giftigen Worte erfasste, beugte sich Natasha vor und flüsterte laut und langsam, als wäre die arme Frau unfähig, selbst den simpelsten Sachverhalt zu verstehen: „Jeder wäre gekommen, um den Einsiedler-Duke zu sehen, Herzchen. Er hätte nackt erscheinen können, und wir alle hätten frohgemut mit ihm getanzt und Unkenntnis vorgetäuscht.“

„So heiß, wie im Vorfeld darüber spekuliert wurde, ob er verrückt ist, haben wir wohl alle mehr oder weniger erwartet, dass er nackt erscheinen würde“, bemerkte Amanda.

Annabelles Gatte, der den Titel des Marquess of Wapping erben würde, räusperte sich, offenbar bemüht, von der Kränkung seiner Frau abzulenken. „Nun, er hat heute Abend schon mit einer Menge Damen getanzt.“ Er schaute Natasha an. „Unter anderem mit Ihnen, Lady Natasha.“

Während Natasha sich brüstete, kicherten die anderen – alle bis auf Annabelle, die ihren lächelnden Gatten aus schmalen Augen fixierte. Felicity fand diese Reaktion höchst befriedigend, denn dafür, dass er seiner Frau nicht beigesprungen war, hatte er verdient, was immer sie für eine garstige Strafe ersann.

Und nun war Natasha nicht mehr zu bremsen.

„Oh, ja“, sagte sie und wirkte wie eine Katze, die den Sahnetopf ausgeleckt hatte. „Und ich könnte hinzufügen, dass er ein geistreicher Gesprächspartner war.“

„Ach, wirklich?“, hakte Amanda nach.

„Und ob. Keine Spur von Wahnsinn.“

„Das ist interessant, Tasha“, erwiderte Lord Hagin nonchalant, ehe er der dramatischen Pause wegen einen Schluck Champagner nahm. „Wir haben euch nämlich während des Tanzes nicht aus den Augen gelassen, und es sah nicht so aus, als hätte er auch nur ein einziges Wort an dich gerichtet.“

Die restliche Gruppe johlte, als Natasha rot anlief. „Nun, er hat eindeutig mit mir reden wollen.“

„Auf geistreiche Weise, versteht sich“, neckte ihr Bruder sie und prostete ihr mit seinem Champagner zu.

„Und“, fuhr sie fort, „er hat mich recht eng umschlungen gehalten – ich habe gespürt, dass er mich gern fester an sich gezogen hätte, als es schicklich ist.“

„Oh, zweifellos“, kommentierte Amanda schief lächelnd, ohne ihre Skepsis zu verbergen.

Sie verdrehte die Augen, während die anderen lachten. Oder vielmehr alle bis auf einen.

Jared, Lord Faulk, war zu sehr darauf konzentriert, Felicity anzustarren.

Unsinn!

Sein Blick bekam etwas Fiebriges, das von diebischem Vergnügen kündete, und Felicity war, als sackte ihr der Magen bis auf die Steine unter ihren Füßen. Sie hatte diesen Ausdruck schon tausendmal gesehen. Früher hatte sie das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen, sobald dieses Leuchten in seine Augen trat, denn es bedeutete, dass er sich anschickte, jemanden mit seinen so spitzen wie treffsicheren Sticheleien zu traktieren. Nun indes stockte ihr aus einem anderen Grund der Atem.

„Sieh an! Ich dachte, Felicity Faircloth hätte den Ball schon vor Ewigkeiten verlassen.“

„Ich dachte, wir hätten sie vertrieben“, bemerkte Amanda, die nicht sah, was Jared sah. „Ernsthaft, in ihrem Alter – und ohne Freunde, die der Rede wert wären – sollte man meinen, dass sie sich auf Bällen nicht mehr blicken ließe. Niemanden verlangt es danach, eine alte Schachtel um sich zu haben. Das ist viel zu deprimierend.“

Amanda hatte sich immer schon auf Worte verstanden, die so beißend wie Winterwind waren.

„Und doch ist sie hier“, verkündete Jared grinsend und wies mit einer Hand in Felicitys Richtung. Die gesamte Gruppe drehte sich langsam um, ein grausames Bild mit einem sechsfachen Hohnlächeln – wobei vier versiert darin waren, während bei zweien ein Hauch von Unbehagen zu erahnen war. „Sie drückt sich im Schatten herum und lauscht.“

Amanda inspizierte einen Fleck auf einem ihrer seegrünen Handschuhe. „Also wirklich, Felicity. Wie enervierend. Gibt es denn sonst niemanden, dem du auflauern kannst?“

„Einen nichts ahnenden Lord vielleicht, dessen Räumlichkeiten du ausspähen möchtest?“ Das kam von Hagin, der sich gewiss für ungemein witzig hielt.

Zu Unrecht, auch wenn den anderen das anscheinend nicht klar war, denn sie kicherten und feixten. Zu ihrem Unmut spürte Felicity ihre Wangen heiß werden. Schuld war die Scham, sowohl wegen dieser Bemerkung als auch angesichts ihrer Vergangenheit – denn einst hatte auch sie gekichert und gefeixt.

Sie presste sich fester an die Mauer und wünschte sich, mit ihr verschmelzen zu können.

Die Nachtigall, die sie vorhin vernommen hatte, sang erneut.

„Arme Felicity“, sagte Natasha, an die anderen gewandt, und ihr falsches Mitgefühl bereitete Felicity eine Gänsehaut, „immerzu will sie bedeutsamer sein, als sie ist.“

Und als dieses eine Wort – bedeutsamer – fiel, wusste Felicity, dass sie genug hatte. Kerzengerade aufgerichtet, trat sie ins Licht und bedachte die Frau, die sie einmal als Freundin betrachtet hatte, mit dem frostigsten Blick, dessen sie fähig war. „Arme Natasha“, sagte sie, Natashas Tonfall imitierend. „Glaubst du wirklich, ich würde dich nicht kennen? Ich kenne dich besser als sonst jemand hier. Unverheiratet, genau wie ich. Reizlos, so wie ich. Voller Angst davor, zum alten Eisen gezählt zu werden. So, wie es mir passiert ist.“ Natashas Augen weiteten sich bei dieser Beschreibung. Felicity holte zum vernichtenden Schlag aus, von dem Wunsch beflügelt, diese Frau in ihrem Innersten zu treffen – diese Frau, die ihr so geschickt Freundschaft vorgegaukelt und sie ebenso geschickt abserviert hatte. „Und wenn es so weit ist, wird diese Meute da dich fallen lassen.“

Wieder trällerte die Nachtigall. Nein. Nicht die Nachtigall. Es war ein andersartiger Laut, eher ein Pfeifen, gedämpft und lang gezogen. Einen solchen Vogel hatte sie noch nie gehört.

Womöglich war es das Hämmern ihres Herzens, das diesen Laut so fremd anmuten ließ. Aufgestachelt nahm sie sich die beiden Neuzugänge der Schar vor, die sie aus großen Augen anstarrten. „Wisst ihr, meine Großmutter pflegte mich zur Vorsicht zu ermahnen – sie sagte gern, man könne einen Menschen anhand seiner Freunde beurteilen. Ein weiser Spruch, der vor allem in Bezug auf diesen Kreis dort gilt. Ihr solltet euch vorsehen, damit deren Schmutz nicht auf euch abfärbt.“ Sie wandte sich der Tür zu. „Ich für meinen Teil bin froh, ihnen gerade noch entkommen zu sein.“

Stolz darauf, diesen Quälgeistern die Stirn geboten zu haben, schritt sie auf den Eingang des Ballsaals zu. Dabei gingen ihr Worte durch den Kopf, die früher am Abend gefallen waren:

Diese Argumentation beweist, dass Sie Ihrerseits keine unbedeutende Größe sind.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran zurückdachte.

Jawohl. Sie war nicht unbedeutend.

„Felicity?“, hörte sie Natasha rufen, als sie die Schwelle erreichte.

Felicity blieb stehen und drehte sich um.

„Du bist uns nicht entkommen“, rief Natasha ihr boshaft zu. „Wir haben dich ausgeschlossen.“

Natasha Corkwood war einfach … nur … gemein.

„Wir wollten nichts mehr mit dir zu tun haben, und da haben wir dich davongejagt“, fügte Natasha an, ihre Worte kalt und grausam. „Wie alle es getan haben. Wie es dir künftig überall blühen wird.“ Sie wandte sich den anderen zu, ihr Lachen eine Spur zu schrill. „Und da steht sie und bildet sich ein, sie könnte um einen Duke buhlen!“

So gemein.

Etwas Besseres fällt dir nicht ein?

Doch. Und ob. „Du meinst den Duke, den du dir angeln willst, richtig?“

Natasha lächelte hochnäsig. „Den ich mir angeln werde.“

„Leider kommst du zu spät“, entgegnete Felicity ohne zu zögern.

„Und wieso?“ Es war Hagin, der die Frage stellte. Hagin mit seiner selbstgefälligen Miene, seinem widerwärtigen Parfüm und einer Frisur, die eher zu einem der verkitschten Märchenprinzen gepasst hätte. Die Frage erfolgte so herablassend, als wäre er sich im Grunde zu schade, mit Felicity zu reden.

Als wären sie nicht einst Freunde gewesen.

Später würde sie ihre Antwort auf die Erinnerung an jene Freundschaft schieben. Auf das Echo jenes Lebens, das sie auf einen Schlag verloren hatte, ohne zu begreifen, weshalb. Auf die Trübsal, von der sie daraufhin befallen worden war. Auf den Ruin, in den sie dies getrieben hatte.

Irgendeinen Grund musste es schließlich geben dafür, dass sie sagte, was sie sagte, bedachte man, dass es purer Unfug war. Schierer Aberwitz.

Eine Lüge solchen Ausmaßes, dass sie die Sonne verdunkelte.

„Du kommst zu spät, um dir den Duke zu angeln“, wiederholte sie, sich wohl bewusst, dass sie unbedingt den Mund halten sollte. Doch die Worte drängten heraus, waren wie ein durchgehendes Pferd – zügellos und frei und unbezähmbar. „Weil ich ihn mir bereits geangelt habe.“

3. KAPITEL

Devil hatte Marwick House zum letzten Mal in jener Nacht betreten, als er seinen Vater kennengelernt hatte.

Er war zehn gewesen, zu alt, um im Waisenhaus zu bleiben, in dem er sein ganzes bisheriges Dasein verbracht hatte. Ihm waren Gerüchte darüber zu Ohren gekommen, was mit Jungen passierte, die zu alt für das Waisenhaus wurden. Er war ständig fluchtbereit gewesen, da er nicht ins Armenhaus abgeschoben werden wollte, wo er, sofern man den Geschichten glauben durfte, wahrscheinlich sein Leben gelassen hätte und seine Leiche unauffindbar verschwunden wäre.

Devil hatte die Geschichten geglaubt.

Da er gewusst hatte, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie ihn holen kämen, hatte er allabendlich seine Habseligkeiten zusammengepackt – ein Paar Strümpfe, das er aus der Wäscherei gestohlen hatte und das ihm zu groß war; eine Brotkante oder ein steinharter Keks, vom frühen Abendessen übrig geblieben; ein Paar Handschuhe, von zahllosen Jungen getragen und zu löchrig, um noch zu wärmen, sowie eine kleine vergoldete Nadel, die in der mit einem edlen roten „M“ bestickten Windel gesteckt hatte, mit der er als Säugling gefunden worden war. Die Nadel war längst abgeblättert und hatte sich in Messing zurückverwandelt, und das Windeltuch, ehedem weiß, war von Devils schmutzigen Fingern grau geworden. Doch es war alles, was ihm von seiner Vergangenheit geblieben war, und sein einziger Hoffnungsquell im Hinblick auf seine Zukunft.

Jede Nacht hatte er wach im Stockfinstern gelegen und dem Weinen der anderen Jungen gelauscht. Im Geiste hatte er die Schritte von seiner Pritsche bis zum Korridor und weiter bis zur Haustür gezählt. Zur Tür hinaus in die Nacht. Als hervorragender Kletterer hatte er beschlossen, über die Dächer zu flüchten statt durch die Straßen – so würden sie ihn nicht so leicht finden, sollten sie ihn verfolgen.

Wenngleich eine Verfolgung unwahrscheinlich gewesen wäre.

Wer hätte ihn schon gewollt?

Er hörte Schritte im Korridor widerhallen. Sie kamen ihn holen, um ihn ins Armenhaus zu bringen. Er rollte sich seitlich von der Pritsche, duckte sich und klaubte seine Habe zusammen, ehe er sich neben der Tür an die Wand drückte.

Das Schloss klickte, und die Tür schwang auf, sodass ein Streifen Licht hereinfiel – im Waisenhaus nach Einbruch der Dunkelheit sonst nie der Fall. Er rannte los, schlüpfte zwischen zwei Beinpaaren hindurch und schaffte es den halben Korridor entlang, bevor eine kräftige Pranke auf seiner Schulter landete und ihn kurzerhand hochhob.

Er trat um sich und schrie und verrenkte sich den Hals, um die Hand, die ihn gepackt hielt, zu beißen.

„Grundgütiger, was für ein ungebärdiger Bursche!“, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen, woraufhin Devil erstarrte. Nie zuvor hatte er ein solch kultiviertes, gemessenes Englisch gehört. Er ließ ab von seinem Bemühen, zu beißen, und drehte sich stattdessen zu dem Mann um, der ihn festhielt – groß wie ein Baum und der sauberste Mensch, den er je gesehen hatte, mit Augen von der Farbe der Dielenbretter in der Kammer, die zum Beten diente.

Devil verstand sich nicht aufs Beten.

Jemand hielt ihm die Kerze vors Gesicht, und er zuckte vor der hellen Flamme zurück. „Das ist er.“ Die Stimme des Vorstehers.

Abermals wandte sich Devil seinem Häscher zu. „Ich geh nich’ ins Armenhaus.“

„Selbstverständlich nicht“, erwiderte der Fremde. Er griff nach Devils Bündel und öffnete es.

„He! Das gehört mir!“

Der Mann ignorierte ihn und warf Socken und Keks beiseite, um die Nadel hervorzukramen und ins Licht zu halten. Devil schäumte vor Wut, weil dieser Mann, dieser Fremde, das Einzige anrührte, was er von seiner Mutter besaß. Das Einzige, was von seiner Vergangenheit übrig geblieben war. Er ballte die kleinen Hände zu Fäusten, holte aus und verpasste dem feinen Pinkel einen Hieb gegen die Hüfte. „Das is’ meins! Das dürfen Sie nich’ nehmen!“

Dem Mann entfuhr ein zischender Schmerzenslaut. „Herrgott! Dieser kleine Teufel weiß zuzuschlagen.“

Der Vorsteher wand sich. „Das hat er nicht bei uns gelernt.“

Devil blickte finster drein. Wo sonst sollte er es gelernt haben? „Geben Sie’s zurück.“

Der elegant gekleidete Herr winkte ihn zu sich und wedelte mit Devils Schatz. „Deine Mutter hat dir dies gegeben?“

Devil streckte eine Hand aus und entriss ihm die Nadel. Er verabscheute die Scham, die ihn bei diesen Worten befiel. Scham und Sehnsucht. „Ja“, nuschelte er.

Ein Nicken. „Ich habe nach dir gesucht.“

Hoffnung flammte in Devils Brust auf, heiß, ja fast unangenehm.

Der Mann sprach weiter. „Weißt du, was ein Duke ist?“

„Nein, Sir.“

„Das wirst du noch wissen“, versprach er.

Erinnerungen waren heimtückisch.

Devil schlich den langen Korridor im Obergeschoss von Marwick House entlang. Vom Stockwerk unter ihm drangen gedämpft Orchesterklänge hinauf in den schwach beleuchteten Gang. Seit einem Jahrzehnt hatte er nicht mehr an die Nacht gedacht, in der sein Vater ihn aufgespürt hatte. Vielleicht länger.

Aber heute Abend, in diesem Haus, das mehr oder weniger noch wie früher roch, erinnerte er sich an jedes Detail jener Nacht. An das Bad, das warme Essen, das weiche Bett. Als wäre er eingeschlafen und in einem Traum aufgewacht.

Und nichts als ein Traum war jene Nacht gewesen.

Bald darauf hatte der Albtraum begonnen.

Er verscheuchte die Erinnerung, als er das herzogliche Schlafzimmer erreichte, eine Hand auf den Türgriff legte, die Tür entschlossen, aber lautlos öffnete und eintrat.

Sein Bruder stand am Fenster, ein Glas in der herabhängenden Hand, das blonde Haar im Kerzenschein glänzend. Er wandte sich nicht zu ihm um. „Ich habe mich schon gefragt, ob du heute Nacht kommen würdest“, sagte er.

Die Stimme war noch dieselbe. Kultiviert, gemessen und tief, wie die ihres Vaters. „Du klingst wie der Duke.“

„Ich bin der Duke.“

Devil schloss die Tür hinter sich. „Das meinte ich nicht.“

„Ich weiß, was du gemeint hast.“

Devil pochte zweimal mit seinem Gehstock auf den Boden. „Haben wir nicht vor Jahren einen Pakt geschlossen?“

Ewan drehte sich so weit um, dass Devil sein Profil sah. „Ich habe zwölf Jahre lang nach euch gesucht.“

Devil ließ sich in den niedrigen Sessel vor dem Kamin sinken und streckte die Beine aus, in Richtung seines Bruders. „Wenn ich das bloß gewusst hätte.“

„Ich denke, das hast du.“

Natürlich hatten sie es gewusst. Sie waren kaum erwachsen gewesen, als immer wieder Männer im Elendsviertel herumgeschnüffelt und sich nach drei Waisen erkundigt hatten, die womöglich einige Jahre zuvor nach London gekommen seien. Zwei Jungen und einem Mädchen, mit Namen, die niemand in Covent Garden kannte … niemand außer den Bastarden selbst.

Niemand außer den Bastarden und Ewan, dem jungen Duke of Marwick, reich wie ein König und alt genug, um über sein Geld zu verfügen.

Doch acht Jahre im Armenviertel hatten Devil und Whit so einflussreich wie gewieft werden lassen, so stark wie Furcht einflößend, und aus Angst vor Vergeltung hatte keiner etwas über die Bareknuckle Bastards preisgegeben. Schon gar nicht gegenüber Fremden.

Und da die Fährte längst erkaltet war, hatten die Schnüffler stets den Schwanz eingekniffen und waren verschwunden.

Dieses Mal jedoch war kein Handlanger aufgetaucht, sondern Ewan höchstselbst. Und er hatte es geschickter denn je angestellt.

„Ich nehme an, mit deiner Ankündigung, auf Brautschau zu sein, hast du uns ködern wollen“, bemerkte Devil.

Marwick drehte sich zu ihm um. „Mit Erfolg.“

„Keine Erben, Ewan.“ Devil brachte es nicht über sich, ihn mit dem Herzogstitel anzureden. „So lautet die Abmachung. Weißt du noch, was passiert ist, als du das letzte Mal eine Vereinbarung mit mir gebrochen hast?“

Ewans Augen verdunkelten sich. „Ja.“

In jener Nacht hatte Devil ihm sein Ein und Alles, sein Liebstes geraubt. „Und weshalb glaubst du, ich würde es kein weiteres Mal so halten?“

„Weil ich heute ein Duke bin“, entgegnete Ewan. „Und mein Einfluss reicht weit über Covent Garden hinaus, ganz gleich, wie schlagkräftig deine Fäuste inzwischen sind, Devon. Ich werde dir die Hölle heißmachen. Und nicht nur dir. Unserem Bruder. Deinen Schergen. Deinem Geschäft. Du wirst alles verlieren.“

Das wäre es mir wert. Devil musterte seinen Bruder aus schmalen Augen. „Was willst du?“

„Ich habe dir gesagt, dass ich kommen würde, sie zu holen.“

Grace. Die Vierte in ihrem Bunde, die Frau, die Whit und Devil als Schwester bezeichneten, auch wenn sie nicht vom selben Blut waren. Das Mädchen, das Ewan schon damals geliebt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren.

Grace, die zu beschützen die drei Brüder vor vielen Jahren geschworen hatten, als sie jung und unschuldig gewesen waren, bevor Verrat das Band zwischen ihnen gekappt hatte.

Grace, die nach Ewans Verrat ein Geheimnis war, das seiner Herzogswürde so gefährlich werden konnte wie kein anderes. Denn es war Grace, die in Wahrheit das Herzogtum verkörperte. Grace, dem einstigen Duke und dessen Gattin, der Duchess, geboren. Grace, als Kind der beiden getauft, obgleich auch sie unehelich war.

Doch es war Ewan, der nun, Jahre später, diesen Namen trug. Der den Titel innehatte, der von Rechts wegen keinem von ihnen zustand.

Und Grace war der lebende, atmende Beweis dafür, dass Ewan den Titel, das Vermögen und das Leben, das er heute führte, gestohlen hatte – ein Diebstahl, den die Krone nicht auf die leichte Schulter nahm.

Ein Diebstahl, der, sollte er ans Licht kommen, dafür sorgen würde, dass Ewan vor den Toren Newgates am Galgen baumelte.

Devil verengte die Augen und sah seinen Bruder an. „Du wirst sie niemals finden.“

Ewans Miene verdüsterte sich. „Ich werde ihr nichts antun.“

„Wenn du meinst, das würden wir dir abnehmen, musst du so verrückt sein, wie deine teuren Blaublütigen behaupten. Erinnerst du dich etwa nicht mehr an die Nacht, in der wir uns davongemacht haben? Ich erinnere mich, wann immer ich in den Spiegel schaue.“

Ewan ließ den Blick verstohlen zu Devils Wange huschen, zu der garstigen Narbe, die auf eindringliche Weise daran gemahnte, wie brüchig brüderliche Bande waren, wenn es um die pure Macht ging. „Ich hatte keine Wahl.“

„Jeder von uns hatte in jener Nacht eine Wahl. Du hast dich für deinen Titel, dein Geld und dein Ansehen entschieden. Und wir haben dir dies alles zugestanden, obwohl Whit dich erlösen wollte, ehe die Fäulnis unseres Erzeugers dich dahinraffen konnte. Wir haben dich verschont, obwohl du uns nach dem Leben getrachtet hast. Unter einer Bedingung: Unser Vater wollte unbedingt einen Erben, und obgleich er in dir einen falschen gefunden hat, werden wir ihm niemals – nicht einmal jetzt, nach seinem Tod – die Genugtuung zugestehen, dass seine Linie fortlebt. In diesem Kampf werden wir immer auf unterschiedlichen Seiten stehen, Duke. Keine Erben, so lautete die Regel. Die einzige Regel. Allein ihretwegen haben wir dich mit deinem unrechtmäßig erworbenen Titel all die Jahre in Ruhe gelassen. Aber eines sollst du wissen – falls du beschließt, dich darüber hinwegzusetzen, werde ich dich vernichten, sodass du nie wieder glücklich werden wirst.“

„Du glaubst, ich wäre glücklich?“

Gott, Devil hoffte, dass dem nicht so sei. Er hoffte, dass es nichts gebe, was Ewan glücklich machen konnte. Er hatte sich an dessen legendärem Einsiedlerdasein geweidet in dem Wissen, dass Ewan in dem Haus leben musste, in dem sie gegeneinander ausgespielt worden waren, Bastardsöhne in einer Schlacht um Anerkennung. Um Namen und Titel und Vermögen. In dem Haus, in dem ihnen beigebracht worden war, zu tanzen und zu dinieren und mit einer Eloquenz zu parlieren, die der Schande ihrer Geburt hohnsprach.

Er hoffte, jede einzelne Erinnerung an ihre Jugend möge seinem Bruder zusetzen und die Reue darüber, diesem vermaledeiten Ungeheuer den ergebenen Sohn vorgegaukelt zu haben, möge ihn auffressen.

Dennoch log er. „Das ist mir gleich.“

„Ich habe mehr als ein Jahrzehnt lang nach euch gesucht, und jetzt habe ich euch gefunden. Die Bareknuckle Bastards, reich und skrupellos, die im Herzen von Covent Garden Gott weiß was für eine Verbrecherbande anführen – an dem Ort, der auch mich hervorgebracht hat, möchte ich betonen.“

„Und der dich in dem Augenblick ausgespien hat, als du ihn verraten hast. Und uns“, erwiderte Devil.

„Ich habe Hunderte Fragen gestellt, auf tausenderlei verschiedene Weise.“ Ewan wandte sich ab und fuhr sich fahrig durchs blonde Haar. „Keine Liebschaften. Keine Ehefrauen. Von Schwestern war auch keine Rede. Wo steckt sie?“

Panik schwang in den Worten mit, die vage Ahnung, er könnte den Verstand verlieren, wenn er keine Antwort erhielte. Devil hatte lange genug in der Dunkelheit gelebt, um Verrückte und deren Obsessionen zu verstehen. Er schüttelte den Kopf und dankte den Göttern mit einem Stoßgebet für die Loyalität der Menschen im Garden. „Da, wo du sie niemals finden wirst.“

„Du hast sie mir weggenommen!“ Wut stahl sich in die Panik.

„Wir haben sie vor dem Titel gerettet“, erwiderte Devil. „Vor dem, der schon deinen Vater verdorben hat.“

„Der auch dein Vater war.“

Devil ging nicht auf die Berichtigung ein. „Vor dem Titel, der dich verdorben hat. Der dich dazu verleitet hat, sie töten zu wollen.“

Eine ausgedehnte Minute lang starrte Ewan zur Decke empor. „Ich hätte dich umbringen sollen.“

„Sie wäre dennoch entkommen.“

„Ich sollte dich jetzt umbringen.“

„Dann wirst du sie niemals aufspüren.“

Devil sah, wie sich der ihm so vertraute Kiefer – ein Abbild der väterlichen Züge – verspannte. Ein wilder Ausdruck trat in Ewans Augen, ehe sein Blick leer wurde. „Lass dir gesagt sein, Devon, dass ich nicht gewillt bin, mich an die Abmachung zu halten. Ich werde Erben zeugen. Ich bin ein Duke. Binnen eines Jahres werde ich eine Frau und ein Kind haben. Sofern du mir nicht verrätst, wo sie ist, werde ich mich über unsere Vereinbarung hinwegsetzen.“

Devil, nun ebenfalls wütend, schloss die Hand fester um den Silberknauf seines Gehstocks. Jetzt wäre der richtige Moment, seinen Bruder zu töten. Ihn auf dem verdammten Fußboden verbluten zu lassen und der Marwick-Sippe zu geben, was sie verdiente.

Er tippte sich mit dem Ende des Gehstocks gegen die Spitze seines rechten schwarzen Stiefels. „Du tätest gut daran, nicht zu vergessen, was ich über dich weiß, Duke. Ein Wort von mir, und du hängst.“

„Warum zögerst du noch?“ Die Frage klang nicht provokant, wie Devil erwartet hätte, sondern eher gequält, als würde Ewan den Tod begrüßen. Als wollte er ihn heraufbeschwören.

Devil verdrängte diese Einsicht. „Weil es mehr Spaß macht, mit dir zu spielen.“

Das war gelogen. Nur zu gern hätte er diesen Mann, der einst sein Bruder gewesen war, vom Erdboden getilgt. Doch vor vielen Jahren, als er und Whit vom Marwick-Anwesen nach London geflohen waren, einer ungewissen Zukunft entgegen, hatten sie neben dem Schwur, Grace zu beschützen, noch einen weiteren geleistet, den Grace ihnen abverlangt hatte.

Ewan nicht zu töten.

„Ja, ich denke, ich werde dein albernes Spiel mitspielen“, sinnierte Devil, wobei er sich erhob und zweimal mit dem Gehstock auf den Boden klopfte. „Du unterschätzt die Macht eines Bastards, Bruder. Damen schwärmen für Männer, die ihnen einen Spaziergang im Dunkeln in Aussicht stellen. Ich freue mich schon darauf, deine künftigen Bräute ins Verderben zu stürzen, eine nach der anderen, bis in alle Ewigkeit und ohne Skrupel. Du wirst keinen Erben bekommen.“ Er trat zu seinem Bruder, sodass sie einander Auge in Auge gegenüberstanden. „Ich habe dir Grace genommen, obwohl sie genau vor deiner Nase war“, raunte er. „Glaubst du, das könnte ich nicht beliebig wiederholen?“

Heißer Zorn ließ Ewans Kieferpartie wie versteinert wirken. „Du wirst es bereuen, sie von mir ferngehalten zu haben.“

„Niemand hält Grace von irgendetwas fern. Sie selbst hat entschieden, dass sie nichts mehr mit dir zu tun haben will. Sie selbst hat entschieden, zu fliehen. Sie hat nicht darauf vertraut, dass du sie verschonen würdest. Immerhin zeugt sie von deinem dunkelsten Geheimnis.“ Er machte eine Pause. „Robert Matthew Carrick.“

Ewans Blick trübte sich bei diesem Namen, und Devil fragte sich, ob an den Gerüchten etwas Wahres war. Ob Ewan tatsächlich verrückt war.

Überrascht hätte ihn das nicht angesichts der Vergangenheit, die ihn nicht losließ. Die keinen von ihnen losließ.

Doch das interessierte Devil nicht, und so fuhr er fort: „Sie hat sich für uns entschieden, Ewan. Und ich werde dafür sorgen, dass jede Frau, die du umwirbst, sich ebenso entscheidet. Ich werde jede einzelne von ihnen ruinieren, mit dem größten Vergnügen. Und sie dadurch vor deinem kranken Verlangen nach Macht bewahren.“

„Du glaubst, dir würde nicht dasselbe Verlangen innewohnen? Du glaubst, du hättest es nicht von unserem Vater geerbt? Dabei nennt man euch die Könige von Covent Garden – ihr suhlt euch in Macht und Geld und Sünde.“

Devil grinste. „Das alles haben wir uns erarbeitet, Ewan.“

„Gestohlen, meinst du wohl.“

„Über Diebstahl dürftest du selbst das eine oder andere wissen. Über das Stehlen von Zukunftsaussichten. Von Namen. Robert Matthew Carrick, Duke of Marwick. Ein klangvoller Name für einen Bengel, der in einem Hurenhaus in Covent Garden geboren wurde.“

Ewan runzelte die Stirn. Sein Blick klärte sich, wodurch seine Augen dunkler wirkten. „So möge es denn beginnen, Bruder, denn offenbar wurde mir bereits eine Verlobte zuteil. Lady Felicia Fairhaven oder Fiona Farthing oder etwas ähnlich Absurdes.“

Felicity Faircloth.

So hatten die Hohlköpfe auf der Terrasse sie genannt, bevor sie sie niedergemacht, in Zugzwang gebracht und dazu verleitet hatten, in einem Anfall von ungeheuerlicher Dreistigkeit einen herzoglichen Verlobten zu erfinden. Devil hatte beobachtet, wie das Verhängnis seinen Lauf nahm, ohne verhindern zu können, dass sie sich in die Angelegenheiten seines Bruders verstrickte. In seine Angelegenheiten.

„Falls du mich davon überzeugen willst, du seist nicht darauf aus, Frauen zu verletzen, wird dir das nicht gelingen, indem du ein unschuldiges Mädchen in die Sache verwickelst.“

Abrupt sah Ewan auf, und Devil bereute seine Worte. Bereute, wie Ewan sie anscheinend deutete. „Ich werde ihr nichts antun“, sagte Ewan. „Ich werde sie heiraten.“

Die unschöne Ankündigung ging Devil gegen den Strich, doch er tat sein Bestes, die Empfindung zu ignorieren. Felicity Faircloth mit dem albernen Namen war nunmehr eindeutig in die Sache hineingezogen worden. Das bedeutete, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sie aufs Korn zu nehmen.

Ewan redete weiter. „Mir scheint, dass es ihre Familie nach einem Duke verlangt – so sehr, dass die Dame heute Abend kurzerhand erklärt hat, wir seien verlobt. Meines Wissens sind wir einander nicht einmal begegnet. Sie muss ein rechter Einfaltspinsel sein, aber das kümmert mich nicht. Erben sind Erben.“

Sie war kein Einfaltspinsel. Sie war faszinierend. Schlagfertig und wissbegierig und im Dunkeln unerschrockener, als er sich je hätte träumen lassen. Und mit ihrem Lächeln konnte sie jeden Mann bannen.

Wie bedauerlich, dass er sie würde ruinieren müssen.

„Ich werde ihre Angehörigen aufsuchen und ihnen Reichtum, Titel, alles nur Erdenkliche bieten. Was immer nötig ist. Am Sonntag werde ich das Aufgebot verkünden lassen“, erklärte Ewan so ruhig, als spräche er über das Wetter, „und binnen eines Monats werden wir vermählt sein. Bald wird es Erben geben.“

Niemand wird je wieder aufgenommen. Nicht ohne eine Partie zu machen, über die die Welt für alle Zeiten spricht.

Felicity Faircloths Worte kamen ihm in den Sinn. Sie würde begeistert über diese Wende der Ereignisse sein. Durch eine Ehe mit Ewan bekäme sie alles, was sie sich wünschte. Sie würde als Heldin in den Schoß des Adels zurückkehren.

Dazu allerdings würde es nicht kommen.

Weil Devil es nicht zulassen würde, betörendes Lächeln hin oder her. Wenngleich ihr Lächeln ihm den Ruin versüßen mochte.

Er zog die Brauen zusammen. „Nur über meine verrottende Leiche wirst du Erben mit Felicity Faircloth zeugen.“

„Meinst du, sie wird sich eher für Covent Garden als für Mayfair entscheiden?“

Ich möchte wieder dazugehören.

Mayfair verkörperte alles, wovon Felicity Faircloth träumte. Er würde ihr schlicht zeigen müssen, dass es noch andere lohnenswerte Dinge gab. Derweil schleuderte er sein schärfstes Messer. „Ich denke, sie wäre nicht die erste Frau, die sich lieber auf mich einlässt, als ihr Leben mit dir zu verbringen, Ewan.“

Das saß.

Ewan wandte den Blick ab und schaute wieder aus dem Fenster. „Verschwinde!“

4. KAPITEL

Forsch schritt Felicity durch die geöffnete Tür des Stammhauses ihrer Familie, wobei sie geflissentlich ihren Bruder ignorierte, der ihr dicht auf den Fersen war. Sie hielt nur inne, um sich für den Butler, der ihr die Tür aufhielt, ein Lächeln abzuringen. „Guten Abend, Irving.“

„Guten Abend, Mylady“, erwiderte der Butler förmlich, ehe er die Tür schloss und Arthur die Handschuhe abnehmen wollte. „Mylord.“

Arthur schüttelte den Kopf. „Ich bleibe nicht, Irving. Ich bin bloß hier, um mit meiner Schwester zu reden.“

Felicity fuhr herum und begegnete dem Blick seiner braunen Augen, die den ihren so ähnlich waren. „Jetzt möchtest du also reden? Die ganze Heimfahrt über haben wir einander angeschwiegen.“

„Als Schweigen würde ich das nicht bezeichnen.“

„Ach, nein?“

„Nein. Eher als Sprachlosigkeit.“

Sie gab einen spöttischen Laut von sich und nestelte an ihren Handschuhen, um ihren Bruder nicht ansehen zu müssen und die heiße Scham zu verdrängen, die sie bei dem Gedanken durchströmte, die Entwicklung des katastrophalen Abends erörtern zu müssen.

„Großer Gott, Felicity, ich bezweifle, dass es in der gesamten Christenwelt auch nur einen Bruder gibt, dem es angesichts deiner Impertinenz nicht die Sprache verschlüge.“

„Oh, bitte. Ich habe mich zu einer klitzekleinen Lüge hinreißen lassen.“ Abwinkend ging sie auf die Treppe zu, bemüht, so zu klingen, als wäre sie nicht entsetzt über sich selbst. „Zahlreiche Menschen haben weit schrecklichere Dinge getan. Es ist ja nicht so, als würde ich mich in einem Bordell verdingen.“

Arthur drohten die Augen aus den Höhlen zu treten. „Eine klitzekleine Lüge?“ Ehe sie etwas entgegnen konnte, fügte er an: „Und das Wort Bordell solltest du nicht einmal kennen.“

Sie drehte sich um, und da sie bereits zwei Treppenstufen genommen hatte, überragte sie ihren Zwillingsbruder. „Ach, tatsächlich?“

„Tatsächlich.“

„Vermutlich findest du es anstößig, dass ich das Wort Bordell kenne.“

„Das hat nichts mit meiner Meinung zu tun, es ist anstößig. Und hör auf, ‚Bordell‘ zu sagen.“

„Ist dir das peinlich?“

Ihr Bruder fixierte sie mit schmalen braunen Augen. „Nein, aber mir ist klar, dass du es darauf anlegst. Und ich möchte nicht, dass du Irving vor den Kopf stößt.“

Der Butler hob die Brauen.

Autor

Sarah Mac Lean
<p>Sarah MacLean wurde in Rhode Island geboren und besuchte die Harvard University, bevor sie ihren ersten historischen Roman schrieb. Bereits ihr Debüt landete auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Die zweimalige Gewinnerin des begehrten RITA-Awards verfasst regelmäßig Zeitungskolumnen über Liebesromane und engagiert sich zudem für Feminismus. Mit ihrem Ehemann lebt Sarah MacLean in...
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