Allein in London, verliebt in Paris

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"Nein", fleht alles in Jane, "nicht er!" Sie wollte sich ihrem neuen Boss vorstellen, doch der Mann, vor dem sie bebend sitzt, ist Marcel: die Liebe ihres Lebens. Zehn Jahre ist es her, dass sie ein Topmodel war und er nur ein Verkäufer. Dennoch waren sie unzertrennlich - bis zu jenem tragischen Tag … Nun soll sie ihn nach Paris begleiten. Beruflich, versteht sich. Doch seit wann gibt es bei Geschäftsessen Küsse zum Dessert?


  • Erscheinungstag 23.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756352
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Im blassen Licht der Morgensonne betrachtete der junge Mann voller Bewunderung die schöne Frau, die neben ihm im Bett lag, das lange blonde Haar fächerförmig auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Zärtlich küsste er sie auf den Mund. Sofort regte sie sich und murmelte schlaftrunken: „Marcel.“

Der schlanke, jungenhafte Zwanzigjährige würde mit der Zeit eine kräftigere Figur entwickeln, seine Züge würden bald erwachsener wirken, doch so gut wie in diesem Augenblick, in dem er ehrfürchtig seine Geliebte bewunderte, würde er vermutlich nie wieder aussehen.

„Hör mich an“, bat er die schlummernde Schöne. „Es gibt da etwas – einiges –, das du wissen musst. Ich wage nicht, es dir zu sagen, wenn du hellwach bist. Dein Anblick verschlägt mir die Sprache. Mir fehlen die Worte, um deine Schönheit zu preisen. Das tun bereits sämtliche Fotografen und die vielen anderen Männer, die dich mir stehlen würden, wenn sie es nur könnten. Zum Glück lässt du das nicht zu, meine süße Cassie.“

Verschlafen, die Augen geschlossen, lächelte sie, und ihm wurde ganz warm ums Herz.

„Kannst du mir noch folgen? Ich muss dir etwas gestehen. Vielleicht bist du erst wütend auf mich, weil ich es dir verheimlicht habe, aber du wirst mir verzeihen, das weiß ich genau! Und danach werde ich dich bitten, mich zu heiraten. Was wir derzeit haben, ist wunderbar, aber es genügt mir nicht auf Dauer. Ich möchte, dass du meine Frau wirst. Die ganze Welt soll wissen, dass du zu mir gehörst. Zu mir und niemandem sonst. Lass uns so schnell wie möglich heiraten, damit alle erkennen, dass wir einander lieben und ein Paar sind.

Zuvor muss ich dir allerdings beichten, was ich dir bislang verschwiegen habe. Es … nein, ich werde mein Geheimnis noch eine Weile für mich behalten. Zugegeben, ich bin ein Feigling. Ich habe schreckliche Angst vor deiner Reaktion, wenn du erfährst, was ich dir vorenthalten habe. Deshalb spare ich es mir lieber für einen geeigneteren Augenblick auf.

Stattdessen möchte ich dir lieber erneut meine Liebe gestehen. Was auch geschieht, ich gehöre zu dir. Nichts wird uns je trennen. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich danach sehne, dich meine Frau nennen zu dürfen!

Aber jetzt schlaf weiter. Später wird noch Zeit genug sein, um über alles zu sprechen, und wir können uns für den Rest unseres Lebens lieben.“

1. KAPITEL

„Was mich an Hochzeiten stört, ist, dass sie sogar den klügsten Mann als Dummkopf dastehen lassen.“

Überrascht sah Marcel Falcon auf und schmunzelte zustimmend. Der Urheber dieser zynischen Bemerkung – ein Geschäftspartner und Freund – ließ sich gerade auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder.

„Schön, dich zu sehen, Jeremy. Möchtest du einen Drink? Ober!“

Sie saßen an einem Tisch in der Bar des Gloriana, eines der luxuriösesten Hotels in London, das für seine exklusiven Hochzeitsfeiern bekannt war.

Marcel gab die Bestellung auf und wandte sich wieder seinem Bekannten zu. „Ich bin selbst kein großer Freund von Hochzeiten. An dieser nehme ich nur teil, weil die Braut die Exfrau meines Bruders Darius ist.“

„Der Exmann ist zu Gast bei ihrer Wiederverheiratung? Das nenne ich einen kultivierten Umgang miteinander!“

„Sie bemühen sich den Kindern zuliebe um ein freundschaftliches Verhältnis.“

„Vermutlich hat auch dein Vater seinen Teil dazu beigetragen.“

„Wo hat er seine Hände nicht im Spiel? Auf seine Veranlassung hin wurde sogar die Trauung verschoben – auf einen Termin, an dem er ohne steuerliche Nachteile nach England einreisen kann.“

Wegen seines unermesslichen Reichtums war Amos Falcon ins Steuerparadies Monaco ausgewandert. Pro Jahr durfte er sich jeweils nur für die Dauer von neunzig Tagen in Großbritannien aufhalten, um den finanziellen Vorteil nicht aufs Spiel zu setzen.

„Frankie und Mark sind seine einzigen Enkel. Er versucht an ihrem Leben teilzuhaben, so gut es geht“, erklärte Marcel.

„Wie seltsam, dass von seinen fünf Söhnen erst ein einziger Nachwuchs hat.“

„Das beklagt er auch. Ständig drängt er uns zu heiraten, am besten Freya.“

„Wer ist das?“

„Seine Stieftochter – die einzige ‚Tochter‘, die er hat. Er versucht, sie durch eine Ehe fest in die Familie zu integrieren.“

„Dann habt ihr nicht einmal bei der Wahl eurer Ehefrauen ein Mitspracherecht?“

„Machst du Scherze? Wir sprechen von meinem Vater! Sollte es wider Erwarten mit Freya nicht klappen, muss eine andere Frau die großartige Falcon-Dynastie fortführen. Leider haben wir ihn bislang alle enttäuscht, Darius ausgenommen. Jackson interessiert sich mehr für wilde Tiere als für Frauen. Falls Leonid bereits verheiratet ist, wissen wir es nicht, er verlässt Russland nur selten, und Travis möchte nicht heiraten, um seine Fans nicht zu verärgern.“

Sein jüngster Halbbruder, in Amerika geboren und aufgewachsen, war ein bekannter und insbesondere bei seinen weiblichen Verehrerinnen äußerst beliebter Schauspieler.

„Also bleibst nur du übrig – der liebeshungrige Franzose.“

„Wenn du wüsstest, wie mich dieses Vorurteil langweilt“, winkte Marcel ab.

„Immerhin lebst du in Paris, umgibst dich mit immer neuen Schönheiten … Schon gut“, brach Jeremy ab. „Du hast, wovon die meisten Männer nur träumen können, also solltest du es wenigstens genießen.“

Der Kellner kam mit den Drinks. Als er wieder gegangen war, hob Jeremy das Glas. „Lass uns auf den Junggesellenstand trinken. Wie ist es dir eigentlich gelungen, so lange Single zu bleiben?“

„Mein ausgeprägter Realitätssinn hat mir dabei geholfen. Ich sehe anfangs zwar auch die Göttin in einer schönen Frau, komme aber rasch wieder zur Besinnung.“

„Aha. Du bist also schon einmal abserviert worden!“

„So würde ich das nicht nennen.“ Seine Stimme klang eiskalt.

„Anscheinend machst du es genau richtig. Du kannst jede Frau haben, wann immer du willst.“

„Jetzt redest du Unsinn.“

„Meinst du? Sieh dich doch nur um. Die Frauen dort drüben lassen dich kaum aus den Augen.“

Das war nicht gelogen. An der Bar standen drei junge Frauen mit Drinks in der Hand, die interessiert und abschätzend die Männer ringsum betrachteten. Beim Anblick von Marcel schnappte eine von ihnen überrascht nach Luft, eine neigte den Kopf zur Seite, und die Dritte lächelte ihm einladend zu.

Dass sie ihn anhimmeln ist kein Wunder, dachte Jeremy ein wenig neidisch. Der dunkelhaarige Marcel war hochgewachsen und durchtrainiert. Darüber hinaus verfügte er über eine besondere Ausstrahlung, die Frauen unwiderstehlich anzog und Männer vor Neid erblassen ließ. Wer ihn nur von seiner charmanten Seite kannte, konnte kaum glauben, mit welcher Unbarmherzigkeit er sich Reichtum und Erfolg erkämpft hatte.

Davon ahnten die Frauen an der Bar jedoch nichts. Sie sahen nur den attraktiven Mann mit dem verwegenen Blick.

Bald schon würde wenigstens eine von ihnen einen Vorwand finden, um sich seinem Freund zu nähern, darauf wäre Jeremy jede Wette eingegangen.

„Hast du dich schon für eine entschieden?“, fragte er.

„Wieso sollte ich?“

„Gut so. Wahrscheinlich kommen ohnehin bald noch mehr. Sieh mal, ist das nicht Darius?“

Die Bar war zur Hotellobby hin offen, und Marcel entdeckte seinen Halbbruder vor dem Aufzug, ins Gespräch mit einer sehr hübschen jungen Frau an seiner Seite vertieft.

„Wer ist sie?“, wollte Jeremy wissen.

„Keine Ahnung. Vielleicht stammt sie von der Insel, die er gerade übernommen hat. Ein Mann, der ihm ein Vermögen schuldet, hat sie ihm überschrieben. Darius lebt zurzeit dort, um zu überlegen, was er damit anfangen soll.“

Inzwischen war sein Bruder mit seiner Begleiterin im Lift verschwunden.

„Ich gehe ihn begrüßen. Wir sehen uns später.“ Marcel leerte sein Glas in einem Zug und stand auf.

Zunächst wollte er sich allerdings das Hotel gründlich ansehen. Ihm als Experte entging kein Detail, und er kam zu dem Schluss, dass das Gloriana seinen Ruf als eines der ersten Häuser der Stadt zu Recht trug, mit seinem Hotel in Paris aber nicht mithalten konnte.

Den Namen La Couronne, die Krone, hatte er mit Bedacht für sein Haus gewählt, um dessen Weltklasse zu unterstreichen. Es war seine Freude und sein ganzer Stolz, und er hatte persönlich darüber gewacht, dass die eleganten Konferenzräume und luxuriösen Zimmer alle nur denkbaren Annehmlichkeiten boten und ebenso dezent wie edel ausgestattet waren. Alles, was Rang und Namen hatte, stieg dort ab, Top-Manager, Politiker, Filmstars. Hier trafen Mode, Stil und Macht aufeinander. Und ganz besonders Geld.

Auch sein Leben drehte sich um Finanzen. Mit einer Bürgschaft seines Vaters als Sicherheit hatte er sich das erforderliche Startkapital geliehen – und inzwischen jeden Cent davon zurückgezahlt.

Im hinteren Teil des Hotels entdeckte Marcel den aufwendig dekorierten Raum, in dem am nächsten Tag die Trauung stattfinden würde. Üppiger Blumenschmuck schuf eine romantische Atmosphäre, beinahe wie in einer Kirche, obwohl es sich lediglich um eine standesamtliche Hochzeit handelte.

Unvermittelt fiel ihm der erste und einzige Heiratsantrag seines Lebens ein. Einen Augenblick lang hielt er wie versteinert inne. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er war jung und naiv gewesen und hatte nur das Beste über seine Geliebte glauben wollen, bis seine Illusionen in einem Meer aus Schmerz und Elend untergegangen waren.

Das alles lag Jahre zurück. Heute war er ein erwachsener Mann. Wieso quälte ihn die Erinnerung immer noch?

Kopfschüttelnd verließ er das Trauzimmer und schlenderte weiter durch die Korridore des Hotels. Kurz darauf begegnete er seinem Vater, der das Haus ebenfalls neugierig inspizierte.

Sie waren einander erst vor wenigen Wochen begegnet. Amos hatte unter akuten Herzproblemen gelitten und seine Söhne an sein Krankenbett in Monaco beordert. Jetzt wirkte er fast wieder so gesund und stark wie vor seiner Erkrankung, nur noch wenige Spuren der Krankheit zeichneten sich noch in seinem Gesicht ab.

„Wie schön, dich wieder wohlauf zu sehen“, begrüßte Marcel ihn und umarmte ihn unbefangen.

„Meine Frau hat viel Wirbel um nichts gemacht“, wehrte Amos ab. „Dennoch hat es mir gefallen, euch alle für eine Weile um mich zu haben. Komm mit nach oben und begrüße Janine und Freya. Sie freuen sich schon, dich wiederzusehen.“

Das Liebesleben von Amos ließ sich, freundlich ausgedrückt, bestenfalls als abwechslungsreich bezeichnen. Marcels Mutter war seine zweite Frau gewesen, ihre Nachfolgerin hieß Janine. Sie hatte ihre Tochter Freya mit in die Ehe gebracht, zur großen Freude ihres Mannes, der fünf Söhne, aber keine Tochter hatte, und fleißig plante, wie er sie fest in die Familie einbinden konnte.

„Unterwegs können wir uns hier noch ein wenig umsehen“, schlug Amos jetzt vor. „Das Hotel gefällt mir, einiges ist allerdings verbesserungsbedürftig.“

„Ich überlege zu expandieren, außerhalb von Paris“, dachte Marcel laut nach.

„Dann solltest du London ins Auge fassen. Derzeit sind die Immobilienpreise im Keller, und du könntest ein Schnäppchen machen. Mit meinen guten Kontakten vor Ort kann ich dir einen Kredit vermitteln oder dir auch selbst etwas leihen.“

„Danke, vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück.“

Auf ihrem Weg durchs Hotel sahen sie sich interessiert um und tauschten sich über ihre Eindrücke aus.

„Was La Couronne im Vergleich mit diesem Hotel fehlt, ist das Hochzeitspaket. Damit lässt sich eine Menge Geld verdienen. Wäre das nichts für dich?“, schlug Amos vor.

„Ich bezweifle, dass sich mein Gewinn dadurch steigern ließe“, lehnte Marcel gelassen ab. Hochzeiten behagten ihm aus mehreren Gründen nicht, über die zu diskutieren er nicht bereit war.

Schließlich erreichten sie die Bar im achten Stock, die einen spektakulären Blick über London bot. Sie ließen sich an einem Tisch am Fenster nieder, und Amos deutete auf ein großes Gebäude in einiger Entfernung.

„Dort drüben befindet sich der Firmensitz von Daneworth Estates.“

„Der Name ist mir ein Begriff. Wie man hört, laufen die Geschäfte nicht gut.“

„Es heißt, sie wollen Immobilien verkaufen.“

Marcel horchte auf. „Ist etwas Interessantes dabei?“

„Das Alton Hotel. Es muss dringend renoviert werden, doch dazu fehlt ihnen das Geld. Jetzt ist es reif für die Übernahme zu einem Spottpreis.“

Er nannte einen Betrag, und Marcel zog überrascht die Augenbrauen hoch. „So wenig?“

„Wenn man Daneworth die Daumenschrauben anlegt. Wie lange bleibst du in England?“

„Lange genug, um mich umzusehen.“

„Ausgezeichnet. Schön zu wissen, dass ich wenigstens auf einen meiner Söhne stolz sein kann.“

„Bist du immer noch wütend auf Darius, weil er seine Frau bei der Scheidung zu großzügig abgefunden hat? Ich dachte, du magst Mary. Du kommst ja sogar zu ihrer Hochzeit.“

„Ich streite nicht mit der Mutter meiner Enkel. Dennoch finde ich sein Verhalten unvernünftig. Weißt du eigentlich etwas über die Frau in seiner Begleitung?“

„Ich habe sie nur von Weitem gesehen. Sie ist hübsch und wirkt sympathisch. Ich werde den beiden später einen Besuch abstatten.“

„Nimm dir die Frau gründlich vor! Ich möchte wissen, ob Darius ihr in die Falle zu gehen droht.“

„Und damit deinen Plan vereitelt, ihn mit Freya zu verheiraten?“

„Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich sie gern als meine Schwiegertochter sähe. Falls Darius nicht mitspielt …“

„Vergiss es“, unterbrach Marcel ihn.

„Es wird Zeit, dass du Wurzeln schlägst.“

„Du hast noch andere Söhne.“

Amos schnaubte verächtlich. „Fünf Söhne – und nur ein einziger ist sesshaft.“

Du warst uns nicht gerade ein leuchtendes Vorbild, dachte Marcel zynisch. Amos hatte seine Mutter erst Jahre nach seiner Geburt geheiratet, Travis und Leonid waren illegitim, somit waren lediglich zwei seiner fünf Söhne ehelich geboren. Da er nicht auf Streit aus war, zuckte er jedoch nur kurz mit den Schultern und stand auf.

„Bitte richte Janine und Freya aus, dass ich sie besuchen werde, nachdem ich bei Darius war.“

Als er wenig später das Zimmer seines Bruders betrat, bemerkte er als Erstes die hübsche, elegant gekleidete junge Frau. Dann erst fiel sein Blick auf seinen Bruder, der ihr die Hände auf die Schultern gelegt hatte und sie bewundernd betrachtete.

„Störe ich?“, fragte er.

„Marcel!“ Darius lief ihm entgegen und umarmte ihn freudig, ehe er sich umwandte und ihn seiner Begleiterin vorstellte.

„Jetzt verstehe ich, warum du ein solches Geheimnis um Harriet gemacht hast“, sagte Marcel. „An deiner Stelle hätte ich dasselbe getan.“

Das wird ein Schock für Vater, dachte er. Harriet könnte seinen Plan, Darius mit Freya zu verkuppeln, ernstlich gefährden.

Er blieb einige Minuten dort, plauderte mit den beiden und flirtete in angemessen brüderlichem Rahmen mit Harriet.

„Dann hat Darius dich also vor unserer Familie gewarnt“, stellte er fest. „Du weißt, dass wir ein seltsames Volk sind.“

„Nicht sonderbarer als ich“, entgegnete sie lachend.

„Da bin ich aber gespannt. Reservierst du heute Abend einen Tanz für mich?“

„Das geht leider nicht. Sämtliche Tänze sind bereits vergeben“, mischte sich Darius hastig ein.

Marcel schmunzelte und raunte ihr ins Ohr: „Wir sehen uns später.“

Nach einem kurzen Wortwechsel mit seinem Bruder warf er ihr einen Handkuss zu und ging in die Suite seines Vaters. Dort umarmte er seine Stiefmutter herzlich, konnte es sich aber nicht verkneifen, gleichzeitig einen Blick aus dem Fenster zu werfen – auf das Gebäude, das Amos ihm gezeigt hatte.

Daneworth Estates. Wirklich interessant …

In seinem Büro im zehnten Stock des schlichten Hochhauses am Themse-Ufer ging Mr Smith, der Manager von Daneworth Estates, einige Papiere durch. Er stöhnte leise, dann betätigte er die Sprechanlage. „Mrs Henshaw, würden Sie mir bitte die restlichen Akten bringen? Gleich haben wir alle Details, keine Sorge“, wandte er sich wieder an seinen Kunden, einen älteren Geschäftsmann.

Kurz darauf trat eine tüchtig aussehende Frau ein und legte einen Aktenordner vor ihm auf den Tisch. „Ich habe zahlreiche Vermerke angelegt, in denen Sie alles finden werden, was Sie benötigen.“

„Vielen Dank.“

Der Kunde betrachtete die Assistentin seines Geschäftspartners mit Missfallen. Sie war genau der Typ Frau, den er am wenigsten mochte: Frauen, die sich keine Mühe gaben, das Beste aus sich zu machen. Dabei war sie groß und schlank, hatte blondes Haar und angenehme, regelmäßige Züge. Statt diese Vorzüge zu betonen, band sie das Haar straff zurück, versteckte ihre ausgezeichnete Figur unter strenger Kleidung und ihr Gesicht hinter einer riesigen Hornbrille.

„Es ist bereits achtzehn Uhr“, stellte sie fest.

Mr Smith nickte. „Ich weiß. Sie können gehen.“

Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich und verließ den Raum.

„Irgendwie jagt sie mir Angst ein“, sagte der Kunde und schauderte.

„Mir manchmal auch. Aber sie ist fleißig und klug wie keine andere.“

„Wieso nennen Sie sie nicht einfach beim Vornamen?“

„Sie besteht darauf, mit Familiennamen angesprochen zu werden. Auf einen familiären Umgangston legt sie keinen Wert.“

„Sie sind ihr Boss.“

„Daran zweifle ich von Zeit zu Zeit. Manchmal frage ich mich, ob ich sie entlassen oder wegen ihrer Leistungen behalten soll.“

„Finden Sie auch, dass sie Ähnlichkeit mit einem Roboter hat?“

„Ein einladendes Wesen hat sie jedenfalls nicht. Es ist kaum zu glauben, dass sie früher als Model große Erfolge gefeiert hat.“

„Unmöglich!“

„Doch. Damals nannte sie sich Cassie. Einige Jahre lang sah es aus, als käme sie ganz an die Spitze, dann verschwand sie plötzlich von der Bildfläche. Den Grund dafür kenne ich nicht.“

„Mit ein wenig Mühe könnte sie heute noch gut aussehen. Wieso bindet sie ihr Haar straff zurück wie eine Gefängniswärterin und trägt keine Spur von Make-up?“

„Keine Ahnung. Lassen Sie uns wieder übers Geschäft reden. Wie kann ich es vermeiden, pleitezugehen und Ihre Firma mit ins Verderben zu ziehen?“

„Wenn ich das wüsste“, erwiderte der Kunde düster.

Über ihren Problemen vergaßen die beiden Männer rasch Mrs Henshaw, die durch die geschlossene Tür hindurch ihre abfälligen Bemerkungen mitgehört hatte. Gleichgültig mit den Schultern zuckend ging sie zu ihrem Schreibtisch.

„Wie können Sie so ruhig bleiben, wenn die beiden so schlecht über Sie reden?“, fragte ihre Kollegin, eine naive Neunzehnjährige, verwundert.

„Ich ignoriere es einfach.“

„Und wer ist diese Cassie, das tolle Model, das sie erwähnt haben?“

„Das weiß ich nicht. Mit mir hat sie jedenfalls nichts zu tun.“

„Mr Smith hat behauptet, das wären Sie gewesen.“

„Dann hat er sich geirrt.“ Sie griff nach ihrer Handtasche, wandte sich zu ihrer Kollegin um und sagte, eine ausdruckslose Miene aufgesetzt: „Es hat sie eigentlich nie gegeben. Und jetzt machen wir Feierabend.“

Den hatte sie dringend nötig. Sie brauchte Ruhe, um über die gravierenden finanziellen Probleme nachzudenken, in der die Firma steckte. Würde sie sich bald beruflich neu orientieren müssen?

Das wäre nicht allzu schlimm, dachte sie. Schon seit Jahren empfand sie ihr Leben als öde und leer.

Ein Auto konnte sie sich schon lange nicht mehr leisten, deshalb kehrte sie mit dem Bus in das anonyme Apartmenthaus zurück, in dem sie eine kleine Wohnung gemietet hatte. Diese war sauber und ordentlich, aber sehr unpersönlich eingerichtet und ließ keinerlei Rückschlüsse auf ihre Bewohnerin zu.

Mach dir keine Sorgen, alles wird gut, sprach Mrs Henshaw sich Mut zu. Dass sie unvermittelt mit ihrer Vergangenheit als Model konfrontiert worden war, hatte sie kurzfristig aus der Bahn geworfen. Cassie gehörte einem anderen Leben an, ja, einem anderen Universum. Ihr war das Herz gebrochen worden – Mrs Henshaw dagegen besaß keines.

An diesem Abend blieb sie noch lange auf und studierte Unterlagen, die sie aus der Firma mitgenommen hatte. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass schon bald drastische Veränderungen notwendig würden. Um sich näher damit zu befassen, war sie allerdings zu müde.

Sie ging zu Bett und schlief sofort ein. Erholung fand sie nur wenig, denn die Albträume, die sie so häufig quälten, peinigten sie auch in dieser Nacht. Sie sah Cassie vor sich, in den Armen eines attraktiven jungen Mannes, der sie anbetend betrachtete. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und an die Stelle von Bewunderung trat Hass.

„Ich habe dich geliebt und dir vertraut. Jetzt kann ich deinen Anblick nicht länger ertragen“, schleuderte er ihr wütend entgegen.

Im Traum streckte sie die Arme nach ihm aus und flehte ihn an: „Marcel, du verstehst nicht. Bitte …“

„Geh mir aus den Augen, du Hure!“

Sie schrie auf und erwachte schweißgebadet.

„Nein“, klagte sie. „Du irrst dich.“ Tränen strömten ihr über die Wangen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und starrte, immer noch schwer atmend, in die Dunkelheit. Nach einer Weile stand sie aus dem Bett auf und stolperte ins Bad. Aus dem Spiegel blickte ihr eine zu Tode erschöpfte Frau entgegen, die von heftigen Emotionen überwältigt und zerstört zu werden drohte. Das Haar trug sie nicht länger straff aus dem Gesicht gekämmt, wie am Tag. Es fiel ihr in weichen Wellen um die Schultern. In diesem Moment ähnelte sie wieder der schönen jungen Cassie, die sie einmal gewesen war. Unvermittelt flossen ihr Tränen über die Wangen, und sie hielt sich die Hand vor Augen, um die schmerzlichen Erinnerungen zu verdrängen.

„Nein“, weinte sie. Doch für ein Nein war es zu spät, um Jahre zu spät.

2. KAPITEL

„Hoffentlich bereue ich diese Entscheidung nicht im Nachhinein“, stöhnte Mr Smith. „Das Alton Hotel ist das Doppelte von dem wert, was er mir bietet. Leider interessiert sich niemand sonst dafür.“

Mrs Henshaw las die Zahlen und runzelte die Stirn. „Vielleicht können Sie noch etwas mehr heraushandeln?“

„Das habe ich versucht, vergeblich, also habe ich akzeptiert. Ich brauche schnellstmöglich Kapital, sonst geht die Firma pleite.“

„Heißt das, ich muss mich nach einem anderen Job umsehen?“

„Leider ja. Möglicherweise kann ich Ihnen dabei behilflich sein. Ich habe ihm vorgeschlagen, sich mit Ihnen zu treffen. Marcel sucht eine Assistentin, die sich vor Ort auskennt. Da sind Sie genau die Richtige. Wieso sehen Sie mich so erstaunt an?“

„Oh, es ist nichts. Wie heißt er mit vollem Namen?“

„Marcel Falcon. Er ist einer der Söhne von Amos Falcon.“

Die Anspannung fiel zusehends von ihr ab. Wie dumm von mir, dachte sie. Der Marcel, den sie gekannt hatte, hieß Degrande und hatte mit Mr Falcon sicher nichts zu tun.

„Wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen, ist Ihnen eine tolle Stelle sicher“, riet ihr Mr Smith.

„Wann soll ich ihn aufsuchen?“

„Sofort. Er erwartet Sie in einer halben Stunde im Gloriana.“

„So bald schon? Dann kann ich ihn nicht einmal mehr googeln!“

„Verlassen Sie sich eben auf Ihr Gefühl. Alle Einzelheiten zum Verkauf sind in diesen Unterlagen enthalten.“ Er warf ihr eine schmale Mappe zu. „Ja, ich weiß, normalerweise geht das nicht so schnell. Aber je eher ich über das Geld verfügen kann, desto besser.“

Sie nahm ein Taxi und studierte während der Fahrt die Papiere. Es war zu schade, dass sie nicht das Internet zurate ziehen konnte. Natürlich war ihr Amos Falcon ein Begriff, der an Geschäften in aller Herren Länder beteiligt war, aber sie hätte sich gern über seinen Sohn informiert.

Mach dich nicht verrückt, sprach sie sich Mut zu. Ihr stand ein langer, anstrengender Abend bevor, doch sie würde wie gewohnt alle Schwierigkeiten gründlich und effizient aus der Welt schaffen.

Im Gloriana erkundigte sie sich an der Rezeption nach Mr Falcon.

„Er sitzt dort drüben.“ Die hilfsbereite Hotelangestellte deutete auf die zum Foyer hin offene Bar, in der ein Mann allein an einem der Tische saß, den Rücken ihr zugewandt. Als er den Kopf zur Seite drehte, erkannte sie seine Züge.

Sie erstarrte. „Nein“, flüsterte sie kaum hörbar.

Es war Marcel. Älter, ein wenig kräftiger, aber immer noch unverkennbar der Mann, dessen Liebe der Höhepunkt ihres Lebens gewesen war, und den zu verlieren sie an den Rand des Abgrunds getrieben hatte.

In ihrer Verwirrung trat sie einen Schritt zurück, dann einen weiteren. Zu keinem klaren Gedanken fähig, floh sie auf die nächste Tür zu. Sie musste ihm entkommen, ehe er sie entdeckte. Die Tür führte in den Garten des Hotels, in dem sich ein kleines Café befand. Am ganzen Körper zitternd ließ sie sich an einem der Tische dort nieder. Sie brauchte eine kurze Pause, ehe sie sich davonstehlen konnte.

Hoffentlich hat er mich nicht gesehen, dachte sie. Hätte ich ihn doch nie getroffen, nie geliebt.

Im Geist sah sie die zwei jungen Leute vor sich, die sie einst gewesen waren. Naiv, unschuldig, unbekümmert und vielleicht ein wenig dumm. Kinder fast noch, die ausgezogen waren, die Welt mit ihrer Schönheit, ihrem Talent und ihrer Begeisterung zu erobern.

Jane Agnes Cassandra Baines hatte immer gewusst, dass sie eines Tages als Model arbeiten würde.

„Alles andere wäre Verschwendung“, hatte ihre Schwester immer behauptet. „Allerdings musst du dir dringend einen interessanteren Namen zulegen. Jane klingt viel zu langweilig.“

Seit dem Tod der Eltern hatte sich die acht Jahre ältere Rebecca um ihre jüngere Schwester gekümmert, heute revanchierte diese sich mit finanziellen Zuwendungen.

„Wie wäre es mit deinem dritten Namen? Cassandra heißt ‚die Verführerin‘.“

Der Vorschlag hatte ihr gefallen, und ihr Agent hatte vorgeschlagen, die Abkürzung Cassie zu verwenden. „Das klingt perfekt, damit wirst du zum Star.“

Tatsächlich hatte sie schnell Karriere gemacht. Jane existierte nicht länger, dafür zierten Fotos von Cassie bald zahllose Magazine und Reklametafeln.

Autor

Lucy Gordon
Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman „Das Kind des Bruders“, der in Rom spielt. Mit dem Schreiben erfüllte sich...
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