Die Herzensdiebin und der Duke

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Wer bin ich? Ein Unfall auf dem Broadway hat Roderick das Gedächtnis geraubt! Einzig die betörende Schönheit, die sich besorgt über ihn beugt, kommt ihm vage bekannt vor. Vertrauensvoll folgt er ihr in ihre ärmliche Wohnung. Und erkennt rasch: Seine zauberhafte Retterin ist die Anführerin einer Diebesbande, vor der ganz New York erzittert. Aber was ist das schon gegen die Leidenschaft, die zwischen ihnen brennt? Bis Roderick sich eines Tages erinnert: Er ist der Duke of Wentworth und sein Zuhause sind nicht die Slums der City, sondern sein Landsitz in England! Zwischen ihm und seiner Herzensdiebin liegen Welten, die die Liebe kaum überbrücken kann …


  • Erscheinungstag 12.12.2014
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763381
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für immer und einen Tag

1. Teil

1. Kapitel

Im Bemühen, jemanden zu vergessen, denkt man gewisser Weise an nichts anderes.

– Jean de La Bruyère, Les Caractères (1688)

6. Juli 1830, früher Nachmittag, New York City

Georgia Emily Milton beachtete all die wohlhabenden Männer nicht, die auf dem Broadway an ihr vorbeieilten. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, nicht nach dem Unerreichbaren zu sehen. Doch als sie von dem belebten Teil des Broadways auf das weniger geschätzte Little Water zusteuerte, fiel ihr ein bemerkenswert großer und gut gekleideter Herr auf, der ihr gemäßigten Schrittes entgegenkam. Als sie ihn erblickte, verlangsamte sie ihren Schritt. Sie wünschte sich insgeheim, als Dame geboren zu sein.

Sie schlängelte sich durch die Menge, um ihn noch besser sehen zu können, und erhaschte einen flüchtigen Blick auf seine stattliche, muskulöse Gestalt. Er trug einen grauen Gehrock, eine gut sitzende Hose und eine reich bestickte Weste mit zweireihigen Knöpfen. Seine Hände steckten in edlen Handschuhen. Mit ihnen zog er seinen grauen Zylinder tiefer ins Gesicht, um seine Augen vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen, das die umliegenden Schaufenster reflektierten.

Allein für seinen Hut würde sie zwei Monate arbeiten müssen.

Nachdem er sich geschickt an mehreren Personen vorbeigeschlängelt hatte und nun auf ihrer Höhe angelangt war, sah er sie aus seinen grauen hervorstechenden Augen an. Dieser Blick ließ sie erzittern. Seine Augen funkelten so ungezügelt, dass ihr Atem stockte.

Er reckte sein Kinn und ging direkt auf sie zu, ohne den Blick von ihr zu wenden. Mit jedem Schritt, den sie sich einander näherten, klopfte Georgias Herz heftiger. Als er sie endlich beinahe erreicht hatte, verlangsamte er seinen Schritt. Der fremde schwarzhaarige Mann nickt ihr förmlich, wenn auch etwas gestelzt, zu und brachte ihr damit eine Anerkennung entgegen, wie sie Männer seines Standes tagsüber sonst niemals zu zeigen pflegten.

Er tat so, als stände er nicht einer Wäscherin in zerschlissenen Kattun-Röcken von der Orange Street gegenüber, sondern einer eleganten jungen Dame, die mit einem Spitzensonnenschirm in der Hand an der Seite ihrer Mutter über den Broadway spazierte. Georgia überlegte, ob sie ihm eine Kusshand zuwerfen sollte, da er ihr das Gefühl vermittelte, unglaublich schön und begehrenswert zu sein, doch glücklicherweise besann sie sich eines Besseren. Sie verstand es, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.

Sie wandte den Blick ab, reckte das Kinn und schritt so erhaben an dem stattlichen Mann vorbei, wie es sich für eine achtbare Frau gehörte. Dabei streifte sie jedoch absichtlich seinen Arm, nur um anschließend über die wehenden Röcke einer Wäscherin zu stolpern, die sich unsanft an ihr vorbeidrängelte. Sie fluchte innerlich.

Der Fremde reagierte blitzschnell und umfasste ihre Taille. Mit einem schnellen Ruck stand Georgia wieder sicher auf beiden Beinen. Georgia erstarrte, als ihr Pompadour zu ihrem Handgelenk herunterrutschte und gegen seinen kräftigen Unterarm schlug.

Ihr Herz hüpfte, als sie spürte, wie ihr Gesäß gegen einen kräftigen männlichen Oberschenkel gedrückt wurde, gegen seinen kräftigen männlichen Oberschenkel.

Er neigte den Kopf zu ihr herunter, und seine Muskeln spannten sich an, während er sie etwas fester an sich drückte. Er zog seinen Arm noch enger um ihre Taille. „Sind Sie wohlauf, Madam?“

Seine Stimme klang belegt und kultiviert, und er sprach mit einem so vornehmen britischen Akzent, dass das irische Mädchen in ihr erbost die Fäuste hob.

„Das bin ich, Sir. Danke.“ Georgia versuchte, sich von ihm zu lösen.

Während er seinen Arm langsam zurückzog, streichelte er mit seiner Hand beiläufig ihre Hüfte hinauf über den Rücken. Georgia erschauderte. Ihre Haut prickelte erregt.

Ungläubig starrte sie den Fremden an, der nun mit der Hand über ihre Rippen hinaufstrich, um die Konturen ihres Körpers nachzuzeichnen. Sie versuchte beiseitezutreten, doch er griff fest nach ihrem Oberarm und zog sie abermals an sich. „Madam.“

Sie atmete zischend ein, wandte sich aus seinem Griff und stieß ihn unwirsch zurück. „Fassen Sie mich ja nicht an!“

„Ihre Haube“, er hob beschwichtigend die Hände und deutete auf ihre Haube, „eines der Bänder ist lose. Das ist alles.“

„Oh.“ Sie fühlte, wie ihre Wangen vor Scham glühten, als sie mit ihren Fingern den unteren Rand ihrer Haube abtastete. „Es tut mir schrecklich leid, Sir. Ich wollte Sie nicht“, stammelte Georgia verlegen.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Darf ich?“ Er legte seine eine große Hand auf ihren Rücken und führte sie geradewegs zu einem Schaufenster abseits des geschäftigen Gehwegs.

Sie sah ihn verwundert an. Wollte er etwa, das Band selbst festmachen? „Das müssen Sie nun wirklich nicht.“

„Doch, das muss ich. Sonst werden Sie das Band verlieren. Also halten Sie bitte still.“ Er drehte sie in seine Richtung und beugte sich zu ihr vor, als er das verblasste, ausgefranste Band, das seitlich an ihrer Haube herabhing, zwischen die Finger nahm.

Georgia fühlte sich unbehaglich, während er das lange Band befestigte. Am liebsten würde sie fortlaufen, denn ihr war nur allzu bewusst, wie furchtbar diese Haube auf ihrem Kopf aussah, so schrecklich, dass sie es nicht einmal wert war, berührt zu werden. Doch warum sollte eine Frau sich nicht auch einmal am Anblick der Sterne erfreuen dürfen, selbst wenn sie unerreichbar waren?

Als er mit den Fingern über ihre Haube strich und das Band festzog, widerstand sie dem Impuls, sein weiches, glatt rasiertes Gesicht zu streicheln. Wie würde es wohl sein, einem Mann wie ihm zu gehören?

Ihr Blick wanderte zu einem schwarzen Stoffstreifen, der sich um den kräftigen Oberarm des Fremden spannte. Georgia sah den Mann mitfühlend an. Er war in Trauer.

„Ich habe es gleich geschafft“, sagte dieser im lässigen Plauderton, während er sein Werk prüfend betrachtete. Er beugte sich noch ein Stück näher zu ihr hinunter. „Ich befestige das Band besser mit einer anderen Anstecknadel.“

„Danke“, murmelte sie und blickte beschämt zu Boden.

Sein Mantel roch angenehm nach Würzwein und Zedernholz, und obwohl es ein warmer Sommertag war, strahlte dieser Mann etwas so wunderbar Warmes und Einladendes aus, dass sie erschauderte. Die Knopfreihen auf seiner bestickten Weste rutschten an der breiten Brust auf und ab, während der Fremde das letzte Stückchen Band einfädelte. Der schimmernde Glanz der Knöpfe verriet ihr, dass diese nicht aus einem Imitat, sondern aus echtem Silber waren, und das konnte sich in New York nur eine ganz kleine, elitäre Gruppe wohlhabender Männer leisten. Georgia wusste, dass sie diese Gruppe niemals erreichen würde.

„Das wäre geschafft.“ Als ihre Blicke sich trafen, zog er die seine Hände zurück und fragte sie mit tiefer Stimme: „Darf ich fragen, wie es Ihnen geht, Madam?“

Sie blinzelte zu ihm hinauf. In seine Augen war ein weicher Ausdruck getreten, der ihn trotz seiner stattlichen Statur eher jungenhaft und verletzlich wirken ließ. Georgia kämpfte gegen das nervöse Zwicken in ihrem Bauch. Trotz des geschäftigen Treibens auf dem Broadway, versuchte dieser reiche, elegante Mann ausgerechnet mit ihr Konversation zu treiben. „Mir geht es sehr gut, Sir. Danke.“

Aus Respekt vor der Trauerbinde an seinem Arm erkundigte sie sich nicht nach seinem Wohlbefinden. Stattdessen lächelte sie ihn kokett an und wies auf den gefalteten Rand ihrer Haube. „Beeindruckend. Haben Sie sich schon einmal überlegt, Herrenausstatter zu werden?“

Ein leichtes Grinsen umspielte seine festen, vollen Lippen, und um seine schönen grauen Augen bildeten sich kleine Fältchen. „Nein, das habe ich nicht“, antwortete er amüsiert.

Natürlich nicht. Schließlich trug er echte Silberknöpfe. Vermutlich gehörten ihm sogar alle Herrenausstatter der Stadt oder der Stadt, aus der er kam.

Als er sich erneut zu ihr vorbeugte, verstellte er Georgia den Blick auf die Straße. „Sind Sie aus der Gegend?“

Sie musste an sich halten, um nicht laut loszuprusten. „Sie sind sehr freundlich, mein Herr, aber nein, ich komme gewiss nicht von hier. Sie haben gesehen, dass an meiner Haube noch nicht einmal das Band fest sitzt. Diese Gegend hier können sich nur mit Gold gepuderte Gecken leisten, Sir. Ich durchquere den Broadway nur.“

„Mit Gold gepuderte Gecken?“ Der Fremde verschränkte schmunzelnd die Hände hinter dem Rücken, wodurch seine Schultern noch breiter wirkten. „So pflegen Sie also vermögende Männer zu nennen?“

Sie rümpfte die Nase. „Nein, eigentlich nicht. Ich wollte nur höflich sein, weil Sie doch einer von ihnen sind und ich Ihnen schon genug zugesetzt habe.“

Der Fremde lachte schroff. „Seien Sie versichert, dass ich daran gewöhnt bin“, sagte er, wobei er sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. „Da ich Brite bin, werde ich in der Öffentlichkeit immer wieder angefeindet. Zu viele Amerikaner erinnern sich immer noch an den Brand von Washington, aber ich schwöre Ihnen, dass ich damit nichts zu tun hatte.“

Georgia lachte laut auf. Sie war ganz hingerissen von diesem wunderbar trockenen Humor. „Können Sie es den Leuten hier verübeln? Ihr Briten mit eurem komischen Akzent könnt schon ganz schön aufgeblasen erscheinen.“

Der Fremde betrachtete sie nachdenklich. Er versuchte nicht einmal, sein unverblümtes Interesse zu verbergen. „Dürfte ich für einen Augenblick alle Höflichkeit beiseitelassen und Sie fragen, ob Sie mich auf einen Kaffee in mein Hotel begleiten möchten? Es ist schon lange her, dass ich mir einen Moment des Müßiggangs gestattet habe. Bitte erweisen Sie mir die Ehre.“

Georgia erschauderte unter seinem sehnsüchtigen und erwartungsvollen Blick. Zu gerne würde sie über den Rand einer Porzellantasse hinweg sehen, wie die Wohlhabenden so lebten, doch sie wusste, dass sie sich niemals mit einem Mann einlassen durfte, der echte Silberknöpfe trug. Männer wie er waren ohnehin nur auf ein Abenteuer aus, das nicht länger als eine Nacht dauern durfte.

Sie betrachtete die an ihnen vorbeidrängenden Menschen. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Sir, besonders nicht, weil Sie so freundlich zu mir waren, aber ich muss jetzt wirklich weiter. Ich habe noch einen langen Tag vor mir.“ Sie gestikulierte in Richtung Gehweg, als wäre das Erklärung genug.

Der Fremde sah sie enttäuscht an. „Ich verstehe. Dann werde ich Sie nicht länger aufhalten.“ Er neigte den Kopf und berührte mit den Spitzen seiner Finger den satinbezogenen Rand des Zylinders. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Madam.“

Bei allem, was heilig war, seine Manieren waren ebenso vollkommen wie er selbst. „Ich wünsche Ihnen auch einen angenehmen Tag, Sir. Und danke für den unerwarteten Dienst, den Sie meiner Haube erwiesen haben.“

Seine Mundwinkel zuckten nach oben. „Es war mir eine Ehre, Ihnen zu Diensten zu sein. Einen schönen Tag noch.“ Er trat zurück und schlenderte an einem Paar vorbei. Einmal noch drehte er sich lächelnd zu ihr um, dann verschwand er in der Menschenmenge.

Georgia seufzte wehmütig. Sie hatte soeben einen flüchtigen Eindruck von dem Leben gewonnen, das einer vornehmen Dame der Oberschicht vorbehalten war. Ach, das schöne Geld! Wenn sich eine Frau wahre Liebe und Glück kaufen könnte, würde sie mit der Pistole in der Hand die nächste Bank überfallen.

Georgia drehte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung nach Hause. Noch lagen gut vierzig Minuten Fußmarsch vor ihr. Warum lebten solch elegante und wohlgesittete Herren nicht in ihrem Viertel? Es war einfach nicht fair, dass die Männer in ihrem Block so roh und ungesittet waren, dass sie vorbeilaufenden Frauen auf den Hintern schlugen und ihnen durch schiefe und vergilbte Zähne hinterherpfiffen. Doch bald würde sie diesem Pack entfliehen. Ihr fehlten nur noch sechs Dollar für den Fahrschein Richtung Westen. Sie konnte es kaum erwarten, die Postkutsche zu besteigen und ihr erbärmliches Leben endlich hinter sich zu lassen.

Plötzlich tauchte wie aus dem nichts eine hoch aufgeschossene Gestalt neben ihr auf und drehte sich zu ihr. Georgia traute ihren Augen nicht. „Madam.“

Sie schaute den Mann fassungslos an. Es war wieder dieser seltsame Engländer. Sie verlangsamte ihr Tempo und antwortete ihm mit einem kurzen „Ja?“

Er lief rückwärts, um sie besser ansehen zu können, während er ging. Plötzlich stoppte er und stellte sich ihr in den Weg.

Georgia schrie erschrocken auf und taumelte zur Seite, um nicht mit ihm zusammenzustoßen.

Er neigte sich zu ihr. „Ich kann mich nur dafür entschuldigen, dass ich so ungewöhnlich kühn bin, doch ich muss Ihren Namen wissen.“

Sie sah ihn verdutzt an. „Und was wollen Sie mit meinem Namen anfangen, Sir?“

Er lupfte eine dunkle Augenbraue. „Vielleicht können wir das bei einem Kaffee besprechen? Hätten Sie nicht Zeit auf eine kleine Tasse? Nur eine? Ich lade Sie ein.“

Was dachte er sich eigentlich? Machte sie solch einen Eindruck auf ihn? „Ich weiß das Angebot zu schätzen, Sir, aber ich trinke keinen Kaffee, und ich treffe mich auch nicht mit Männern. Ich habe beidem abgeschworen, bis ich in den Westen ziehe.“

Seine Augen wurden dunkel. „Ich habe Sie nicht darum gebeten, sich mir hinzugeben.“

Trotz des warmen Wetters durchfuhr sie ein eiskalter Schauer, denn sie wusste genau, was der Mann meinte. „Noch nicht, aber Sie wollen mich auf einen Kaffee in Ihr Hotel einladen. Ich bin zwar Irin der dritten Generation, aber das heißt nicht, dass ich dumm bin.“

Er senkte nachdenklich das Kinn. „Der Kaffee war nur ein Vorschlag.“

„Oh, ich weiß ganz genau, was Sie da vorschlagen, und ich schlage vor, dass Sie das Weite suchen. Sehe ich etwa so aus, als könnte ich mit Ihnen Kaffee trinken gehen oder als würde ich Ihre Avancen gutheißen?“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Üben Sie ein wenig Nachsicht mit einem hingerissenen Mann. Wie ist Ihr Name?“

In Zeiten wie diesen hasste Georgia ihr Leben. Ein so attraktiver Mann mit Rang und Namen wie dieser Fremde vor ihr würde niemals mehr als eine Nacht mit ihr verbringen. Sie hütete sich davor, sich nach mehr zu sehnen, immerhin war sie eine Witwe aus Five Points. Ihr geliebter Raymond hatte ihr jedoch gezeigt, dass sie sich alles wünschen konnte, was ihr Herz begehrte, und, bei Gott, eines Tages würde sie ihre Träume auch in die Tat umsetzen.

Es gab nur einen Weg, das bisschen Ehre, das ihr blieb, zu wahren. Sie würde ihm den Namen der besten Prostituierten der Gegend nennen, so würden alle profitieren, falls er wirklich nach ihr suchen sollte. „Mein Name ist Mrs Elizabeth Heyer, Sir. Mit Betonung auf Mrs. Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht begleiten. Mein Mann wäre darüber nicht gerade erfreut.“ Sie ging beschwingt um ihn herum. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“

Er stellte sich vor sie und hinderte sie daran, weiterzugehen. „Ich fragte Sie nach Ihrem richtigen Namen.“

„Den habe ich Ihnen gerade genannt.“

Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihr zu abzuwenden. „Sie haben mit ihrer Antwort zu lange gezögert. Außerdem haben Sie mich noch nicht einmal dabei angesehen. Warum? Verunsichere ich Sie etwa?“

Sie starrte ihn wütend an. „Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, hindern Sie mich daran, zu gehen.“

„Wenn Sie verheiratet wären, hätten Sie das bereits früher erwähnt.“ Er musterte sie mit tadelndem Blick. „Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie die Art von Frau sind, die in Abwesenheit ihres Mannes gern mit anderen Männern tändelt? Schande über Ihr Haupt, wenn das stimmen sollte, aber auch, wenn es nicht stimmt. So oder so, die Dame scheint eine Lügnerin zu sein.“

Sie verfluchte ihn dafür, dass er so genau zuhörte.

Er beugte sich vor. „Leugnen Sie nicht, dass Sie ganz offen mit mir geflirtet haben, ebenso wie ich ganz offen mit Ihnen flirte.“

Ihre Augen weiteten sich. Sie trat einen Schritt zurück. „Wenn ich mit Ihnen flirten würde, würde ich Sie geradewegs mit zu mir nach Hause nehmen. Ich spiele keine Spielchen, Sir. Wenn ich etwas tue, dann tue ich es ganz oder gar nicht!“

„Dann tun Sie etwas.“ Er reckte sein Kinn und stand wie angewurzelt vor ihr. „Ich bin nicht verheiratet. Das Einzige, worum ich Sie bitte, ist heute Nachmittag mit mir zu plaudern.“ Er schaute ihr direkt in die Augen. „Fürs Erste.“

Die sanfte, aber bestimmte Art und Weise, wie er dies aussprach, ließ sie instinktiv einen Schritt zurücktreten. Sie war zwar nicht mehr verheiratet, aber es war offensichtlich, dass ihm der heilige Bund der Ehe nichts bedeutete. „Und was soll ich meinem Ehemann sagen, Sir, wenn er sich nach meinem Nachmittag erkundigt?“

Er ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen, so als wolle er ihre Reaktion genau abwägen. „Wenn Sie wirklich verheiratet sein sollten, werde ich von meinem Vorhaben Abstand nehmen und einen großen Bogen um Sie machen. Ich möchte weder Ihnen noch mir Schwierigkeiten bereiten. Ich wollte nur eine Frau kennenlernen, die mein Interesse geweckt hat. Ist das verwerflich?“

Georgia fühlte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sosehr sie die Vorstellung auch reizte, ein prickelndes Abenteuer mit diesem forschen Fremden einzugehen und ihm die Kleider vom Leib zu reißen, wusste sie, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Wenn Matthew und die Jungs es jemals herausfänden, würden sie ihn ausrauben und ihn sogar umbringen, sobald sie wussten, wo sie ihn finden würden. Es würde so oder so in einem Fiasko enden.

Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass kein bekanntes Gesicht in der Nähe war. „Im Gegensatz zu Ihnen, Sir, habe ich vor zu heiraten. Eine unvermögende Frau wie ich benötigt eine verlässliche Beziehung und keine Affäre für einen Tag und eine Nacht. Ich denke, damit ist alles gesagt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Ohne ihn noch einmal anzusehen, ging sie weiter.

Der Fremde trat stumm beiseite und ließ sie passieren.

Georgia beschleunigte ihren Schritt. Sie schalt sich dafür, ihn überhaupt ermutigt zu haben. Sie würde von nun an Hunderttausende Rosenkränze beten müssen, um sich noch einen Platz im Himmel zu sichern. Doch das würde nicht einmal ausreichen, um Matthews Sünden allein von dieser Woche wiedergutzumachen. Dieser Mann brauchte seinen eigenen Rosenkranz. Nicht, dass er an Gott oder sonst irgendetwas glaubte. Nein, alles, woran er glaubte, war Geld, Geld und nochmals Geld.

Sie hielt inne und umklammerte instinktiv ihren Pompadour, während die Passanten an ihr vorbeiströmten. Aus irgendeinem Grund verspürte sie das nagende Gefühl, dass sie von dem unheimlichen Briten verfolgt wurde.

Sie presste die Lippen zusammen und sah sich suchend um. Sie erstarrte, als sie den Fremden wenige Schritte von sich entfernt erblickte. Dabei war sie doch nun schon mehr als einen Häuserblock weit gelaufen. Ihr Pompadour rutschte ihr vom Ellbogen übers Handgelenk. Dieser Mann schien ihr wie ein Hund zu folgen. „Laufen Sie mir etwa hinterher?“

Der Brite blieb vor ihr stehen und sah sie aufmerksam an. „Wie wäre es, wenn wir uns nicht bei einem Kaffee, sondern bei einem Spaziergang kennenlernen würden?“ Er lächelte sie höflich und offen an, um seine ehrlichen Absichten zu betonen. Sie sollte bestimmen, wie es zwischen ihnen weitergehen sollte.

Georgia atmete tief durch. Ihr Herz hämmerte wie wild. Glaubte dieser Fremde wirklich, sie würde ihre Meinung nur aufgrund des sehnsuchtsvollen Ausdrucks in seinen schönen blaugrauen Augen ändern? Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte sich niemals auf ein so gefährliches Rendezvous einlassen können. Sie hatte noch viel zu viel zu tun.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine schnelle Bewegung wahr. Ein Junge schoss an ihr vorbei und zog mit einem Ruck an ihrem Handgelenk, an dem der Pompadour baumelte. Eine Messerklinge zischte durch die Luft.

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie herum und stellte erschrocken fest, dass der kleine Taschendieb die Schnur ihres Pompadours durchgeschnitten hatte. „Hey!“ Georgia rannte wütend hinter dem Räuber her, um ihre Tasche zurückzubekommen, doch der schlaksige Junge war zu flink. Geschickt drängelte er sich zwischen den Passanten hindurch, bis er außer Sichtweite war.

Ihr Herz sank ihr in die Knie, als ihr bewusst wurde, dass sie soeben von einem Knirps ausgeraubt worden war. Sie zog die Röcke über ihre Stiefelletten und rannte hinter ihm her. Ärgerlich drängte sie sich an den Passanten vorbei. „Lauf nur!“, schrie sie dem Jungen hinterher. „Ich werde dich schon kriegen, und dann kannst du was erleben.“

„Ich werde ihn schnappen“, rief der Brite ihr von hinten zu.

Und schon rannte er an ihr vorbei, sprang nach links, nach rechts, dann wieder nach links und verschwand schließlich im Fußgängerstrom auf dem Broadway.

Als Georgia sowohl ihn als auch den Jungen aus den Augen verloren hatte, fragte sie die Entgegenkommenden, ob sie einen Jungen gesehen hätten, der von einem Herrn mit grauem Zylinder verfolgt wurde. Die Leute zeigten in verschiedene Richtungen. Und so rannte sie suchend den Broadway und seine Seitenstraßen entlang.

Sie atmete schwer und versuchte, nicht langsamer zu werden. Langsam machten die Geschäfte rechts und links des Weges italienischen Reihenhäusern Platz. Sie musste diesen verdammten Pompadour unbedingt wiederbekommen. Wenn nicht, müsste sie das Geld für die Miete schon wieder aus ihrer Sparbüchse nehmen. Sie fluchte innerlich.

An der nächsten nicht asphaltierten Straße hörte sie lautes Geschrei. Menschen standen dicht beieinander und bildeten einen Kreis. Angestrengt blickte Georgia auf eine Stelle, an der jede Menge Staub aufgewirbelt war. Ein umgestülpter grauer Zylinder lag etwas abseits der Menschentraube mitten auf der Straße.

Sie atmete scharf ein, als sie sah wie ein paar Frauen von schreienden Männern von der Straße getrieben wurden.

Der Fahrer eines Pferdewagens hatte seine Pferde bereits zum Stehen gebracht. Jetzt wickelte er die um seine Stiefel gebundene Schnur los, sprang aus seinem Kutschersitz und eilte in die Menge, während die Fahrgäste im Wagen den Hals reckten und das Geschehen durch die kleinen Fenster beobachteten.

„Oh Gott.“ Ihr Magen zog sich zusammen, als sie weiterging.

Der Brite war vom Wagen angefahren worden und lag nun reglos an der Kreuzung von Howard Street und Broadway.

Sanftes Licht flackerte in die Dunkelheit, die ihn umgab. Ganz vorsichtig öffnete er die Augen. Er blinzelte, weil ihn die Sonne blendete. Sein Atem ging schwer. Er spürte, dass er auf einer staubigen Straße lag, doch er war außerstande, den Kopf zu heben.

Mehrere Stiefel und etliche verschwommene Gesichter nahmen ihm die Sicht auf die bunten Aushänge an den Gebäuden und auf den blauen Himmel über dieser ihm vollkommen unbekannten Straße. Er hörte lautes Geschrei und schmeckte die staubige heiße Luft, die ihm den Atem nahm.

Ein bärtiger Mann mit einer tief ins Gesicht gezogenen Mütze beugte sich über ihn herab. „Ein Glück, dass Sie noch unter uns sind, Sir. Können Sie aufstehen?“, fragte er erleichtert.

Warum hatten sich so viele Leute um ihn herum versammelt? Warum starrten sie ihn so an? Er drehte sich auf den Rücken, zuckte jedoch unter dem Schmerz zusammen, der schneidend wie eine Klinge seinen ganzen Körper durchfuhr. Benommen setzte er sich auf, nur um sofort wieder zu schwanken und auf die schmutzige Straße zu fallen. Der tiefe Abdruck eines Stiefels, den jemand im Dreck neben ihm hinterlassen hatte, zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

Eines Tages, als ich gegen Mittag nach dem Boote ging, begab es sich, dass ich zu meiner größten Überraschung den Eindruck eines nackten menschlichen Fußes ganz deutlich in dem Sande des Ufers wahrnahm.

Er schreckte auf und verbannte die komische, nicht zu ihm gehörende Stimme aus seinem Kopf. Er sah nur verschwommen und nahm überrascht den bitteren Geschmack von Blut auf der Zunge wahr. Etwas rann seitlich an seinem Gesicht hinab bis zu seinem Ohrläppchen. Zittrig wischte er über die feuchte Stelle und betrachtete seine Hand. Die Fingerspitzen seines braunen Lederhandschuhs waren blutbeschmiert.

„Hebt ihn hoch“, drängte eine ihm unbekannte Frau energisch, die aus dem Kreis der verschwommenen Gesichter um ihn herum ertönte. Es entstand eine Pause. „Gott steh uns bei.“ Sie hörte sich noch panischer an. „Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.“

Er schluckte und blickte in die Richtung, aus der die trällernde Stimme der scheinbar um ihn besorgten Frau gekommen war. War er vielleicht in Irland? Er versuchte die Frau ausfindig zu machen, doch er konnte nur die undeutlichen Gesichter der über ihn gebeugten Männer ausmachen.

Hände glitten unter seinen Rock und seine Hosenbeine, eine Gruppe Männer hob ihn ächzend mit einem Ruck hoch.

Sofort schoss der Schmerz wieder in seinen Kopf. Er keuchte und wand sich unter den schmerzlichen Griffen. „Meine Herren“, presste er abgehackt hervor, „auch wenn ich Ihre Sorge um mich zu schätzen weiß, glaube ich nicht, dass der Aufstand nötig ist.“

„Solch hochtrabende Worte aus dem Munde eines Sterbenden“, johlte einer der Männer scherzhaft. „Da fragt man sich doch, was aus dem rauskommt, wenn er tot ist.“

Eine Hand schoss vor und schlug dem Mann die Mütze vom Kopf. „Weniger reden, mehr anpacken. Los!“

„Hey!“, schrie der Mann zurück und stolperte unsanft gegen ihn und alle anderen, die ihn trugen. „Halte deine Hände bei dir, Frau. Ich hab nur einen Spaß gemacht.“

„Du glaubst also, es sei lustig, einen blutenden Mann vor sich zu haben? Los, trag weiter Bürschchen, sonst bist du es gleich, der hier blutet“, rief eine energische Stimme, und ehe er sich versah, tauchte vor seinen Augen das Gesicht einer jungen Frau auf, deren Nase und Wangen mit lustigen Sommersprossen übersät waren. Sie blickte ihn besorgt aus hellen grünen Augen an. Sie hatte ihre rostfarbenen Augenbrauen zusammengezogen und lief neben ihm her. Eine weiche erdbeerrote Haarsträhne hatte sich aus ihrer ausgefransten blauen Haube gelöst und wehte ihr ins Gesicht.

„Wo wohnen Sie?“ Mit bloßer Hand schob sie die lose Haarsträhne zurück unter die Haube, während sie versuchte, mit den Männern Schritt zu halten. „Wohnen Sie hier in der Nähe? Weiter weg?“

Er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu erinnern, doch es gelang ihm nicht.

„Sind Sie aus der Gegend hier?“, fragte sie beharrlich, während sie sich weiterhin einen Weg an seiner Seite bahnte. „Oder sind Sie zu Besuch aus Übersee? Sie haben ein Hotel erwähnt. In welchem Hotel wohnen Sie?“

„Hotel?“, wiederholte er angespannt. „Wann habe ich ein Hotel erwähnt?“

Sie musterte ihn besorgt. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wir müssen Ihre Familie informieren. Geben Sie mir bitte Ihren Name und Ihre Adresse, dann werde ich sie ausfindig machen, sobald Sie im Krankenhaus sind.“

Familie? Er schloss kurz die Augen und blickte in den verschwommenen blauen Himmel, bevor die Männer ihn in eine Droschke hoben. Unzählige Namen und Gesichter tauchten wie die Seiten eines endlosen Buches vor seinem inneren Auge auf. Da waren so viele Namen. Strada. Ludovicus. Casparus. Bruyère. Horace. Sloane. Lovelace. Shakespeare. Fielding. Pilkington. La Croix. Die konnten doch nicht alle mit ihm verwandt sein. Oder etwa doch?

Ich wurde Robinson Kreuznaer genannt. In England aber ist es Mode, die Worte zu verunstalten, und so heißen wir jetzt Crusoe.

Halt! Crusoe. Ja. An diesen Namen erinnerte er sich zu gut. Robinson Crusoe of York. War das nicht er selbst? Das musste er sein, aber er konnte sich nicht erinnern. Oh Gott! Was geschah gerade mit ihm? Warum ließ ihn seine Erinnerung im Stich?

Er fuhr zusammen, als die Männer ihn auf den Ledersitz einer geschlossenen Droschke setzten. Starke Hände drückten ihn gegen die Rückenlehne, bevor die Männer aus der Droschke nach und nach wieder ausstiegen und ihn allein zurückließen.

Ihm war ganz schwindelig zumute, und seine Arme und Beine wurden schwer. Panisch versuchte er, Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Er stemmte seine Hände rechts und links gegen die Droschkenwand, um aufrecht sitzen zu bleiben.

Die Frau mit den grünen Augen drängelte sich zwischen den anderen hindurch und stieg entschlossen in die Droschke. Resolut warf sie die Tür hinter sich zu. „Ich werde Sie selbst ins Krankenhaus bringen und nicht von Ihrer Seite weichen, bis es Ihnen besser geht. Versprochen.“

Als die Pferde anzogen, setzte sie sich schwungvoll neben ihm und beugte sich zu ihm. „Kommen Sie.“ Mit den Armen hielt sie ihn fest und zog ihn vorsichtig zu sich heran. Seine Schulter und seinen Kopf legte sie auf ihren Schoß, während sie einen Sitz weiter rutschte, um ihm mehr Platz zu machen.

Er sank auf ihrem warmen Schoß zusammen und war dankbar, sich nicht mehr aufrecht halten zu müssen. Mit zittriger Hand umklammerte er ihr Knie. Es tröstete ihn, dass er nicht allein war. Umhang und Röcke der Frau dufteten nach Seife und Lauge. Er bettete seine Wange und seine Schläfe in dem weichen Stoff. Hier könnte er sterben und ewigen Frieden finden.

Sie strich ihm mit der Hand über die Schulter. „Ich möchte, dass sie mir etwas erzählen. Wenn Sie reden, weiß ich, dass es Ihnen gut geht. Also los. Reden Sie.“

Er schluckte. Er wollte ihr für ihr Mitgefühl danken und dafür, dass sie ihm einen Funken Hoffnung gab, auch wenn er spürte, dass es vergeblich war. War der Tod am Ende nur ein langer Schlaf? Seine Hand wurde immer schwerer und glitt langsam von ihrem Knie hinab, während die Welt um ihn herum versank.

„Sir?“ Sie beugte sich zu ihm herunter und schüttelte ihn. „Sir?“

Weißer Nebel zog vor seinen Augen auf und verschleierte ihm die Sicht. Er kämpfte dagegen an, er wollte zu gerne in diesen himmlischen Armen verweilen, doch dann verblasste alles um ihn herum, und er stürzte ins Bodenlose.

2. Kapitel

Die höchste Form der Klugheit besteht darin, sie verbergen zu können.

– François de La Rochefoucauld, Maximes Morales (1678)

Neun Tage später, Krankenhaus New York

Georgia seufzte verärgert. Sie richtete ihre Haube, legte die Beine auf den Flechtstuhl, der vor ihr stand, und fächelte sich mit ihrem braunen Kattun-Umhang ein bisschen Luft zu. Sie wartete bereits seit zehn Minuten, und im Zimmer war es drückend heiß.

Sie lehnte sich wieder in ihrem Flechtstuhl zurück und starrte den Wundarzt ungeduldig an, der den Akten auf seinem Tisch viel mehr Beachtung schenkte als ihr. „Wie lange wollen Sie mich jetzt noch warten lassen, Sir? Ich wohne am anderen Ende der Stadt und möchte heim, bevor es keine Wagen mehr gibt. Ich habe keine große Lust, mehr als fünfzehn Blocks im Dunkeln zu laufen.“

Dr. Carter griff vollkommen unbeeindruckt nach der Porzellantasse, die neben ihm auf dem Tisch stand, und führte die Tasse ganz langsam an seinen Mund. Er trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee und stellte die Tasse wieder klirrend auf dem Unterteller ab. Er beugte sich über das beachtliche Hauptbuch auf seinem Schreibtisch und notierte etwas. „Sein Zustand ist unverändert, Miss Milton. Sie können also wieder gehen.“

Georgia funkelte den Arzt wütend an. „Ich heiße Mrs Milton, Mr Carter, solange es keinen Mann gibt, der das ändert, und ich habe nicht ganze zwölfeinhalb Cent für die Fahrt hierher ausgegeben, um mir das anzuhören. Letzte Woche sagten Sie, er wäre wieder komplett gesund. Ich bin fest davon ausgegangen, dass er das Krankenhaus bereits verlassen hat. Warum ist er noch hier?“

Dr. Carter kratzte unbeirrt mit seiner Schreibfeder über das Papier. „Weil ich mir unschlüssig bin, Mrs Milton, was wir mit ihm machen sollen.“ Er hielt stirnrunzelnd inne und tauchte die Schreibfeder routiniert ins Tintenfass. „Sein geistiger Zustand ist nicht so, wie er sein sollte. Ich habe darüber nur mit wenigen Vertrauten gesprochen, weil ich nicht will, dass man ihn ins Irrenhaus steckt.“

Georgia sah ihn ungläubig an. „Ins Irrenhaus? Warum sollte man ihn dorthin bringen?“

„Seit er vor neun Tagen wieder aufgewacht ist, kann er sich an nichts mehr erinnern. Er kann mir nicht sagen, wie er heißt, geschweige denn woher er kommt, noch kann er mir sonst etwas aus seinem Leben berichten, Mrs Milton. Ich musste ihm sogar die grundlegendsten Dinge über Körperpflege erklären.“

Sie ließ die Beine vom Stuhl fallen und richtete sich auf. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. „Großer Gott! Und was haben Sie nun mit ihm vor?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich würde ihn am liebsten innerhalb einer Woche entlassen. Er gehört hier genauso wenig hin wie ins Irrenhaus.“

Georgia sah ihn erschrocken an. „Und was ist mit seiner Familie, Sir? Wir müssen versuchen, sie zu finden, bevor Sie ihn entlassen. Er könnte unter die Räder kommen, bevor sie je wieder etwas von ihm hört!“

Dr. Carter starrte sie an, während er die Hand vom Tintenfass zurückzog. „Wenn er sich nicht an seine Familie erinnern kann, kann ich sie auch nicht für ihn ausfindig machen. Verstehen Sie? Es gibt nichts, was ich in physischer Hinsicht noch für ihn tun könnte.“

„Sie können auch in physischer Hinsicht noch jede Menge für ihn tun!“

„Und was?“, fragte er barsch.

„Sie könnten die britische Botschaft kontaktieren und fragen, ob dort ein Landsmann vermisst wird.“

„Das habe ich bereits getan, leider ohne Erfolg.“

Verdammt. „Könnten Sie nicht einen Künstler damit beauftragen, sein Gesicht zu zeichnen?“

„Auch das wurde bereits unternommen. Alle meine Patienten werden skizziert, dafür bekomme ich zusätzliche Gelder von der Regierung.“

„Gut. Wir könnten die Skizze an alle Zeitungen und Hotels der Stadt schicken. Irgendjemand muss doch wissen, wer er ist. Schließlich scheint er ein Mitglied der oberen Kreise zu sein. Aber ich würde keine Belohnung aussetzen. Das würde nur die falschen Leute anlocken.“

Dr. Carter warf seine Schreibfeder wütend zur Seite und beugte sich über den Schreibtisch. „Das hier ist ein Krankenhaus, Mrs Milton, keine Ermittlungsbehörde der Regierung. Sie haben offensichtlich keine Vorstellung davon, welche begrenzten Möglichkeiten wir haben.“

Es war nur typisch, dass sie mal wieder wie eine weltfremde Irre behandelt wurde, die keine Ahnung von den Spielregeln der Gesellschaft hatte. Sie musste sich arg zusammenreißen, damit sie nicht aufstand, um ihm eine zu scheuern. „Soweit ich weiß, Sir, und korrigieren Sie mich, sollte ich falschliegen, wird das Krankenhaus von New York durch Regierungsgelder finanziert. Sie haben also die Pflicht, für das Wohlergehen aller Patienten zu sorgen, ganz gleich, ob sie Staatsbürger sind oder nicht. Oder haben sich die Gesetze vielleicht geändert?“

Er seufzte auf. „Die Gelder, die ich von der Regierung erhalte, sind sehr knapp. Damit kann ich Anliegen wie das Ihre kaum finanzieren.“

Sie verdrehte die Augen. „Alles, was von unserer Regierung kommt, ist knapp. Den Leuten wird gerade so viel gegeben, dass sie nicht rebellieren. Ansonsten werden wir doch bis aufs letzte Hemd ausgezogen. Die Politiker scheren sich doch einen Dreck um uns, solange sie nicht persönlich betroffen sind.“

Es klopfte an der Tür des kleinen Büros.

„Ja?“, rief Dr. Carter. „Was gibt’s?“

Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann mit schütterem Haar trat ein. Etwas verschämt strich er über seine blutbeschmierte Schürze, die er sich eher achtlos über Weste und Hose geworfen hatte. „Bett sechzehn rasiert sich gerade, obwohl Sie ihm Bettruhe verordnet haben. Der Mann besteht darauf, schon wieder zu baden und möchte innerhalb von einer Stunde gehen. Was soll ich tun?“

Dr. Carter atmete tief durch. „Wenn er darauf besteht zu gehen, kann ich ihn nicht halten. Schick ihn in mein Büro. Ich stelle sicher, dass er zahlt, und werde ihm eine der Pensionen in der Gegend empfehlen.“

„Ja, Dr. Carter.“ Der Mann verließ das Büro wieder.

Bett sechzehn? Das war das Bett des Briten. Georgias Flechtstuhl schlitterte über die Dielen, als sie aufsprang. „Sie wollen ihn in diesem Zustand entlassen? Und ihm auch noch eine Rechnung schreiben?“ Sie zeigte mit dem Finger auf ihn und wünschte sich, den Mut zu haben, seinen Kopf gegen den Schreibtisch zu schlagen. „Sie sind ein Verbrecher, ein verteufelter, staatlich geförderter Verbrecher, den man …“

Dr. Carter unterbrach sie barsch. „Ich bitte Sie, Mrs Milton. Dafür habe ich keine Zeit.“

„Dann nehmen Sie sich die Zeit, Dr. Carter. Es geht hier um das Leben dieses armen Mannes. Wenn Sie ihn in die nächste Pension entlassen, wird er vor die Hunde gehen. Es wäre das Mindeste, dass Sie ihn in einer staatlichen Einrichtung unterbringen.“

Er rieb sich die Schläfe. „Mrs Milton.“ Er ließ den Arm hängen und lehnte sich in seinem Lederstuhl zurück. „Der Mann ist viel zu alt für die Einweisung in eine staatliche Einrichtung.“ Widerwillig gestikulierte er in Richtung des offenen Fensters, das den Blick auf eine ruhige, mondlose Nacht freigab. „Der Mann ist sehr groß und sehr intelligent, ich glaube nicht, dass er in Schwierigkeiten gerät.“

Dem Mistkerl schien es vollkommen gleichgültig zu sein, dass der vornehme Brite nur in die falsche Straße abbiegen musste, um auf der Stelle tot zu sein. Sie ging auf ihn zu und stellte sich vor den Schreibtisch. „Ich weiß ja selbst, dass es in der Welt viel Leid gibt, an dem wir wenig ändern können, aber wir sollten es verdammt noch mal versuchen. Ich bestehe darauf, dass Sie ihm unterbringen.“

Er blinzelte genervt mit den Augen. „Etwa hier?“

„Nein, Sie Narr, bei Ihnen zu Hause. Wo könnten Sie sich besser um Ihren Patienten kümmern, als in Ihrem eigenen Heim?“

Dr. Carter warf den Kopf in den Nacken und atmete tief aus. Nachdem er lange an die Decke gestarrt hatte, zog er den Kopf zurück und sah Georgia kühl an. „Ich kann ihn nicht mit nach Hause nehmen. Meine Frau würde Zustände bekommen, wenn ich alle meine Patienten mit nach Hause brächte.“

„Besser Ihre Frau als ich.“

Wütend zeigte er mit dem Finger auf sie. „Gehen Sie, bevor ich Sie hinauswerfen lasse. Ich hab genug von Ihren Frechheiten. Los, raus mit Ihnen.“

Es war nur offensichtlich, dass dieser Mann sie nicht ernst nahm. Georgia stützte sich mit beiden Händen auf den gestapelten Hauptbüchern auf dem Tisch vor ihr ab. Sie beugte sich über den Schreibtisch zu Dr. Carter hinab und senkte ihre Stimme, um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen. „Bevor Sie mich hinauswerfen lassen, Dr. Carter, sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie an Ihrem Leben hängen oder nicht.“

Dr. Carter stand abrupt auf. Er überragte sie um Längen. Sein alterndes Gesicht war deutlich angespannt, als er sich ebenfalls über den Schreibtisch beugte. „Drohen Sie mir etwa?“, zischte er und legte seine Hände parallel zu ihren.

„Nein. Hier geht es eher um einen Disput unter Freunden“, zischte Georgia zurück und kniff die Augen zusammen. „Aber stellen Sie sich nur vor, die Forty Thieves, unter deren Schutz ich seit jeher stehe, würden von meinem Kummer erfahren. Was dann? Ich glaube, es liegt in Ihrem eigenen Interesse, diesem Mann zu helfen. Denn wenn Sie es nicht tun, könnte es passieren, dass nicht einmal die Heilige Jungfrau Maria Sie noch retten kann.“

Er hielt ihrem Blick stand, doch seine zuckenden Augenbrauen brachten seine wachsende Unsicherheit zum Ausdruck. „Ich bin ein Staatsdiener, Mrs Milton, ich lasse mich nicht vom Pöbel bestechen.“

Georgia sah ihn unbeirrt an. „Wenn Sie mich hinauswerfen, werden sie die Männer vor Ihrer Tür bald nicht mehr zählen können. Überlegen Sie es sich gut.“

Dr. Carter zuckte zurück und zog langsam die Hände vom Schreibtisch. Mit zittriger Hand fuhr er über sein Gesicht, dann ließ er sich in seinen Stuhl fallen. „Darf ich fragen, warum Ihnen das Schicksal dieses Mannes so am Herzen liegt? Ist er ein Kunde, der Ihnen noch Geld schuldet?“

Georgia sah ihn entsetzt an, ihr Puls klopfte bis in die Ohren. „Wie können Sie es nur wagen? Ich verkaufe jeden Sommer Maiskolben und wasche die Wäsche der Priester in drei Bezirken. Ich verdiene nicht einmal die Hälfte von dem, was Sie im Monat für Ihr Essen ausgeben, nur um achtbar zu bleiben.“ Sie schnippte mit den Fingern in Richtung der offenen Tür. „Ich weiß genauso wenig wie Sie, wer zum Teufel dieser Mann da ist, aber ich fühle mich schuldig für das, was ihm passiert ist. Er wurde angefahren, als er den Dieb meines Pompadours verfolgte. Ich gehöre vielleicht nicht den besseren Kreisen an, Sir, aber ich bin noch lange keine Hure, nur weil ich mich um einen Mann sorge!“

Dr. Carter sackte seufzend im Stuhl zusammen. „Ich wollte nur wissen, mit wem ich meinen Namen in Verbindung bringe.“

„Nun, jetzt wissen Sie es. Ich verdiene mein Geld mit Wäsche, nicht mit Männern.“

Er räusperte sich. „Danke. Das haben Sie nun mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht.“

„Was ich nicht verstehe, ist, wie jemand seinen Namen und sein ganzes Leben vergessen kann!“

Er fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Schnurrbart und sah Georgia nachdrücklich an. „Ich habe in einer meiner Fachzeitschriften über ein ähnliches Leiden namens ‚Gedächtnisschwund‘ gelesen. Es ging um einen Soldaten, der im Krieg einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen hatte und sich danach an nichts mehr erinnern konnte. Ich hatte es medizinisch nicht für möglich gehalten, aber es ist offensichtlich, dass die Erinnerung unseres Patienten größtenteils verschwunden ist. Ich wollte Sie nur darüber in Kenntnis setzen, da ich ja sehe, wie sehr Sie sich sorgen.“

Sie schluckte und verschränkte ihre zittrigen Hände ineinander. Es war ihre Schuld. Hätte sie ihn an jenem Tag nur nicht angesehen, dann hätte er sein Gedächtnis nicht verloren und wäre sicher. „Wissen Sie denn gar nichts über ihn?“

„Nun, aufgrund seiner Kleidung, seiner Manieren, des Geldes, das er bei sich trug, und der Art, wie er spricht, vermute ich, dass er aus einer reichen britischen Familie stammt.“

Sie atmete tief durch. „Das wusste ich bereits. Seine Knöpfe sind aus echtem Silber, Sir, nicht einmal ein echter Bankdirektor kann sich solche Silberknöpfe leisten.“

„Dann wissen Sie in etwa genauso viel wie ich, Mrs Milton.“ Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Lassen wir die Drohungen beiseite. Ich bin ja Ihrer Meinung, dass es richtig und wichtig wäre, ihm zu helfen, doch meine Zeit ist sehr begrenzt. Ohne Sie schaffe ich es nicht. Ich arbeite zwölf Stunden am Tag in der Klinik, und meine Frau und meine sechs Kinder bekommen mich kaum zu Gesicht. Meine wenige freie Zeit verbringe ich mit ihnen, und ich hoffe bei Gott, dass Sie mir das nicht auch noch nehmen.“

Georgia schluckte schwer. Sie hatte nicht vorgehabt, einen treu sorgenden Familienvater zu verängstigen. „Ich wollte Ihnen nicht drohen, aber ich habe leider vor langer Zeit gelernt, dass man Mildtätigkeit und Mitgefühl aus Leuten herauspressen muss.“

Er sah sie nachdenklich an. „Sie sind beeindruckender, als es auf den ersten Blick scheint.“

Sie hob ihr Kinn. „Nur weil meine Kleider zerschlissen sind, bin ich noch lange keine gebrochene Person. Aber was soll ich tun?“

Er atmete auf. „Nehmen Sie ihn bei sich auf, bis er gefunden wird.“

Sie hob eine Braue. Er wollte, dass sie den Briten mit zu sich nahm? Unmöglich! Es gab nur ein Bett in ihrer kleinen Kammer, und das gehörte ihr. Selbst wenn sie sich dazu durchringen konnte, es mit einem fremden Mann zu teilen, würde er ihre letzten Reserven verbrauchen. „Ich bin eine ehrbare, aber arme Witwe, Sir. Ich habe weder das Geld noch die Mittel dafür.“

Dr. Carter zog eine Schreibtischschublade auf und brachte eine kleine zugeschnürte Ledertasche zum Vorschein. „Ich habe ihm seinen Besitz abgenommen, als er eingeliefert wurde, damit er nicht bestohlen wird. Die Patienten hier sind nicht gerade vertrauenswürdig.“ Er tippte auf das Bündel. „Es enthält eine Taschenuhr und einen Geldbeutel mit einhundertzweiunddreißig Dollar. Das sollte wohl ausreichen, um seine Kosten vorerst zu decken. Ich würde sogar auf die Behandlungsgebühr verzichten, wenn Sie versprechen, ihn so lange bei sich aufzunehmen, bis seine Familie ihn gefunden hat.“

Georgia konnte den Blick nicht von der Ledertasche nehmen. „Einhundertzweiunddreißig Dollar? Das ist nicht Ihr Ernst. Wer läuft mit so viel Geld in der Tasche herum?“

Er lächelte. „Ein Pirat vermutlich.“ Er machte eine Pause. „Ich sollte Ihnen wohl sagen, dass er behauptet, ein Salé-Pirat zu sein.“

Sie sah ihn ungläubig an. „Was meinen Sie damit, er behaupte es?“

„Wenn Sie sich dafür entscheiden, ihn bei sich aufzunehmen, was ich sehr hoffe, möchte ich Ihnen empfehlen, seine Lage nicht zu verschlimmern. Er ist absolut ungefährlich, aber wenn Sie ihn dazu verleiten, seine geistige Gesundheit infrage zu stellen, könnte es zu einem sinnlosen Verfolgungswahn führen. Wenn er sagt, dass er ein Salé-Pirat ist, dann ist er das auch. Verstanden?“

Der Himmel sei ihr gnädig. Worauf ließ sie sich gerade ein? Natürlich wollte sie ihm helfen, und auf der Straße hatte er auch einen tadellosen Eindruck auf sie gemacht, dennoch wusste sie nicht, wer dieser Engländer eigentlich war und worauf sie sich mit ihm einließ. Vielleicht war er schon vor dem Unfall wahnsinnig gewesen, und sein sogenannter ‚Gedächtnisschwund‘ überspielte nun seine wahre Persönlichkeit?

„Nennen wir ihn also weiterhin Robinson Crusoe“, fuhr der Arzt fort. „So lässt er sich am liebsten anreden.“

„Hatten Sie nicht gesagt, er wisse seinen Namen nicht?“

„Den weiß er auch nicht. Er denkt, er hieße Robinson Crusoe.“

Georgia sah den Arzt verständnislos an. „Verzeihen Sie, aber Robinson Crusoe scheint mir ein normaler Name zu sein.“

Er runzelte die Stirn. „Offenbar haben Sie das Buch nicht gelesen.“

Jetzt war Georgia vollkommen verwirrt. „Was für ein Buch?“

Dr. Carter beugte sich zu ihr vor, ohne sie anzusehen. „Mrs Milton.“

„Ja?“

„Robinson Crusoe ist der Name einer Romanfigur. Die Geschichte wurde schon vor Jahrzehnten geschrieben und ist ein beliebter Lesestoff bei Jungen und Männern. Die Hauptfigur ist ein Seefahrer, dessen Schiff von Salé-Piraten gekapert wird. Er wird in die Sklaverei gezwungen, kann jedoch gerade noch entkommen und strandet mutterseelenallein auf einer Kannibalen-Insel. Verstehen Sie, unser Salé-Pirat glaubt, er sei ein Schiffbrüchiger.“

Georgia sah ihn nachdenklich an. „Das klingt für mich eher nach Wahnsinn, denn nach Gedächtnisschwund.“

„Glauben Sie mir, Sie haben nichts zu befürchten.“ Er rückte noch ein Stück näher an sie heran. „Um sein ungewöhnliches Leiden zu begreifen, habe ich ihm eine Weltkarte gezeigt und ihn gebeten, mir zu zeigen, wo wir uns gerade befinden und wo sein Zuhause ist. Zu meiner Überraschung hat er auf Frankreich gezeigt und mir von der Rue des Francs-Bourgeois in Paris erzählt. Ich kenne die Straße aus Erzählungen, da meine Schwiegereltern dort vor der Revolution gelebt haben. Es ist immer noch eine sehr wohlhabende Gegend, in die der wahre Robinson Crusoe niemals einen Fuß gesetzt hätte. Ich habe an die von ihm genannte Adresse geschrieben, aber ohne Namen wird der Brief vermutlich ins Leere gehen.“

Der Arzt machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vielleicht erinnert er sich nicht daran, wer er ist, aber er erinnert sich immer noch an viele andere Dinge aus seinem wahren Leben. Ich bin daher zu dem Schluss gekommen, dass sein Zustand eher als eine Art Unfähigkeit einzustufen ist, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden. Er ist nicht wahnsinnig, sondern eher unglaublich verwirrt. Das sollten Sie bedenken, wenn Sie ihn bei sich aufnehmen.“ Er kramte ein Stück Briefpapier aus seiner Schreibtischschublade hervor und griff zur tintenbeschmierten Schreibfeder, die vorhin weggeschleudert hatte. „Ich benötige Ihren Namen und Ihre Adresse, bevor ich ihn entlasse.“

Sie sah ihn unsicher an. „Meinen Sie nicht, dass man um einen Mann, der auf einer Kannibalen-Insel gelebt haben will, besser einen großen Bogen machen sollte? Es könnte doch sein, dass er mich und meine Nachbarn zu Ehren seiner Kannibalen-Freunde verspeisen will?“

Dr. Carter prustete los. „Das wird er nicht, keine Sorge.“ Er lachte wieder und schüttelte den Kopf. „Nein, das wird er nicht, nicht dieser Mann.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Ich meine es ernst, und ich hoffe bei Gott, dass Sie mich ernst nehmen. Ich habe schon zu viel erlebt. Ich weiß, was vernünftig ist und was nicht und dass Menschen vernünftig sind, Sir. Sie geben nur vor, es zu sein. Ich bin nun doch etwas besorgt, am Ende in meinem eigenen Blut aufzuwachen.“

Seine Gesichtszüge entspannten sich. „Ich kann nichts versprechen, doch der Mann ist anderen gegenüber von Natur aus mitfühlend und großherzig. Seit er hier ist, hat er sich beklagt, dass wir unsere Patienten nicht gut genug umsorgten. Ständig ist er auf dem Flur, um anderen zu helfen, obwohl ihm Bettruhe verordnet wurde. Wenn Ihnen diese Beteuerung nicht genügt, sollten Sie ihn ziehen lassen, Mrs Milton. Weder Sie noch ich sind für ihn verantwortlich. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.“

Sie seufzte auf. „Ich werde ihn mit zu mir nehmen“, antwortete sie verärgert und wies auf das Pergament. „Mein Name ist Mrs Georgia Emily Milton, das Wohnhaus ist in der Orange Street 28. Orange. Wie der Mistkerl, der Irland zerstört hat.“

Dr. Carter hielt inne, beugte sich über das Papier und notierte in krakeliger Handschrift Namen und Adresse. „Danke.“

Das würde ein Fiasko werden. Sie würde diesen verrückten Briten wie eine Glucke behüten müssen. Aber wenn es jemanden gab, der mit Wahnsinnigen umgehen konnte, dann war sie es. „Wie lange wird er wohl bleiben, was meinen Sie?“

„Das kann ich nicht sagen. Es könnte ein paar Tage oder mehrere Monate dauern, bis man ihn findet.“

Sie unterdrückte einen Seufzer. Sie schuldete dem Mann etwas, denn schließlich war er wegen ihres Pompadours vor den Wagen gelaufen.

Dr. Carter legte die Schreibfeder beiseite, schnürte das Bündel zusammen und hielt es ihr entgegen. „Ich überlasse seine Wertgegenstände Ihnen, und wir bleiben in Kontakt. Geben Sie das Geld mit Vorsicht aus. Wir wissen nicht, wann seine Familie ihn finden wird.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich werde sowohl ihn als auch das Geld mit Vorsicht behandeln.“ Sie streckte die Hand aus und nahm ihm die kleine schwere Tasche ab. Warum nur beschlich sie dieses seltsame Gefühl, dass sie einen Mann bei sich aufnahm, der noch viel mehr tun würde, als nur ihren Monat zu ruinieren?

3. Kapitel

Sie wagt, und er gewinnt.

A Comedy Written by a Young Lady (1696)

Georgia saß noch immer vor dem Schreibtisch von Dr. Carter, als sie in ihrem Rücken ein resolutes Räuspern vernahm. „Ich weiß, dass ich ungelegen komme, Dr. Carter, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, mich zu entlassen, bevor ich eine Revolte auf dem Flur anzettle. Seit mehr als drei Tagen wurde die Bettwäsche nicht mehr gewechselt. Das ist doch ungeheuerlich für all die kranken Männer. Man sollte Sie und Ihre Lakaien dafür hängen, dass Sie die Leute hier so behandeln. Hängen sollte man Sie!“

Erschrocken drehte sich Georgia um. Instinktiv drückte sie die kleine Tasche, die sie in der Hand hielt, gegen die Hüfte. Ihr Blick wanderte schnell von der breiten Schulter des Mannes, der vor ihr stand, zu seinen angespannten maskulinen Gesichtszügen. Dieser Mann klang alles andere als verwirrt.

Der Brite stand nur einen Schritt von ihr entfernt und blickte zu ihr herunter. Er hatte sein schwarzes Haar mit Tonic aus der Stirn gekämmt, wodurch er wie der elegante Herr vom Broadway aussah, doch durch die große Schürfwunde und die gelbliche Beule auf seiner rechten Wange wirkte er doch eher wie einer ihrer Jungs. Getrocknete Blutspritzer vom Unfalltag bedeckten noch immer seine tadellos geknotete Krawatte und Teile seines grauen Mantels.

Seit dem Unfall hatte sich niemand seiner Kleidung angenommen. Er selbst schien frisch gebadet zu sein, aber sie ahnte, dass nicht das Krankenhaus, sondern er selbst sich darum gekümmert hatte.

Er wandte sich Georgia zu. Nachdenklich betrachtete er ihr Gesicht, dann stockte ihm plötzlich der Atem. „Ich kenne Sie“, rief er erstaunt.

Sie lächelte verlegen. „Ja, das stimmt.“

Er nickte erleichtert. „Ja.“ Seine frisch rasierten Wangen erröteten. „Verzeihen Sie. Ich wusste nicht, ob überhaupt noch jemand kommen würde.“ Er trat auf Georgia zu und zog ihre Hand so unvermittelt zu sich heran, dass ihr beinahe das Täschchen, das sie immer noch fest in der anderen Hand hielt, heruntergefallen wäre.

Ihr Herz pochte bis zum Hals, als er sich zu ihr beugte, um ihre bloße Hand zu küssen.

Nur Raymond hatte ihre Hand jemals so innig geküsst. Es zeigte ihr, dass dieser Gentleman den Menschen hinter der zerschlissenen Kleidung erblickte. Georgia schluckte schwer. Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, doch der Mann hielt sie fest. „Könnten Sie bitte meine Hand loslassen? Oder möchten Sie sie behalten?“

Er blickte zu ihr hoch und verstärkte den Griff. Seine große Hand hielt die ihre fest umschlossen.

Es war offensichtlich, dass er sie nicht freigeben würde.

Mit einer geschickten Drehung entwand sie ihm die Hand. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. „Ich weiß, dass das alles gerade etwas verwirrend für Sie ist, werter Herr, aber wenn ich Sie darum bitte, mir etwas zurückzugeben, dann geben Sie es bitte auch zurück. Abgemacht?“

Er trat näher an sie heran und musterte sie nachdenklich. „Verzeihen Sie, aber ich erinnere mich nicht genau in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Sind Sie meine Frau?“

Georgia erstarrte. Dieser arme Mann war ja vollkommen mitgenommen. Er erinnerte sich nicht an sie, und wenn sie sich sein seltsames Verhalten damals auf dem Broadway vor Augen führte, dann musste er verheiratet sein, dieser verdammte Mistkerl.

Dr. Carter räusperte sich. „Ich empfehle Ihnen, meinem Rat zu folgen und ihn nicht noch mehr zu verwirren, Mrs Crusoe. Das wäre das Beste.“

Mrs Crusoe? Georgia drehte sich zum Arzt um. „Nein, das kommt gar nicht infrage.“

„Mrs Crusoe.“ Dr. Carter senkte warnend die Stimme. „Sie sind für sein Wohlergehen verantwortlich, solange er bei Ihnen ist. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

Georgia konnte es nicht glauben. War es etwa verantwortungsvoll, den Mann in seinen wahnwitzigen Ideen zu bekräftigen? Wohl eher das Gegenteil! Sie drehte sich wieder zu ihm um, um die Angelegenheit zu klären, bevor er sich in ihrer Schlafkammer einrichtete. „Lassen Sie sich von dem Arzt nicht beirren, mein Herr. Wir beide sind mit Sicherheit nicht verheiratet. Um ehrlich zu sein, würde ich uns nicht einmal als Freunde bezeichnen.“

„Sie würden uns nicht einmal als Freunde bezeichnen?“ Sein Mund wurde trocken, während er sie weiter anstarrte. „Ich erinnere mich da an etwas anderes.“

Autor

Delilah Marvelle
<p>Delilah Marvelle ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Bereits mit vier Jahren war Delilah ein Theaterfan, spielte mit zehn Jahren ausgezeichnet Klavier und nahm fünf Jahre lang Ballettunterricht. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann in Oregon. Da es dort sehr viel regnet, fühlt sie sich gezwungen, drinnen zu bleiben und...
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