Viel mehr als nur ein Nachbar

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Cass hat ein kleines Problem: Sie sitzt im Badezimmer fest. Ausgerechnet ihr attraktiver Nachbar eilt zur Rettung herbei. Als Rafe endlich die verklemmte Tür öffnet, stolpert Cass direkt in seine Arme. Ein himmlisches Gefühl! Doch damit fangen ihre Probleme erst an...


  • Erscheinungstag 16.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786946
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mom kann nicht aus dem Badezimmer raus, und ich muss zur Schule.“

Rafe Santini fuhr sich verschlafen mit der Hand über die Augen, in der Hoffnung, die kleine Gestalt vor seiner Haustür würde sich als Fata Morgana entpuppen. Schließlich war es erst sieben Uhr. Ratlos rieb er über sein unrasiertes Kinn. Er hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umging, und legte auch keinen Wert darauf, es zu wissen.

„Bitte helfen Sie mir.“ Der Kleine hatte Tränen in den Augen. Sicher würde er gleich anfangen zu weinen.

Mit einem Seufzer lehnte sich Rafe gegen den Türrahmen. Verdammt, er konnte dem Kleinen schlecht seine Hilfe verweigern. „Schon gut. Ich komme gleich.“

Rafe schlüpfte rasch in seine Schuhe. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand über die nackte Brust. Sollte er nicht wenigstens noch ein Hemd überziehen? Ach was, der kleine Junge sah so verzweifelt aus. Besser, er verlor keine Zeit.

Der Junge kam aus dem Haus gegenüber. Er hatte ihn schon ein paarmal dort im Garten Hausaufgaben machen sehen. Der Garten wirkte immer sehr gepflegt und aufgeräumt. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Kind wohnte. In der Einfahrt stand ein Volvo, der wohl schon bessere Tage gesehen hatte.

Der Junge packte seine Hand und zog ihn mit sich ins Haus. Es roch gut hier, frisch und sauber. Das Haus war ähnlich aufgeteilt wie seins. Doch im Gegensatz zu seinem war es komplett renoviert. Handgeknüpfte Teppiche lagen auf einem glänzenden Parkettboden, und das hölzerne Treppengeländer war abgeschliffen und frisch poliert. Seins war immer noch von einer jahrzehntealten Farb- und Schmutzschicht bedeckt.

„Andy, wo bist du?“, erklang eine besorgte Stimme aus dem oberen Stockwerk. „Komm sofort hoch!“

Rafe musste grinsen. Genau so hatte seine Mutter ihn auch immer gerufen, wenn er etwas angestellt hatte. Der Junge erwiderte sein Grinsen.

„Andy!“ Die Stimme klang jetzt eindeutig verärgert. Ihr Grinsen erlosch.

„Wir beeilen uns besser.“ Der Junge hastete die Stufen hinauf.

Rafe folgte ihm. Vor der Badezimmertür blieben sie stehen. „Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich habe Hilfe geholt.“

„Wen denn? Die einzige Person, mit der du reden darfst, ist in Urlaub.“

„Es ist schon in Ordnung. Ich habe den Mann von gegenüber mitgebracht. Von dem du immer sagst, dass dir sein Po gefällt.“

„Andy!“ Die Stimme klang jetzt sehr scharf, und Rafe hielt es für besser, die Frau so schnell wie möglich aus ihrem Gefängnis zu befreien, bevor sie noch vor Wut explodierte. Er musste lächeln. Es gab unangenehmere Anlässe, früh aufzustehen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die verschlossene Tür. Das Problem schien darin zu bestehen, dass unter der Tür eine Reihe von Spielzeugsoldaten eingeklemmt war. „Du spielst wohl gern alte Schlachten nach“, wandte er sich an den Jungen.

Der lächelte und entblößte eine Reihe perfekter, strahlender Zähne. „Ja, Gettysburg. Wir nehmen in der Schule gerade den Bürgerkrieg durch.“

„Andy, bitte heb dir deine Kriegsgeschichten für später auf“, ließ sich wieder die Stimme aus dem Badezimmer vernehmen. „Im Moment haben wir ein Problem mit dieser Tür. Sie klemmt.“

„Tut mir leid, Mom.“

„Schon gut. Ich denke, mit einer Haarnadel müsste es gehen.“

„Leider sind mir die Haarnadeln ausgegangen“, erwiderte Rafe trocken.

Ihre Stimme hatte diesmal etwas normaler geklungen. Die Frau schien sich zu beruhigen. Eigentlich gefiel ihm ihre Stimme sehr gut; sie war weich und voll und weckte die angenehmsten Assoziationen in ihm.

„Aber mir wird schon was einfallen. Gibt es hier im Haus einen Schraubenzieher?“, fragte er.

„Unten in der Küche. Was haben Sie vor?“ Wieder klang Besorgnis aus ihrer Stimme, und er überlegte, wie lange sie dort wohl schon eingeschlossen war. Sicher war es ihr zuwider, dass ein Fremder im Haus war, allein mit ihrem Sohn. Aber sie würde ihm nun einmal vertrauen müssen.

„Geh und bring ihn mir, Andy.“

Der Junge gehorchte ihm sofort.

Rafe bückte sich und betrachtete eingehend Türklinke und Schloss.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie noch da?“ Jetzt klang ihre Stimme ganz anders. Regelrecht formell, fast abweisend.

„Ja, ganz zu Ihren Diensten“, erwiderte er, um sie zu provozieren.

„Was wollen Sie nun tun?“ Ihr Ton war ein klein wenig freundlicher.

„Ich werde erst einmal die Klinke entfernen. Wenn das nicht hilft, muss ich die Tür aus den Angeln heben.“

„Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten.“ Ihr unpersönlicher Ton fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. „Zum Teufel, mir wäre das auch lieber. Aber wenn Sie nicht den ganzen Tag da drinnen verbringen wollen, wird mir vielleicht nichts anderes übrig bleiben.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in diesem Haus nicht fluchen würden. Andy ist in einem Alter, in dem ein Kind sich sehr leicht beeinflussen lässt.“

Er brummte nur unwillig. Was hätte er darauf auch antworten sollen? Jetzt wollte er diese Lady nur noch so rasch wie möglich aus ihrem Badezimmer befreien und von hier wegkommen. Er lachte in sich hinein. Wahrscheinlich war sie darüber verärgert, dass er nun wusste, dass ihr sein Po gefiel.

Er konnte hören, wie sie unruhig hinter der Tür auf und ab ging. Sobald sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, würde sie sicher den größtmöglichen Abstand zu ihm einhalten. Schließlich gehörte er nicht gerade zu der Sorte Männer, die Mütter gern in der Nähe ihrer Söhne sahen. Ihm war das nur recht. Er legte auch keinen Wert auf die Gesellschaft von Kindern.

„Wer sind Sie eigentlich?“, fragte sie. Jetzt klang ihre Stimme fast gelassen, oder eher resigniert?

„Aber Sie haben mich doch schon gesehen.“

Sie antwortete nicht gleich. „Aber wir haben noch nie miteinander gesprochen.“

„Ich bin Ihr neuer Nachbar von gegenüber.“ Er zog sein Taschenmesser aus der Hosentasche und stocherte in dem Schlüsselloch herum. „Wie lange sind Sie schon da drinnen?“

„Ungefähr eine Stunde. Ich habe ein Bad genommen.“ Sie hielt inne und räusperte sich. „Mr Santini, ich … äh … halten Sie mich nicht für undankbar, aber …“

„Hier ist er.“ Andy kam mit dem Schraubenzieher zurück.

Rafe entfernte die Türklinke. Das hätte nicht länger als eine Minute dauern dürfen, aber Andy stand die ganze Zeit neben ihm und löcherte ihn mit Fragen. Er dachte daran, dass er als Kind genauso gewesen war, und brachte deshalb die Geduld auf, ihm jede Frage zu beantworten.

Endlich ließ sich die Tür öffnen. Er hatte eine rundliche, matronenhafte Gestalt erwartet. Die Frau war schließlich Mutter, und wenn sie diesen vorwurfsvollen Ton in der Stimme hatte, erinnerte sie ihn an seine altjüngferliche Tante Florence. Aber Andys Mutter war nichts von alledem. Sie war – verdammt, er wehrte sich gegen das Wort –, aber sie war attraktiv. Einfach höllisch sexy.

Sie hatte ihr dunkles Haar hochgesteckt. Ein paar Locken fielen ihr ins Gesicht; ein herzförmiges Gesicht mit einem zarten, karamellfarbenen Teint. Ihre Augen waren braun, ein samtweiches, dunkles Braun. Der leichte, rosa Morgenrock, den sie trug, verbarg kaum etwas von ihren weiblichen Formen. Sie war wirklich äußerst attraktiv.

Beim Hinausgehen trat sie auf einen der Spielzeugsoldaten, hüpfte auf einem Bein und verlor das Gleichgewicht. Er fing sie auf. Sie fühlte sich leicht und zerbrechlich an – und war die Versuchung selbst. Für einen Moment vergaß er das Kind, ihre abweisende Haltung, ihre lächerliche Ansicht über seinen Po. Alles – bis auf die Tatsache, dass sie eine Frau war.

„Lassen Sie mich bitte los.“ Es war wieder dieser kalte Ton.

„Natürlich.“

Abweisend sah sie ihn an, offenbar ganz darauf bedacht, würdevoll zu erscheinen. Ein sinnloser Versuch, wenn man bedachte, dass sie nichts als einen zarten, seidenen Morgenrock anhatte, der sich wie eine zweite Haut um ihren Körper schmiegte.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie. „Ich bin übrigens Cassandra Gambrel. Andy kennen Sie ja schon.“

Überraschenderweise klang ihre Stimme jetzt wieder weich und angenehm, und die Hand, die sie ihm reichte, war klein und zierlich. Ihre Nägel waren in einem zarten Rosa lackiert, das perfekt zu dem natürlichen Ton ihrer Lippen passte.

„Rafe Santini“, erwiderte er.

„Danke, dass Sie mich befreit haben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hatte noch nie eine Frau mit so wundervoller Haut gesehen. Am liebsten hätte er die Stelle an ihrem Hals geküsst, wo eine kleine Ader pulsierte.

„Das Schloss an dieser Tür hat schon immer ein bisschen geklemmt“, erklärte sie.

„Ich werde es in Ordnung bringen.“ Er war froh über die Ablenkung.

„Du solltest dich besser anziehen, Mummy.“

Cassandra nickte und ging den Flur hinunter. „Stör den Mann nicht, Andy.“

„Schon gut, Mom.“

Rafe lachte leise in sich hinein. Er erinnerte sich gut daran, wie es war, ein kleiner Junge zu sein und gegen die elterliche Fürsorge anzukämpfen.

Andy nickte wissend. „Ich bin jetzt der Mann im Haus. Aber Mummy lässt mich nicht viel machen.“

„So sind Mütter nun mal.“

Andy seufzte. „Ja, so sind sie wohl.“ Es klang, als sei er schon zehn Jahre älter.

Seine Aufmerksamkeit galt wieder der Gestalt, die jetzt den Flur hinunterging. Ihr Gang war leicht und anmutig, ihr Hüftschwung verführerisch … Oh, verdammt!

Sobald sie in ihrem Schlafzimmer war, zog Cassandra sich hastig an, frisierte sich und versuchte dabei, möglichst nicht an ihn zu denken.

Bereits Rafe Santinis Po war sehr ansehnlich, aber von vorn sah dieser Mann einfach atemberaubend gut aus. Das Blaugrau seiner Augen erinnerte sie an vereiste Gletscher – aber mit einem glühenden Vulkan darunter. Sein schwarzes Haar war dicht und gelockt und weckte in ihr den Wunsch, es zu berühren. Und beim Anblick seines nackten Oberkörpers war ihr Blut schneller durch die Adern geschossen.

„Der, von dem du immer sagst, dass dir sein Po gefällt …“ Wenn sie nur daran dachte, würde sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Es war zu peinlich. Aber das war noch das geringste Problem.

Weitaus mehr Sorgen machte ihr die Art, wie Andy diesen Mr Santini angehimmelt hatte. Als ob er ein Held wäre oder, schlimmer noch, ein möglicher Vaterersatz.

Seit Carls Tod vor zwei Jahren war Andy auf der Suche nach einem neuen Vater. Nicht dass er es jemals offen zeigen würde. Aber sie merkte, wie er insgeheim Maß anlegte an jeden Mann, der ihnen begegnete.

Ich muss mich irgendwie bei Rafe Santini entschuldigen, dachte Cass. Der Gedanke war ihr zwar zuwider, aber sie war wirklich nicht sehr freundlich zu ihm gewesen. Doch es war ihr unangenehm gewesen, die Hilfe eines Fremden in Anspruch nehmen zu müssen.

Sie würde einfach so tun, als hätte Andy diese Bemerkung nie von sich gegeben, und wenn Mr Santini nur ein bisschen Anstand hatte, würde er das auch tun. Außerdem, was wäre das für ein Mann, der über die Qualitäten seines Pos reden wollte?

Als sie wieder auf den Flur hinaustrat, war sie überrascht zu sehen, wie geduldig Mr Santini auf ihren Sohn einging. Dabei war es offensichtlich, dass der Mann nicht an den Umgang mit Kindern gewöhnt war. Sein Wortschatz war fürchterlich. Aber er gab sich Mühe mit ihrem Sohn, und das stimmte sie ihm gegenüber ein wenig freundlicher.

Andy konnte einen mit seiner endlosen Fragerei zum Wahnsinn treiben. Manchmal ging er damit sogar ihr auf die Nerven. Aber dieser Mann, dieser Fremde, zeigte erstaunlich viel Geduld mit ihm. Ihr wurde warm ums Herz.

Sie räusperte sich. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Mr Santini?“

„Ja, gern.“

„Andy geh und mach dich für die Schule fertig.“

„Aber, Mummy …“

„Sofort, bitte.“

Andy trollte sich widerwillig.

„Sind Sie fertig mit der Tür?“, fragte sie.

„Im Moment, ja. Sie braucht einen neuen Beschlag. Ich habe das Schloss erst einmal ausgebaut, damit Sie nicht noch einmal drinnen feststecken.“

In dem weichen Licht der Flurlampe schienen seine Augen zu glühen. Sie hatte noch nie so nah bei einem Mann gestanden, der so eine starke männliche Ausstrahlung hatte wie Rafe Santini. Seine Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab, ohne dass er übermäßig muskulös wirkte. Sie musste daran denken, wie lange sie keine Gymnastik mehr gemacht hatte, und kam sich neben ihm plötzlich schlaff und unattraktiv vor.

„Ich bin bereit für den Kaffee.“

„Natürlich. Folgen Sie mir.“

Überraschend leichtfüßig für seine Größe ging er hinter ihr die Treppe hinab und in die Küche. Anstatt sich an den Tisch zu setzen, blieb er stehen und lehnte sich mit der Hüfte lässig an die Arbeitsplatte. Er trug verwaschene Jeans, die seine langen Beine wie eine zweite Haut umhüllten. Sein nackter Oberkörper war fast noch verführerischer als sein Po. Rafe Santini erinnerte sie an eine große Katze, die auf Beute wartete, und sie beteuerte sich zu ihrer Beruhigung, dass sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Maus hatte.

Begierde auf den ersten Blick, sagte sie sich. Himmel, dieser Santini war wirklich ein Bild von einem Mann. Es war nicht fair, dass er so umwerfend gut aussah, nicht, nachdem er so nett zu ihrem Kind gewesen war.

Doch er machte sie nervös. Es war eben zu lange her, dass ein Mann in ihrer Küche gewesen war. Ob er ihren Kaffee auch zu dünn finden würde, so wie Carl?

„Nochmals vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um uns zu helfen“, brach sie das Schweigen. Small Talk war nicht gerade ihre Stärke, aber etwas musste sie schließlich sagen.

„Keine Ursache.“

„Mr Santini …“

„Hm?“

Sie hasste es, wenn jemand mundfaul war, doch sie widerstand der Versuchung, ihn zu korrigieren. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so unfreundlich war.“

Er starrte sie an, bis sie das Gefühl hatte, Hörner zu haben oder einen Makel im Gesicht.

„Einen Fremden im Haus zu haben ist für mich sehr ungewöhnlich.“

„Dann hätten Sie Ihr Kind nicht losschicken sollen, um einen herbeizuholen.“

Cass straffte die Schultern. „Ich habe ihn nicht losgeschickt, jemanden zu holen. Ich habe ihm sogar verboten, aus dem Haus zu gehen, aber Andy …“ Sie brach ab.

„Jedenfalls ist er aus dem Haus gegangen, und er kam zu mir. Wie, zum Teufel, konnten Sie sicher sein, dass ich kein Mörder, Sexualverbrecher oder Kinderschänder bin?“

Fieberhaft suchte sie nach einer Entschuldigung, doch es gab keine. „Sie haben recht. Ich weiß wirklich gar nichts über Sie, außer …“

„Dass Ihnen mein Po gefällt.“

Oh nein! Warum hatte sie das jemals ihrer Schwester gegenüber erwähnt? Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein. „Und dass Sie einen Hund haben.“

„Tundra?“

„Wir sehen Sie manchmal, wenn Sie mit ihr spazieren gehen. Andy liebt Tiere.“

Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln, sodass es endlich nicht mehr so still in der Küche war. Nervös richtete sie den Blick auf den durchlaufenden Kaffee, nur um nicht den Mann vor ihr ansehen zu müssen.

„Mummy, ich bin fertig.“ Andy kam in die Küche. Seine Schuhe waren wie immer zu lose geschnürt.

„Komm her.“ Dankbar für die Ablenkung kniete sie sich vor ihn und band ihm die Schuhe richtig zu. Sie und Andy würden gleich gehen, und sie würde nicht länger Small Talk mit Mr Santini machen müssen. „So, fertig. Vergiss dein Schulfrühstück nicht, Liebling.“

Sie schenkte zwei Becher Kaffee ein und reichte einen davon Mr Santini. „Milch oder Zucker?“

„Danke, weder noch.“

Andy nahm eine Handvoll Vollkornkekse und bot Mr Santini davon an. Er nahm sie.

„Wir sind spät dran. Komm, Andy.“

„Bye, Mr Santini.“ Andy winkte zum Abschied.

Cass und Andy stiegen in den alten Volvo, und Cass fragte sich, wie sie mit ihrem neuen Nachbarn von jetzt an umgehen sollte. Den ganzen Weg über plapperte Andy über diesen Mr Santini, und das machte ihr Sorgen, so ungern sie sich das auch eingestand.

Als sie Andy an der Schule absetzte, läutete gerade die Schulglocke. Cass sah ihm nach, wie er zum Eingang rannte. Obwohl er erst sieben war, sah er seinem Vater schon sehr ähnlich, klein und drahtig. Vor zwei Wochen war er mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Seitdem hatte er ihr Gebot, sich auf keine Raufereien einzulassen, befolgt, war aber ängstlicher geworden, und sie wusste nicht recht, wie sie ihren Sohn jetzt behandeln sollte.

Cass wünschte, er würde immer ihr kleiner Junge bleiben, doch das war natürlich unmöglich. Sie seufzte. Mit Andy wurde es beständig schwieriger. Sie hatte stets geglaubt, dass man mit Erziehung alles in den Griff bekommen könnte. Doch Andy hatte einen starken Willen. Es fiel ihr nicht leicht, es zuzugeben, aber sie benötigte Hilfe.

Und nun lebte ein Mann mit der Ausstrahlung eines Supermachos direkt gegenüber, und Andy hatte ihn offenbar sofort ins Herz geschlossen. Das würde Probleme geben.

Noch hatte sie Andy im Griff, aber wenn es ihr nicht gelang, die Zügel in der Hand zu behalten, würde er ihre Autorität in ein paar Jahren nachdrücklich infrage stellen und dann vielleicht bald in Schwierigkeiten stecken. Mr Santini versprach da keine Hilfe. Allein wie er jeden Morgen in kurzen Hosen joggen ging! Er sah genau so aus, wie ein Jugendlicher sich einen richtigen Mann vorstellt. Athletisch, sportlich, muskulös. Und für jede Frau war er die fleischgewordene Versuchung.

Außerdem fuhr er einen teuren Sportwagen und hatte wahrscheinlich jede Menge blonder, vollbusiger Freundinnen. Er war eindeutig nicht ihr Typ, und eindeutig keine passende Gesellschaft für ihren Sohn.

Doch dann musste sie daran denken, wie nett er zu ihm gewesen war und wie er ihr vorwarf, dass sie ihn hatte, allein aus dem Haus gehen lassen. Ob hinter der Macho-Fassade noch etwas anderes verborgen war?

Wieder zu Hause, holte Cass die Kaffeekanne aus der Maschine und ging über die Straße. Rafe Santini saß vor seinem Haus. Sein sibirischer Schlittenhund lag zu seinen Füßen. Beide hatten die Augen geschlossen.

„Oh nein“, murmelte sie. „Er schläft.“

Rafe öffnete ein Auge.

Cass räusperte sich und hob die Kaffeekanne hoch. „Wie wär’s mit Nachschlag?“

„Also das nenne ich gute Nachbarschaft.“ Lässig hielt er seinen leeren Becher hoch.

Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, und Cass musste der Versuchung widerstehen, einfach zurückzugehen, in die Sicherheit ihres eigenen Hauses. Ihre Erfahrungen mit Männern beschränkten sich auf ihren verstorbenen Mann Carl. Sie hatte sehr jung geheiratet und nie Gelegenheit gehabt, mit anderen Jungs Erfahrungen zu sammeln.

„Mr Santini…“

„Rafe.“

Sie nickte nur. „Ich habe ein Angebot für Sie.“

Er lächelte. „Hat es etwas mit meinem Po zu tun?“

Sie merkte, dass sie rot wurde. Andy würde etwas zu hören bekommen nach der Schule. „Nein, mit etwas ganz anderem.“

Er hob eine Augenbraue und musterte sie. „Und das wäre?“

„Ich wollte …“ Es war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. „Ich wollte Ihnen noch mal danken, dass Sie mir heute geholfen haben, und fragen, ob ich nicht auch etwas für Sie tun kann.“

„Jetzt, da Sie davon sprechen, fällt mir etwas ein, das ich gern hätte.“

Er senkte die Lider eine Spur und ließ den Blick von oben bis unten über ihren Körper gleiten. Es verursachte ihr ein Kribbeln, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Unsicher trat sie einen Schritt zurück. „Und was wäre das?“

„Sie. Was halten Sie davon?“

Ihr Puls raste, und sie fühlte sich wie ein Schulmädchen. Nachdem sie ein paarmal tief Luft geholt hatte, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Im Ernst, Mr Santini.“

„Nennen Sie mich Rafe.“

Seine Augen waren wirklich außergewöhnlich. Hell und strahlend in dem dunklen Gesicht, auf dem offenbar immer ein leicht spöttischer Ausdruck lag. Sie fragte sich, ob dieser Mann jemals etwas ernst meinte.

„Na gut … Rafe.“ Sein Name kam ihr nicht leicht von den Lippen. Wenn Rafe Santini doch nur ein bisschen mehr wie Tony, ihr Schwager, wäre, oder wie Marcus mit der Halbglatze, der ein Stück weiter die Straße hinunter lebte, dann hätte sie so tun können, als sei er ein Kumpel.

Aber das war er nicht. Er war ein dunkelhäutiger Italoamerikaner mit dem stärksten Selbstbewusstsein der Welt. „Was ich sagen wollte, war eher: Willkommen in unserer Straße, und falls Sie sich einmal selbst im Bad einschließen sollten, bin ich gern bereit, zu helfen.“

Wieder hob er spöttisch eine Braue, und seine Mundwinkel zuckten. „Hätte Mr Gambrel nicht etwas dagegen?“

„Mein Mann ist tot.“

Er fluchte leise. Es war ein ziemlich vulgärer Fluch, und sie hatte ihn noch nie zuvor gehört. Niemand in ihrem Bekanntenkreis fluchte.

Da streckte er auf einmal die Hand aus und berührte sie am Arm. Die raue Haut seiner Finger stand in seltsamem Kontrast zu der Sanftheit seiner Stimme. „Tut mir leid.“

„Ist schon gut.“ Und das war es auch. Sie hatte Carls Tod verwunden. Es war fast so, als ob die Zeit mit ihm zu einem anderen Leben gehört hätte. Außer dass er ihr Andy hinterlassen hatte.

Sie blickte Rafe Santini an. In seinen blaugrauen Augen lag etwas, das den Schmerz widerzuspiegeln schien, den der Verlust ihres Mannes für sie gewesen war.

Wen hatte er wohl verloren? Sie wollte es ergründen, wollte plötzlich so viel wie möglich über ihn erfahren. Obwohl es sie doch eigentlich nichts anging, ganz zu schweigen davon, dass es unklug wäre. Trotzdem, die Trauer in seinem Blick stand in einem solchen Gegensatz zu seinem selbstbewussten Auftreten, dass sie sich einfach Gedanken darüber machte.

Sie wusste so gut wie nichts über Rafe Santini. Er war zwei Wochen zuvor in dieses Haus eingezogen, und sie hatte ihn immer nur kurz gesehen, wenn er joggen ging oder mit seinem Hund spielte.

Vielleicht sollte sie es dabei auch belassen. Denn solange sie ihn nicht wirklich kannte, könnte sie in aller Ruhe von ihm träumen, oder mit Eve, ihrer Schwester, über ihn sprechen.

Ihr Verstand sagte ihr, dass es das Beste sei zu gehen, aber dieser gequälte Ausdruck, den sie in seinen Augen gesehen hatte, ließ ihr keine Ruhe.

„Ich hatte gehofft, Sie würden mir anbieten, meine Fenster zu putzen.“ Er grinste.

„Kommt nicht infrage“, gab sie zurück und zwang sich, nicht zu lächeln. Er war ein charmanter Gauner, dieser Mr Santini. „Rufen Sie mich, wenn Sie einmal irgendwo feststecken, weil die Tür klemmt.“

Rafe hatte geistesabwesend eine Hand auf die Brust gelegt, und aus irgendeinem Grund blickte Cass wie gebannt darauf.

„Müssen Sie nicht zur Arbeit?“, fragte sie unvermittelt. Warum machte es sie nur so nervös, dass er kein Hemd anhatte? Jeder Mann in dieser Straße lief im Sommer in seiner Freizeit ohne Hemd herum. Aber bei diesem hier war es anders. Als Kind hatte man sie gelehrt, dass man niemals das Haus verlassen sollte, solange man nicht vollständig angezogen war. Jetzt begriff sie, warum.

„Ich habe Urlaub“, erwiderte er trocken.

„Oh, da haben Sie sicher etwas vor.“ Sie hoffte, er würde nach Key West fliegen oder nach Hawaii, oder Afrika. Dann hätte sie wenigstens Zeit, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Ein Teil von ihr, einer, den sie lange verborgen gehalten hatte, war plötzlich zu neuem Leben erwacht. Warum war sie überhaupt zu Rafe herübergekommen?

„Ja“, bestätigte er. „Ich werde dieses Haus renovieren.“

„Tatsächlich? Sie allein?“

„Meine Leute kommen am Wochenende, um das Gröbste zu erledigen. Die Innenausstattung mache ich selbst.“

„Sie haben eine eigene Baufirma, nicht wahr?“ Emily, eine Nachbarin, hatte es ihr erzählt.

„RGS Haus- und Innenausbau“, sagte er mit einem Anflug von Stolz. Wieder musterte er sie. „Sind Sie berufstätig?“

„Ja. Ich habe einen Antiquitätenservice. Das geht von zu Hause aus. Ich restauriere Antiquitäten und helfe meinen Kunden dabei, Stücke für ihre Einrichtung zu finden.“

„Klingt interessant. Ich werde auf Sie zukommen, wenn ich anfange, mein Haus einzurichten.“

Cass betrachtete angelegentlich den Rasen vor Rafes Haus. Es war ihr unangenehm, mit einem Nachbarn über Geschäftliches zu reden.

„Wofür steht RGS?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Raphael G. Santini.“ Er nippte an seinem Kaffee.

Raphael, dachte sie. Was für ein schöner Name. Seine Mutter muss eine romantische Ader haben. „Und wofür steht das G?“

„Für meinen zweiten Vornamen.“ Sein Ton war wie meistens spöttisch, als ob die ganze Welt ein großer Witz für ihn wäre.

„Ach wirklich? Da wäre ich nicht draufgekommen. Nun kommen Sie schon. So schlimm kann der Name doch nicht sein?“ Sie versuchte, ihn durchbohrend anzusehen.

„Niemals.“ Er verzog keine Miene. Sein Ausdruck sagte ihr, dass er sich eher foltern lassen würde, als ihr seinen zweiten Vornamen zu verraten. Interessant.

„Ich mache Ihnen wohl gar keine Angst, was?“ Es machte Spaß, sich mit Rafe Santini zu unterhalten.

„Absolut nicht.“ Er lächelte.

„Darf ich raten?“

„In diesem Land ist jeder frei.“

„Ist es George?“

Er schüttelte den Kopf.

„Gary?“

Wieder folgte Kopfschütteln. „Gregory?“

„Geben Sie es auf Mrs Gambrel. Niemand wird jemals diesen Namen erraten.“

„Nennen Sie mich Cass“, erwiderte sie spontan. Er würde es ihr nicht sagen, und es ging sie ja auch gar nichts an. Hänge ich hier nicht wie eine nach Sex ausgehungerte Witwe herum? fragte sie sich.

Autor

Katherine Garbera
<p>USA-Today-Bestsellerautorin Katherine Garbera hat schon mehr als neunzig Romane geschrieben. Von Büchern bekommt sie einfach nicht genug: ihre zweitliebste Tätigkeit nach dem Schreiben ist das Lesen. Katherine lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihrem verwöhnten Dackel in England.</p>
Mehr erfahren