Weihnachtswunder für Chiara?

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Weihnachten ohne ihre Familie, ohne Lichterglanz und Lamettafunkeln? Eine traurige Vorstellung für Chiara! Doch wie soll sie mit ihrem Aushilfsjob auf Bali den teuren Heimflug in die USA finanzieren? Zum Glück braucht der charismatische Tech-Tycoon Evan Kim dringend eine Scheinverlobte, um seinen Playboy-Ruf loszuwerden – im Gegenzug kauft er Chiara das Flugticket. Ein raffinierter Deal! Bis ungeplant die Funken zwischen ihnen sprühen. Insgeheim sehnt Chiara sich jäh danach, bei Evan zu bleiben, statt nach Hause zu fliegen …


  • Erscheinungstag 31.10.2023
  • Bandnummer 222023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518901
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sie musste endlich die Kurve kriegen. Mit einem abgrundtiefen Seufzer schob Chiara Pearson das Handy in die Tasche ihrer Dienstmädchenuniform und ließ sich auf das Bett fallen, das sie gerade erst gemacht hatte. Sosehr sie ihren Vater auch liebte, so sehr bedrückte sie jedes Gespräch mit ihm – wie auch das Telefonat, das sie gerade mit ihm geführt hatte.

Und wessen Schuld war das? Einzig und allein ihre, schließlich war sie es, die ihre eigene Familie anlog!

Lügen war vielleicht ein zu starker Begriff, denn sie hatte nur ein bisschen geflunkert und ihrem Vater gesagt, was er hören wollte: dass sie dieses Weihnachtsfest mit ihm und ihrem Bruder verbringen würde. Allerdings hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie das anstellen sollte, so abgebrannt, wie sie war.

Daran trug allerdings nicht Joshua Pearson die Schuld, sondern allein sie.

Wie sollte sie ihrem Vater nur vermitteln, dass ihr das Geld fehlte, um die Heimreise zu bezahlen? Wenn sie ihr Versprechen auf ein Weihnachtsfest im Kreis ihrer Lieben nicht einhalten würde, wäre er am Boden zerstört.

Das nannte man wohl eine Zwickmühle.

Ihr Verdienst deckte kaum die Lebenshaltungskosten auf Bali. Glücklicherweise gehörte zu dem Job im Garden Beach Hotel auch die tägliche Beköstigung. Was nach den Mahlzeiten am Buffet übrig blieb, war nach den offiziellen Essenszeiten „freigegeben“. Chiara weigerte sich, in das Lamento einiger ihrer Kollegen einzustimmen, die das Angebot – wenn auch nur spaßeshalber – als Reste-Rampe bezeichneten.

Ihr Handy in der Kitteltasche vibrierte, doch sie zögerte nachzuschauen, wer sie anrief. Wäre es ihr Dad, der sie aus irgendeinem Grund zurückrief, würde sie in ihrer überemotionalen Stimmung womöglich zusammenbrechen und ihm gestehen, dass ihre Versicherungen, wie gut es ihr ging und wie zahlungskräftig sie sei, dreiste Lügen gewesen waren.

Doch Feigheit vor dem Feind beziehungsweise vor der bedrückenden Realität war auch keine Lösung, weshalb sie das Handy aus der Tasche fischte, ehe es auf die Mailbox schalten konnte. Zu ihrer Erleichterung war es nicht ihr Vater, sondern ihr Bruder Marco.

„Hey, Schwesterherz. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Wo warst du?“

Trotz ihrer bedrückten Situation durchströmte Chiara beim Klang der vertrauten Stimme ein wohlig warmes Gefühl: Marco und ihr Vater waren ihre ganze Familie. Sie liebte die beiden sehr, ebenso wie die liebevollen Erinnerungen an ihre Mutter. Sie waren eine sehr vertraute, liebevolle Einheit gewesen, die unwiederbringlich zerbrochen war.

„Selber hey“, konterte sie mit bemühter Flapsigkeit. „Ich habe mit Dad telefoniert. Du weißt, wie lange solche Anrufe dauern können.“

Marco lachte. „Lass mich raten: Er wollte all seine Pläne für Weihnachten mit dir durchgehen, wieder und wieder.“

Chiara versuchte, die erneut aufflammende Panik im Zaum zu halten. Höchste Zeit, Farbe zu bekennen, doch dazu ließ Marco ihr keine Chance. Bevor sie auch nur Luft holen konnte, redete er schon weiter.

„Ich habe ihn noch nie so aufgeregt erlebt wie vor diesem Weihnachtsfest. Immer wieder redet er davon, wie glücklich es ihn macht, dass wir über die Feiertage endlich wieder alle zusammen sein werden, und dass er es kaum noch abwarten kann.“

„Tatsächlich?“

„Ja! Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich selbst ziemlich aufgeregt bin. Es ist schon eine ganze Weile her.“

Jetzt stieß ihr ansonsten so lockerer Bruder auch noch ins selbe Horn wie ihr sentimentaler Vater. Der schmerzhafte Druck in ihrer Brust nahm stetig zu. Trotzdem hätte sie nicht anders gehandelt, als sie es getan hatte. Wie hätte sie einer Freundin ein Darlehen verwehren können, die das Geld so viel dringender benötigte als sie selbst?

„Ähm … Bruderherz, ich bin noch nicht mit allen Zimmern durch und muss jetzt Schluss machen“, entschuldigte sie sich.

„Verstehe. Du kannst mich ja zurückrufen, wenn du mehr Zeit hast.“

„Mach ich“, versprach Chiara und war entschlossen, es auch wirklich zu tun – später am Tag, wenn sie genügend Mut gesammelt hatte, Marco mit der traurigen Wahrheit zu konfrontieren. Dass sie es ungeachtet sämtlicher Zusicherungen und Versprechungen doch nicht schaffte, über die Feiertage in die Staaten zurückzukehren.

Das könnte als eine Art Probelauf für das gefürchtete Gespräch dienen, das sie mit ihrem Vater führen musste. Über die Reaktion der beiden machte Chiara sich keine Illusion. Zunächst käme die väterliche und brüderliche Rüge, wie kontraproduktiv ihre Spontaneität regelmäßig für ihr eigenes Wohl sei. Darauf würde ihr Bedauern folgen, dass sie einfach zu wenig darüber nachdachte, was ihre einsamen Entscheidungen langfristig gesehen für sie bedeuteten.

Chiara lehnte ihre Stirn gegen die Glastür des Balkons und starrte in den nebligen grauen Himmel. Bali war ein zauberhaftes Fleckchen Erde, voller Kultur und Flair. Doch die Dezembertage präsentierten sich vornehmlich diesig und nass – so auch heute.

Ein deprimierend trübes Wetter, das perfekt ihre Stimmung widerspiegelte.

Aber sich einer unangebrachten Melancholie hinzugeben, verbot ihr der prall gefüllte Arbeitstag, der vor ihr lag, und das Letzte, was sie jetzt noch brauchte, war, ihren Job aufs Spiel zu setzen. Zimmerreinigung in einem luxuriösen Strandhotel war sicher kein Traumjob, doch sie brauchte das Geld wirklich dringend. Vor allem jetzt, da sie die finanzielle Zuwendung ihres Vaters weitergegeben hatte.

Die mühsam zusammengekratzten Ersparnisse der letzten Wochen würden nicht ausreichen, um zu ihrer Familie zu fahren. Was um alles in der Welt sollte sie nur tun?

Seufzend schüttelte sie den Kopf, wandte sich von der trüben Aussicht ab und schnappte sich den Transportkarren mit den Putzutensilien. Während der nächsten Stunden, in denen sie schrubbte und wischte, hatte sie noch genügend Zeit, über ihre missliche Lage nachzugrübeln. Nur eine Lösung war leider nicht in Sicht.

Evan Kim starrte auf den strahlend weißen Umschlag in seiner Hand und fluchte.

Er musste ihn nicht öffnen, um zu wissen, was es war: die Einladung zur Hochzeit des Jahrhunderts. Jedenfalls lautete so die Einschätzung gewisser Kreise, denen er sich nicht mehr zugehörig fühlte, anders als seine Eltern!

Natürlich freute er sich für Louis. Sein Freund war einer der aufrichtigsten und großzügigsten Menschen, die Evan kannte. Er verdiente alles Glück, das ihm das Universum momentan zu schenken schien.

Nein, seine Vorbehalte, die bevorstehende Hochzeit betreffend, hatten nicht das Geringste mit dem Bräutigam oder der Braut zu tun, einer liebenswerten Frau, die gerade als klassische Geigerin die Musikwelt im Sturm eroberte.

Sein Problem drehte sich ausschließlich um die Hochzeit selbst … die Zeremonie an sich und alle, die dabei sein würden. Jeder Instinkt, den er besaß, forderte vernehmlich, sein Bedauern zu erklären und dem Fest fernzubleiben. Aber das wäre das Verhalten eines ausgemachten Feiglings. Und er mochte viele Fehler haben, war aber kein Drückeberger. Also kam eine vorgeschobene Absage nicht infrage.

Als Kinder und Jugendliche hatten Louis und er einander so nahe gestanden wie Brüder. Schlimm genug, dass er den Junggesellenabschied verpasst hatte: eine einwöchige Sause in Hongkong!

Mit einem frustrierten Seufzer feuerte er die Einladung auf das ungemachte Bett und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Evan war fest entschlossen, den Schmerz und die Unbeholfenheit zu ertragen, die ihn unweigerlich heimsuchen würden, sobald er seinen Eltern begegnete.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, fehlte ihm auch noch eine Begleitung zur Hochzeit, was seine Mutter garantiert nicht unkommentiert lassen würde. Gleich nachdem sie ihn daran erinnert hätte, was für eine Enttäuschung er als Sohn war, würde sie das Thema zur Sprache bringen. Sein Vater würde neben ihr stehen und zustimmend nicken.

Die meisten Eltern wären von ihm als Sohn beeindruckt gewesen – aber nicht seine.

Alles, was sie interessierte und worüber sie sich ständig echauffierten, war, dass er sich aus dem Familienunternehmen herausgezogen hatte. In den Augen seiner Eltern hieß das, dass er sich auch von ihnen abgewandt hatte. Seit Jahren war dieser Punkt ein Dauerthema und die größtmögliche Sünde für den einzigen Kim-Erben.

Er sollte doch längst über den Punkt hinaus sein, an dem er sich von ihren Erwartungen beeinflussen ließ. Doch es lag nicht in Evans Natur, sich mit Versagen abzufinden. Und wenn es um seine Eltern ging, hatte er sie tatsächlich enttäuscht. Offenbar würde nichts, was er tat, jemals ausreichen.

Aber es brachte ihn nicht weiter, sich ausgerechnet jetzt damit zu beschäftigen. Evan war nach Bali zurückgeflogen, um an einem Technologiekongress teilzunehmen, der genau in dem Hotel stattfand, das er vorübergehend sein Zuhause nannte. Der Kongress würde ihm endlich die Gelegenheit geben, sich mit der italienischen KI-Firma zu treffen, die er bereits seit Monaten umwarb. Mit diesem Termin und der geplanten Markteinführung seiner neuesten Gaming-App hatte er schon genug zu tun, auch ohne Dramen aus der Vergangenheit als zusätzliche Störfaktoren.

Er ging zum Schreibtisch und griff nach seinem Laptop, als nach einem akustischen Signal eine Nachricht auf dem Monitor erschien. Seine Assistentin Emily überfiel ihn mit einer ominösen Frage.

Waren Sie heute schon online?

Das war er nicht, dafür aber augenblicklich in Alarmbereitschaft. Unter Garantie versuchte jemand, ihm ans Bein zu pinkeln. Hastig tippte Evan eine kurze Antwort, bevor er seinem Verdacht oder besser seiner Vorahnung nachging.

Bingo! Er stand wieder mal im Fokus von sonst wem …

Doch es hatte absolut nichts mit der beliebten Spiele-App zu tun, die er entwickelt hatte, oder mit einer seiner aktuellen Investitionen. Nein. Jemand hatte mehrere Fotos gepostet, die ihn auf einer Jacht zeigten, umgeben von leicht bekleideten Frauen, die sich offenkundig amüsierten.

Das Filmfestival, das er letzten Monat besucht hatte!

Nach Wochen harter Verhandlungen einen neuen Vertrag betreffend hatte er spontan versucht, etwas Dampf abzulassen. Offensichtlich hätte er vorsichtiger bezüglich der anonymen Handykamera sein sollen, die ihn im vollen Partymodus erwischt hatte. Wieder fluchte er und klappte den Laptop mit einem Knall zu.

Das Timing hätte nicht schlechter sein können. Er musste die italienischen Geschäftsleute morgen überzeugen, dass er ein ebenso seriöses wie kompetentes Vorstandsmitglied in ihrer Firma abgeben würde. Doch sein Ruf als notorischer Partygänger schien ihn zu verfolgen und zu den unpassendsten Gelegenheiten einzuholen.

Sein Handy vibrierte. Es war Emily.

„Ich hoffe, Sie rufen nur an, um mir zu sagen, dass Sie bereits eine solide Schadensbegrenzung erreicht haben“, begann er das Gespräch.

„Ich arbeite daran.“

„Schwirrt nicht irgendwo ein Gute-Laune-Spot herum, den unser Medienteam dazu zweckentfremden könnte, einige dieser Hashtags zu ersetzen?“

„Leider nicht. Aber vielleicht entwickelt sich noch eine Story über diese Influencerin und ihren Rocker-Ex-Mann, die sich in einem Sorgerechtsstreit befinden.“

„Ehe … Ex-Mann? Was für ein Chaos, oder?“ Allein der Gedanke an eine eheliche Bindung ließ ihn schaudern. Seine Eltern waren zwar immer noch zusammen, doch Evan konnte sich nicht erinnern, jemals Zeuge einer wie immer gearteten Zuneigungsbekundung zwischen ihnen gewesen zu sein.

Darauf reagierte Emily nicht. Stattdessen hörte er nur einen tiefen Seufzer am anderen Ende der Leitung. „Ich rufe nicht wegen der Fotos an, Boss. Ich habe leider noch mehr schlechte Nachrichten.“

Evan schnitt eine Grimasse und massierte seinen Nasenrücken. „Raus damit.“

„Der italienische Übersetzer hat gerade abgesagt. Eine Art familiärer Notfall.“

Na, großartig! Klappte heute überhaupt irgendetwas? Die Technologiekonferenz auf Bali war die Gelegenheit, die wichtigsten Köpfe von Roma AI persönlich zu treffen und sie davon zu überzeugen, dass er eine sichere Investition war. Jetzt sah er sich nicht einmal mehr in der Lage, effektiv zu kommunizieren!

„Danke für das Update“, sagte Evan knapp, bevor er die Verbindung trennte.

Er musste dringend frische Luft schnappen. Ohne sich um eine Jacke zu kümmern, fuhr er mit dem Aufzug von der Penthouse-Etage ins Erdgeschoss. Zum Hotel gehörte ein Strandrestaurant mit Bar, und er hatte noch nichts gegessen. Ein belebendes Getränk und der Blick auf den Sonnenuntergang über dem Wasser halfen vielleicht, etwas von der Frustration abzubauen, die ihn im Griff hielt.

Vielleicht kann ich ein oder zwei zusätzliche Schichten übernehmen, überlegte Chiara und stöhnte bei dieser Vorstellung unwillkürlich auf. Eine mickrige zusätzliche Schicht reichte nicht annähernd aus, um ihr Flugticket zurück in die Staaten zu bezahlen.

Sie bereute es nicht, ihr Geld weggegeben zu haben. Natürlich nicht. Jess hatte es viel dringender gebraucht. Doch leider hatte diese spontane Geste sie selbst in diese prekäre Lage gebracht.

Es gab nur zwei Möglichkeiten: Sie musste schnellstens einen Weg finden, das Geld zu bekommen, oder ihrem Vater die Wahrheit gestehen. Ihm schonend beibringen, dass sie es doch nicht schaffte … und ihm damit das Herz brechen.

Heiße Tränen brannten unter ihren Lidern, doch Chiara biss die Zähne zusammen und blinzelte sie entschlossen weg. Sie hatte es satt, sich selbst zu bemitleiden.

Mit steifen Bewegungen hängte sie ihre Uniform in einen der Schränke im Hauswirtschaftsraum, löste ihren Pferdeschwanz und ließ ihr Haar offen herabfallen. Es fühlte sich gut an, wieder die eigenen Sachen zu tragen. Obwohl sie immer noch verzweifelt nach einer Lösung suchte, fühlte sie sich schon etwas besser.

Jetzt brauchte sie nur noch eine Mahlzeit und ein erfrischendes Bad.

Chiara verschwendete keine Zeit, um ins Strandrestaurant und an die Bar zu gelangen. Clive, der um diese Tageszeit als Bereitschaftsbarkeeper arbeitete, war einer ihrer Favoriten. Und einer der Ersten, die sie kennengelernt hatte, als sie vor zwei Monaten auf Bali angekommen war und den Job als Zimmermädchen im Hotel bekommen hatte. Er war ein ausgesprochen netter Kerl und brachte sie regelmäßig zum Lachen.

Die kostenlose Mahlzeit, die er ihr meistens spendierte, half auch weiter.

Doch als sie heute in den Barbereich kam, wirkte Clive so nervös und gehetzt, wie sie sich innerlich fühlte. Die Bar war proppenvoll, jeder Tisch und jeder Hocker besetzt.

„Eine Art Technologie-Konferenz“, raunte er ihr mit panischem Blick zu.

„Kann ich helfen?“ So viel zu ihrem Plan, hier wenigstens einen kurzen Moment zu entspannen! Doch das Barpersonal war eindeutig überfordert. Und sie hatte immer noch genügend nervöse Energie in sich, die sie so abarbeiten konnte.

„Du bist ein Engel!“ Er reichte ihr ein Tablett. „Hier, Tisch vierzehn. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.“

Chiara ließ ihre Tasche hinter die Theke fallen, nahm das beladene Tablett, machte auf dem Absatz kehrt und prallte gegen so etwas wie eine massive Wand.

Eine der Flaschen rutschte vom Tablett, und sie wartete auf den unvermeidlichen Knall mit anschließender Bierdusche über Unterschenkel und Schuhe. Doch nichts geschah.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich wieder orientieren konnte. Das Objekt, mit dem sie zusammengestoßen war, war gar keine Wand, sondern … ein Mann. Und er hielt sie mit einer Hand um ihren Oberarm geklammert aufrecht, während er mit der anderen die Flasche aufgefangen hatte.

Beeindruckende Reflexe, zu denen sie ihm spontan gratulieren wollte. Doch als sie den Blick hob, stockte ihr der Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Chiara an eine Art Wachtraum. Mit den seelenvollen dunklen Augen, dem markanten Kinn, inklusive einem Hauch von Bartschatten, schien er aus einer Anzeige für Luxusjachten oder – limousinen in die Strandbar gewechselt zu sein.

Und ihre Haut schien zu glühen – da, wo er sie immer noch berührte …

Irgendwie war es Evan gelungen, die frostig kalte Bierflasche aufzufangen, bevor sie auf dem Boden landete, wobei nur ein paar Spritzer neben seinen Füßen im Sand versickerten. Er hatte nicht genau mitbekommen, was die junge Frau erschrocken gemurmelt hatte, doch seine rudimentären Sprachkenntnisse sagten ihm, dass es definitiv Italienisch war.

Konnte es etwa sein, dass sich das Blatt für ihn doch noch wendete und ihm gerade unverhofftes Glück bescherte?

Ein saphirblaues Augenpaar signalisierte ihm offene Anerkennung. „Danke …“

Evan hatte das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube zu bekommen, als sich ihre anbetungswürdigen Lippen in einem Lächeln weiteten. Sie war auf eine Weise umwerfend, die er nicht hätte beschreiben können. Gebräunte Haut und langes, welliges Haar. Ihre Augen erinnerten ihn an die Farbe des Morgenhimmels über dem Ozean.

Seit wann bin ich zum Poeten mutiert?

„Tut mir schrecklich leid …“ Die Erscheinung rückte die Getränke auf dem Tablett zurecht und balancierte es aus. „Ich habe nicht aufgepasst … war etwas abgelenkt“, sagte sie mehr zu sich als an ihn gewandt.

Evan brauchte einen Moment, um seine Stimme zu finden. „Meine Schuld“, behauptete er rau. „Ich habe auf mein Handy gestarrt. Gehen und scrollen … eine Unsitte.“ Die er verabscheute, wenn sie ihm bei anderen auffiel. Aber er hatte diesen verdammten Hashtag überprüft, um zu sehen, ob er noch in den Top-20 angesagt war.

Sie antwortete ihm mit einem kleinen Lächeln. „Das tun wir doch alle.“

Ein eindeutig amerikanischer Akzent. Vielleicht hatte er einfach gehört, was er hören wollte, als er dachte, sie hätte anfangs Italienisch gesprochen.

Einige Sekunden verstrichen in atemloser Stille. Evan konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal die Worte gefehlt hatten.

Die Antwort lautete: nie! Was hatte diese Kellnerin nur an sich, dass …

„Nochmals danke, aber jetzt sollte ich …“

„Ja, natürlich“, sagte er hastig und gab den Weg frei.

Bis er einen leeren Hocker an der Bar gefunden und sich gesetzt hatte, war sie bereits mit einem weiteren beladenen Tablett unterwegs zu den nächsten Gästen. Evan bestellte das nächtliche Special und einen starken Brandy. Alle Gedanken an Klatsch-Websites und KI-Meetings waren vergessen. Sein Fokus richtete sich allein auf die hübsche Kellnerin, die schnell und effizient in der überfüllten Bar bediente und zwischen den Bestellungen die Tische abwischte und Stühle zurechtrückte.

Er konnte seine Augen kaum von ihr abwenden.

Eine Stunde später lichtete sich das Menschengetümmel in der Bar endlich. Evan stellte mit Erstaunen fest, dass er sein Essen kaum angerührt hatte. Auch sein Glas war noch fast voll. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Serviette, vollgekritzelt mit Notizen und Ideen. Alles Themen, die er während des Meetings morgen Abend ansprechen wollte, sollte es ihm gelingen, die Sprachbarriere – wie auch immer – zu überwinden.

Automatisch schweifte sein Blick durch die vollbesetzte Bar, bis er sie entdeckte. Sie hatte sich inzwischen an einem der kleineren Tische niedergelassen, hielt ein Glas Wein in der Hand und stocherte in einem Teller mit Essen herum.

Hatte er sie nun vorhin ein italienisches Wort sagen hören oder nicht? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Ha! Sich selbst etwas vorzumachen, hatte Evan noch nie geschafft. Es war nichts als eine Ausrede, um sie näher kennenzulernen. Aber zum Glück schuldete er ihr ja auch noch eine richtige Entschuldigung wegen seiner Tölpelhaftigkeit.

Evan erhob sich von seinem Stuhl, schnappte sich seinen Drink, ging zu ihr hinüber und spürte, wie sich sein Puls mit jedem Schritt beschleunigte und sein Mund trocken wurde. Er war tatsächlich nervös. Das überraschte ihn. Bisher hatte er noch nie ein Problem damit gehabt, sich Frauen zu nähern – auch wenn das nur selten vorkam. Normalerweise sprachen sie ihn an.

Auf halbem Weg zu seinem erklärten Ziel schaute sie unverhofft auf. Als sich ihre Blicke trafen, setzte Evans Herz einen Schlag aus. Es war zu spät, einen Rückzieher zu machen, denn sie beobachtete ihn. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, das er als Einladung verbuchte.

„Hallo noch mal …“, sagte er betont locker, als er ihren Tisch erreichte, und krümmte sich innerlich angesichts dieser Trivialität. Wie lahm war das denn?

„Hallo.“

„Ich komme nur vorbei, um mich noch einmal zu entschuldigen. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie fast umgeworfen habe.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Das ist sehr nett, aber nicht nötig. Immerhin haben Sie meinen Sturz abgefangen. Außerdem war ich, ähnlich wie Sie, ein wenig abgelenkt.“

Ihr lässiger Tonfall passte nicht zu der Anspannung auf ihren zarten Zügen.

Dahinter steckte eindeutig eine Geschichte, die er unbedingt hören wollte … Aber warum? Es schockierte Evan, wie neugierig er auf sie war. Schließlich sah er diese Frau heute zum ersten Mal. „Wollen Sie darüber reden?“

„Ich möchte Sie nicht langweilen.“

„Sie könnten mich ein wenig von meinen eigenen Sorgen ablenken.“

Habe ich allen Ernstes gerade öffentlich herausposaunt, dass ich Sorgen habe? Warum nur verhielt er sich in Gegenwart dieser Frau derart untypisch?

Sie zuckte mit den Schultern. „Sicher, warum nicht?“

Mit gespielter Betroffenheit schlug er sich gegen die Brust. „Ihr Mangel an Enthusiasmus ist absolut verletzend.“

Sie gluckste wie ein alberner Teenager. „Entschuldigung. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich mich unendlich freuen würde und tatsächlich etwas Gesellschaft gebrauchen könnte.“

„Klingt schon viel besser. Danke.“

„Gern geschehen.“

Er nickte mit dem Kinn in Richtung ihres T-Shirts. „Sie tragen kein Namensschild.“

„Das liegt daran, dass ich technisch gesehen gar nicht hier bin …“

„Also dieser Behauptung muss ich energisch widersprechen.“

Sie lachte leise. „Ich bin nach meiner Putzschicht hier runtergekommen, um einen Happen zu essen. Da Clive Hilfe brauchte, bin ich spontan eingesprungen. Ich bin Chiara.“

„Und ich Evan. Sie arbeiten im Hotel?“

Sie nickte.

„Also … Chiara, Sie leben hier auf Bali?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nun … ja und nein. Ich bin nur vorübergehend hier.“

„Verstehe. Geschäftlich oder privat?“

„Beides. Hauptsächlich bin ich wegen der Natur und der Sehenswürdigkeiten hergekommen, aber ich muss natürlich arbeiten, um all das zu finanzieren.“

Er nickte. „Reiseleidenschaft kann sich als sehr kostspielig erweisen.“

„Was Sie aus erster Hand wissen?“

„Ich komme auf jeden Fall viel herum, aber Bali ist im Moment mein Langzeitwohnsitz. Aktuell bin ich wegen dieses Technologiekongresses hier … oder genauer gesagt wegen eines wichtigen Meetings, auf das ich mich wochenlang vorbereitet habe. Nur könnte es sich jetzt als Flop erweisen.“

„Warum das?“ Chiara nahm einen Schluck von ihrem Wein.

„Ich brauche einen Übersetzer, aber der, den ich engagiert hatte, hat in letzter Minute abgesagt. Jetzt weiß ich nicht, wie viel ich den Geschäftsleuten, mit denen ich mich treffe, überhaupt vermitteln kann.“

„Tut mir leid, das zu hören.“

Evan beugte sich vor. „Ich muss Ihnen etwas beichten.“

Ihre Augen wurden groß. „Ein Geständnis?“

„Treffer! Als wir uns vorhin begegnet oder besser zusammengestoßen sind, dachte ich für eine Sekunde, Sie hätten etwas auf Italienisch gesagt.“

Prompt errötete sie. „Das passiert mir leider ab und zu. Hoffentlich versteht hier niemand Italienisch, denn es war kein netter Ausdruck, der mir herausgerutscht ist.“

Evan widerstand dem Drang, die Faust im Triumph in die Luft zu recken. Vielleicht endete dieser schreckliche Tag doch noch mit einem Glücksfall! „Sie werden es nicht glauben, Chiara, aber Sie könnten die Antwort auf meine momentanen Probleme sein.“

Als ihm auffiel, wie kitschig und zugleich zweideutig das klang, fügte er hastig hinzu: „Natürlich rein professionell gesehen …“ War das wirklich besser?

Chiara blinzelte. Sie war eindeutig verwirrt. „Wie das?“

„Der ausgefallene Übersetzer … Ich brauche zufällig einen für Italienisch. Hätten Sie morgen Abend Zeit?“

Sie hob die Hände. „Moment mal, immer langsam! Ich habe kein Wort davon verlauten lassen, dass ich auch nur annähernd fließend Italienisch spreche.“

„Könnten Sie denn ein Gespräch führen?“, bohrte er weiter.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich nehme es an. Meine Mutter hat mit mir und meinem Bruder zwar nur wenig Italienisch gesprochen, da wir Kinder uns mit Englisch viel wohler fühlten. Und Fachbegriffe kenne ich ohnehin nicht. Wahrscheinlich würde ich die aber auch im Englischen nicht …“

„Diesen Teil könnten Sie getrost mir überlassen. Begriffe wie Kodierung und KI sind universell. Ich brauche Sie für den Konversationsteil.“

Chiara schob die Brauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, ich weiß nicht …“ 

Das war immerhin kein Nein.

Autor

Nina Singh
Nina Singh lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und einem sehr temperamentvollen Yorkshire am Rande Bostons, Massachusetts. Nach Jahren in der Unternehmenswelt hat sie sich schließlich entschieden, dem Rat von Freunden und Familie zu folgen, und „dieses Schreiben doch mal zu probieren“. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens. Wenn...
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