Was ist Ihr dunkles Geheimnis, Mylord?

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Ihr Vater will ihre sanftmütige Schwester Cathy mit dem notorischen Lebemann Max St. James verheiraten? Das kann die temperamentvolle Bianca nicht zulassen! Sie hilft Cathy, mit ihrem heimlichen Verlobten durchzubrennen – und muss selbst mit Max vor den Altar treten, so verlangt es der Ehevertrag. Natürlich kann es nur eine Verbindung zum Schein sein! Doch Max hat offenbar anderes im Sinn: Er verführt Bianca mit seinem männlichen Charme, bis sie vor Verlangen bebt. Dennoch hindert sie etwas daran, in seinen Armen die Liebe zu entdecken: Immer wieder erhält Max geheimnisvolle Briefe, die ihn traurig und wütend machen. Was verschweigt er ihr bloß?


  • Erscheinungstag 04.01.2022
  • Bandnummer 374
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510998
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

1787

Die Nachricht vom unerwarteten Tod des Vikars der St. Mary’s Kirchengemeinde in Kittleston löste eine Welle der Fassungslosigkeit und der tiefen Trauer unter seinen Gemeindemitgliedern aus. Gerade einmal fünfundvierzig Jahre alt, war er ein überaus beliebter, ruhiger und heiterer Mensch gewesen, der stets ein freundliches Wort, eine helfende Hand oder ein offenes Ohr für alle übrig gehabt hatte, die dessen bedurften.

Die Damen der Gemeinde trafen ein, um Miss Calvert, der Verlobten des Verstorbenen, Trost zu spenden, die in der Stadt genauso beliebt war und deren verzweifeltes Schluchzen so manchen Nachbarn selbst zu Tränen rührte. Jeder in der Gemeinde fand, dass es schrecklich traurig für die arme Miss Calvert, aber auch für die Kirchengemeinde war, denn wie sollten beide darauf hoffen können, je wieder einen solchen Mann zu finden?

Zwanzig Meilen von Kittleston entfernt löste die Nachricht im prunkvollen Carlyle Castle eine ganz andere Art von Trauer aus, dazu eine Schockwelle der Verzweiflung, die das große Anwesen in seinen Grundfesten zu erschüttern schien. Stephen St. James war nicht nur der beliebte Vikar von St. Mary’s gewesen, sondern auch der jüngste Bruder Seiner Gnaden, des Duke of Carlyle.

„Eine Verletzung durch eine rostige Sense“, erklärte Mr. Edwards, der Anwalt der Familie. Er hatte zwei Tage zuvor die Nachricht von der Verschlechterung des Zustands von Lord Stephen erhalten und war sofort ins Schloss geeilt. „Er hat sie in seinem Garten benutzt, um besonders hartnäckiges Unkraut zu entfernen, und sich dabei versehentlich ins Bein geschnitten. Bis man schließlich einen Arzt geholt hat, war die Wunde schon hochgradig entzündet gewesen. Man sagte mir, er habe nicht lange leiden müssen“, fügte er leise hinzu.

Ihre Gnaden, die Duchess of Carlyle, starrte aus dem Fenster. Ihre Augen waren trocken, und ihre Miene war gefasst, aber in ihren Händen hielt sie ein zerknülltes Taschentuch. „Gott sei Dank, wenigstens das. Mein armer Junge“, flüsterte sie. „Er hat seinen Garten so geliebt …“

„Miss Calvert war bei ihm, als es geschah. Sie drängte ihn, einen Arzt kommen zu lassen, aber er tat die Verletzung als geringfügig ab.“ Mr. Edwards berichtete das nur äußerst widerstrebend, aber er hatte es ihr versprochen. Emily Calvert war geradezu außer sich gewesen und hatte ihn angefleht, die Duchess in ihrem Namen um Vergebung und Gnade zu bitten. Sie hielt sich für eine Mörderin, weil sie nicht darauf bestanden hatte, sofort einen Arzt hinzuzuziehen.

„Das arme Mädchen“, erwiderte die Duchess, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. „Sie darf sich keine Vorwürfe machen. Niemand hätte Stephen dazu überreden können. So war er nun einmal.“ Bei den letzten Worten klang ihre Stimme ein wenig brüchig. Sie atmete tief durch. „Jemand soll sich erkundigen, ob Miss Calvert irgendetwas benötigt und wir sie unterstützen können.“

Mr. Edwards räusperte sich. „Sie würde gern sein Grab besuchen.“

Die Duchess schwieg einen Moment. „Dazu müssen wir ihn erst einmal beisetzen.“ Sie seufzte und hob die Hände. „Natürlich darf sie das. Ich kann es ihr wohl kaum verwehren.“

Mr. Edwards notierte sich das, während die Porzellanuhr auf dem Tisch gleichmäßig tickte. „Haben Sie irgendwelche Wünsche bezüglich der Beisetzung?“

„Heywood wird wissen, was zu tun ist.“ Damit meinte sie den Butler von Carlyle. „Das Gleiche wie bei … bei Lady Jessica.“

Lady Jessica war die geliebte einzige Tochter der Duchess gewesen. Sie hatten sie erst sieben Jahre zuvor beerdigen müssen, und die Stimme Ihrer Gnaden brach noch immer, wenn sie ihren Namen aussprach.

„Jawohl, Madam.“ Er machte sich ein paar weitere Notizen. „Ich nehme an, Seine Gnaden weiß inzwischen Bescheid?“

Die Duchess verzog kummervoll das Gesicht. „Nein. Ich werde es ihm später sagen, er fühlte sich heute Morgen nicht wohl.“

„Natürlich“, murmelte der Anwalt. Die Duchess war zwar eine starke Frau, aber auch eine Mutter, die gerade ihren jüngsten Sohn verloren hatte. Jetzt musste sie ihrem letzten noch lebenden Kind mitteilen, dass die Familiengruft erneut geöffnet werden würde, um seinen Bruder darin beizusetzen. Dieses Gespräch würde wohl kaum kurz und umkompliziert verlaufen. Der Duke war nicht sonderlich schnell von Begriff, und man wusste nie so recht, ob er etwas wirklich verstanden hatte. Doch daran konnte er nichts ändern. Mr. Edwards zögerte. „Da gibt es noch etwas, das ich zur Sprache bringen muss …“

„Ja, ja“, brauste sie ungehalten auf. „Ich weiß.“

Er wartete ab, aber als sie nichts mehr sagte, fuhr er widerstrebend fort. Die Angelegenheit war dringend, und die Duchess hätte ihm darin sicher zugestimmt, wenn sie nicht so gramerfüllt gewesen wäre. „Ich habe mir die Freiheit genommen, mir die Familienunterlagen einmal gründlich anzusehen … Es ist immer besser, genauestens informiert zu sein, denke ich, obwohl ich es zutiefst bedauere, dass es nun notwendig geworden ist …“

„Wirklich?“ Die Duchess versuchte sichtlich, sich zusammenzunehmen, und Mr. Edwards wandte taktvoll den Blick von ihr ab. „Also gut“, meinte sie nach einer Weile knapp, „wer ist es?“

Lord Stephen war nicht nur der jüngere Bruder des Dukes gewesen, sondern auch sein einziger Erbe. Nach einem schrecklichen Unfall vor vielen Jahren befand sich der Duke geistig auf dem Stand eines Kindes. Er hatte nie geheiratet, nie einen Sohn gehabt, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Lord Stephens Tod hatte nun zur Folge, dass der Titel an einen entfernten Cousin übergehen musste.

Alle in Carlyle Castle hatten inständig gehofft, dass aus Lord Stephens Ehe ein Erbe hervorgehen würde. Miss Calvert war keine ganz junge Frau mehr, aber auch noch nicht zu alt, um Kinder bekommen zu können, und sie und Lord Stephen hatten aufrichtige Zuneigung füreinander empfunden. Jetzt hatte sich diese Hoffnung zerschlagen, und das bedeutete, dass der künftige Erbe irgendwo da draußen war und keine Ahnung hatte, welch gewaltiges Vermächtnis auf ihn zukam.

Mr. Edwards zog ein Papier aus seiner Aktentasche. Dreißig Jahre zuvor war Lord William, der zweitälteste Carlyle-Sohn, in den amerikanischen Kolonien ums Leben gekommen, kurz vor dem Unfall des Dukes. Als die Jahre vergingen und Lord Stephen nicht heiratete, war die Erbfolge in Gefahr geraten. Still und diskret hatte Mr. Edwards angefangen, Nachforschungen über drei Männer anzustellen, immer in der Hoffnung, dass dieser schreckliche Fall niemals eintreten würde.

Trotz der dringenden Notwendigkeit musste er nun mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Edwards war seit fünfundzwanzig Jahren der Anwalt der Carlyles; lange genug, um alle Familiengeheimnisse zu kennen, auch die unangenehmen. Er beschloss, mit der einfachsten Möglichkeit anzufangen. „Captain Andrew St. James, Schottische Garde Seiner Majestät. Sein Großvater war der jüngere Bruder Seiner Gnaden, des vierten Dukes.“

„Ja“, sagte sie, und ihre Miene blieb ausdruckslos bei der Erwähnung ihres verstorbenen Gemahls. „Ich erinnere mich. Er ist also Adams Enkel. Schlägt der junge Mann seinem Großvater in irgendeiner Weise nach?“

Mr. Edwards räusperte sich. Lord Adam war in jeder Hinsicht vernünftig und charmant gewesen, was ihn allerdings nicht vor einem ernsthaften Zerwürfnis mit seinem älterem Bruder, dem vierten Duke, bewahrt hatte. Lord Adam hatte den Familienbesitz schon vor Jahrzehnten verlassen. „Ich weiß es nicht, Euer Gnaden. Man hat mir berichtet, dass Captain St. James ein ehrenwerter und angesehener Mann ist.“

Sie schnaubte leise. „Wie alt? Ist er verheiratet?“

„Um die dreißig, Madam, und soweit ich weiß nicht verheiratet.“

Sie seufzte. „Typisch Militär.“ Ihr zweitältester Sohn war zur Armee gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Sie hielt nicht sehr viel vom Militär. Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern. „Wir sollten wohl dankbar sein, dass er überhaupt so lange überlebt hat. Das könnte bedeuten, dass er entweder sehr klug oder ausgesprochen dumm ist. Ich weiß nicht, was mir lieber wäre. Sonst noch jemand?“

Edwards holte ein weiteres Papier hervor. „Mr. Maximilian St. James.“

„Ihrem Tonfall nach zu urteilen ist dieser hier nicht ganz so ehrenwert.“

Er sah ihr in die Augen. „Er ist ein Spieler, Euer Gnaden. Er scheint kein Einkommen zu haben, ist aber in den Spielhöllen wohlbekannt. Er stammt vom zweiten Duke ab, ist siebenundzwanzig Jahre alt und ebenfalls unverheiratet.“

„Die jungen Männer in England sind heutzutage so lasterhaft und liederlich.“ Sie runzelte die Stirn. „Andere gib es nicht?“

„Hm … vielleicht doch.“ Er zögerte, das war der heikelste Fall von allen. „Seine Gnaden, der vierte Duke, hatte zwei jüngere Brüder.“

„Ach ja!“, sagte sie nach einer Weile überrascht. „Herrgott, den hatte ich ja ganz vergessen.“

Mr. Edwards nickte. Fast alle hatten ihn vergessen, weil der Duke das so verlangt hatte. Lord Adam war zwar verbannt worden, aber über ihn sprach man in Carlyle Castle noch. Lord Thomas St. James hingegen war im Alter von fünf Jahren verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Er war der Lieblingssohn seiner Mutter gewesen – sie hatte ihn so sehr geliebt, dass sie ihn mitgenommen hatte, als sie ihren Mann, den dritten Duke, verlassen hatte und in ihr Heimatland Frankreich zurückgekehrt war. Man munkelte, sie wäre zu dem französischen Vicomte zurückgekehrt, der ihr Liebhaber gewesen war, und Lord Thomas in Wirklichkeit sein Kind.

Es war ein gewaltiger Skandal gewesen, und der dritte Duke hatte verkündet, sowohl seine Frau als auch sein Sohn seien für ihn gestorben. Einmal waren sechs Bedienstete ausgepeitscht worden, weil sie über sie getuschelt hatten. Danach waren die Namen der geflüchteten Duchess und ihres Sohnes den Bediensteten nie mehr über die Lippen gekommen. Der vierte Duke hatte seiner Mutter ebenfalls nie verziehen, und so waren Anne-Louise und ihr Sohn Thomas im Lauf der Zeit völlig in Vergessenheit geraten.

„Ich habe ein paar Versuche unternommen, ihn und seine Mutter aufzuspüren, aber leider erfolglos. Es ist Jahrzehnte her, wer weiß, wo sich Lord Thomas heute aufhält?“

Sie schnaubte leise. „Seine Enkel, meinen Sie. Er selbst müsste jetzt mindestens achtzig sein, wenn er denn noch lebt – die Männer der Carlyles werden im Allgemeinen nicht so alt.“ Erneut huschte ein Ausdruck der Trauer über ihre Züge. „Und falls er Enkel haben sollte, dann wären sie Franzosen.“

„Wahrscheinlich“, murmelte Mr. Edwards. „Ich werde wohl eine gründlichere Suche nach Lord Thomas und eventuellen Nachkommen von ihm in die Wege leiten.“

„Muss das sein?“, fragte sie ungehalten.

Er zögerte. „Sollte ein Sohn oder ein Enkel von Lord Thomas am Leben sein … so hätte er den Hauptanspruch auf das Erbe, Euer Gnaden.“

Eine Weile saß sie stumm und mit missbilligender Miene da. „Ein Militär, ein Spieler und ein Franzose.“ Sie richtete den Blick nach oben zur kunstvoll gestalteten Zimmerdecke, dann zu den hohen Fenstern, auf die anmutigen Möbel und die Gemälde mit den vergoldeten Rahmen. „Und einer von ihnen wird Carlyle bekommen.“ Sie wandte sich wieder Edwards zu. „Holen Sie sie her. Alle, falls Sie in Hinblick auf Thomas in Frankreich fündig werden, aber auf jeden Fall die beiden anderen, und zwar so schnell wie möglich. Ich werde nicht zulassen, dass irgendein unerfahrener Dummkopf oder ein herzloser Schurke den Platz meines Sohnes einnimmt.“

„Jawohl, Madam.“

„Und stehen Sie mir in der nächsten Woche zur Verfügung“, fuhr sie fort. „Ich brauche Beistand, was diese in der Tat wenig spektakulären Erben angeht, und auch ein paar dringende, den Besitz betreffende Angelegenheiten müssen geregelt werden.“

Mr. Edwards seufzte. „Euer Gnaden, ich kann mich nicht um den ganzen Besitz kümmern, selbst wenn ich ins Schloss einziehen würde. Sie müssen mir gestatten, einen neuen Verwalter einzustellen. Mr. Grimes hat ausdrücklich betont, dass er vollkommen außerstande ist, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und ich fürchte, das ist endgültig …“

Sie wedelte gereizt mit der Hand. „Gut. Aber erst einmal nur auf Probe“, sagte sie rasch, als der Anwalt erleichtert aufatmete. „Ich komme mit Grimes sehr gut zurecht und gebe die Hoffnung nicht auf, dass er zurückkommt.“

Mr. Grimes war fast siebzig und an einem Lungenleiden erkrankt; er würde nie wieder arbeiten können. Mr. Edwards hatte bereits alles bezüglich seiner Pension in die Wege geleitet und brauchte nur noch die Zustimmung der Duchess – und einen Nachfolger. Bis dahin war Mr. Edwards allein für alles zuständig, und diese letzten sechs Monate hatten ihn beinahe selbst pensionsreif gemacht. „Ich werde mich umhören, sobald ich wieder in London bin, Madam.“

„Hm.“ Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und hob mahnend den Zeigefinger. „Einen nüchternen, verlässlichen Mann, Mr. Edwards, mit großer Erfahrung darin, einen solchen Besitz zu verwalten. Nicht einen dieser jungen Schnösel, die unbedingt Dinge verbessern wollen, die gar nicht verbessert werden müssen!“

„Natürlich, Madam.“

„Sie können jetzt gehen“, verkündete sie, und der Anwalt erhob sich, sammelte seine Papiere ein, verneigte sich mehrmals und verließ den Raum.

Sophia Constance St. James, einst eine der begehrtesten Erbinnen in England, saß in ihrem mit Seide bezogenen Sessel, während ihre mit Ringen geschmückten Finger ein Taschentuch aus feinstem irischen Leinen zerknüllten, und sah durch das große, zweiflügelige Fenster hinaus auf die weite Rasenlandschaft, auf der sich Schafe tummelten, bis hin zu den Bergen in der Ferne. Carlyle – so weit das Auge reichte und noch darüber hinaus.

Vor fast sechzig Jahren war sie hierhergekommen, als junge Braut von George Frederick, dem vierten Duke; einem Mann, der beinahe doppelt so alt war wie sie. An ihrem Hochzeitstag hatte ihr ihre Mutter flüsternd empfohlen, sich beizeiten in der Ehe zu behaupten, wenn sie nicht die ewig Nachgebende bleiben wollte. Sie hatte sich dafür entschieden, sich zu behaupten; sie war das einzige Kind und die Erbin eines reichen Bankiers, der ihr ein enormes Vermögen mit in die Ehe gegeben hatte, deshalb verlangte sie von ihrem Mann, dass er ihren Wert erkannte. Und er, so tyrannisch und arrogant er sonst war, hatte das auch getan, weil sie ihm gar keine andere Wahl ließ.

Nach seinem Tod hatte sie mit einem etwas leichteren, bequemeren Leben gerechnet, doch dann hatte sie den verheerenden Verlust eines Sohns, die beinahe tödliche Verletzung ihre Ältesten und den Tod ihrer einzigen Tochter erleiden müssen. Trotz allem hatte sie ihre Pflichten nie vernachlässigt. Fast dreißig Jahre lang hatte sie an Stelle ihres Sohnes über den ganzen Besitz gewacht, fest entschlossen, Carlyle für die nächste Generation zu erhalten und zu bewahren.

Nun würde der Sohn einer anderen alles bekommen – während sie ihren eigenen begraben musste, den liebevollen, charmanten und geliebten Stephen, ihren ganz besonderen Liebling. Drei ihrer Kinder waren tot, und mit ihnen waren all ihre Träume gestorben. Obwohl ihr Ältester noch lebte, so war er doch längst nicht mehr ihr Johnny, und er hatte nie das Leben gelebt, das sie sich immer für ihn erträumt hatte. Die weite, grüne Landschaft vor ihrem Fenster hätte genauso gut ein Trugbild sein können.

Ein Rascheln ihrer Röcke holte sie aus ihren trüben Gedanken. „Also wirklich, Percival!“, rief sie aus, als der rote Kater auf ihren Schoß sprang.

„Es tut mir leid, Großmutter“, sagte Philippa Kirkpatrick und schloss die Tür hinter sich. „Er hat draußen vor der Tür gewartet.“

Die Duchess lächelte, hob den Kater hoch und sah ihm in die Augen. „Du willst immer und überall dabei sein, nicht wahr, mein Großer?“ Sie setzte ihn wieder auf ihren Schoß, wo er sich zusammenrollte und den Schwanz vor sein Gesicht legte.

„Soll ich ihn herauslassen?“, fragte Pippa.

„Nein, lass ihn ruhig hier“, erwiderte die Duchess und streichelte ihn. „Er tröstet mich.“

Pippa setzte sich still zu ihr auf einen Stuhl, verschränkte die Hände im Schoß und wartete.

Die Duchess war ihr dankbar dafür. Trotz ihrer Jugend war Pippa keins dieser oberflächlichen modernen jungen Mädchen, die ganz versessen auf das Tanzen, das Kartenspielen und das Flirten waren. Sie war freundlich und vernünftig und hatte ein gutes, treues Herz. Sie war immer ein süßes Mädchen gewesen, schon als die Duchess sie zum ersten Mal gesehen hatte; an dem Tag, als Jessica Pippas Vater Miles geheiratet hatte. In seinen Arm gekuschelt hatte die kleine Pippa sie aus großen, dunklen Augen angesehen und gelächelt, und die Duchess hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt.

„Siehst du, Mama“, hatte Jessica strahlend gesagt und der Kleinen über den Kopf gestrichen, „ich habe auf einen Streich einen Ehemann und eine Tochter bekommen!“ Jessica hatte Pippa wie eine eigene Tochter geliebt, und die Duchess hatte genauso empfunden. Je größer Pippa wurde, desto ähnlicher wurde sie Jessica, und die Duchess wünschte insgeheim, Pippa wäre wirklich ihre Enkelin gewesen.

Erneut überkam sie der Kummer, und sie seufzte leise. Jetzt würde sie nie mehr Enkelkinder bekommen. „Hat Mrs. Humphries schon den Trauerkrepp hervorgeholt?“

„Ja, Großmutter. Die Dienstmädchen verhängen damit bereits die Spiegel.“

Die Duchess sah sie an, und ihr fiel die Farbe ihres Kleids auf. „Wie ich sehe, bist du ihr zuvorgekommen.“

Pippa strich glättend über den schwarzen Rock. „Lord Stephen war immer sehr freundlich zu mir. Es ist nicht richtig, dass er so früh gehen musste.“

„Nein“, murmelte die Duchess. Das war ganz und gar nicht richtig. „Edwards wollte mit mir über den Erben sprechen.“

Die Augen des Mädchens weiteten sich. „Jetzt schon? Ach, Großmutter, wie taktlos!“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, und Percival gab ein erschrockenes Miauen von sich, woraufhin sie fortfuhr, ihn zu streicheln. „Es ist nicht verfrüht. Ich hätte das schon vor Jahren tun sollen, wenn ich nicht so zuversichtlich gewesen wäre, dass Stephen …“ Sie schloss die Augen, als sie plötzlich an Stephens jungenhaftes Lachen denken musste, an seine Stimme, als er ihr versichert hatte, dass er seine Verpflichtung Carlyle gegenüber kennen würde. Keine Angst, Mama, hatte er versprochen, als er ihr von seiner Verlobung mit Miss Calvert erzählt hatte. Ich werde Sie nicht enttäuschen.

Sie zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. An diesem Tag schien sie von Geistern umgeben zu sein. „Inzwischen sind die infrage kommenden Männer erwachsen, haben sicherlich ihren Platz im Leben gefunden und sind sich der Verantwortung gar nicht bewusst, die auf sie zukommt.“ Sie verstummte kurz. „Ich habe nicht vor, Carlyle einem ignoranten Dummkopf zu überlassen. Vielleicht habe ich kein Mitspracherecht, wer von ihnen erben wird, aber ich kann und werde all meinen Einfluss benutzen und dafür sorgen, dass sie sich des Titels als würdig erweisen. Ich habe nach ihnen schicken lassen.“

Pippa war zu erstaunt, um gleich antworten zu können. „Ja, Großmutter“, meinte sie nach einer Weile.

„Ich hätte gern, dass du mir dabei hilfst“, fuhr die Duchess fort. „Sie werden schnell begreifen, welche Rolle ich spiele, und zweifelsohne versuchen, sich bei mir einzuschmeicheln und mich zu beruhigen. Dir gegenüber … sehen sie darin wohl kaum eine Notwendigkeit. Du musst Augen und Ohren für mich sein, damit ich ihre wahren Gefühle und Absichten durchschauen kann.“

„Natürlich, Großmutter. Wenn du es wünschst.“

Die Duchess lächelte sie wehmütig an. „Ich verlasse mich so sehr auf dich, Pippa.“

Pippa erwiderte ihr Lächeln. „Ich werde mir alle Mühe geben, Großmutter.“

„Das weiß ich. Deshalb bin ich so sehr auf dich angewiesen, mein armes Mädchen.“

„Ich bin überhaupt nicht arm! Ich freue mich, wenn ich dir eine Hilfe sein kann.“

Die Duchess tätschelte ihr die Hand. „Die bist du mir immer gewesen, Kind.“ Wieder sah sie eine ganze Weile schweigend aus dem Fenster. „Der wahrscheinlichste Erbe ist ein Offizier. Ich mache mir Hoffnungen diesbezüglich“, sagte sie schließlich. „Nicht allzu große, aber so ist es nun einmal. Mr. Edwards hat gesagt, er sei ein ehrenwerter Mann, was immer das beim Militär zu bedeuten hat. Aber der andere …“ Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ein Spieler! Und auch nur weit entfernt mit uns verwandt. Nein, von ihm erwarte ich nichts Gutes.“

„Vielleicht sind sie ja für eine Überraschung gut, Großmutter“, wandte Pippa vorsichtig ein.

„Vielleicht aber auch nicht!“, erwiderte die Duchess spitz. „Aber jeder von ihnen ist einem Franzosen vorzuziehen, ausgerechnet einem Franzosen! Mein Mann würde sich im Grab herumdrehen bei dem Gedanken, dass Carlyle von einem Franzosen übernommen wird.“ Darüber grübelte sie eine Weile finster nach. „Der Spieler ist höchstwahrscheinlich ein hoffnungsloser Fall. Einmal Spieler, immer Spieler. So etwas liegt denen im Blut. Und was den Franzosen betrifft …“ Sie seufzte. „Ich kann nur hoffen, dass er gar nicht existiert oder sich wenigstens weigert, gefunden zu werden. Das heißt, wir müssen unsere ganze Hoffnung auf Captain St. James setzen.“

1. KAPITEL

Maximilian St. James erkannte, dass ihm sein Ruf vorausgeeilt war.

Es war dem Perücke tragenden Butler deutlich anzusehen, der steif und missbilligend befahl, Max’ Gepäck in ein Gästezimmer zu bringen.

Er merkte es an dem argwöhnischen, voreingenommenen Blick, mit dem der Anwalt ihn bei ihrem Zusammentreffen bedachte; er erinnerte Max an die Hauslehrer, die vergeblich versucht hatten, ihm wenigstens etwas Griechisch und Theologie zu vermitteln.

Und am deutlichsten sah er es der Duchess of Carlyle selbst an, die in ihrem thronähnlichen Sessel saß und ihn mit stechendem Blick anstarrte, als rechnete sie damit, dass er gleich das Familiensilber stehlen wollte.

Gut. Daran war Max gewöhnt. Es machte ihm nichts aus. Wenn die Duchess ihn nicht hierhaben wollte, dann hätte sie ihm eben keinen Brief schicken sollen, der stark an ein königliches Dekret erinnert hatte und in dem sie ihm befahl, sich genau an diesem Tag in Carlyle Castle einzufinden – als wäre er ein Bediensteter oder ein Hund, den man mit einem Fingerschnippen herbeiorderte.

Leider hatte das Schreiben seine Neugier wenigstens so weit geweckt, dass er darauf geantwortet hatte, anstatt den Brief vor den Augen des wortkargen Dieners zu zerreißen, der ihn überbracht hatte. Da war die vage Andeutung eines möglichen Vorteils, die Max einfach nicht ignorieren konnte.

Max ignorierte niemals etwas, das ihm zum Vorteil gereichen konnte. Und dieses Herbeizitieren, so geheimnisvoll und herablassend es auch klang, wirkte auf ihn ziemlich vielversprechend.

So weit schienen ihn seine Instinkte nicht getrogen zu haben, sowohl was das Geheimnisvolle betraf als auch den möglichen Vorteil für ihn. Nach einem einsamen Frühstück an diesem Morgen hatte er sich auf eine Erkundungstour begeben. Das Schloss war ein gewaltiger Steinhaufen, aber äußerst gut gepflegt, mit uralten Wandteppichen und unbezahlbaren Antiquitäten überall. Hier gab es keine verarmten Adeligen, sondern Macht und Reichtum im Überfluss.

Und da er jetzt schon einmal hier war … ergriff Max die Gelegenheit beim Schopf, sich auf die Suche nach jemandem zu machen, von dem er schon sein ganzes Leben lang gehört hatte. Begleitet von einem Lakaien mit versteinerter Miene, schlenderte er durch die Korridore, bis er die Ahnengalerie gefunden hatte.

Am anderen Ende der Galerie entdeckte er den Gesuchten – den zweiten Duke of Carlyle; mit langer Lockenperücke, schimmernder Rüstung und einem schmalen, fast zart wirkenden Gesicht mit dünnem Oberlippenbart. Ein Tuch aus edlem Leinen oder Spitze war lässig um seinen Hals gebunden, und hinter ihm breiteten sich Felder und Hügel aus – vermutlich Carlyle.

Max hatte immer gewusst, dass es in seinem Stammbaum einen Duke gab. Das war der ganze Stolz seines Vaters und die große Hoffnung seiner Mutter gewesen. Er selbst hatte sich diesen Umstand wann immer möglich zunutze gemacht und ab und zu einen freundlichen Gedanken für den alten Frederick Augustus übrig gehabt, wer immer er auch gewesen sein mochte. Seinen Namen ins Gespräch einfließen zu lassen und anzudeuten, dass er diesem Zweig der Familie immer noch nahestand, hatte ihm aus so mancher Verlegenheit geholfen, auch wenn sich dadurch seine Lebenssituation nie zum Besseren verändert hatte.

Er betrachtete den Mann, seinen Ururgroßvater, eingehend. Gab es da eine Ähnlichkeit? Max bezweifelte es. Dieser Mann posierte selbstsicher und arrogant, sich seiner Macht und seines Reichtums vollkommen bewusst. Max hingegen … Zu viele Halunken und Höllenhunde standen mittlerweile zwischen ihnen, die keine Verwandtschaft mehr erahnen ließen.

Er hatte seinem Vorfahren auf dem Gemälde stumm zugenickt und sich zum Gehen gewandt.

Und nun saß er in einem eleganten Salon und ertrug die misstrauischen Blicke seiner Gastgeberin mit einem leichten Lächeln. Die Duchess thronte in einem kunstvoll geschnitzten Sessel, der wohl selbst die Königin hätte vor Neid erblassen lassen. Sie war eine rundliche alte Dame, mindestens siebzig, mit krausem grauem Haar, das der Mode entsprechend hoch aufgesteckt war. Obwohl es erst Vormittag war, trug sie ein schwarzes Kleid aus Seide, und der Wert der Ringe an ihren Fingern hätte selbst einen sehr verschwenderisch lebenden Gentleman ein Jahr lang finanziell über Wasser gehalten. Max konnte die Spitzen ihrer Schuhe auf der vergoldeten Fußbank sehen, und die Diamanten auf den Schuhschnallen blinkten ihm entgegen.

Der Anwalt saß auf einem Stuhl neben ihr, ein ernster Mann in Schwarz. Die Morgensonne schien auf sein schütter werdendes Haar. Er machte sich eifrig Notizen auf den Papieren, die vor ihm lagen, und erst, als er mit abschätzender Miene den Kopf hob, vermutete Max, dass es Notizen über ihn waren.

Ein weiterer Gast war eingetroffen, wahrscheinlich erst an diesem Morgen. Er war zwei Stunden zuvor nicht beim Frühstück gewesen, und an den Bügelfalten seiner Hose haftete noch Staub, als hätte er sie nur hastig abgebürstet und sich nicht umgezogen. Er war größer als Max und bestimmt einige Kilo schwerer, ein etwas grobschlächtig wirkender Mensch. Ein Soldat, vermutete Max, obwohl er Zivil trug. Doch die Art, wie er in seinem Sessel saß, ließ die Annahme zu, dass er es gewohnt war, ein Schwert an seiner Seite zu tragen. Auch er musste herbeizitiert worden sein, denn er saß neben Max der Duchess gegenüber. Niemand machte sich die Mühe, sie einander vorzustellen.

„Guten Morgen“, sagte die Duchess unvermittelt, ehe die Männer mehr tun konnten, als sich nur kurz höflich zuzunicken. „Ich hoffe, Ihre Anreise ist ohne Zwischenfälle verlaufen.“

Max verzog den Mund. In einer gottverdammten Postkutsche, bis es ihm bei einem Halt gelungen war, eine Wirtstochter mit seinem Charme dazu zu bringen, ihm ein Pferd zu leihen. Die Straßen waren in einem schrecklichen Zustand, es hatte den ganzen ersten Tag lang geregnet, und wäre die zuvorkommende Wirtstochter nicht gewesen, wäre er völlig durchnässt, zu Fuß und mit dem Gepäck in der Hand hier eingetroffen wie ein reisender Bettler.

„Jawohl, Euer Gnaden“, erwiderte der Soldat höflich.

„Sie war das reinste Vergnügen“, meinte Max gedehnt. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, eine Hand locker auf das Knie gelegt und bot einen Anblick größter Lässigkeit.

Sie sah ihn schmallippig an. „Ausgezeichnet. Sie fragen sich bestimmt, weshalb ich Sie nach Carlyle gebeten habe.“ Sie richtete den Blick auf den Soldaten. „Mr. Edwards wird es Ihnen erklären.“

Der Anwalt rückte seine Brille zurecht. „Am vierzehnten April dieses Jahres verstarb Lord Stephen St. James, der jüngste Brüder Seiner Gnaden des Dukes, nach kurzer schwerer Krankheit.“

Der Soldat hatte etwas stechende grüne Augen, mit denen er die Duchess ansah. „Mein tiefst empfundenes Beileid, Madam.“

„Ich danke Ihnen, Captain“, entgegnete sie. „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Bedauerlicherweise“, fuhr der Anwalt fort, „war Lord Stephen der einzige noch lebende Erbe Seiner Gnaden. Carlyle selbst ist nicht verheiratet und hat auch keine Kinder.“

Der Soldat zuckte in seinem Sessel zusammen und atmete hörbar ein. Max warf ihm einen kurzen Blick zu, aber seine Miene war ausdruckslos.

Eine seltsame Ahnung beschlich Max. Aber nein, das konnte nicht sein. Er und der Duke waren nur entfernte Cousins, und niemand in Carlyle hatte sich je dafür interessiert, wie es ihm ergangen war. Vor ewigen Zeiten, als Max noch ein Kind gewesen war, hatte sich seine Mutter Hilfe suchend an Carlyle gewandt, nachdem sein Vater mit einer seiner Geliebten durchgebrannt war und sie völlig mittellos zurückgelassen hatte. Max konnte sich noch gut an das verzweifelte Gesicht seiner Mutter nach dem knappen, ablehnenden Antwortbrief erinnern, dem immerhin ganze fünf Pfund beigelegt worden waren. In jenem Winter wären sie beinahe verhungert und waren gezwungen gewesen, zur Familie seiner Mutter zu ziehen. Max’ Vater war im Frühling nach Hause zurückgekehrt, betrunken, ohne Geld und ohne das kleinste Anzeichen von Reue.

Max warf dem Soldaten erneut einen Blick zu. Der Mann allerdings schien jetzt auch zu ahnen, was in der Luft lag. Er saß wachsam da wie ein Jagdhund, es hätte nur noch gefehlt, dass er dabei zitterte vor Eifer, seinem Herrn zu gefallen.

Max veränderte seine Sitzhaltung. Der Captain musste ebenfalls ein St. James sein. Näher oder entfernter verwandt? Denn es gab nur einen Grund, welche Rolle es für sie beide spielen sollte, dass der Erbe des Duke of Carlyle gerade verstorben war.

Und dann bestätigte die Duchess seine Vermutung. „Lord Stephen hinterlässt ebenfalls keine Frau und Kinder. Da dem so ist, werden wohl der Titel und der Besitz meines Sohnes nach seinem Tod an einen seiner entfernten Cousins übergehen.“ Sie sah beide wenig begeistert an. „Kurz gesagt, an einen von Ihnen.“

Gütiger Gott! Max’ Puls raste. Ein Titel und ein Besitz – und nicht irgendeiner, sondern das riesige, florierende Carlyle! Er zügelte sich jedoch, denn die nächsten Worte des Soldaten versetzten seiner Euphorie einen Dämpfer.

„Das ist eine höchst unerwartete Neuigkeit, Euer Gnaden“, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme. „Darf ich fragen, wie …?“

„Selbstverständlich“, gab sie knapp zurück. „Mr. St. James hier ist der Ururenkel des zweiten Dukes.“ Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, und er nickte zustimmend. „Und Sie, Captain, sind der Urenkel des dritten Dukes.“

Also stand der Soldat im Rang über ihm. Max atmete die angehaltene Luft unhörbar aus. Es war aber auch zu unglaublich gewesen, um wahr zu sein.

„Das alles ist ziemlich schockierend, Madam“, bemerkte der Captain, doch er schien sich erstaunlich schnell von seinem Schock erholt zu haben. „Gibt es denn sonst niemanden …?“

Der Anwalt räusperte sich und wollte etwas sagen, aber die Duchess kam ihm zuvor. „Nein.“

Die beiden tauschten einen bedeutungsschweren Blick, dann ergriff wieder der Anwalt das Wort. „Wie Sie vielleicht nicht wissen, hat Seine Gnaden der Duke vor vielen Jahren einen tragischen Unfall erlitten, in Folge dessen er niemals wird heiraten und Kinder zeugen können. Es besteht also nicht die Möglichkeit, dass einer von Ihnen von einem mutmaßlichen anderen Erben verdrängt wird.“ Er zog ein großes Blatt Papier unter seinem Ellenbogen hervor und breitete es auf dem Tisch aus. „Ich habe mir erlaubt, diesen Familienstammbaum hier zu beurkunden.“ Er hielt inne, als Max und der Soldat sich gleichzeitig nach vorn beugten, um besser sehen zu können. „Dieses Dokument wird von unschätzbarem Wert sein, wenn es so weit ist, einen Anspruch zu erheben, vor allem, weil keiner von Ihnen ein direkter Nachfahre des gegenwärtigen oder vorherigen Titelträgers ist.“

Zum ersten Mal blickte Max in die Augen des Captains. Der andere Mann sah genauso erstaunt aus, wie Max sich fühlte. Der Duke of Carlyle war unfähig, ein Kind zu zeugen. Sein einziger Erbe war tot. Und er selbst war … Max warf einen Blick auf den säuberlich angefertigten Stammbaum. Der Duke war fast sechzig Jahre alt. Die Angelegenheit war von großer Dringlichkeit, wie ihm klar wurde.

„Wie ich sehe, kommt das für Sie ziemlich plötzlich“, sagte die Duchess in die Stille. „Für mich ist es nicht minder besorgniserregend.“

Max sträubten sich die Nackenhaare. Er wusste genau, was sie damit meinte. Vielleicht wäre es nicht ganz so schrecklich für sie gewesen, wenn sie sich schon vor Jahren für ihn interessiert hätte. „Ich würde es nicht unbedingt besorgniserregend nennen“, meinte er gedehnt. „Eine Überraschung, ja, das räume ich ein.“

Der Blick der Duchess hätte ihn zur Salzsäule erstarren lassen sollen. Der Anwalt seufzte enttäuscht, und selbst der Captain sah ihn missbilligend an. Max lächelte sie alle einfach nur an.

„Die Erbfolge ist genau geregelt.“ Die Duchess betrachtete ihn immer noch mit Widerwillen. „Der Titel und der dazugehörige Besitz müssen an einen männlichen Angehörigen der St. James’ weitergegeben werden, und so wird es auch geschehen. Einer von Ihnen wird der nächste Duke sein – höchstwahrscheinlich Captain St. James, oder Mr. St. James, sollte dem Captain etwas zustoßen.“ Ihrem Gesichtsausdruck nach schien die Vorstellung, Max könnte erben, für sie eine Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß zu sein. „Mit dem Besitz ist ein beträchtliches Vermögen verbunden“, fügte sie hinzu. „Es ist eine große Verantwortung, und keiner von Ihnen ist auch nur im Mindesten darauf vorbereitet, sie zu übernehmen.“

„Natürlich nicht“, murmelte Max.

„Ich habe über Sie beide Nachforschungen angestellt“, sprach sie weiter und überhörte ihn geflissentlich. „Die Ergebnisse waren nicht sonderlich beruhigend, aber damit müssen wir klarkommen. Keiner von Ihnen hat bereits eine Ehefrau.“

„Nein, Madam“, bestätigte der Captain.

Max hatte schon Schwierigkeiten, sich selbst ein paar Monate über Wasser zu halten, geschweige denn eine Ehefrau und Kinder, die sich unweigerlich einstellen würden. Die Duchess mit all ihrem Schmuck und ihren vergoldeten Fußbänken hatte nicht die geringste Ahnung von seinem Leben. „Jedenfalls keine eigene“, gab er träge zurück.

Die Stille wurde geradezu ohrenbetäubend. Der Anwalt begriff als Erster die Bedeutung des Gesagten; er presste die Lippen aufeinander und blickte zu Boden. Der Captain räusperte sich, und die Duchess erdolchte Max mit ihren Blicken.

„Und Sie haben noch nicht das Geringste unternommen, um sich Respektabilität zu erwerben“, konterte sie bissig. „Genau das beunruhigt mich, und genau deswegen habe ich Sie hierherkommen lassen. Der Duke of Carlyle übt großen Einfluss aus, und das muss er mit Würde und Anstand tun.“

Max musste an den letzten Duke denken, den er gesehen hatte – an den jungen Duke of Umberton, der in nur einer Nacht elftausend Pfund verspielt und dann in einem Wutanfall seine Breeches heruntergezogen und auf den Spieltisch uriniert hatte. Würde und Anstand, so viel dazu.

„Es ist eine gewaltige Verantwortung“, sagte der Captain ernst, als stammte jedes ihrer Worte aus der Heiligen Schrift. „Ich hoffe, ich erweise mich ihrer würdig.“

Max fand seine Unterwürfigkeit zwar eher verachtungswürdig, aber sie zeigte Wirkung bei der Duchess.

Sie nickte ihm zu. „Das erwarte ich auch von Ihnen, Captain.“ Der Blick mit dem sie Max nun bedachte, war wieder eiskalt. „Und von Ihnen ebenfalls, Mr. St. James.“ Jetzt wandte sie sich wieder ihnen beiden zu. „Mir ist bewusst, dass mein Wunsch sich für Sie als schwierig erweisen könnte, doch ich bin bereit, Ihnen zu helfen. Mr. Edwards wird jedem von Ihnen fünfhundert Pfund sofort auszahlen. Ich vertraue darauf, dass Sie das Geld umsichtig verwenden und in sechs Monaten als kultiviertere Gentlemen nach Carlyle Castle zurückkehren. Wenn ich mit Ihren Fortschritten zufrieden bin, gewähre ich Ihnen einen weiteren Betrag in Höhe von eintausendfünfhundert Pfund pro Jahr, so lange Sie ehrenhaft bleiben.“

Großer Gott. Fünfhundert Pfund jetzt, fünfzehnhundert im Jahr. Einen Moment lang traute Max seinen Ohren nicht. Allerdings hatte er auch das Wörtchen wenn gehört, und er ahnte, dass das kein solches Geschenk des Himmels war, wie es den Anschein hatte. „Und wenn Sie nicht zufrieden sind?“, fragte er höflich.

Sie seufzte. „Dann bekommen Sie keinen einzigen Penny mehr von mir. Sind Sie wirklich so dumm, sich eine derartige Chance entgehen zu lassen, Mr. St. James?“

Nein, das war er ganz sicher nicht. Er senkte ehrerbietig den Kopf. „Ich wollte es nur wissen.“

„Ich werde Ihre Fortschritte in den kommenden sechs Monaten verfolgen.“ Sie sah ihn warnend an. „Ich bin nicht Ihr Feind. Mit diesem Angebot möchte ich Ihnen helfen. Geben Sie sich nicht der falschen Vorstellung hin, dass Carlyle ein Selbstläufer ist oder man einen Verwalter einstellen kann, der sich um alles kümmert. Sie sind beide noch jung und nicht dazu erzogen worden, der jetzigen Erwartung gerecht zu werden. Es wird schwer für Sie werden, sich daran zu gewöhnen, aber Sie müssen sich der Lage gewachsen zeigen. Ich bitte Sie inständig, mein Angebot zu akzeptieren und es ernst zu nehmen.“

Der Captain räusperte sich. „Ja, natürlich, Euer Gnaden. Das ist außerordentlich großzügig von Ihnen.“

„Das ist keine Großzügigkeit“, erklärte sie. „Ich will nur nicht, dass Carlyle heruntergewirtschaftet wird. Ich möchte den Besitz jemandem überlassen, der seine Pracht zu schätzen weiß, der sich um die kümmert, die von ihm abhängig sind, und der ihn für die zukünftigen Generationen erhält. Zu diesem Zweck haben Sie sechs Monate Zeit, sich zu so einem Menschen zu entwickeln. Sie brauchen auch nicht zu befürchten, dass Sie kein Geld mehr bekommen, sollte ich sterben.“ Wieder sah sie Max an. „Ich werde in meinem Testament festlegen, dass der jährliche Betrag weiter gezahlt wird, solange meine Bedingungen erfüllt werden.“

Max hatte auf einmal keine Lust mehr, sie zu provozieren. Mit so einer Chance hatte er niemals gerechnet. Die Duchess meinte es ernst. Nur ein Narr hätte auf eine solche Gelegenheit verzichtet. „Und wie lauten Ihre Bedingungen, Euer Gnaden?“, fragte er.

„Ehrbarkeit“, antwortete sie. „Kein unrühmliches Verhalten. Nüchternheit. Die Dukes of Carlyle haben lange Zeit einflussreiche Posten in Westminster innegehabt, Sie wären also gut beraten, sich für Politik zu interessieren, damit Sie sich gut zu benehmen wissen, wenn Sie erst einmal im Oberhaus sitzen. Andernfalls werden Sie früher oder später dort von anderen nur zu gern ausgenutzt.“ Sie verstummte. „Auch hatte ich immer das Gefühl, dass eine Ehefrau einen Mann beständig werden lässt. Der nächste Duke braucht einen rechtmäßigen Erben. Eine angemessene Braut ist nötig, und ich empfehle Ihnen, sich ernsthaft nach einer umzusehen.“

„Wir müssen heiraten?“, fragte der Captain und runzelte die Stirn.

„Der Duke of Carlyle braucht einen Erben“, wiederholte die Duchess. „Und wenn Sie keinen produzieren können, Captain, dann wird Mr. St. James der Erbe.“

Max und der Soldat tauschten einen flüchtigen Blick. Höchst unwahrscheinlich, dachte Max. Der Captain war genau der Typ Mann, der tat, was man von ihm erwartete. Bestimmt dachte er längst an eine Frau, die nur zu gern seine zukünftige Duchess werden wollte. Max konnte ihm das nicht einmal verübeln. Jeder in diesem Raum wusste, dass er ein schrecklicher Duke sein würde.

„Mr. Edwards wird Ihnen alle noch offenen Fragen beantworten“, sagte die Duchess, als die Uhr leise die volle Stunde schlug. Sie erhob sich, und unter ihrem Sessel kroch eine große rote Katze hervor, die sich streckte und herzhaft gähnte.

„Wenn Sie mir gestatten, Euer Gnaden …“ Der Soldat sprang auf und bot ihr seinen Arm.

Max schnappte ein paar leise Worte auf, als die beiden zur Tür gingen, und schloss daraus, dass dem Captain die Sache mit der Ehefrau besonders zusetzte. Max hätte schwören können, dass der Mann die Duchess bat, eine Frau für ihn auszusuchen.

Zum Glück würde er selbst dieses Problem nicht haben. Er drehte sich zu dem Anwalt um, der mit auf den Papieren gefalteten Händen ruhig dasaß. „Eine jährliche Zahlung für gutes Benehmen.“

Edwards Brillengläser funkelten. „Ihre Gnaden wünscht es so.“

„Und Sie sind der Mann, der beurteilen soll, ob ihre Bedingungen erfüllt werden?“

„Der bin ich.“

„Ehe“, meinte Max nachdenklich. „Nüchternheit. So etwas ist klar definiert. Entweder ist ein Mann verheiratet, oder er ist es nicht. Entweder er trinkt, oder er trinkt nicht. Ehrbarkeit … Das ist eher eine Einstellungsfrage.“

„Ich verstehe, was Sie meinen.“ Mr. Edwards nahm seine Brille ab. „Ich würde Ihnen raten, sich zu überlegen, ob Sie guten Gewissens mitten auf dem Stadtplatz offen über Ihre Taten reden könnten oder nicht. Wenn ja, hätten Sie von Ihrer Gnaden wohl kaum etwas zu befürchten.“

Das bezweifelte Max. Die Duchess wäre entsetzt gewesen, wenn sie nur von der Hälfte der Dinge gewusst hätte, die er auf Stadtplätzen angestellt hatte – oder in Spielhöllen, Theaterlogen und Vergnügungsparks. Aber schließlich hatte Ihre Gnaden ja keine Ahnung, wie sein Leben verlaufen war. „Ich verstehe“, antwortete er dem Anwalt höflich.

Der Captain sprach noch immer mit leicht gesenktem Kopf mit der Duchess. Max stemmte eine Hand in die Hüfte und tippte mit den Fingern. Der Samt seines Mantels war an der Stelle bereits leicht abgewetzt wegen dieser nervösen Angewohnheit. Was wollte der Captain denn so unbedingt wissen?

Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich der Captain ihm gegenüber einen Vorteil verschaffen wollte. Aber wie? Der Captain kam in der Erbfolge vor Max, wie die Duchess vorhin erklärt hatte, und daran war nichts zu ändern. Der Captain hatte bereits die besseren Karten.

Wenn die Duchess allerdings mit der Braut des Captains einverstanden war, erhöhte sie vielleicht die jährliche Zahlung an ihn. War es das, was der Mann wollte? Fünfzehnhundert Pfund im Jahr waren ein beträchtlicher Betrag – ein verdammtes Vermögen, in Max’ Augen – für die Herrin von Carlyle Castle jedoch sicher nur eine Bagatelle.

„Erwartet sie, dass sie unsere Bräute selbst aussucht?“, murmelte er vor sich hin, aber der Anwalt hatte ihn gehört.

Seine Miene wirkte etwas gequält. „Natürlich nicht. Sie … Sie haben ja gewiss nicht vor, eine Schauspielerin oder eine Kurtisane zu heiraten, nicht wahr?“

„Nein“, antwortete Max und lächelte bei der Bestätigung, dass der Anwalt ihm genau das zutraute. „Nichts dergleichen.“ Sein Blick fiel wieder auf den Captain. Der Mann suchte verzweifelt das Wohlwollen der Duchess, und er machte daraus keinerlei Hehl.

Max widerstrebte es zutiefst, das Gleiche zu tun. Die Duchess hielt ihn ohnehin schon für einen ausgesprochenen Halunken, der unfähig war, eine richtige Entscheidung zu treffen. Wenn der Captain – der offensichtlich höher in ihrer Gunst stand – es ihr gestattete, nach Belieben mit ihm umzuspringen, dann würde sie glauben, sich das auch bei Max erlauben zu können.

Max hatte nicht vor, dass die Duchess oder sonst wer bei ihm die Fäden in der Hand hielt.

Aber vielleicht … vielleicht hatte sie ihm jetzt die Chance geboten, diese Fäden ein für allemal zu durchtrennen.

2. KAPITEL

Schon seit fast sechzig Jahren hatte die Töpferei der Familie Tate am Fuße des Marslip Hill Steingut hergestellt. Sie war in jeder Hinsicht ein Familienunternehmen; jede neue Generation von Kindern wurde mit allen Aspekten dieses Handwerks vertraut gemacht, damit sie entscheiden konnten, wofür sie am besten geeignet waren. Bräute wurden in den benachbarten Familien gefunden, die wussten, was sie zu erwarten hatten, und stolz darauf waren, ein Mitglied der Familie Tate zu werden.

Wie in vielen Familienbetrieben war es der Wunsch jeder Generation von Tates, dass die Söhne in dieselben Fußstapfen traten und eines Tages die Töpferei übernahmen. Drei Generationen lang war es auch so geschehen. Der jetzige Eigentümer Samuel Tate hatte jedoch keine Söhne, sondern nur zwei Töchter. Und obwohl er sie beide von Herzen liebte, hatte er sich noch nie inbrünstiger Söhne gewünscht als an diesem Tag, mitten in diesem heftigen Streit mit nicht nur einer, nein, mit gleich beiden Töchtern.

„Papa!“ Bianca war außer sich vor Zorn. „Du bist verrückt geworden!“

„Kein bisschen“, gab er zurück. „Die Idee ist großartig und wird unsere Rettung sein.“

Deine Rettung!“, schleuderte sie ihm entgegen. „Nicht Cathys! Du versuchst ihr Leben zu ruinieren!“

Beide drehten sich zu der älteren Schwester um, die den ganzen Streit stumm und bedrückt mitverfolgt hatte. Prompt traten Tränen in ihre großen blauen Augen, eine einzelne rann ihr über die rosige Wange. „Nein, Bee“, widersprach sie mit vom Weinen ganz rauer Stimme, „das geht zu weit …“

Bianca wollte nichts davon hören. „Ruinieren“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Du brichst ihr das Herz und setzt dich über ihren eigenen Willen hinweg!“

Ihr Vater verzog das Gesicht und hob die Hand. „Schluss mit dem Theater. Das ist eine hervorragende Partie! Cathy hat selbst gesagt, es machte ihr nichts aus.“

Es kribbelte Bianca in den Fingern, mit irgendetwas nach ihrem Vater zu werfen. Eine Obstschale stand griffbereit auf dem Tisch und wartete auf ihre Abnahme. Leider war sie eine von den neuen, geformt wie ein Erdbeerblatt mit Ranken, die die Henkel bildeten, und bezaubernden kleinen Erdbeeren auf dem Boden der Schale. Sie war von ihrem besten Modellierer angefertigt worden, ein wirklich wunderschönes Stück, und so hielt Bianca sich widerstrebend zurück. „Cathy sollte gar nichts dazu sagen müssen. Sie hätte wegen einer Heirat auf dich zukommen sollen, nicht umgekehrt!“

„Also wirklich, Bee!“ Samuel breitete die Arme aus. „Wäre es dir lieber, wenn ich mir eine so wunderbare Gelegenheit für eine von euch entgehen lassen würde? St. James ist ein Gentleman – mehr noch, ein Gentleman, der Erbe eines Dukes ist. Deine Schwester – eine Duchess! Und du verlangst von mir, ihn abzulehnen, ohne überhaupt darüber nachzudenken?“

Bianca verschränkte die Arme. „Also denkst du noch darüber nach? Und Cathy kann dann selbst frei entscheiden?“

Er wandte den Blick ab. „Ich werde sie natürlich beraten …“

„Du hast dich doch längst entschieden!“ Sie ging aufgebracht im Raum auf und ab, wobei ihre schwingenden Röcke einige Eierbecher auf dem untersten Regal ernsthaft in Gefahr brachten, und blieb schließlich abrupt vor ihrer Schwester stehen. „Cathy, willst du Mr. St. James heiraten?“

Wieder standen Tränen in ihren Augen. „Es … es ist eine sehr gute Partie“, antwortete Cathy zögernd. „Und eine große Ehre …“

„Und wünschst du dir auch, seine Frau zu werden, an seiner Seite zu leben, seine Kinder zur Welt zu bringen, deine eigenen Wüsche seinen unterzuordnen, seine Launen zu ertragen und ihm seine Eitelkeiten nachzusehen bis zum letzten Tag deines Lebens?“, hakte Bianca nach.

„Und du wirfst mir vor, sie zu beeinflussen?“, rief ihr Vater entrüstet und sprang von seinem Stuhl auf.

Wieder rann eine Träne über Cathys Wange. „Bianca …“

„Willst du das wirklich?“, wiederholte Bianca.

Cathys sah zu ihrem grollenden Vater hinüber. „Ich … ich möchte Papa nicht enttäuschen …“

„Siehst du?“ Samuel ging zu Cathy und nahm ihre Hand. „Catherine, Liebes, ich will, dass du glücklich bist – und dazu Sicherheit und Komfort für dich. Ein Mann wie St. James kann dir das alles in hohem Maße bieten.“

„Ohne eigenes Geld“, warf Bianca ein.

„Er ist ein Cousin des Duke of Carlyle“, fuhr Samuel fort und konzentrierte sich ganz auf seine ältere Tochter. „Stell dir nur vor! Du würdest dich in den vornehmsten Kreisen bewegen, inmitten von Duchesses, Countesses – vielleicht sogar Prinzessinnen. Und wer weiß, ein kleiner Pockenausbruch, und du könntest selbst Duchess werden.“

„Vielleicht könntest du den Vikar bitten, das der Hochzeitspredigt hinzuzufügen“, bemerkte Bianca bissig. „Herr im Himmel, erweise uns die Gnade, die Pocken folgende Personen dahinraffen zu lassen …“

Samuels Ohren waren rot geworden, und er kehrte Bianca weiterhin hartnäckig den Rücken zu. „Außerdem sieht er sehr gut aus, nicht wahr? Die Mädchen konnten über nichts anderes sprechen, als er letzten Monat zum Abendessen bei uns war.“

„Vielleicht nimmt er ja eine von ihnen“, murmelte Bianca. „Oder wahrscheinlich gleich alle. Er hat so etwas Lasterhaftes an sich …“

„Er ist jung, gescheit, gut aussehend und unverheiratet“, fügte Samuel hinzu und warf seiner jüngeren Tochter einen wütenden Blick zu, die jedoch nur mit den Schultern zuckte. „ Wenn du ihn mir vorgestellt hättest, hätte ich euch sofort meinen Segen erteilt. Spielt es wirklich eine Rolle, wer wen vorstellt?“

„Spielt es wirklich eine Rolle, wer das Bett mit ihm teilt und ihm gehört?“ Betont nachdenklich tippte sich Bianca gegen das Kinn.

„Genug!“, brüllte Samuel und verlor endgültig die Geduld. „Ich habe genug von dir!“

„Und ich von dir!“, fauchte sie. „Mama wäre entsetzt!“

Diese Worte hingen schwer in der Luft. Cathy hielt angstvoll den Atem an. Samuel riss sich die Perücke vom Kopf und warf sie auf seinen Schreibtisch. Er sah aus, als würde er an einem Fluch ersticken. „Genug“, stieß er wütend hervor. „Genug!“ Er kam um seinen Schreibtisch herum und stemmte die Hände in die Hüften; ein Zeichen, dass er ihnen nichts mehr zu sagen hatte und sie gehen sollten.

Immer noch leise schluchzend eilte Cathy zur Tür. Dort blieb sie stehen, ihre sonst so makellosen Wangen waren fleckig und ihre Augen gerötet. „Bianca“, sagte sie sanft. „Komm, Bee.“

Bianca rang mit sich, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Irgendwie musste sie zu ihrem Vater durchdringen und ihm sein barbarisches Verhalten begreiflich machen. Nein, es ging nicht anders. Die Obstschale zerschellte mit einem befriedigenden Krachen an der Wand. Sie ignorierte ihr leichtes Schuldgefühl genau wie den zornigen Aufschrei ihres Vaters, packte die Hand ihrer Schwester und rannte mit ihr aus dem Raum, die Treppe hinunter, aus dem Büro und den Hügel zu ihrem Haus hinauf.

„Wie kann er es wagen!“, tobte sie. Türenknallend stürmte sie in den kleinen Salon, wo sie die junge Bedienstete Jane zu Tode erschreckte und in die Flucht schlug. „Er muss an einer schrecklichen Krankheit leiden – vielleicht ist er den Brennöfen zu nahe gekommen, sodass sein Gehirn geschmolzen ist …“

„Du weißt, dass es nicht so ist.“ Cathy, die noch immer völlig atemlos nach dem schnellen Lauf bergauf war, ließ sich auf das Sofa fallen. „Es ist doch nicht unvernünftig, wenn ein Vater seiner Tochter eine gute Partie vorschlägt …“

„Sag so etwas nie wieder!“ Bianca beugte sich aufgebracht über ihre zurückweichende Schwester. „Er hat vorgeschlagen, dich wie ein Ferkel auf dem Markt zu verschachern, ohne dich zu fragen, was du davon hältst!“

„Nein, Bianca.“ Cathy schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „So war es nicht.“

„Warum verteidigst du ihn?“ Bianca war ehrlich verblüfft. „Ich dachte, du machst dir gar nichts aus Mr. St. James.“

Der Mann, dessen Antrag wie eine Bombe in ihre glückliche Familie geplatzt war, war kein gänzlich Unbekannter für sie. Maximilian St. James war ihrem Vater bei einem philosophischen Zirkel im Haus eines Geschäftspartners begegnet. Samuel war zutiefst beeindruckt nach Hause gekommen und hatte von der Intelligenz und den guten Manieren des Mannes geschwärmt.

Bianca, die ihn nur für einen weiteren dieser müßigen Gentlemen hielt, die Lord Sherwoods berühmte Gastfreundlichkeit ausnutzten, hatte gar nicht so genau hingehört. Sie hatte viel zu viel zu Hause zu tun, um sich weiter mit müßigen Gentlemen zu befassen – denn St. James war eindeutig ein Gentleman, kein Arbeiter. Obwohl Samuel ganz vernarrt in ihn zu sein schien, hatte er von keiner nützlichen Betätigung des Mannes berichtet; ganz im Gegensatz zu Lord Sherwood, der eine Kunstschule gegründet hatte, oder zu Mr. Hopkins, der die allerschönsten Uhren machte, wenn er nicht gerade in Diderots Encyclopédie las.

Dann hatte Samuel den Mann nach Staffordshire zu sich nach Hause eingeladen. Dinnergesellschaften fielen in Cathys Zuständigkeitsbereich – die Wahl der Tischdecken; wie man das Silber so hinlegte, dass sich Blumen und Kerzen am besten darin widerspiegelten; ob man die Gans mit einer Kressesoße servieren sollte oder gefüllt mit Salbei und Brotstückchen. Sie hatte das Stilgefühl und das Talent zur guten Gastgeberin von ihrer Mutter geerbt.

Dieses Mal schenkte Bianca Mr. St. James durchaus Beachtung. Das ließ sich auch kaum vermeiden, denn er stolzierte ins Haus wie ein Pfau, der sich zu einer Schar biederer grauer Gänse gesellte. Er war groß und schlank und trug das dunkle Haar ungepudert und lang; es schien ihn nicht zu stören, dass es sich um seine Schulter lockte wie bei einer Madonna von Boucher. Die Stickerei auf seiner dunkelroten Samtjacke schimmerte im Kerzenlicht, und mit seinem scharfsinnigen Londoner Esprit unterschied er sich deutlich von den ernsthaften Wissenschaftlern und Philosophen, die mit am Tisch saßen.

Dennoch war er ihr nicht negativ aufgefallen. Trotz seines guten Aussehens war er offensichtlich sehr belesen und, wie ihr Vater schon gesagt hatte, intelligent. Wäre er jedoch eine Keramik gewesen, dann vermutlich eine Terrine – wunderschön und erlesen gearbeitet, die alle Blicke auf sich zog, aber innen hohl und nichts weiter als ein Gefäß für die einfache Suppe darin. Bianca hatte angenommen, sein Bedarf an Philosophie und Bürgerlichen sei gedeckt und er würde nicht wiederkommen.

Stattdessen tauchte er nur wenige Monate später wieder auf – am gestrigen Tag, genauer gesagt – und machte Cathy einen Heiratsantrag, mit der er sich bei seinem letzten Besuch noch nicht einmal eine Stunde lang unterhalten hatte.

„Er ist ein sehr begehrter Junggeselle“, beantwortete Cathy jetzt Biancas Frage. „Du weißt, er ist der Cousin eines Dukes.“

„Dadurch ist er selbst noch lange nichts“, konterte Bianca. „Allerdings hat er ziemlich hohe Ansprüche …“

Cathy errötete. „Er ist ja auch nicht aus Marslip, sondern aus London. Von einem solchen Gentleman auserwählt zu werden ist eine große Ehre, und du weißt, dass eine Verbindung mit der Familie des Duke of Carlyle Papa so viel bedeuten würde.“

„Ich weiß nicht, wie viele Vorteile Papa sich davon verspricht, wenn er sagen kann, dass er mit dem entfernten Cousin eines Dukes diniert. Solche Typen gibt es doch zu Tausenden in England.“

Zum ersten Mal sah ihre Schwester sie stirnrunzelnd an und schien zu ihrer sonstigen Selbstsicherheit zurückzufinden. „Du gibst dich bewusst starrköpfig!“

Bianca sank zu Boden und ergriff die Hand ihrer Schwester. „Ach, Cathy, du ziehst diesen Antrag wirklich in Betracht? Warum? Habe ich mich getäuscht, was Mr. Mayne betrifft?“

Bei diesem Namen erschauerte Cathy kaum merklich. „Ich finde …“ Sie räusperte sich. „Ich finde, wenn ich nicht an ihn denke, ist Papas Plan sehr … vernünftig.“

Vernünftig. Nicht aufregend, nicht erregend, nicht einmal erstrebenswert. Ihr Vater würde sich darüber freuen, und Cathy, die immer darauf bedacht war, ihm eine Freude zu machen, würde auf den Mann verzichten, den sie liebte, zugunsten eines anderen, den sie nicht liebte. Biancas Zorn flammte erneut auf.

„Gut, vielleicht ist er das“, sagte sie ruhig und beobachtete ihre Schwester prüfend. „Ich nehme an, du wirst hier heiraten, in der Kirche in Marslip. Ob wohl Mr. Mayne die Trauung abhält, oder besteht Papa auf einer standesamtlichen Trauung?“ Cathy schwieg, aber ihr Kinn bebte leicht. „In dem Fall könnte die Hochzeit auch hier zu Hause stattfinden. Ich bin sicher, Mr. Mayne hätte nichts dagegen, und es wäre auch bequemer für Tante Frances. Danach wird Mr. St. James vermutlich lieber in London wohnen wollen.“

Cathy wurde blass.

„Das ist so weit weg“, fuhr Bianca fort. „Ich hoffe, du kommst uns irgendwann besuchen – ohne dich wird hier alles anders sein. Woher soll ich wissen, welche Tischwäsche ich benutzen soll, oder ob Mr. Mayne lieber neben Mrs. Arlington oder neben Mr. Soames sitzen sollte, wenn du nicht mehr hier bist und …“

„Hör auf!“ Cathy sprang vom Sofa auf und flüchtete mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke. Ihre Schultern zuckten. „Hör auf, Bee!“

„Ich tue doch gar nichts“, behauptete sie. Und dann wartete sie ab.

Im Gegensatz zu Bianca hatte Cathy nicht den eisernen Willen ihres Vaters geerbt; sie hatte eher wie ihre Mutter den Wunsch, es allen rechtzumachen, vor allem Samuel. Dieses Mal hatte ihr Vater sie allerdings überrumpelt wie ein Orkan, der plötzlich ins Haus stürmte und sie zu Boden riss, ehe sie überhaupt begriff, was geschah.

Aber Cathy war auch Samuels Tochter, und sobald sie sich von dem Schock über den Vorschlag ihres Vaters und dessen Folgen erholt hatte, würde sie sich wieder aufrichten und ihr Rückgrat entdecken.

Und so kam es auch. Nach ein paar Minuten leisen Schluchzens trocknete Cathy ihre Tränen und drehte sich zögernd zu Bianca um. „Du hältst mich für einen schrecklichen Feigling, nicht wahr?“

Sie schüttelte den Kopf.

Cathy trat ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Da war die Steingutfabrik, unten am Fuß des Hügels, Rauch stieg aus den Essen der Brennöfen auf. „Papa denkt, es wäre eine gute Partie“, murmelte sie vor sich hin. „Aber er kann doch nicht wollen, dass ich so weit fort von Marslip ziehe …“

Bianca schwieg.

„London ist eine riesige Stadt“, fuhr Cathy fort; ihre Stimme wurde fester und verzweifelter zugleich. „Und so weit weg! Vielleicht sehe ich dich und Papa jahrelang nicht wieder!“

Bianca zupfte einen losen Faden aus dem Saum ihrer Schürze und wartete weiter ab.

„Und Mr. Mayne …“ Cathy verstummte. Sie hielt den Vorhang jetzt so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Ich nehme an, es wäre eine große Überraschung für ihn“, meinte Bianca schließlich.

Ihre Schwester stieß ein schluchzendes Geräusch aus. „Ja.“

„Ich dachte immer, dass er dich sehr lieb gewonnen hat“, sprach Bianca vorsichtig weiter. „Und du ihn auch.“

Schweigen.

Bianca stand vom Boden auf. „Du allein weißt, was du willst, Cathy. Du hast recht – Mr. St. James ist eine sehr gute Partie. Vielleicht überredet er Carlyle, ein großes, teures Essservice von Papa zu kaufen – oder es sogar auszustellen, so wie Mr. Wedgwood das getan hat! Das würde Papa sehr gut gefallen, glaub mir, und für unsere Fabrik wäre es auch nicht schlecht, wenn alle Welt auf einmal unser Geschirr auf vornehmen Tischen sehen kann. Papa wäre hocherfreut, und du hättest einen charmanten, intelligenten Gentleman zum Ehemann.“

Cathy schien zu Stein erstarrt zu sein, so reglos stand sie da.

Ein kleiner Teufel ritt Bianca hinzuzufügen: „Und er sieht wirklich umwerfend gut aus. Gegen ihn verblassen die jungen Männer aus Marslip geradezu, ja, sogar Mr. Mayne …“

Cathy wirbelte herum. „Nicht!“, grollte sie. „Sag so etwas nicht!“

Bianca gab nach. Sie merkte, dass ihr Pfeil getroffen hatte, jetzt brauchte er nur noch Zeit, seine Wirkung zu entfalten. Sie drückte die Hände ihrer Schwester. „Nein. Schließlich ist es deine Entscheidung – dein Leben, deine Ehe, dein Herz. Ich werde dich in allem unterstützen, was du tust, Hauptsache, es ist das, was du wirklich willst.“

Cathy nickte. „Danke, Bianca.“

Sie küsste Cathy auf die Wange. „Das ist doch selbstverständlich. So, und nun sollte ich mich wieder an die Arbeit machen. Diese rote Glasur leuchtet nicht so, wie ich es gern hätte, außerdem neigt sie dazu, Blasen zu werfen, wenn sie nicht richtig aufgetragen wird.“ Sie verzog das Gesicht. „Und hier ist noch kein schöner Fremder aufgetaucht, der mich heiraten und von Glasuren, Töpfen und Marslip wegbringen will!“

Cathy lachte, und Bianca lächelte ebenfalls. Sie wussten beide, dass Bianca niemals ihre Werkbank verlassen würde, auf der sie mit Glasuren und Mineralien experimentierte, um das Tate-Geschirr noch schöner zu machen. Die Abfuhren, die sie allen einheimischen jungen Männern erteilte, die ihr zu nahe kamen, waren schon beinahe legendär.

Auch wussten sie beide, dass Cathy bis über beide Ohren in Mr. Mayne, den Vikar, verliebt war. Mayne hatte nur deswegen noch nicht um ihre Hand angehalten, weil er darauf wartete, dass seine giftige alte Großmutter das Zeitliche segnete und ihm ihr bescheidenes Vermögen vermachte.

Zeit, dachte Bianca. Das war alles, was sie jetzt brauchten. Sie musste ihren Vater nur lange genug hinhalten, bis Cathy begriffen hatte, was er da eigentlich von ihr verlangte.

3. KAPITEL

Dieses Mal ritt Max mit seinem eigenen Pferd nach Marslip, und so konnte er sich den Besitz in aller Ruhe ansehen.

Samuel Tate entstammte einer uralten Töpferfamilie, aber keiner seiner Vorfahren hatte so viel Geschäftssinn bewiesen wie er. Unter seiner Leitung war aus der ursprünglichen Töpferei ein florierendes Unternehmen geworden, ein kleines Imperium am Fuße des Marslip Hill mit dem ziemlich pompösen Namen Perusia. Tate fabrizierte sehr schönes Essgeschirr mit wunderbaren Glasuren und kunstvollen Mustern. Zahlreiche vermögende und adelige Familien in England benutzten sein Geschirr. Durch einen glücklichen Zufall war Tates Schwager einer der mitwirkenden Ingenieure gewesen, als die Kanalmanie im Land ausgebrochen war, und so führte ein Stichkanal nahe genug an Perusia vorbei, um die Waren schnell und effizient nach Liverpool und London verschiffen zu können.

Autor

Caroline Linden
Caroline Linden studierte Mathematik in Harvard und arbeitete als Programmiererin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und gewannen zahlreiche Preise, unter anderem den Daphne-du-Maurier- und den renommierten RITA-Award. Die Autorin lebt in Neuengland.
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