Wehrlos vor Begehren

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"Steigen Sie ein", klingt es aus der Limousine, die neben Emily hält. Sie sollte fliehen! Aber es regnet in Strömen, und zumindest der Chauffeur in der edlen Livree wirkt vertrauenserweckend. Gefährlich scheint nur Marco Santini, der Mann auf dem Rücksitz: groß, sexy, mit Augen wie geschmolzene Schokolade. Als er sie sicher zu Hause absetzt, küsst er sie zum Abschied auch noch atemberaubend heiß! Gut, dass sie diesen Mr. Arrogant nie wiedersehen wird. Aber am nächsten Tag klingelt ihr Telefon, und Emily erhält ein unfassbar aufregendes Angebot …


  • Erscheinungstag 10.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778637
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Samstagabend im Tune-In Café … und die einzige Person in der schäbigen Kneipe, die nicht betrunken war, wünschte sich inzwischen, sie wäre es, denn das dröhnende Gelächter und der beißende Whiskey-Gestank waren eigentlich nur zu ertragen, wenn man mindestens zwei Drinks zu viel hatte.

Leider war das keine Option für Emily Wilde – oder vielmehr Emily Madison. Sie arbeitete nämlich hier. Ansonsten hätte man sie nicht einmal tot in einer solchen Kaschemme angetroffen.

Mit einem leisen Seufzer ließ sie die Finger weiter über die vergilbten Tasten des uralten Standklaviers fliegen. Laut Arbeitsvertrag sorgte sie hier für die Unterhaltung – donnerstags bis inklusive sonntags. Richtig begreifen konnte sie es noch immer nicht. Zwei Jahre war es jetzt her, dass sie gen Osten aufgebrochen war, um eine weltberühmte Kuratorin in einem weltberühmten Museum zu werden. Oder zumindest die Einkäuferin für eine international renommierte Galerie. Dass die New Yorker Kunstwelt möglicherweise nicht unbedingt voller Ungeduld der Ankunft einer vierundzwanzigjährigen Texanerin mit einem Hochschlabschluss in Maya-Töpferei entgegenfieberte, war ihr nie in den Sinn gekommen.

So viel also zum Thema Planen und Organisieren. In einer Familie von Planern und Organisatoren war sie diejenige, die sich vom Leben treiben ließ. Die anderen waren schon perfekt organisiert zur Welt gekommen, als da wären … ihre Brüder. Jacob, der die Familienranch El Sueño leitete. Caleb, der einer elitären Anwaltskanzlei vorstand. Travis, Finanzgenie und Starinvestor. Auch ihre Schwestern hatten einen steilen Karrierepfad eingeschlagen – Jaimie als Immobilienmaklerin für eine weltweit operierende Agentur und Lissa als Chefköchin in Hollywood.

Der einzige Wilde-Sprössling, der nachts wach lag und grübelte, wie es weitergehen sollte, war die jüngste Wilde – sie. Allerdings wusste in New York kaum jemand, dass sie eine Wilde war. Vor über einem Jahr hatte sie ihren Familiennamen unter den Tisch fallen lassen – aus purer Verzweiflung. Denn verblüfft hatte sie feststellen müssen, dass der Name Wilde sogar an der Ostküste bekannt war und somit jeder sie für ein verwöhntes reiches Mädchen hielt, das es nicht nötig hatte, für den Lebensunterhalt zu arbeiten.

Sie warf einen Blick zur Uhr. Fast Mitternacht. Gott sei Dank. In zwei Stunden konnte sie nach Hause gehen. Und da morgen Montag war und sie nicht arbeiten musste, würde sie ihr übliches Ritual durchziehen – ausschlafen und dann auf ihrem Laptop in der New York Times nachlesen, welche interessanten Leute am Wochenende welche interessanten Sachen in Manhattan unternommen hatten. Und wenn sie dann in Selbstmitleid ertrank, würde sie sich an dem Riesenbecher Eiscreme gütlich halten, den sie ganz weit hinten im Gefrierfach für genau solche Notfälle versteckt hatte. Und dann würde sie sich darin ergehen, wie sehr sie es verabscheute, im Tune-In zu arbeiten.

Dabei war es nicht einmal der schlechteste Job, den sie bisher gehabt hatte. Die Liste war nicht nur lang, sie deprimierte auch.

Aber Job war Job, die Miete zahlte sich nicht von allein. Das Tune-In war eine Zwischenstation, mehr nicht. Das einzig Gute war, dass keiner von ihrer Familie – ob nun zufällig oder absichtlich – je einen Fuß in eine solche Pinte setzen würde. Ihre Familie glaubte, Emily würde für einen privaten Kunstsammler arbeiten, der natürlich anonym bleiben wollte. Kam jemand von ihnen nach New York, machte sie sich schick, setzte ein Lächeln auf und traf sich mit ihnen in dem Hotel oder dem Restaurant, das sie vorschlugen. Weil in ihrer Wohnung angeblich gerade die Maler am Werk waren. Oder weil überall Stapel von Broschüren und Katalogen lagerten, da sie intensiv auf der Suche nach einem neuen Kunstwerk für ihren Auftraggeber war.

Bevor Emily nach New York gezogen war, hatte sie nie gelogen. Und eigentlich waren es ja auch keine richtigen Lügen, sie sagte das nur, damit ihre Familie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ihr Vater, Vier-Sterne-General John Hamilton Wilde, würde sofort die Kavallerie alarmieren, sollte er die Wahrheit herausfinden. Ihre Brüder würden komplett ausrasten und Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Sogar ihre Schwestern würden sofort etwas unternehmen, würden ihr gute Ratschläge und Bargeld zustecken …

Sie wollte es allein schaffen.

Bis vor zwei Monaten hatte sie nicht einmal gewusst, dass man mit Klavierspielen Geld verdienen konnte. Nun … sich zumindest über Wasser halten konnte. Purer Zufall, dass es so gekommen war – so wie übrigens fast alles in Manhattan zufällig passierte. Das hatte sie Nola, ihrer Mitbewohnerin, zu verdanken, die sie zu einer Party im East Village mitgeschleppt hatte. Die Wohnung war brechend voll gewesen, und der Klavierspieler, der sich an einem alten Baldwin-Piano um die musikalische Untermalung bemühte, ging mehr oder weniger in dem Lärm unter. Sie waren ins Gespräch gekommen, und er hatte ihr Namen und Telefonnummer seines Agenten auf einen Zettel gekritzelt. Zwei Tage später hatte Emily in der Künstleragentur „Pergozin, Pergozin & Pergozin“ Max Pergozin vorgespielt.

Am folgenden Wochenende hatte sie dann ihren ersten Gig. Für einen Hungerlohn, aber immer noch besser als nichts, vor allem, da mehr Gigs folgten. Als sie sich bei Max darüber beklagte, dass die Aufträge nicht regelmäßig und häufig genug kamen, um Miete und Rechnungen bezahlen zu können, hatte er ihr mit einem schweren Seufzer erklärt, dass sie niemals mehr von dem, was er als „Rückrufe“ bezeichnete, erhalten würde, wenn sie nicht lernte, Stimmungen und Wünsche ihres Publikums einzuschätzen.

„Wenn Sie auf einem Damen-Lunch spielen, dann spielen Sie Cole Porter. Auf einer Hochzeit Elton John. Sitzen Sie in einer noblen Single-Loft am Zimmerflügel, wollen die sicher Adele hören.“

Guter Rat … aber woher hätte sie das wissen sollen? Bisher hatte Max sie noch nicht für einen Damen-Lunch oder eine Hochzeit oder gar irgendetwas Nobles gebucht. Das sagte sie ihm auch, und diesmal klang sein Seufzer resigniert wie der eines Mathematikprofessors, der einer Fünfjährigen die Grundrechenarten erklärte.

„Sie müssen sich hocharbeiten, Miss Madison. Im Moment spielen Sie für ein Publikum, das Stimmung verlangt – wuchtige Akkorde, schnelle Läufe, sentimentalen Kitsch. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Äh? Nein.“

Max hatte die Augen verdreht. „Spielen Sie laut und schnell. Wucht und Drama. Kapiert?“

Ja, sie hatte kapiert. Und so vergaß sie alles, was sie in acht Jahren klassischen Klavierunterrichts gelernt hatte. Es hatte funktioniert. Zumindest war dabei der Job im Tune-In herausgesprungen.

„Da holen Sie sich Erfahrung, glauben Sie mir“, hatte Max ihr versichert und ihr die Adresse gegeben.

Ein Blick, und fast wäre sie wieder gegangen. Bevor sie sich daran erinnerte, dass Klavierspielen nur ein kleiner Schlenker war auf ihrem Weg zu … nun, auf ihrem Weg eben. Also hatte sie tief durchgeatmet – Fehler! – und sich eingeredet, das Tune-In hätte Charakter.

Na klar.

Jetzt leitete sie von Hello Dolly über zu My Way. Das wurde immer gern gehört. Warum Gus, der Besitzer, darauf bestand, Klaviermusik in seiner Kneipe zu bieten, war ihr schleierhaft. „Er wünscht sich ein wenig Klasse“, hatte Max gesagt, als er ihr das Engagement besorgt hatte. „Er hofft darauf, dass irgendein Bauentwickler die Gegend hier entdeckt, und will bereit sein, wenn es so weit ist. Er glaubt fest daran, dass seine Kneipe irgendwann in einem der angesagtesten Bezirke New Yorks liegen wird.“

Gus musste Ende fünfzig und definitiv ein langmütiger Mensch sein, denn es würde bestimmt noch einmal fünfzig Jahre dauern, bevor sein Traum sich realisierte. Darauf würde sie ihn aber ganz bestimmt nicht hinweisen, denn sein fehlgeleiteter Optimismus garantierte ihr den Job.

Ihr einziger Job.

Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Obwohl … in letzter Zeit konnte sie kaum noch an etwas anderes denken.

Was tue ich hier eigentlich? Die gleiche Frage drängte sich ihr immer wieder zu den unmöglichsten Zeiten auf. Beschäftigte man sich mit Existenzialismus, war eine solche Frage sicherlich angebracht. Brauchte man Nahrung für einen knurrenden Magen, wohl eher weniger. Außerdem änderte es nichts daran, dass das Tune-In ihr die Möglichkeit bot, Rechnungen zu bezahlen. Ohne dieses Einkommen und ohne Nola, die die Hälfte der Miete trug, würde sie in ernsten Schwierigkeiten stecken.

Erneut warf sie einen Blick zur Uhr. Fünf nach eins. Sie setzte zu New York, New York an. Viel zu laut, viel zu schell, viel zu … alles. Doch, sie mochte Sinatra. Oder hatte Sinatra gemocht, bevor sie hier angefangen hatte. Hier wollte man den Las-Vegas-Frank hören, nicht die Balladen und anspruchsvollen Texte des Klassischen Frank.

Von New York, New York würde sie zu Tony Benett überleiten, dann noch einmal Frankyboy mit Chicago, und damit wäre ihr Abend beendet, und sie hätte Ruhe bis nächsten Donnerstag.

Die Eingangstür flog auf. Drei Typen mittleren Alters und alle nicht mehr nüchtern, wankten herein und brachten kalten Wind und Nässe mit.

Na großartig. Es regnete. Damit würde der grundsätzlich verspätete Bus noch mehr Verspätung haben, während sie um zwei Uhr nachts Gott weiß wie lange im Regen warten musste. Mit zusammengebissenen Zähnen spielte sie weiter Chicago. Ein echt lausiger Abend. Lausiges Trinkgeld, lausiges Wetter, und ihre rapide sinkende Laune half auch nicht …

„Hey Baby, wie geht’s denn so?“

Emily sah auf. Direkt vor ihrem Gesicht hing ein fleckiges Hemd über einem Bierbauch, darauf eine Hand gestützt, die eine Bierflasche hielt.

Sie lächelte zuckersüß. „Danke, mir geht es gut.“

„Spiel New York, New York, das will ich jetzt hören“, lallte der Typ.

„Das ist mein letzter Satz, Sir. Während des letzten Satzes nehme ich keine Musikwünsche mehr an.“

Hinter der Bar polierte Gus, ihr Boss, Gläser mit einem Handtuch, das der Farbe „Grau“ eine gänzlich neue Dimension verlieh. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu ihr hinüber. Okay, das hatte sie jetzt spontan entschieden. Na und?

„Dein letzter was?“

„Mein letzter Satz von Songs. Und ich nehme keine Musikwünsche mehr an.“

„Ist doch dein Job, oder? Zu spielen, was die Leute hören wollen.“

Damit hatte er sicher recht. Und sie hätte jetzt: „Natürlich, Sir, das spiele ich dann als Nächstes“, antworten müssen.

„Ich hatte bereits gesagt, dass es mein letzter Satz ist. Keine Wünsche mehr.“

„Gus, hörst du das?“, richtete der Betrunkene sich empört an den Wirt.

„Spielen Sie, was der Mann hören will“, kam es vom Barbesitzer. „Dafür bezahle ich Sie schließlich.“

Der betrunkene Kerl griente und deutete mit dem Flaschenhals auf sie, um zu betonen, wer hier Oberwasser hatte.

Das war der Moment, in dem der so oder so schon lausige Abend endgültig abstürzte.

Vielleicht hatte jemand den Betrunkenen angerempelt, vielleicht war er auch gestrauchelt … auf jeden Fall lief plötzlich eiskaltes Bier in den Ausschnitt ihres Kleides. Ihres Seidenkleides, eines der wenigen Kleidungsstücke, die geeignet waren, um sie für einen Auftritt zu tragen.

Emily schnappte nach Luft und sprang auf. „Sie … Sie Trottel!“

Der Kerl lachte nur, Gus hinter der Bar zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen, dass sie mit so etwas rechnen und klarkommen müsse.

Wenn Emily später an die Situation zurückdenken sollte, war sie überzeugt, dass es dieses gleichgültige Schulterzucken war, das das Fass zum Überlaufen brachte.

Sie riss dem betrunkenen Gast die noch halbvolle Bierflasche aus der Hand, setzte den Flaschenhals knapp oberhalb seines Hosenbunds an und kippte ihm den Rest der eiskalten Flüssigkeit in die Hose. Sie genoss jede Millisekunde, während sein hämisches Lachen sich in ein geradezu mädchenhaftes Aufkreischen wandelte.

Bei seinem Quieken drehten sich die Köpfe. Die noch anwesenden Gäste starrten, sahen, wie sich der nasse Fleck auf der Hose des Kerls ausbreitete, und grinsten.

Unglücklicherweise fand Gus das keineswegs komisch. Sein Gesicht nahm eine höchst ungesunde Farbe an, bevor er mit dem ausgestreckten Arm zur Tür zeigte. „Raus!“

In der Kneipe wurde es schlagartig still.

„Hören Sie“, begann Emily mit hämmerndem Puls, „ich wollte nicht …“

„Beweg deinen hochmütigen Hintern zur Tür hinaus!“

Sie reckte die Schultern. „Wenn Sie mir die Möglichkeit zu einer Erklärung ließen …“

Gus kam um die Theke herum. Er war groß, massig und kahl, stank nach Schweiß und Bier und richtete den fleischigen Zeigefinger auf sie. „Bist du taub?“

„Nein, natürlich nicht. Ich versuche Ihnen zu erklären …“

„Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor ich mich vergesse!“

Emily begann zu zittern. „Sie schulden mir noch das Honorar von Donnerstag bis einschließlich heute. Das hätte ich jetzt …“

„R-A-U-S!“

Tränen der Wut schossen ihr in die Augen, aber sie riss sich eisern zusammen. In diesem Loch hier würde niemand sie heulen sehen! Das ausstehende Honorar konnte Max eintreiben, das war schließlich der Job eines Agenten.

Sie griff unter die Theke, wo sie ihre Handtasche abgestellt hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, liefen ihr die Tränen trotz allem übers Gesicht. „Sie …“, stieß sie erstickt aus, „… Sie sind kein sehr netter Mensch!“

Sekunden später stand sie auf der Straße im strömenden Regen, in der Stadt, die niemals schlief, wie es in dem Lied hieß, das der vertrottelte Kerl von ihr hatte hören wollen.

Für sie jedoch war es die Stadt, die kein Herz hatte.

2. KAPITEL

Ärger hielt sich nicht lange, wenn man in stockfinsterer Nacht durch eiskalten Regen lief. Nicht einmal ein halber Straßenzug, und die Realität holte Emily ein.

Was hatte sie getan?

Am Montag war die Miete fällig. Die Hälfte von 1950 Dollar. In Wilde’s Crossing konnte man mit einer solchen Summe ein Haus mit Garten mieten, hier erhielt man dafür das, was bei Maklern unter „gemütliches Apartment mit Charme und Potenzial“ lief. Im Klartext hieß das, ein Schuhkarton im vierten Stock – und natürlich kein Aufzug im Gebäude. Aber es war ihr Schuhkarton, und sie konnte es sich nicht leisten, ihn zu verlieren.

Sie klammerte sich an einen feuchten Laternenpfahl, als sich ein Schluchzer aus ihrer Brust löste. Warum nur war sie so blöd gewesen? Sie hatte schon Schlimmeres im Tune-In ausgehalten, hatte gelernt, die Zähne zusammenzubeißen und zu überleben, ohne die Beherrschung zu verlieren – und ihren Job gleich mit.

Der Regen prasselte härter, längst war sie bis auf die Haut durchnässt. Ihre Jacke hing noch im Hinterzimmer der Bar. Genau wie auch das Glas fürs Trinkgeld noch immer auf dem Klavier stand. Ironie des Schicksals, dass die paar Münzen, die darin lagen, ihr eigenes schwer verdientes Geld waren, das die Gäste dazu hatte animieren sollen, vielleicht den einen oder anderen Schein hineinzustecken.

Emily stöhnte auf. Sie musste zurück … Aber das konnte sie nicht, da war eine Lungenentzündung die annehmbarere Option.

Autoscheinwerfer näherten sich … Die Millisekunde Erleichterung wandelte sich sofort in Panik. Zuhause in Wilde’s Crossing bedeutete ein Auto um diese Uhrzeit die Rettung, hier jedoch … Das hier war eine düstere Straße im Randbezirk von Manhattan!

Der Wagen verlangsamte das Tempo …

„Fahr weiter, fahr weiter“, flüsterte Emily inständig. Ihr Flehen wurde erhört, und sie stieß die Luft aus.

Und jetzt? Zuallererst musste sie unbedingt Ruhe bewahren. Sie war eine Wilde. Sie mochte vielleicht nicht das Wilde-Gen für Erfolg geerbt haben, aber sie war immerhin mit Geschwistern aufgewachsen, denen sie hatte zusehen können, wie man Schwierigkeiten überwand. Etwas musste sie dabei doch gelernt haben, oder?

Klar hatte sie das. Erstens: Ruhe bewahren. Zweitens: Logisch denken.

Inzwischen jedoch war ihr so kalt, dass ihr die Zähne klapperten. Und für Logik war es längst zu spät. Hätte sie logisch gedacht, hätte sie dem besoffenen Kerl kein Bier in die Hose geschüttet, hätte ihren Arbeitsabend normal beendet und ihre Jacke und ihr Trinkgeldglas mitgenommen. Das Einzige, das die Logik ihr jetzt mitteilte war, dass sie entweder erfrieren oder ertrinken würde … wenn sie nicht vorher von der Manhattaner Version von Jack the Ripper überfallen wurde.

Verdammt. Ein weiterer Nachteil, wenn man kein Planer war – man war zu einer überaktiven Fantasie verdammt. Anstatt sich Horrorszenarien auszumalen, sollte sie sich auf das Positive konzentrieren.

Immerhin hatte sie ihre Handtasche. Zwar nahm sie nie viel Bargeld mit, aber ein paar Dollar hatte sie dabei. Genug für die Busfahrkarte.

Sie ließ den Laternenpfahl los und steuerte die Bushaltestelle einen Block weiter an. Sie beeilte sich, so schnell es eben ging mit ihren hochhackigen Schuhen, obwohl ihr genügend Zeit blieb. Der nächste Bus kam erst in einer halben Stunde … Zeit genug, um zu erfrieren. Und sich dabei zu überlegen, wo sie am Montag die Miete hernehmen sollte.

Ob Nola zu Hause war? Nola erfreute sich eines sehr regen Gesellschaftslebens, war oft unterwegs … Wie würde sie es auffassen, wenn Emily ihr eröffnete, dass sie ihren Mietanteil nicht beisteuern konnte?

Vor einem Jahr hatten sie sich kennengelernt, beim Kellnern in einem Diner. Nola war Tänzerin, versuchte zu Ruhm und Erfolg am Broadway zu kommen. Die beiden Frauen verstanden sich relativ gut – vor allem wegen der stillen Abmachung, sich niemals Geld von der anderen zu leihen

Verdammt.

Nun, vielleicht würde die Vermieterin ihr einen Aufschub gewähren. Die Frau war eigentlich recht umgänglich. Und vielleicht brauchte Max ja gerade jemanden für ein anderes Engagement. Wunder geschahen doch immer wieder, richtig?

Ihre Zähne klapperten inzwischen so stark, dass sie den Motorenlärm hinter sich erst spät registrierte. Was war das? Diesmal kein Auto, auch kein Truck, aber … der Bus!

Ein Lächeln zog auf ihre Lippen. Sie hatte also recht, Wunder geschahen wirklich. Da hatte sie gedacht, sie müsse noch eine halbe Stunde frieren, und dabei …

Der Bus fuhr viel zu schnell, und sie war noch gut einen halben Block von der Haltestelle entfernt. Sie begann zu rennen. Kein leichtes Unterfangen mit Stöckelschuhen auf einem nassen, unebenen Bürgersteig …

„Autsch!“ Ein Absatz brach ab. Hastig zog sie die Schuhe aus, rannte auf bloßen Füßen weiter … Sah den Bus an sich vorbeifahren, sah die Bremslichter aufblinken, hörte das hydraulische Zischen, als die Bustüren sich öffneten und wieder schlossen …

„Stopp! Warten Sie! Halt!“

Die Rücklichter des Busses blitzten noch auf, bevor der Bus in der Dunkelheit verschwand. Um Atem ringend lehnte Emily die Stirn an den nassen Pfahl der Haltestelle. „Emily Madison Wilde, du steckst in der Patsche.“ Tief in der Patsche. Denn nur ein naiver Narr würde jetzt noch die Möglichkeit einer Lungenentzündung ausschließen. Oder die amerikanische Version von Jack the Ripper.

„Ruhe bewahren“, versuchte sie, sich Mut zuzusprechen. „Bleib logisch und nimm dir ein Taxi.“

Für ein Taxi hatte sie nicht genug Geld dabei. Aber zu Hause hatte sie noch zweihundert Dollar beiseitegelegt. Für den Notfall. Das hier war ein Notfall.

Nur … bei miesem Wetter schienen alle Taxis aus New York zu verschwinden. Außerdem würde kein Taxifahrer, der etwas auf sich hielt, um diese Zeit durch diese Gegend fahren … Moment, sie hatte doch ein Handy! Ein Hoch auf die Logik!

Hastig kramte sie in ihrer Handtasche, fand das kleine Telefon, zog es hervor … und sah fassungslos zu, wie es ihr durch die eiskalten tauben Finger glitt und auf den nassen Bürgersteig fiel.

„Oh bitte, bitte, funktioniere!“, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel und schaltete das Handy ein.

Nichts passierte. Das Gerät hatte den Sturz nicht überlebt. Was jetzt? Vor lauter Verzweiflung warf sie das verdammte Ding in den Gully.

Da, sie hörte etwas! Ein Auto? Vielleicht ein Taxi? Der nächste Bus?

Nichts dergleichen, sondern eine schwarze Limousine, die ziemlich rasant die Straße heraufkam und Regenwasser aufspritzte.

„Verfluchter Mist!“, schrie Emily auf, als eine Welle eiskalten schmutzigen Regenwassers sie frontal traf. Am liebsten hätte sie jetzt einfach die Tränen laufen lassen und wäre schreiend hinter der Limousine hergelaufen, um den Wagen mit Fäusten und Füßen zu attackieren.

Die Limousine hielt an, die Bremslichter strahlten blutrot in der Nacht. Emily schluckte. Der Wagen stand unter der nächsten Laterne, der schwarze Lack funkelte unwirklich im Licht der Straßenbeleuchtung. Dann setzte sich der Wagen langsam rückwärts in Bewegung.

Auf dem Bürgersteig wich Emily einen Schritt zurück. Dann noch einen. Die Limousine folgte, blieb an ihrer Seite, blieb stehen, wenn sie stehen blieb, fuhr rückwärts, wenn sie rückwärts ging.

Hilfe!

Die hintere Tür ging auf, gab den Blick in einen diskret beleuchteten großen Innenraum frei. Dunkles Leder, dunkles Holz …

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Eine männliche Stimme, mit leichtem Akzent. „Signorina, brauchen Sie Hilfe?“

Also doch nicht Jack the Ripper. Der unsichtbare Fremde war Italiener. Na, wenn das keine Erleichterung war … die Mafia! Tapfer unterdrückte sie das hysterische Lachen. „Ja, mit mir ist alles in Ordnung.“ Ihre Stimme klang rostig. „Und nein, ich brauche keine Hilfe. Danke.“

„Sind Sie allein unterwegs?“

„Nein“, erwiderte sie hastig, „ich bin nicht allein. Mein … mein Mann holt gerade den Wagen.“ Na großartig. Klappernde Zähne erhärteten ihre Behauptung nicht gerade.

„Ihr Mann also.“ Der Ton des Fremden … Der Mann wusste genau, dass sie log. „Wo steht Ihr Wagen geparkt? Ich fahre Sie gerne hin.“

„Nein!“ Sie schluckte. „Ich meine, nein danke.“

Für eine Sekunde blieb es still, dann: „Signorina, per favore … es gibt weder Auto noch Mann, das wissen wir doch beide. Genau wie wir beide wissen, dass Sie nicht von meinen lauteren Absichten überzeugt sind.“

Nun, damit lag er auf jeden Fall richtig.

„Ich versichere Ihnen, ich führe nichts Böses im Schilde.“

Sollte sie rennen? Vielleicht schaffte sie es ja bis zum Tune-In. Aber inzwischen war es sicher geschlossen. Außerdem hatte sie oft genug Tierdokumentationen gesehen, um zu wissen, dass man einem Raubtier nie den Rücken zukehrte. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber …“

Cristo, könnten Sie endlich aufhören, mit mir zu diskutieren?“

Der Fremde war eindeutig ungeduldig geworden. Was, wenn er jetzt aus der Limousine stieg und … oh Gott, das war genau das, was er vorhatte! Erst erschien ein auf Hochglanz polierter schwarzer Männerschuh aus der Autotür, dann der zweite. Und dann standen beide Schuhe in einer Pfütze. Vom Autoinneren hörte sie ein leises Fluchen, dann sah sie zwei lange Beine aus dem Wagen hervorkommen und schließlich den Mann selbst.

Als Erstes registrierte Emily seine Größe. Über ein Meter neunzig. Dann, als sie den Blick langsam an ihm hinaufwandern ließ, erkannte sie schmale Hüften und breite Schultern in einem makellos sitzenden Smoking. Sein Gesicht lag noch immer im Schatten.

Falls er doch ein Massenmörder war, war er ein elegant gekleideter …

„Signorina“, wandte sich der Fremde jetzt in einem Ton an sie, mit dem man wohl Irre beschwichtigte. Aber sie war nicht irre, sie war eine selbstbewusste, unabhängige Frau, die genügend Reality-Shows gesehen hatte, um eine Krise zu meistern.

„Bleiben Sie zurück!“ Sie steckte die Hand in ihre Handtasche, fingerte nach ihrem Lippenstift und hielt ihn dem Mann vors Gesicht, den Zeigefinger obenauf wie auf einem Sprühknopf. „Bleiben Sie mir vom Leib, oder ich sprühe Ihnen Pfefferspray in die Augen.“

Ein sonores Lachen war seine einzige Reaktion. Hätte sie nicht solch maßlose Angst, wäre sie vermutlich beleidigt.

„Verzeihen Sie mir, Signorina“, sagte der Mann, jetzt wieder ernst. „Ihre Vorsicht ist nicht nur verständlich, sondern sicher empfehlenswert. Aber glauben Sie mir, dass sie in meinem Falle unnötig ist.“ Er machte einen Schritt vor, sie einen zurück. „Wie kann ich Sie überzeugen, dass ich durchaus nicht die Angewohnheit habe, Frauen im nächtlichen Regen im Manhattan zu überfallen? Ich bin einfach nur ein Mann, der nicht ruhig schlafen könnte, ließe ich Sie hier allein zurück.“

Ein weiterer Schritt vorwärts brachte ihn in den Lichtkegel der Laterne, und jetzt war Emily sicher, dass er etwas im Schilde führte.

Denn nur Luzifer höchstpersönlich würde als ein derart atemberaubend schönes, umwerfend sexy männliches Exemplar auf der Erde auftauchen.

3. KAPITEL

Marco Santini ermahnte sich, nicht wieder loszulachen. Noch immer hielt die Frau ihm ihren Lippenstift entgegen und funkelte ihn an wie eine gereizte Tigerin.

Nein, er würde nicht lachen, so amüsant war die Situation nun auch wieder nicht. Überhaupt war der ganze Tag alles andere als amüsant gewesen, das hier war nur ein weiterer Punkt auf der Liste.

Die Frau bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Das Haar klebte ihr am Kopf, das Kleid an ihrem Körper. Aus einem ihm unerfindlichen Grund lief sie barfuß, ihre Schuhe lagen neben ihr in einer Pfütze.

Und sie hatte ihn als Monster abgestempelt, das sich seine weiblichen Opfer von der Straße auflas.

Der Begriff „Opfer“ passte eher auf ihn – ein Opfer Jessalyns, die unablässig jammerte, weil sie bei der Tombola das Diamantarmband nicht gewonnen hatte, und jetzt das hier. Eine Situation, die das Potenzial zu einer Katastrophe hatte.

Vor wenigen Augenblicken noch hatte er still um Beherrschung gefleht und sich damit beruhigt, dass es ja nur noch Minuten dauern würde, bis er Jessalyn vor ihrer Haustür abliefern konnte.

Wäre Charles doch nur ein wenig schneller gefahren. Wäre er selbst mit seinem Ferrari unterwegs …

Das war das Erste, was heute schiefgegangen war. Sein Ferrari, keine sechs Monate alt und im Moment die Liebe seines Lebens, war aus der Werkstatt gestohlen worden, trotz Überwachungskameras und Alarmsystem.

„Bei uns hätte nicht einmal James Bond eine Chance“, hatte der Werkstattleiter ihm versichert.

Nun, eine Lektion hielt das Leben für jeden bereit: Man musste mit dem umgehen, was man aufgetischt bekam. Deshalb saß er also in dem Mercedes mit Chauffeur statt in dem Ferrari, mit einer sich ohne Unterlass beschwerenden Jessalyn neben sich auf der Rückbank, weil sie das Cartier-Armband nicht gewonnen hatte. Beziehungsweise, weil er es nicht gewonnen hatte. Dabei hatte er fünfzig Lose à tausend Dollar das Stück gekauft, nur damit sie endlich den Mund hielt.

Als er Charles etwas hatte murmeln hören, hatte er zuerst gedacht, sein langjähriger Fahrer wäre das Gejammer ebenso leid wie er, doch nein. Charles war viel zu diskret, um sich zu einem Kommentar hinreißen zu lassen. Außerdem starrte der gute Mann konzentriert in den Rückspiegel.

„Gibt es ein Problem, Charles?“

Autor

Sandra Marton
<p>Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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