Begehrt von dem verruchten Lord

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"Gehen Sie besser ins Haus. Sie bieten einen recht freizügigen Anblick." Bei Lord Nathaniel Hemings anzüglichen Worten schießt Lady Imogene das Blut in die Wangen. Zu später Stunde hat er ihren verletzten Bruder nach Hause gebracht, den er in einem Boxclub besiegt hat. Nun lässt der arrogante Adlige seine Blicke über ihre Brüste gleiten, die das hauchdünne Schlafgewand kaum verhüllt, und noch in derselben Nacht erfährt die keusche Lady: Die Hände des verruchten Faustkämpfers können auch zärtlich berühren! Doch Imogene merkt, dass in Nathaniel etwas heißer brennt als die Leidenschaft - sein Rachedurst. Ein Kampf um Liebe und Hass beginnt …


  • Erscheinungstag 16.12.2016
  • Bandnummer 91
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775421
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Von allen Seiten erklang der Ruf: „Schiebung! Schiebung!“

– P. Egan, Boxiana (1823)

27. September 1800,

irgendwo in New York City

Nathaniel erwachte aus einem tiefen Schlaf, als ihm jemand eine große warme Hand auf die geschlossenen Augenlider legte. Gleich darauf sog er den beißend süßlichen Geruch von Zigarrenrauch in seine Nase.

Es war keine Frage: Er war wieder da! Nathaniel wagte nicht, sich zu rühren.

Langsam wurde die Hand wieder zurückgezogen. „Bist du wach?“, hörte Nathaniel ihn neben seiner Pritsche flüstern.

Nathaniel schluckte schwer und öffnete die Augen. Das spärliche Licht einer einzelnen Kerze behauptete sich mühsam gegen die Dunkelheit im feuchtkalten Keller. Plötzlich glaubte er keine Luft mehr zu bekommen, ihm wurde übel. „Ich will nach Hause!“ Er zerrte an den Stricken, mit denen seine Hände an seiner Taille gefesselt waren. Es war ihm egal, dass seine Stimme kläglich klang, er war erst zehn, und er hatte allen Grund, ängstlich zu sein und zu jammern.

Der Mann, der auf der Kante der schmalen Pritsche saß, war jung. Sein Haar war sonnengebleicht und seine Augen bernsteinfarben, so viel konnte Nathaniel im Licht der einzelnen Kerze erkennen. Es war derselbe junge Mann, der zuvor nachts immer vor den Fenstern seines Elternhauses herumgelungert war.

Für einen kurzen, düsteren Moment begegneten sich ihre Blicke, der Mann hielt Nathaniel einen Holzsoldaten mit rot lackierter Uniform hin. „Der ist für dich.“

„Ich will ihn nicht.“

„Versprichst du mir, nicht auf mich loszugehen, wenn ich dir die Fesseln abnehme und dir das Spielzeug gebe? Versprichst du, artig zu sein?“

Nathaniel ballte die Hände zu Fäusten, doch sein Versuch, sie seinem Peiniger ins Gesicht zu schlagen, wurde schon im Ansatz von den Stricken um seine Handgelenke vereitelt. „Warum tun Sie mir das an?“, stieß er hervor.

„Du bist sein Sohn, oder etwa nicht?“

Tränen stiegen in Nathaniels Augen, als er begriff, dass ihn der Mann nicht gehen lassen wollte. „Vielleicht hat mein Vater etwas missverstanden. Schicken Sie ihm doch bitte noch eine Nachricht. Bitte!“

Der Mann senkte den Blick auf den hölzernen Soldaten, den er in der Hand hielt. „Er hat meine Botschaft schon verstanden, er hat nur beschlossen, sie zu ignorieren.“

Nathaniel schluchzte auf. „Nein! Das würde er niemals tun. Ich weiß, dass er das niemals tun würde!“

„Wir glauben immer, jemanden gut zu kennen, bis er uns schmählich verrät. Lass es dir eine, wie sagt man bei euch in England, eine Lehre sein.“

Nathaniel schüttelte den Kopf. „Dann schicken Sie doch meiner Schwester Augustine eine Nachricht. Sie, sie wird mich holen, das weiß ich, oder meine Mutter. Fordern Sie von ihnen, was immer Sie wollen, und ich werde sicherstellen, dass Sie es bekommen. Sie geben es Ihnen! Wirklich!“

„Nein.“ Der Mann starrte auf den hölzernen Soldaten. „Es würde uns an den Galgen bringen, wenn jemand anderes als dein Vater von der Sache erfährt.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Du erfährst es schon noch früh genug.“

„Werden Sie mich töten?“

Ein schiefes Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Mannes. „Ich mag ja vieles sein, aber ein Mörder bin ich nicht, mein Kleiner. Im Gegensatz zu euch Briten verhalten wir Venezianer uns grundsätzlich ehrbar, selbst wenn wir auf jemanden zornig sind.“

Wieder schluckte Nathaniel schwer. Was hatte sein Vater diesem Mann wohl angetan? Er wagte es sich nicht vorzustellen.

Der Mann streckte den Arm aus und ließ den hölzernen Soldaten auf Nathaniels Brust fallen. „Ich habe ihn für dich gekauft.“

Nathaniel bog sich gerade so weit zur Seite, dass die Holzfigur von seinem Körper herunterrutschte. Sie rollte auf die Matratze zwischen ihn und den Mann. „Ich will lieber nach Hause zu meiner Schwester und meiner Mutter. Es kann schon sein, dass mein Vater mich nicht liebt, aber sie tun es ganz bestimmt. Und sie werden alle Hebel in Bewegung setzen, um mich freizubekommen. Das weiß ich genau.“

„Aber sie sind nicht mehr deine Familie. Das bin ich jetzt.“ Der Mann beugte sich so nah über ihn, dass Nathaniel die Bartstoppeln in dem jugendlichen Gesicht sehen konnte, ebenso wie die rubinbesetzte Nadel, die das sorgfältig geknotete Krawattentuch zierte. Der junge Mann musterte Nathaniel scharf, so als träfe er eine Entscheidung.

Nathaniel presste seinen Körper regelrecht in die Matratze. Sein Entführer hatte ihm lediglich Fesseln angelegt, weil Nathaniel wild um sich geschlagen hatte, doch darüber hinaus hatte er ihn weder angefasst noch ihm wehgetan. Dennoch hätte Nathaniel wetten können, dass der Venezianer dazu notfalls auch in der Lage war.

Der scharfe Geruch von Cognac und Zigarrenrauch drang in Nathaniels Nase, als der Mann ausatmete. „Ich habe haufenweise englische Bücher. Was möchtest du lesen?“

Nathaniel sah zitternd zu ihm auf. Wollte sich der Mann etwa mit ihm anfreunden? „Ich sage Ihnen gar nichts.“

Der Mann klopfte ihm mit dem Zeigefinger fest auf die Stirn, dann setzte er sich gerade auf und erhob sich. Bei voller Größe war er bestimmt einen Meter achtzig groß, doch er hielt sich gebeugt, um nicht mit dem Kopf gegen die niedrige Decke zu stoßen. „Morgen früh bekommst du eine Mahlzeit gebracht. Iss sie.“

Immer noch gebeugt, zwängte sich der Mann durch die schmale Tür. Seine schweren Schritte hallten gespenstisch in dem kleinen Kellerraum wider. Die Tür fiel zu, dann drehte sich der Schlüssel knirschend in dem rostigen Schloss. Nathaniel war abermals zum Alleinsein verdammt, weil er sich dem Wunsch seines Entführers, sein Freund zu werden, widersetzt hatte.

Er schluchzte verzweifelt. Er versuchte sich aufzusetzen, seinen Körper oder seinen Kopf zu bewegen, aber es war vergeblich. Abermals schluchzte er auf und starrte dabei auf die feuchten, dunklen Wände, die aussahen, als beherbergten sie böse Wesen, die ihre Klauen nach ihm ausstrecken und ihn erdrosseln wollten.

Nathaniel stockte der Atem, als er begriff, dass der Keller nicht einmal eine Fensterritze hatte, durch die er erkennen konnte, ob Tag oder Nacht war. Wie gehetzt glitt sein Blick zu der einsamen Kerze, die auf dem kleinen Wandtisch stand. Sie war beängstigend weit heruntergebrannt, Talg tropfte von dem Stummel.

„Lass mich erst einschlafen“, flehte er flüsternd. Wie sollte er es allein in der Dunkelheit aushalten?

Die Kerze flackerte, dann erlosch sie und wurde zu einem glühenden Pünktchen in der Dunkelheit.

Nathaniel kniff die Augen zu und weinte hilflos, bis sich sein Körper anfühlte, als triebe er in einem riesigen Ozean dahin, der ihn am Ende verschlingen würde. Irgendwann schläferten seine Schluchzer und die Dunkelheit nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist ein.

Niemand kam, um ihn zu retten.

Sein Vater nicht.

Seine Mutter nicht.

Seine Schwester nicht.

Niemand.

1. KAPITEL

Für diejenigen, Sir, die nichts gegen das Boxen hätten, wenn es nicht so schrecklich vulgär wäre, ist das folgende Werk von keinerlei Interesse.

– P. Egan, Boxiana (1823)

New York City, Gardner’s Wharf,

13. Juni 1830, nachmittags

Im Verlauf seines bisherigen Lebens, das von Glücksspiel, Suff, Flüchen und Faustkämpfen erfüllt war, hatte Edward Coleman in sage und schreibe elf Bezirken der Stadt gewohnt, um drei Plagen aus dem Weg zu gehen: seinen Gläubigern, seiner Ehefrau und seiner Schwiegermutter, die ihn alle nur ausbluten wollten.

Dass er inzwischen mehr Jahre unbehelligt geblieben war, als er an einer Hand abzählen konnte, gab ihm zu denken. Er fragte sich, ob er sich die Fähigkeit, bei Nacht und Nebel zu verschwinden, womöglich ein wenig zu gründlich angeeignet hatte. Dennoch wusste er nicht, warum er so erstaunt war zu sehen, wie sich seine Schwiegermutter ihren Weg durch die Zuschauermenge bahnte.

Die Frau war seit ihrer letzten Begegnung beträchtlich gealtert, doch an ihrer gekräuselten Haube und der vorwitzigen Stupsnase hätte er sie überall erkannt. Ihr folgte eine Schar halbwüchsiger, mit grauen Jacken und Mützen bekleideter Jungen, die unzweifelhaft Janes Brüder waren. Edward Coleman staunte, wie groß sie geworden waren.

Mrs. Walsh pflegte ihn nur aus zwei Gründen ausfindig zu machen: weil sie Geld brauchte oder weil sie Geld brauchte. Diese Frau hätte der Regierung der Vereinigten Staaten von einigem Nutzen sein können.

Edward stieß sich von der Absperrung ab. „Wir sollten verschwinden.“

Sein Freund Matthew Joseph Milton beugte sich zu ihm. „Verschwinden?“, fragte er. Er runzelte unmerklich die Stirn, wodurch sich die speckige Lederklappe über seinem linken Auge ein Stück verschob. „Und was ist mit deinem Preiskampf? Du bist als Nächster dran.“

„Ich weiß.“ Edward Coleman band sein schulterlanges Haar mit einer Kordel zusammen, die er vom Handgelenk geschüttelt hatte. „Aber mir ist gerade etwas dazwischengekommen. Ich kann unmöglich bleiben.“

„Dir ist etwas dazwischengekommen? Während du hier herumgestanden hast?“

„Ja und ja.“

Matthew Joseph Milton senkte sein stoppeliges Kinn. „Ich mag auf einem Auge blind sein, aber deshalb bin ich noch lange nicht beschränkt. Was ist los? Hast du dir irgendwelchen Ärger eingehandelt?“

„Nein, ich“, Edward Coleman stockte. Blut spritzte aus dem Ring jenseits der Absperrplanken und beschmutzte den einzigen Überrock, den er besaß. Er zischte wütend, während er die Kämpfenden betrachtete. „Anfänger. Sie kriegen es nicht einmal hin, innerhalb des Rings zu bluten.“

Matthew schnaubte abfällig. „Ganz im Gegensatz zu dir.“ Er verfolgte den Kampf weiter und erstarrte plötzlich. „Hey! Ich habe einen Dime auf ihn gesetzt, und der Bastard geht auf die Bretter!“ Er ballte die Rechte zur Faust. „Mist!“

„Ich hatte dir abgeraten, auf ihn zu setzen.“

Der muskelbepackte Jugendliche, dessen Gesicht nach achtzehn Runden übel zugerichtet war, versuchte taumelnd auf die Füße zu kommen. Seine blutbefleckten Hosen hingen schlaff an seinen schmalen Hüften herunter. Ein weiterer Faustschlag traf seinen schweißüberströmten Kopf, wieder spritzte Blut aus Mund und Nase auf die Zuschauer. Dann brach der junge Mann auf den Holzbrettern zusammen, die auf dem platt getretenen Gras ausgelegt worden waren.

Mehrere Zuschauer stöhnten auf und schlugen enttäuscht gegen die Absperrung, als der besiegte Kämpfer aus dem Ring gezerrt wurde.

Edward Coleman warf einen Blick über die Schulter und versuchte einzuschätzen, wie viel Zeit ihm noch blieb. Mrs. Walsh, die zielstrebig in seine Richtung kam, hatte ihn offensichtlich noch nicht gesehen.

Er stellte den Kragen seines Überrocks auf, um sein Gesicht besser zu verbergen. „Wir sehen uns morgen“, beschied er Matthew kurz angebunden. „Sollte Stanley mich suchen, sag ihm, ich hätte mir die Hand gebrochen.“

„Die Hand gebrochen?“ Matthew erwischte den Freund gerade noch am Ärmel. „Wir brauchen das Geld, Coleman, sonst sind wir gezwungen, die nächsten zwei Wochen Schiffsladungen auf den Docks zu klauen. Ja, ich weiß, unsere Truppe nennt sich die Vierzig Räuber, aber deshalb müssen wir unserem Namen doch nicht um jeden Preis gerecht werden!“

Edward Coleman riss sich los. „Wenn ich bleibe, verlieren wir jeden Cent, den mir der Kampf einbringt.“

„Was soll das heißen? An wen?“

Eine zusammengerollte Zeitung schnellte auf Edwards Hinterkopf nieder. „Dachtest wohl, du könntest dich noch schnell aus dem Staub machen, was?“, schmetterte eine Frauenstimme hinter ihm.

Edward Coleman gab sich nicht die Mühe, seinen Schädel zu schützen. Er hatte Jane geheiratet und verdiente es nicht besser. „An sie“, beantwortete er Matthews Frage.

Matthew drehte sich zu der Angreiferin um und hielt die gerollte Zeitung fest. „Wo bleibt Ihr Sinn für Anstand, meine Dame? Zeitungen sind zum Lesen da und nicht dazu, sie seinen Mitmenschen auf den Kopf zu schlagen.“

Auch Edward drehte sich um und musterte die neun unterschiedlich großen Walsh-Jungen mit finsterem Blick, die sich um ihre ältliche Mutter geschart hatten. Ihre wollenen Mützen saßen auf jede vorstellbare Art auf ihren Köpfen, nur nicht so, wie sie sollten.

Edward zögerte. Alle Jungen trug eine schwarze Binde um den Ärmel ihrer Wolljacke, schnell starrte er seine Schwiegermutter an, die ein einfaches Kleid aus schwarzem Bombasin trug.

In der Familie war jemand verstorben, und Edward wusste genau, dass Mrs. Walsh weder einen Ehemann oder andere Verwandte hatte.

Plötzlich schlug ihm das Herz bis zum Hals. „Jane ist doch nicht etwa“, seine Stimme erstarb.

Die braunen Augen der Frau schwammen in Tränen. „Doch, sie ist.“ Mrs. Walsh presste ihre schmalen Lippen aufeinander und reckte das faltige Kinn. „Vor knapp einer Woche. Zu viel Laudanum und zu viel Whiskey, sagt der amtliche Leichenbeschauer, und dass sie nicht mehr aufgewacht ist. Ich war nicht da, als es passierte. Sie hatte sich“, Mrs. Walsh mied Edward Colemans Blick, „mit einem Freund getroffen.“

Mit einem Mann also. Dem letzten von mehreren Hundert in den vergangenen Jahren, wie Edward Coleman annahm. Nicht dass er selbst ein Musterknabe gewesen wäre, sie hatte ihre Kerle gehabt und er seine Weiber, deshalb war die Sache ja auch in die Binsen gegangen. Mochte Gott die arme Jane segnen.

Er schluckte und sah betreten beiseite. Es irritierte ihn, dass er weder Reue noch Trauer oder Bitterkeit empfand. Vielleicht, weil er schon immer gewusst hatte, dass es so enden würde. Er hatte alles getan, um Jane davon abzubringen, Laudanum in ihren Whiskey zu mischen, aber es gab Dinge, gegen die war selbst ein Faustkämpfer machtlos.

Mrs. Walsh sah ihn abwartend an. „Jemand sagte mir, dass du hier heute kämpfst. Ich will dir nicht zur Last fallen, mein Junge, aber wir brauchen sieben Dollar für Janes Begräbnis. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie in irgendeinem Dreckloch beerdigt wird.“

Edward wischte sich übers Gesicht. Er hatte keine sieben Dollar.

Matthew beugte sich zu ihm. „Was geht hier vor, Coleman? Über wen redet ihr?“

Edwards Kehle schnürte sich zusammen. Du lieber Himmel. Er hatte Jahre damit verbracht, vor den Fehlern seiner Vergangenheit fortzulaufen, und nun würde alle Welt davon erfahren. Andererseits, wenn es jemanden gab, der sein Vertrauen verdiente, dann war es Matthew, und nur er. „Meine Frau“, murmelte er kaum hörbar. „Sie ist gestorben.“

Matthew packte ihn beim Ärmel. „Was? Du bist verheiratet?“

„Ja, bin ich. Oder besser gesagt, ich war es.“ Er musterte seine Schwiegermutter, die schweigend dastand, und seufzte. „Ich kann Ihnen fünf geben, wenn ich in den Ring steige. Wenn ich gewinne, bekomme ich zehn Dollar, aber es gibt noch andere, die Geld von mir kriegen. Reicht Ihnen das, Mrs. Walsh?“

Mrs. Walsh überlegte, dann nickte sie. „Wir kommen ohne Blumen aus. Und ich kann ihr eins von ihren alten Kleidern anziehen.“ Sie befingerte die zusammengerollte Zeitung. „Allerdings gibt es da noch was.“

Edward verschränkte die Arme vor der Brust, damit er nicht unkontrolliert herumfuchtelte. Er hatte nie gelernt, einer Frau etwas abzuschlagen, nicht einmal seiner verhassten Schwiegermutter. Es war wie verhext. „Was genau?“

Die graubraunen Strähnen, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, wippten, als Mrs. Walsh die Zeitung aufrollte und die Seiten eine nach der anderen zu Boden warf. „Anscheinend hat sie Verbindung zu diesen Männern aufgenommen, bevor sie starb. Ich kann es nicht lesen.“ Sie faltete umständlich eine Seite und faltete sie dann noch einmal, bevor sie auf eine Anzeige wies. „Weiß der Kuckuck warum, aber sie kamen zu mir und wollten wissen, was sie wusste. Ich konnte ihnen die Frage nicht beantworten. Aber vielleicht weißt du ja mehr.“

„Ich bezweifle es. Jane und ich hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr.“ Edward nahm die Zeitungsseite und las.

HINWEISE ERBETEN

Der britische Junge Nathaniel James Heming, Viscount Atwood, der im Jahre 1800 unter ungeklärten Umständen verschwand, wird von seiner Familie gesucht. Für Informationen über sein Verschwinden, seinen derzeitigen Aufenthaltsort oder seine sterblichen Überreste ist eine hohe Belohnung ausgesetzt. Hinweise senden Sie bitte an Seine Gnaden, den Duke of Wentworth, oder seinen Sohn, Lord Yardley, die bis auf weiteres im Hotel Adelphi am Broadway residieren.

Edward spürte einen dicken Kloß in seiner Kehle. Er hätte sich besser die Zunge abbeißen sollen, als Jane davon zu erzählen.

Er knüllte die Zeitungsseite zusammen und warf sie fort. „Keine Ahnung. Vielleicht wollte sie sie um ihr Geld erleichtern. Haben Sie sie nicht gefragt?“

„Sie war bereits tot.“ Mrs. Walsh schluchzte erstickt, und sie schlug ihre zitternde Hand vor ihren Mund.

Edward ärgerte sich zutiefst. Warum hatte er nur nicht den Mund gehalten?

Die Walsh-Jungen starrten ihn so feindselig an, dass alles Jugendliche aus ihren Gesichtern wich. Einer von ihnen schnippte ein Klappmesser aus der Tasche.

Der Junge hatte seine Mutter noch nicht umrundet, als er schon in die Mündungen von Matthews beiden Pistolen blickte. „Provozier mich nicht, Bürschchen“, sagte er fest.

Mrs. Walshs Arme schossen zu beiden Seiten ihres Körpers wie eine schützende Barriere in die Waagrechte. Ihre Jungen wichen zurück.

Edward holte tief Luft. „Steck die Schießeisen weg, Milton. Er ist noch ein halbes Kind.“

Matthew brummte und schob seine Pistolen in die Holster zurück. „Gerade deshalb sollte er über ein paar Manieren verfügen.“

Die Menge um sie herum lachte dröhnend.

Dann rief sie laut Edwards Namen.

Gleich würde er seinen Kampf antreten müssen. Edward streckte seine Finger und warf einen Blick zum Boxring. Ein stämmiger dunkelhaariger Mann kletterte zwischen den Planken hindurch in die Arena und begann sich zu entkleiden. Dann stieß Vincent die Eisenfaust, wie er im ganzen Stadtbezirk genannt wurde, seine riesigen Fäuste in die Luft. Er forderte die Menge brüllend auf zu jubeln und beobachtete den Ringrichter, wie er die Kampflinie mit einem Stück Kreide nachzog.

Es war Zeit, Blut zu vergießen und zehn Dollar zu verdienen.

Edward beugte sich zu seiner Schwiegermutter vor und drückte ihren Arm. „Warten Sie hier.“ Er zog seinen Gehrock aus und zerrte sich das Leinenhemd über den Kopf. Dann wickelte er beides zu einem Bündel und gab es dem einzigen Menschen, dem er es anzuvertrauen bereit war: Matthew. „Lass sie unter keinen Umständen zusehen“, murmelte er mit einem Seitenblick zu Mrs. Walsh.

Matthew fing das Bündel auf und warf es über seine Schulter. „Ich lenke sie ab.“

„Mach das.“ Edward duckte sich unter den grob zusammengenagelten Planken hindurch, die die Zuschauer vom Kampfgeschehen trennten, und betrat den Ring.

Horden von Männern drängten näher an die Absperrung heran und brachten sie gefährlich ins Wanken.

„Prügel ihn windelweich, Vincent!“, brüllte jemand aus der Menge. „Der Kerl ist ein Brite.“

„Brite oder nicht“, hielt ein anderer dagegen. „Ich habe fünfzehn Dollar auf ihn gesetzt. Fünfzehn Dollar, verstanden, Coleman? Also lass mich nicht hängen!“

Es war eine Schande, dass sein Name nicht mehr einbrachte als fünfzehn Dollar. Aber immerhin war es weit mehr als der halbe Dollar, den er noch vor ein paar Jahren wert gewesen war.

Beifall brandete auf, als er an diesem heißen, dunstigen Sommertag auf die Kreidelinie zumarschierte. Die Sonne brannte erbarmungslos auf sein Gesicht und auf seinen nackten Oberkörper herunter.

Sein Gegner schritt mit seinen wuchtigen Schultern und den schwer vernarbten Fingerknöcheln auf ihn zu. Vincent die Eisenfaust führte seine fleischigen Fäuste an sein unrasiertes, bulliges Kinn und stellte sich breitbeinig hin.

Edward tat es ihm gleich. Er straffte die bloßen Schultern und hob die Fäuste. Langsam und regelmäßig atmend schloss er die Daumen um die Fingerknöchel und wartete auf das Signal des Ringrichters.

Einzelne Anfeuerungsrufe aus der Menge drangen an sein Ohr

Der Ringrichter hob seine Hand und senkte sie schwungvoll. „Los!“

Vincent stürmte vor und platzierte einen Treffer an Edwards Schläfe.

Edward sprang schlitternd zurück und wieder vor, entschlossen, jeden noch so winzigen Gedanken an Jane aus seinem Kopf zu verbannen. Er biss die Zähne zusammen und rammte Vincent seine Faust mit einer solchen Wucht in die Rippen, dass ihm der ganze Arm wehtat.

Er würde den Hundesohn auf die Bretter schicken, schwor sich Edward.

Von dem Treffer ins Wanken gebracht, taumelte Vincent zurück gegen die Absperrung und rutschte daran herunter zu Boden, wo er schwer atmend liegen blieb.

„Zurück zur Linie!“ Der Ringrichter deutete auf die Kreidemarkierung. „Eine halbe Minute, um auf die Füße zu kommen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs.“

Edward kam der Aufforderung des Ringrichters mit erhobenen Fäusten nach. „Na los, Vincent“, forderte er seinen Gegner heraus, während der Ringrichter weiterzählte. „Mach schon, liefere mir und den Zuschauern einen ordentlichen Kampf, statt uns beide aussehen zu lassen wie hoffnungslose Weicheier.“

Vincent biss die Zähne zusammen und kam gerade noch rechtzeitig auf die Füße, bevor die letzten zehn Sekunden vorbei waren. Er stolperte zur Linie.

Der Ringrichter hob die Hand. „Zweite Runde, Männer. Und los!“

Vincent sprang vorwärts und schlug einen unerwarteten linken Haken. Der Schlag krachte so heftig gegen Edwards Kinn, dass er ins Stolpern geriet und alles verschwommen sah. Dann ging ein Hagel von Schlägen auf ihn nieder, unter dem er fast die Besinnung verlor. Blut rann ihm von den geplatzten Lippen und tropfte aus seiner Nase, während er versuchte, sich wegzuducken, und nur die nötigsten Treffer abwehrte, um Kräfte zu sparen.

Das Tempo der erbarmungslosen Schlagabfolge nahm zu, immer häufiger traf Vincent die Eisenfaust Edwards Arme und Schultern. Er zählte die Hiebe, während er vor Schmerzen beinahe umkam und Vincent seine Treffer gleichmäßig zu verteilen versuchte. Dann endlich hatte Edward herausgefunden, was er wissen wollte. Fünf Schläge, Pause. Fünf Schläge, Pause. Der Mann funktionierte so zuverlässig wie eine Standuhr.

Wieder trafen ihn fünf brutale Hiebe auf der Schulter, doch sobald Vincent die Schlagfolge unterbrach, rammte ihm sein Gegner seine Faust gegen das Ohr. Der einschießende Schmerz in seinem eigenen muskelbepackten Arm zeigte ihm, dass er einen perfekten Aufwärtshaken gelandet hatte.

Ein Blutgefäß platzte, und Vincent traten buchstäblich die Augen aus dem Kopf. Er taumelte und riss die geschwollenen, blutbeschmierten Hände hoch, um seinen Schädel zu schützen.

Zähneknirschend sprang Edward vor und drosch auf die nunmehr ungedeckte Flanke seines Gegners ein, bis sich seine eigenen Knöchel vollkommen taub anfühlten. Unvermittelt schoss ihm der Gedanke durch den Sinn, dass das verwünschte Laudanum Jane dahingerafft hatte. Er schrie rau auf, als er Vincents untere Rippen mit der Faust traktierte, als wolle er jede einzelne von ihnen brechen.

Vincent drehte sich halb um die eigene Achse und brach dann nach Luft japsend zusammen. Mit seinen knotigen, geschwollenen Händen hielt er sich die Seite, während ihm das hellrote Blut aus Mund und Nase quoll und er sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzte.

„Zurück!“, befahl der Ringrichter und drängte Edward mit der ausgestreckten Hand hinter die Kreidelinie.

Edward hüpfte mit erhobenen Fäusten und schwer atmend federnd auf und ab. Er spürte, wie sein rechtes Auge anschwoll und wie ihm der Schweiß von der Stirn auf Nase und Kinn tropfte. Ungeduldig wischte er ihn fort und verschmierte dabei das Blut von seiner Nase im ganzen Gesicht. Er konnte es kaum erwarten, die Wertung des Ringrichters zu hören.

Die Zuschauer zählten rückwärts.

Als Eisenfaust nicht aufstand, wusste Edward, dass er den Kampf gewonnen hatte.

Der Ringrichter deutete auf ihn. „Dann hätten wir also hier den Sieger dieses Viertelfinales! Der nächste und letzte Kampf beginnt in fünfzehn Minuten, also platzieren Sie Ihre Wetten, meine Herren!“

Manchmal fühlte sich Edward wie ein Stück Vieh, nicht einmal sein Name wurde genannt, wenn er siegte. Aber so war das nun einmal beim Straßenkampf, es ging nur ums Geld und ums Blutvergießen und um sonst gar nichts.

Ohrenbetäubendes Gejohle erhob sich in die staubige Sommerhitze, Hüte wurden geschwenkt, und Edward ließ die Arme sinken. Er spuckte das salzige Blut aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, und torkelte zur Absperrung, wo sein Gewinn auf ihn wartete. Stanley, der dafür sorgte, dass Edward fünfzig Cent für jeden Straßenkampf bekam, schnalzte missbilligend mit der Zunge. Sein ungekämmter Schnurrbart klebte in seinem runden Gesicht. „Warum zum Teufel machst du noch immer diese armseligen Straßenkämpfe, Coleman? Schließlich wirst du nicht jünger, wie du weißt, und die meisten Kämpfer steigen in deinem Alter schon lang nicht mehr in die Arena, oder sie sind tot.“

„Danke für dein Vertrauen, Stanley.“

„Hör auf, vor den Geldgebern davonzulaufen, die ich auftreibe, und nimm größere Kämpfe drüben in Staten Island an. Weil dich so was hier“, Stanley wies auf den Ring, „umbringt, und mich auch. Ich kann nicht von Fünfzig-Cent-Kämpfen leben.“

„Verschwinde, wenn du was gegen das Geld einzuwenden hast, das ich dir einbringe. Ich habe mit deinen Geldgebern nichts am Hut. Ich habe noch keinen getroffen, der kein profitgieriger Mistkerl war und mich wie sein Eigentum behandeln würde.“ Edward spürte, wie die Prellungen an seinem Körper anschwollen und seine schmerzende Haut spannten. Er konzentrierte sich. „Und jetzt gib mir meine zehn Dollar.“

Stanley brummte und hielt ihm einen Eimer hin, in dem ein mit Münzen gefüllter Beutel lag. „Zehn Dollar. Und ich habe den nächsten Straßenkampf für dich in zwei Wochen gebucht. Dann kannst du mich auszahlen.“

„Gut. Ich weiß es zu schätzen.“ Edward griff in den Eimer und zog den Geldbeutel heraus. Das Gewicht der Münzen in seiner geschwollenen Hand wiegend, lief er zur anderen Seite der Ringabsperrung. Er duckte sich zwischen den Planken hindurch und trat zu den Zuschauern. Er beugte sich zu Mrs. Walsh, ergriff ihre bloße Hand und ließ das Geldsäckchen darauffallen. Leb wohl, Jane. Es tut mir leid, dass es so enden musste für dich. „Hier, nehmen Sie alles und kaufen Sie ihr Blumenschmuck und ein neues Kleid. Und den Rest behalten Sie für sich und die Jungen.“

Mrs. Walsh sah zu ihm auf. „Du hast sie geliebt, nicht wahr?“

Edward antwortete nicht. Er wollte sie nicht belügen, denn er hatte Jane nie geliebt. Er war nur ein Mann, der Frauen wie Jane aus der Bredouille half, und er genoss es, mit solchen Frauen das Bett zu teilen, aber Liebe? Liebe kannte er nicht, denn er hatte sie noch nie verspürt, und er wollte es auch nicht. Liebe war eine unbeständige Sache, die einen Mann um den Verstand brachte und ihn Dinge tun ließ, die er nicht tun sollte.

Mrs. Walsh packte ihn am Arm und zog ihn zu sich. „Komm zum Begräbnis.“

Ein Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper. Edward befreite sich aus ihrem Griff, trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Ich will sie nicht in einem Sarg liegen sehen, Mrs. Walsh.“

„Das kann ich verstehen.“ Mrs. Walsh tätschelte den Beutel mit den Münzen. „Gott schütze dich.“ Sie nickte ihm zu und verschwand in der Menge. Ihre Jungen senkten den Blick und folgten ihrer Mutter.

Edward sah ihnen gedankenverloren hinterher. Er wusste, dass er ihnen gerade zum letzten Mal begegnet war.

Matthew ging um ihn herum und hielt ihm sein Leinenhemd hin. „Ich kenne dich seit acht Jahren, Coleman. Acht Jahre. Warum zum Teufel hast du nie erwähnt, dass du verheiratet warst?“

Edward griff stöhnend nach dem Hemd und zog es sich über. Der Leinenstoff fühlte sich auf seinem verschwitzten, blutbespritzten Oberkörper angenehm kühl an. „Weil es keine ernst zu nehmende Ehe war, sondern eher ein Hilfsdienst, der das Mädchen aus einer misslichen Situation befreite und es dem Zugriff einiger schlimmer Leute entzog.“

Matthew hielt ihm den Überrock hin. Edward nahm ihn entgegen und zog ihn an. „Trotzdem tut es mir leid, dass sie sterben musste.“

Er zuckte mit den Schultern. „Es war nur eine Frage der Zeit. Sie war eine ganz Wilde und schüttete Laudanum und Whiskey in sich hinein wie Wasser.“ Suchend ließ er den Blick über den grasbestreuten Boden schweifen, bis er die Anzeige fand, die er vor dem Kampf von sich gefeuert hatte. Er hob das zusammengeknüllte Stück Papier auf und schob es in seine Rocktasche. Für später.

Sein Blick fiel auf drei kräftige Männer, unter ihnen war ein hochgewachsener Schwarzer in einem zerschlissenen Leinenhemd und Hosen aus billigem Wollstoff, die auf ihn und Matthew zusteuerten.

Edwards Augenbrauen schnellten in die Höhe, als er erkannte, dass es Smock, Andrews und Kerner waren. Sie gehörten zur Gruppe der Vierzig Räuber. „Ihr habt den Kampf verpasst.“ Mit dem Daumen wies er in Richtung des Boxrings und grinste. „Aber immerhin könnt ihr noch sehen, wie viel Blut Vincent vergossen hat. Seht euch nur um.“

Smock wischte sich über sein dunkles, unrasiertes Gesicht. „Wir sind nicht wegen des Boxkampfs hier.“

Um sie herum wurde es still.

Matthew sah ihn an. „Sondern? Ist jemand umgebracht worden?“

Andrew kratzte mit seiner schmutzverkrusteten Hand durch sein fettiges Haar. „Nein, aber es ist genauso schlimm.“

Kerner blickte unbewegt.

Edward starrte die Männer an. „Will mir endlich mal jemand erzählen, was zum Teufel los ist? Oder sollen wir noch lange hier herumstehen und Rätselraten spielen?“

Kerner lupfte erschrocken die Augenbrauen. „Es gibt Gerüchte, dass zwei Mädchen aus dem örtlichen Waisenhaus verschwunden sind, und im Bezirk erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, dass sie zur Prostitution gezwungen werden. Schwester Catherine hat mich heute Morgen aufgesucht. Sie ist außer sich vor Sorge, dass die Gerüchte zutreffen. Die vermissten Mädchen sind noch keine acht.“

Edward atmete entsetzt aus. Ginge es nach ihm, würde er allen diesen kranken Mistkerlen, die Kinder missbrauchten, den lieben langen Tag lang sämtliche Gräten brechen. Matthew und er hatten die Vierzig Räuber gegründet, damit die Verbrechen in dem Elendsviertel, in dem sie alle lebten, nicht überhandnahmen. Leider gab es viel zu viel Verbrechen und zu wenig Geld, um sie wirksam zu bekämpfen. „Ich schlage vor, wir trommeln die Jungs zusammen und überlegen, wer von uns die Sache in die Hand nimmt. Milton? Wann und wo?“

Matthew deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Am üblichen Treffpunkt in der Anthony Street, in drei Stunden. Irgendjemand muss etwas wissen, vielleicht können wir dem einen oder anderen ja ein wenig die Zunge lösen, wenn ich mich auch frage, wie. Heutzutage will ja jeder Informant Geld. Kerner, Smock, Andrews, kommt mit. Wir müssen irgendwie zwanzig Dollar auftreiben. Und du kümmerst dich um deine Verletzungen, Coleman. Dein Gesicht und deine Nase sehen übel aus.“ Matthew verschwand in der Menge. Die drei Jungs folgten ihm auf dem Fuße.

Schwül-feuchter Wind wehte vom Kai herüber und streichelte Edwards schmerzenden Körper. Er bahnte sich seinen Weg zurück zum Ring und blieb an der Absperrung stehen. Die Arme auf die oberste Planke gestützt, starrte er ins Leere.

Wahrscheinlich hätte er Mrs. Walsh nicht die ganzen zehn Dollar geben sollen. Informanten ließen sich ihre Gefälligkeiten etwas kosten und erwarteten im Gegenzug mindestens einen Dollar dafür.

Für einen kurzen Moment schloss Edward die Augen. Er wusste, was zu tun war. Sie mussten die beiden Mädchen retten und die zahllosen anderen, denen es genauso erging wie ihnen. Sie hatten ein Recht auf die Chance, die er selbst nie bekommen hatte, als er in ihrem Alter gewesen war.

Edward öffnete die Augen und zog die zerknitterte Anzeige aus seiner Tasche. Lange starrte er auf die Worte hohe Belohnung ausgesetzt. Er wusste nicht, wer dieser Duke of Wentworth und dieser Lord Yardley waren und warum sie erst jetzt, nach fast dreißig verdammten Jahren, nach Nathaniel suchten, aber eins war ihm klar. Er würde vergessen, wer er einmal gewesen war, und diese Männer nach Strich und Faden ausnehmen, um sich und die Vierzig Räuber in die Lage zu versetzen, all denen, die in ähnliche Schwierigkeiten gerieten wie die beiden Mädchen, zu helfen.

Alles im Leben hatte seinen Preis. Und zu wissen, dass das Leben zweier Kinder davon abhing, dass er und Matthew Informanten bezahlen konnten, machte es ihm leicht, diesen Preis zu zahlen.

2. KAPITEL

Rangunterschiede sind im Eifer des Gefechtes zweitrangig, wenn jemand eine Offensive beginnt und den Prinzen beleidigt und sich dieser mit einem gezielten Fausthieb zur Wehr setzt.

– P. Egan, Boxiana (1823)

Hotel Adelphi,

abends

Edward lehnte sich gegen die seidenbespannte Wand der Hotellobby. Er ließ den Blick über den blank polierten Marmorboden schweifen und rieb sich die schorfigen Hände.

„Sir?“ Ein Hotelpage sprach ihn an und deutete mit der in weißen Handschuhen steckenden Hand auf ihn. „Wenn Sie so freundlich wären, sich nicht gegen die Tapeten zu lehnen? Sie sind aus Seide und sehr empfindlich.“

Edward biss die Zähne zusammen und stieß sich von der Wand ab. Obwohl er sich ordentlich gewaschen und sich trotz der Platzwunde sorgfältig rasiert hatte, wirkte er in seiner geflickten Kleidung aus billigem Wollstoff schmuddelig und deplatziert. Im Allgemeinen störte es ihn nicht, aber manchmal, ganz selten, machte es ihn doch unendlich wütend, wenn man ihn wie einen Strolch behandelte. Er war ein Boxer, ein Faustkämpfer, kein Krimineller. Das war ein Unterschied.

Er hörte, wie sich Schritte näherten.

Ein älterer, schneidiger Gentleman mit silbergrauem Haar, das mit Haarwasser zurückgekämmt war, durchquerte die Hotelhalle. Er trug schwarze Abendkleidung und teure schwarze Lederstiefel, eine weiße Seidenweste und ein schneeweißes Leinenhemd, über das eine schwarze Seidenkrawatte hervorstach.

Neben ihm versuchte ein gut aussehender junger Mann von höchstens dreißig Jahren mit ihm Schritt zu halten. Der junge Mann trug sein schwarzes Haar ebenfalls mit Haarwasser zurückgekämmt. Edwards Blick fiel auf den Trauerflor, den er um seinen Oberarm trug.

Die halbe Welt schien dieser Tage in Trauer.

Es war deprimierend.

Die Gentlemen gingen direkt auf ihn zu. Als sie erkannten, dass er der Einzige war, der in der Hotelhalle auf sie wartete, lupften sie fast gleichzeitig ihre Augenbrauen.

Edward wusste, dass es am besten, nein, korrigierte er sich im Stillen, dass es die einzige Möglichkeit war behaupten, Nathaniel sei nicht mehr am Leben. Dieser Teil von ihm war ohnehin schon lange tot.

Er zog seinen Überzieher zurecht und ging den Männern entgegen. „Ich bin wegen Nathaniel gekommen. Sie haben zwei Minuten, um mich davon zu überzeugen, dass Sie vertrauenswürdig sind.“

Die beiden starrten ihn an. Ohne Zweifel wogen sie seine Worte ab.

Der Jüngere von ihnen trat näher. „Zwei Minuten? Dann sollten wir besser schnell zur Sache kommen, nicht wahr?“ Mit seinen grauen Augen, die Edward geisterhaft an jemanden erinnerten, den er einmal gekannt hatte, musterte ihn der junge Gentleman. „Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?“

Edward stellte sich breitbeinig vor ihn hin. Die Frage ging ihm gegen den Strich. „Das Gleiche, das Ihnen passiert, wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind und warum Sie nach Atwood suchen.“

Der junge Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich sehe, wir haben es bei Ihnen mit einem außerordentlich freundlichen Zeitgenossen zu tun. Jedenfalls würde es den Zustand Ihres Gesichts erklären.“ Er räusperte sich und zog seinen Abendfrack zurecht. „Darf ich mich also vorstellen? Mein Name ist Yardley. Lord Yardley.“ Er deutete auf den älteren Gentleman. „Und dies ist mein Vater, Seine Gnaden, der Duke of Wentworth. Wir sind Angehörige Nathaniels, nahe Angehörige, mein Herr. Wenn er noch lebt, wie Ihr Erscheinen mich glauben lässt, würden wir gern persönlich mit ihm sprechen und nicht über einen Dritten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Was war, wenn die beiden nur hierhergeschickt worden waren, um Nathaniel zum Schweigen zu bringen? Es war nicht ausgeschlossen. „Ich habe nicht gesagt, dass er noch lebt. Aber wenn Sie weitere Informationen wollen, kostet es.“

„Wie viel verlangen Sie?“

„Eintausend.“

„Eintausend?“

„Richtig, und zwar Dollar, keine Pennys. Und dabei bleibt es. Obwohl Sie aussehen, als könnten Sie sich weitaus mehr leisten.“

„Und Sie wissen wirklich etwas?“

„Oh ja.“

Lord Yardley senkte sein glatt rasiertes Kinn. „Sie wären nicht der Erste, der das behauptet. Die Frage ist nur, ob es auch stimmt.“

Er würde den beiden nicht über den Weg trauen. „Ich verlange eintausend Dollar, sonst sage ich kein Wort.“

Lord Yardley kniff die Augen zusammen. „Mach nur so weiter, Bursche, und ich sorge persönlich dafür, dass du deinen gottgegebenen Namen vergisst. Erst lieferst du Informationen, dann kriegst du das Geld, verstanden?“

„Das reicht, Yardley. Beruhige dich.“ Der Duke of Wentworth legte seinem Sohn die Hand auf den Arm.

Der Lord schüttelte sie ab und warf die Hände in die Luft. „Diese Kerle sind allesamt Blutegel. Und sie wollen nur Geld. Was soll aus der Menschheit nur werden, wenn dir niemand mehr aus reiner Gefälligkeit hilft? Ich gehe jetzt erst einmal den Broadway hinunter, das ist das Einzige, was mich beruhigen kann.“

Der Duke streckte den Zeigefinger aus. „Du gehst nirgendwo hin. Du bleibst hier, damit wir dieser Spur, was auch immer sie bringen mag, nachgehen können.“ Er musterte Edward mit seinen überraschend wachen braunen Augen. „Wir sind seit sechs Monaten in New York, Sir, und haben unendlich viele Leute befragt. Wir sind erschöpft und haben unser letztes Fünkchen Hoffnung darauf gesetzt, dass Sie vielleicht wirklich etwas wissen. Ist das der Fall?“

In dem Versuch, den Geistern der Vergangenheit zu entrinnen, wich Edward einen Schritt zurück. „Es kommt darauf an, was Sie mit der Information anfangen wollen.“

Der Duke spannte seine Gesichtszüge an. „Wenn Atwood noch lebt, was wir inständig hoffen, dann richten Sie ihm bitte aus, dass der Ehemann seiner Schwester und ihr Sohn hier sind, um ihn abzuholen. Und sollte er tot sein, wünschen wir auch das unbedingt zu wissen. Alles, was wir wollen, sind Informationen, die es uns ermöglichen, diese Angelegenheit zu Ende zu bringen und endlich Frieden zu finden.“

Edward starrte vor sich hin. Mit jedem Wort des Dukes fiel sein Plan, Geld aus ihm herauszuschinden, ein Stückchen mehr in sich zusammen. Dieser Mann war mit Augustine verheiratet? Das konnte nicht sein. „Lassen Sie mich zuerst mit seiner Schwester reden.“ Er versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. „Dann entscheide ich, was weiter geschieht.“

Der Duke fuhr mit der Hand über sein Gesicht. „Das wird nicht möglich sein.“

„Und warum nicht?“, fragte Edward aufgebracht.

„Weil sie tot ist.“ Obwohl der Duke beherrscht klang, schwang in seiner Stimme eine tiefe Trauer mit.

Edward taumelte, und für einen kurzen Moment schien der Marmorboden unter seinen Füßen zu schwanken. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren brannten ihm bei der Erinnerung an den, der er einmal gewesen war, Tränen in den Augen. Augustine war nur sechs Jahre älter gewesen als er, sie konnte unmöglich gestorben sein! Es musste sich um eine Falle handeln. „Ich glaube Ihnen nicht, dass Augustine tot ist. Sie lügen.“

Der Duke sah ihn überrascht an. „Woher kennen Sie ihren Namen?“

Lord Yardley musterte Edward. „Hellblaue Augen und schwarzes Haar, und hör dir nur seinen Akzent an, er ist alles andere als amerikanisch.“ Der junge Mann trat näher an Edward heran und riss erstaunt den Mund auf. „Allmächtiger, er ist es selbst. Es ist Atwood, Vater! Ganz sicher.“

Verdammter Mist. Er hatte sich verraten. Edward drehte sich um und ging schnurstracks Richtung Eingangstür. Er versuchte die riesigen Türflügel aufzustoßen, doch seine malträtierten Hände wollten ihm nicht gehorchen.

„Atwood!“ Der Duke ergriff seine Schulter und zerrte ihn von der Tür fort.

Seine Fäuste schossen wie von selbst in die Höhe, doch im selben Augenblick wusste Edward, dass er seiner Schwester etwas anderes schuldete, als ihren Ehemann zu verprügeln. „Atwood existiert nicht mehr“, antwortete er rau.

Langsam drehte ihn der Duke zu sich herum. „Ich habe mir die Miniatur mit deinem Kinderbildnis unzählige Male angesehen.“ Wie von selbst kam ihm das vertrauliche Du über die Lippen. „Ich weiß nicht, wieso ich es nicht gleich gemerkt habe, denn deine Augen sind unverwechselbar. Vielleicht liegt es daran, dass mich die Prellungen in deinem Gesicht abgelenkt haben.“

Edward gelang es nur mit Mühe zu atmen.

Wentworth beugte sich zu ihm. „Deine Schwester hat der Hoffnung, dich zu finden, alles geopfert. Willst du es ihr wirklich auf die Weise vergelten, indem du davonläufst, wenn deine Angehörigen dich suchen? Interessiert es dich denn nicht zu erfahren, was mit ihr geschehen ist? Wie sie starb?“

Eine heiße Träne rann über Edwards Wange und brannte höllisch in der Platzwunde. Beinahe war er dankbar dafür.

Der Duke sah ihn fest an. „Sie ist im Kindbett gestorben. Das liegt viele Jahre zurück, es wäre ein Mädchen geworden und unser drittes Kind, aber sie haben es beide nicht überlebt. Und vor Kurzem habe ich auch noch unseren ältesten Sohn an Typhus verloren. Yardley ist der Einzige, der mir von ihr geblieben ist.“

Stolpernd befreite sich Edward aus Wentworths Griff und lehnte sich gegen die Tür. Ihm war elend zumute. Er war vor seiner Vergangenheit immer davongelaufen wie vor einer Wahnvorstellung, und nun kam er sich selbst wie eine Wahnvorstellung vor. Aber wenigstens hatte er Augustines guten Namen bis zu ihrem Ende beschützt.

Allmächtiger! Was ihm widerfuhr, erschien ihm so unwirklich wie ein Traum. „Und meine Mutter? Ist sie auch verstorben“

Der Duke schüttelte den Kopf. „Nein. Die Countess erfreut sich bester Gesundheit.“

Edward atmete tief durch. „Das ist schön zu hören. Sie war damals gut zu mir.“ Er schluckte. „Und mein Vater, der Earl?“

„Auch er lebt noch.“

Edward biss die Zähne aufeinander und schlug mit der geballten Faust gegen seinen Oberschenkel. „Natürlich, wie sollte es auch anders sein?“ Er stieß sich von der Tür ab und sah die Gesichter seiner vielen Gegner im Ring vor seinem inneren Auge vorüberziehen, die allesamt das Gesicht seines Vaters trugen, seit er mit zwanzig Faustkämpfer geworden war. Sein aufgestauter Hass auf den Mann war einer der vielen Gründe, warum er nie den Kontakt zu seiner Familie gesucht hatte. Er hätte sonst das Blut seines Vaters an jede einzelne Londoner Hauswand geschmiert. „Ist er auch in New York?“

Yardley trat zu ihnen. „Nein. Er weiß nicht einmal, dass wir nach dir suchen.“ Auch ihm kam das vertrauliche Du leicht über die Lippen.

Edward kämmte sich mit gespreizten Fingern ein paar verirrte Strähnen seines langen Haars aus der Stirn. „Und warum weiß er es nicht?“

Der Duke of Wentworth seufzte. „Augustine war davon überzeugt, dass er für dein Verschwinden verantwortlich ist. Und ich bin absolut ihrer Meinung. Deshalb habe ich ihn nicht in unsere Nachforschungsaktionen eingeweiht. Wir mussten befürchten, dass er uns Steine in den Weg legt.“

Offenbar kannte der Duke Edwards Vater gut.

Lord Yardley beugte sich zu ihm. „Komm mit nach oben und trink einen Brandy mit uns. Lass uns ungestört miteinander reden. Bitte.“

Edward nickte geistesabwesend. Wie benommen ging er neben den beiden durch die Halle und folgte ihnen die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Im ersten Stock wurde er in ein atemberaubend luxuriös eingerichtetes Zimmer geführt, dessen Fenster auf den Bowling Green Park hinausgingen.

Er fühlte sich, als wäre er wieder zehn und blickte zum ersten Mal in seinem Leben aus einem Fenster auf New York City hinaus. Es war gespenstisch. Ungelenk nahm er in dem Ledersessel Platz, den der Duke ihm anbot.

Im nächsten Moment hatte er ein Glas Brandy in der Hand, doch er konnte es kaum ruhig halten. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit in dem Kristallschwenker schwappte hin und her. Kristall von vergleichbarer Qualität hatte er das letzte Mal in den Händen gehalten, als er während seiner Gefangenschaft einmal eine Karaffe gegen die Kellerwand gefeuert und geschrien hatte, bis er taub war an Leib und Seele. Damals fürchtete er, wahnsinnig zu werden, und so fühlte er sich auch jetzt mit seinem langen Haar und dem zerschlagenen Gesicht und dem teuren Weinbrand, der eigentlich den in Samt und Seide gekleideten Gecken vorbehalten war. Edward hatte sich nie irgendwo zugehörig gefühlt, weder zu den Stutzern noch zu den Straßenjungen. Nur in der Welt der Faustkämpfe fand er sich zurecht. Dort galt das Prinzip: Kämpfe oder geh unter.

Lord Yardley setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. „Meine Mutter hat immer davon geträumt, dass du am Leben bist. Sie hat eine Karte all deiner möglichen Aufenthaltsorte angefertigt, die ich seit ihrem Tod bei mir trage. Nur ihretwegen sind wir hier, denn ihre Seele ist eng mit deiner verbunden. Sie konnte dich nie loslassen.“

Edward atmete zitternd ein. Auch er hatte immer wieder von Augustine geträumt. Einmal war sie während eines Boxkampfs so überraschend an seiner Seite erschienen, dass er den Schlag des Gegners nicht kommen sah. In seinen Träumen pflegte sie nie etwas zu sagen, sie lächelte nur. Und nun wusste er auch weshalb, sie hatte ihm aus dem Jenseits zugelächelt.

Der Duke zog einen dritten Sessel heran und setzte sich ebenfalls. „Kannst du uns erzählen, was damals geschehen ist, als du verschwunden bist?“

Edward starrte in sein Brandy-Glas. Der Junge, der er einst war, bestand darauf zu sprechen. Für seine Schwester. „Ich habe fünf Jahre in Gefangenschaft in einem Keller verbracht, weil sich mein Vater jemanden zum Feind gemacht hatte.“

Lord Yardleys Hand sank auf seine Knie. „Fünf Jahre? Allmächtiger, was hat man dir angetan?“

Edward starrte wortlos auf seinen Brandy.

Der Duke beugte sich zu ihm vor. „Hat man dich misshandelt?“

Edward hob den Brandy an seine Lippen und trank einen Schluck. Der Alkohol brannte in seiner Kehle. „Ich wünschte, es wäre so gewesen, denn der körperliche Schmerz macht mir unglaublich wenig aus.“

Der Duke und dessen Sohn schwiegen.

Sie wollten, dass er mehr erzählte, das spürte Edward, doch er hatte schon genug gesagt.

Der Duke musterte ihn. „Und wie ist es dir gelungen zu fliehen?“

Edward trank rasch einen weiteren Schluck. „Gar nicht. Eines Tages trat mein Geiselnehmer in den Keller, drückte mir ein Bündel Geldscheine in die Hand und sagte mir, ich solle noch einmal von vorne anfangen. Das habe ich getan, wie Sie sehen können.“

Lord Yardley musterte ihn schweigend. „Wieso hat er dich so einfach gehen lassen, nachdem er dich fünf Jahre lang gefangen hielt?“, fragte er.

Edward zuckte mit den Schultern. „Es ist vermutlich nicht so ohne Weiteres nachvollziehbar, aber wir waren in der Zwischenzeit gute Freunde geworden. Er wusste, dass ich lang genug in Gefangenschaft war, und er wollte mich nicht mit nach Venedig nehmen. Er wollte heiraten und ein normales Leben führen, und die Leute, mit denen er verkehrte, hätten unangenehme Fragen gestellt. Sie fingen bereits damit an.“

„Du hast dich mit diesem Mann angefreundet, obwohl er dich entführt hat? Bist du nicht gleich zur Polizei gegangen, als er dich laufen lassen hat?“, fragte der Duke stirnrunzelnd. „Hast du Anzeige erstattet?“

Edward schüttelte den Kopf. „Ich kenne meinen Vater, und ich wollte nicht riskieren, dass er Augustine oder Mutter etwas antut. Es hätte ihr Leben bestimmt zerstört, wenn ich wieder aufgetaucht wäre.“

Der Duke sah ihn unbeirrt an.

„Wer war alles an deiner Entführung beteiligt? Und wann haben sie dich aus New York herausgeschmuggelt?“

„Gar nicht, ich habe New York nie verlassen. Und es war nur ein einziger Entführer. Ein Venezianer.“

„Du hast New York nie verlassen? Du warst die ganze Zeit über hier?“ Edwards Schwager schloss seine Augen und fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. „Ach du mein Gott!“ Eine Zeit lang wiegte er sich schweigend vor und zurück.

Edward stellte den Brandy auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel ab und erhob sich. Er fühlte sich immer noch wie benebelt. „Ich weiß sehr zu schätzen, dass Sie sich die Bürde meiner Schwester sogar noch über ihren Tod hinaus aufgeladen haben, und ich bedaure zutiefst, dass ich sie nicht noch einmal sehen durfte. Ich hätte es mir gewünscht, da wir nicht gerade als beste Freunde voneinander gegangen sind, und ich –“, er schluckte schwer. Edward fiel es schwer, seinen Gefühlen nicht nachzugeben. Seine Schwester war tot, und so gab es niemanden mehr, zu dem er zurückkehren konnte. Ihre Mutter hatte immer nur für ihren Vater gelebt, und es war nicht Edwards Aufgabe, sie ihrer Illusionen über den Earl zu berauben. „Ich sollte jetzt gehen“, schloss er rau.

Lord Yardley erhob sich ebenfalls. „Gehen? Auf keinen Fall. Wir sind hier, um dich mit nach London zu nehmen, wo du hingehörst.“

Edward ging rückwärts zur Tür und hob die Hand demonstrativ an sein zerschlagenes Gesicht. „Sehe ich etwa so aus, als gehörte ich in einen Ballsaal, meine Herren? Dafür sind zu viele Jahre vergangen.“

Nun stand auch der Duke auf. „Du kannst nicht einfach so gehen, nachdem wir dich gerade gefunden haben. Wir müssen einander kennenlernen und wollen dir unbedingt helfen, deinen Weg zurück in unsere Kreise zu finden. Es wird natürlich dauern, aber …“, Edward fiel ihm ins Wort.

„Nein.“ Er hob abwehrend die Hände. „Ich will den Namen, unter dem man mich hier als Boxer kennt, behalten. Mein Titel interessiert mich nicht, und ich möchte kein anderes Leben als das, das ich lebe. Es gibt Menschen, die von mir abhängig sind und die mich brauchen. Ich habe keine Zeit, Dinge zu bedauern, die ich nicht mehr ändern kann.“

Der Duke of Wentworth drehte sich um und rieb sich den Nacken. „Sprich du mit ihm, Yardley. Ich kann im Augenblick nicht klar denken und er auch nicht.“

Yardley trat eilig hinzu. Er wirkte angespannt, als er Edward ansah. „Angesichts dessen, was du erlitten hast, wäre es sowohl für sich als auch für deine Mutter beleidigend, wenn du einen anderen Namen trägst als den, unter dem du geboren wurdest. Mein Gott, inzwischen ist ein halbes Leben vergangen. Wenn du jetzt nicht bereit bist, den Dingen ins Gesicht zu sehen, wann dann?“

Der Bursche verstand offenbar gar nichts. Es ging nicht darum, ob er bereit war, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Das hatte er schon vor langer Zeit getan und alles wieder und wieder durchlebt. Die Frage war vielmehr, ob er sich seiner Wut auf den einzigen Menschen stellen wollte, dem er den Tod wünschte. Und das war sein Vater! Denn er hasste nicht etwa seinen Geiselnehmer, nein, er hasste seinen Vater!

Edward stellte sich breitbeinig hin. „Wenn ich nach London zurückkehre und meinen Vater treffe, werde ich ihn töten.“

Lord Yardley deutete mit dem Finger auf ihn. „Das wirst du nicht.“

„Sie kennen mich nicht“, zischte Edward zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Zum vertraulichen Du konnte er sich nicht durchringen. „Ich habe schon Menschen für weitaus geringere Vergehen bewusstlos geschlagen.“

„Ihn zu töten, ändert aber nichts an dem, was geschehen ist.“

Edward schnaubte verächtlich. „Ihn leben zu lassen, aber auch nicht.“

Sein Neffe legte ihm die Hand auf den Arm. „Wenn du alles beiseitelässt, was geschehen ist, wirst auch du sicherlich zu der Auffassung kommen, dass du deiner Mutter einen Hauch Frieden schuldest. Den Frieden, den meine Mutter in ihrem ganzen Leben niemals finden durfte.“

Edward atmete laut aus. Ja, er schuldete seiner Mutter Frieden. Es würde die arme Frau ins Grab bringen, wenn sie die bittere Wahrheit erfuhr. Nein, er konnte nicht einfach gehen und so tun, als wolle er nicht in sein altes Leben zurückkehren. „Ich brauche Zeit.“

Lord Yardley senkte das Kinn. „Wie viel Zeit brauchst du denn noch? Du warst doch schon fast dreißig Jahre fort.“

Autor

Delilah Marvelle
<p>Delilah Marvelle ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Bereits mit vier Jahren war Delilah ein Theaterfan, spielte mit zehn Jahren ausgezeichnet Klavier und nahm fünf Jahre lang Ballettunterricht. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann in Oregon. Da es dort sehr viel regnet, fühlt sie sich gezwungen, drinnen zu bleiben und...
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