Bianca Exklusiv Band 301

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LIEBE, UNENDLICH WIE DAS MEER von JESSICA BIRD
Seitdem sein Freund bei einer Regatta ums Leben kam, fragt Alex sich, ob er ihn hätte retten können, wenn er nicht in dem Moment an dessen Frau Cassandra gedacht hätte. Schon lange kämpft er gegen seine Gefühle für sie an. Doch dann besucht Cassandra ihn überraschend, und Alex droht schwach zu werden …

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Cleo! Überrascht steht Jack Devlin auf der Beerdigung seines Vaters vor der Frau, die früher wie eine Schwester für ihn war. Zärtliche Gefühle erwachen - bis sie ihm eröffnet, dass sein Vater ihr sein gesamtes Vermögen ihr hinterlassen. Hat sie ihn bewusst bei seinem Vater ausgebootet?

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  • Erscheinungstag 14.09.2018
  • Bandnummer 0301
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733933
  • Seitenanzahl 236
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jessica Bird, Anne Oliver, LindaLael Miller

BIANCA EXKLUSIV BAND 301

1. KAPITEL

Alex Moorehouse dachte nicht im Traum daran, auf das Klopfen an seiner Zimmertür zu reagieren – und das nicht nur, weil er im Bett lag und sein Buch gerade besonders spannend war. Auch sonst konnte er auf Besucher gut verzichten. Im Moment kam die Störung sogar besonders ungelegen – gerade hatte er für sein eingegipstes Bein eine Position gefunden, in der der ständige Schmerz erträglicher wurde. Das kam selten genug vor, also würde er sich bestimmt nicht freiwillig bewegen.

Sein Unfall war jetzt über drei Monate her, aber noch immer wollte der mehrfach gebrochene Unterschenkel nicht heilen. In dieser Zeit hatte er vier Operationen über sich ergehen lassen, und noch immer waren die Ärzte nicht sicher, ob sie sein Bein überhaupt retten konnten. Alex hasste es, so unbeweglich und abhängig zu sein.

Wieder klopfte es, und wieder rührte er sich nicht. Wenn er nicht antwortete, dachten seine beiden Schwestern, er schliefe, und kamen später wieder. Sie schauten sowieso viel zu oft nach ihm und lagen ihm dabei ständig mit irgendwas in den Ohren: Er sollte mehr essen, sich nach unten zum Rest der Familie gesellen oder sich einen Therapeuten für die Trauerarbeit suchen.

Sosehr er die beiden liebte – manchmal wünschte er sich, sie würden ihn einfach in Ruhe lassen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Joy, die jüngere der Schwestern, steckte den Kopf herein. Ihr erster Blick ging wie immer zur Whiskyflasche neben dem Bett. Er überlegte kurz, ob er ein Kissen darüberwerfen sollte, ließ es dann aber. Wozu die Mühe?

Abwartend und ein wenig trotzig schaute er Joy an. Sie schien ziemlich nervös zu sein, denn sie wich seinem Blick aus.

„Da ist jemand, der dich sehen will“, erklärte sie zögernd.

„Schick ihn weg“, verlangte er. Seine Stimme klang heiser. Der viele Whisky schlug ihm langsam auf die Stimmbänder. Seiner Leber ging es wahrscheinlich auch nicht sehr gut.

„Aber …“

„Ich habe niemanden eingeladen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Niemand weiß, dass ich hier bin. Also schick ihn weg.“

Vor einigen Wochen hatte ein Brand sie aus ihrem bisherigen Zuhause White Caps vertrieben. Das große Herrenhaus am Saranac Lake war die ehemalige Sommerresidenz der Familie Moorehouse. Alex’ Eltern hatten den Landsitz jedoch zu einer Hotelpension umgebaut, um die Unterhaltungskosten bestreiten zu können, und wohnten mit ihren Kindern im Dienstbotenflügel. Jetzt führte Frankie das Geschäft zusammen mit ihrem Mann Nate. Gerade als es nach langen schweren Jahren endlich wieder aufwärtszugehen schien, hatte ein defekter Herd einen Küchenbrand verursacht, der auch den Dienstbotenflügel in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Nun wohnten sie auf Einladung von Joys Verlobtem Gray alle in seinem Sommersitz in Saranac Lake, bis das White Caps renoviert war.

„Alex …“, versuchte es Joy noch einmal.

Er hob eine Augenbraue. „Gibt es sonst noch was?“

Joy seufzte. „Es ist kein Er, sondern eine Sie“, erklärte sie. „Cassandra.“

Gequält schloss Alex die Augen. Sofort sah er die Frau vor sich, die ihm seit sechs Jahren nicht aus dem Kopf ging. Ihre kupferroten Haare und ihre großen grünen Augen. Ihr strahlendes Lächeln, ihre unvergleichliche Eleganz. Ihren Ehering.

Wie immer überwältigten ihn an dieser Stelle Schuldgefühle. Er sah sich wieder auf der Jacht, die wie ein Spielzeugschiffchen vom Hurrikan hin und her geworfen wurde. Hielt wieder die Hand seines Segelpartners und Freundes umklammert, den eine Welle über Bord gespült hatte. Durchlebte den entsetzlichen Moment, in der er ihn losließ und Reese von der See verschluckt wurde. Er hatte die Wellen abgesucht, seinen Namen gerufen, bis er heiser gewesen war. Vergeblich.

In jener schrecklichen Nacht blieb das Schicksal unerbittlich. Alex war schließlich selbst von einem herunterkrachenden Trümmerstück eingeklemmt und erst am nächsten Morgen von der Küstenwache gerettet worden. Reese Cutler jedoch war ertrunken und Cassandra Cutler zur Witwe geworden. Eine Schuld, die Alex bis zum Ende seines Lebens verfolgen würde.

„Du hast Cassandra zu deiner Hochzeit eingeladen?“, stieß Alex hervor.

Joy schluckte. „Ja.“

„Und sie wird hier wohnen?“

„Ja.“

„Dann ziehe ich aus.“ Er machte Anstalten, sich aufzusetzen, ließ sich aber zurücksinken, als der Schmerz in seinem Bein sich wieder meldete.

„Das geht doch nicht“, widersprach Joy.

„Und wie das geht.“ Wenn es sein musste, würde er auf dem Bauch zum White Caps robben. Das Haus selbst war zwar unbewohnbar, aber auf dem Gelände gab es noch eine große Scheune, an die sein Vater einen Werkstattschuppen angebaut hatte – mit einem Kanonenöfchen und einem kleinen Waschraum.

„Du hast aber versprochen, dass du hierbleibst, bis du beim Arzt warst …“

„Der Termin ist am Montag. Auf die drei Tage kommt’s ja wohl nicht an.“

Joy starrte zu Boden. „Ich hatte so gehofft, dass wir bei meiner Hochzeit alle zusammen sind“, sagte sie leise. „Du, Frankie und ich. Es ist so lange her, dass wir eine Familie waren.“

„Hör auf damit“, forderte er heiser.

Verdammt, damit blieb ihm dieser Fluchtweg wohl versperrt. So selbstsüchtig und stur er sein konnte, er würde seiner kleinen Schwester nicht den glücklichsten Tag ihres Lebens verderben. Schlimm genug, dass sie ihre Hochzeit ohne die viel zu früh verstorbenen Eltern feiern musste.

„Bitte bleib hier, Alex.“

„Nur, wenn ich diese Frau nicht sehen muss.“

„Aber sie möchte doch nur mit dir reden.“

„Dann sag ihr, dass ich sie später anrufe.“ Darauf konnte sie dann lange warten.

„Sag’s ihr doch selbst“, murmelte Joy. Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Sie trauert genau wie du. Sie braucht Unterstützung.“

„Aber bestimmt nicht von mir.“

Sicher legte Cassandra keinen Wert auf den Trost eines Mannes, der sie schon jahrelang begehrte. Der sich jede Nacht vorstellte, wie es wäre, ihre seidige Haut zu streicheln und ihre Lippen zu berühren. Was nützten ihr Beileidsbekundungen von dem Mann, der sie erst zur Witwe gemacht hatte?

Angewidert schloss Alex die Augen, als Übelkeit in ihm aufstieg.

„Alex …“, sagte Joy bittend.

„Ich kann ihr nichts geben“, stieß er hervor. „Weder Trost noch Unterstützung. Also sag ihr, sie soll mich in Ruhe lassen.“

„Wie kannst du nur so grausam sein?“

„So bin ich nun mal.“

Als Joy endlich gegangen war, setzte Alex sich vorsichtig auf. Dann hob er das Gipsbein mit beiden Händen aus dem Bett, griff nach seinen Krücken, stellte sich mühsam hin und humpelte zum Spiegel.

Er sah furchterregend aus. Seine Augen waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen. Das Gesicht war leichenblass und eingefallen, was durch die Bartstoppeln noch betont wurde.

Ich bin ein Wrack, dachte er.

In ein paar Tagen würde er erfahren, ob sein Bein nun endlich heilte oder unterhalb des Knies amputiert werden musste. Schon bei einer der ersten Operationen war ihm anstelle des mehrfach zertrümmerten Schienbeins ein Titanstab eingesetzt worden – der jedoch wegen einer Infektion wieder entfernt werden und durch einen anderen ersetzt werden musste. Dies war der zweite und letzte Versuch. Wenn sich bei dem Termin am Montag herausstellte, dass unter dem Gips wieder eine Infektion schwelte oder der Stab nicht angewachsen war, würde er das Bein unterhalb des Knies verlieren.

Nicht, dass es einen Unterschied machte. Ob mit einer Beinprothese oder einem künstlich aufgebauten Knochen – wie er je wieder in seinem Beruf arbeiten sollte, stand völlig in den Sternen. Als professioneller Regattasegler musste man körperlich und geistig fit sein. Auf ihn traf im Moment beides nicht zu.

Wieder klopfte es an der Tür.

„Ich hab doch gesagt, dass ich sie nicht sehen will“, rief er.

„Ja, das habe ich gehört“, erwiderte Cassandra leise von draußen.

Alex schloss die Augen. Das fehlte ihm gerade noch!

Entmutigt legte Cassandra Cutler die Stirn an den Türrahmen. Alex klang genau wie früher: ungeduldig, unwirsch und genervt von ihr. Der Mann hatte sie noch nie gemocht, was sie nicht weiter gestört hätte – wenn er nicht gerade Reeses bester Freund und Vertrauter gewesen wäre.

Reese hatte ihr oft versichert, dass Alex auch auf andere unnahbar wirkte, doch sie wusste genau, dass es an ihr lag. Meist ging er ihr aus dem Weg – und wenn es doch mal zu einer Begegnung kam, starrte er sie finster an. Offenbar konnte er sie einfach nicht leiden, auch wenn sie ihm nie etwas getan hatte.

Deshalb überraschte es sie auch nicht, dass er sie jetzt nicht sehen wollte – aber es verletzte sie. Obwohl sie es nun wirklich nicht nötig hatte, um Alex’ Zuneigung oder Respekt zu betteln, hoffte sie immer noch, dass sich ihr Verhältnis bessern würde. Mit seiner unglaublichen Disziplin und seinen hohen Ansprüchen, seinem durchtrainierten Körper und seinem wachen Intellekt war Alex ein Mann, der fast allen Menschen Respekt und Bewunderung einflößte. Seine Crew liebte und fürchtete ihn, und selbst Reese war ins Schwärmen geraten, wann immer er von ihm sprach.

Wenn man von Alex akzeptiert oder gemocht wurde, hatte man eine Art Persönlichkeitstest bestanden – so empfand es jedenfalls Cassandra. Deshalb machte ihr seine offene Ablehnung mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte.

Sie fragte sich gerade, ob sie es nicht einfach aufgeben und wieder nach unten gehen sollte, als die Tür von Alex’ Zimmer plötzlich von innen aufgerissen wurde. Erschrocken prallte sie zurück. Dann erkannte sie Alex und schlug entsetzt die Hand auf den Mund.

„Oh mein Gott.“

In Seglerkreisen hatte man Alex „den Krieger“ genannt. Mit seiner beeindruckenden Größe, seiner Muskelmasse, den Raubtieraugen und seiner starken Ausstrahlung wirkte er auf manche geradezu einschüchternd.

Doch jetzt stand ein Halbtoter vor ihr. Er trug ein T-Shirt und Schlafanzughosen, war unrasiert, abgemagert und leichenblass. Sein dichtes dunkles Haar, sonst militärisch kurz geschnitten und von sonnengebleichten Strähnen durchzogen, hing ihm unordentlich auf die Schultern.

Am schlimmsten jedoch fand sie seine Augen. Sie waren dunkelblau wie das Meer an einem sonnigen Tag und hatten immer vor Tatendurst und Abenteuerlust gestrahlt. Doch jetzt war der Glanz erloschen. Sogar die Farbe wirkte stumpf und grau.

„Alex …“, flüsterte sie erschüttert. „Oh Gott, Alex …“

„Ich sehe umwerfend aus, was?“

Er humpelte zum Bett zurück, als könne er sich nicht länger auf den Beinen halten, und bewegte sich dabei mühsam wie ein alter Mann.

„Kann ich dir helfen?“, fragte sie.

Statt einer Antwort stellte er die Krücken ab und ließ sich langsam aufs Bett sinken, hob dann sein Gipsbein mit den Händen hinauf. Als er sich schließlich an die aufgetürmten Kissen lehnte, atmete er schwer, als hätte er große Schmerzen.

So hatte sie sich das Wiedersehen wirklich nicht vorgestellt.

„Ich habe mir … Sorgen gemacht“, sagte sie zögernd.

Schweigend starrte er an die Decke.

Cassandra trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Es gibt einen Grund, warum ich dich sprechen wollte“, erklärte sie.

Keine Antwort.

„Hat Reese dir gegenüber mal sein Testament erwähnt?“

„Nein.“

„Er hat dir …“

„Ich will kein Geld.“

„… die Boote hinterlassen.“

Die Lippen fest aufeinander gepresst, hob Alex kurz den Kopf. „Was?“, stieß er hervor.

„Er hat dir alle zwölf Boote vermacht. Die zwei Segeljachten, den Schoner, den historischen Viermaster. Die anderen … na ja, alle eben.“

Alex hob die Hand, um sich über die Stirn zu fahren. Cassandra bemerkte, dass er trotz des Gewichtsverlusts noch muskulös wirkte. Sein Bizeps spannte den Ärmel des T-Shirts, und auf seinem kräftigen Unterarm zeichneten sich die Venen ab. Als er sich hingelegt hatte, war das T-Shirt hochgerutscht, sodass sie seine beeindruckenden Bauchmuskeln sah.

Hastig wandte sie den Blick ab. „Ich dachte nur, du solltest es wissen“, fuhr sie fort. „Wegen der Liegegebühren brauchst du dir allerdings so bald keine Sorgen zu machen. Bei Reeses umfangreichem Vermögen wird es eine Weile dauern, bis der Nachlass geregelt ist.“

Wieder antwortete ihr nur Schweigen.

Seine Schwestern hatten sie schon vorgewarnt, dass Alex niemanden an sich heranließ. Allerdings war das nichts Neues. Selbst Reese hatte sich beklagt, dass Alex nie seine Gedanken oder Gefühle mit ihm teilte.

„Tja, dann gehe ich jetzt wieder“, sagte sie schließlich.

Sie hatte die Hand schon an der Türklinke, als Alex sich räusperte. „Er hat dich geliebt. Aber das weißt du, oder?“

Als sie sich zu ihm umsah, traten ihr Tränen in die Augen. Es tat weh, diesen großen Mann so gebrochen zu sehen.

„Ja“, flüsterte sie.

Endlich schaute Alex sie richtig an, und es erschreckte sie, wie tief verzweifelt er wirkte. Ohne nachzudenken, eilte sie zu ihm – was keine gute Idee war, denn er wich vor ihr bis an die Bettkante zurück.

Erschüttert von seiner offenen Abneigung blieb sie stehen. „Ich begreife einfach nicht, warum du mich so hasst“, sagte sie mit zitternder Stimme.

„Das war nie das Problem“, gab er zurück. „Und jetzt geh bitte. Es ist besser für uns beide.“

„Wieso ist das besser? Du warst sein bester Freund, ich seine Frau.“

„Keine Sorge, das habe ich nicht vergessen.“

Kopfschüttelnd gab sie auf. „Die Rechtsanwälte werden sich wegen der Erbschaft mit dir in Verbindung setzen.“

Mit schnellen Schritten ging sie zur Tür und dann weiter in das Gästezimmer, das Gray ihr zu Verfügung gestellt hatte. Dort ließ sie sich auf die Bettkante sinken, strich sich den Rock glatt, stützte die Ellenbogen auf die Knie – und brach in Tränen aus.

Am folgenden Nachmittag versammelten sich Familienmitglieder und Gäste im großen Salon des Hauses, um der Trauung von Joy Moorehouse und Gray Bennett beizuwohnen. Cassandra schaute sich nach bekannten Gesichtern um, als sie durch die verzierte Flügeltür trat. Mit Gray war sie schon seit langen Jahren befreundet, deshalb kannte sie auch seinen Vater, der in einem bequemen Sessel saß, weil er erst vor einem halben Jahr einen Schlaganfall überstanden hatte. Über Gray hatte sie Joy und ihre Familie kennengelernt. Joy war eine äußerst talentierte Modedesignerin, und Cassandra hatte sie in die New Yorker Gesellschaft eingeführt und ihr einige Aufträge vermittelt. Nate Walker, der Mann von Joys Schwester Frankie, stand neben seinem Freund und Souschef Spike, mit dem er die Küche des White Caps führte. Zwar sah Spike mit seinen vielen Tätowierungen und Piercings nicht gerade aus wie ein typischer Koch, zauberte aber als Spezialist für Gebäck und Desserts die herrlichsten Kreationen und war ein gutmütiger, freundlicher Kerl.

Hinter ihm hielt Libby, die ältere Haushälterin der Bennetts, ihren Golden Retriever Ernest an der Leine, der ein kleines Blumenbouquet am Halsband trug.

Der Pfarrer hatte vor dem offenen Kamin Aufstellung genommen, flankiert von Frankie und Grays altem Freund Sean O’Banyon als Trauzeugen. Gray stand vor ihnen und wartete auf seine Braut, und Cassandra winkte ihm lächelnd zu. Sie freute sich ehrlich für ihn, dass er mit Joy sein Glück gefunden hatte.

Neben Spike, der dem Hund ein Ohr kraulte, reihte sie sich in die Gästeschar ein. Der Mann mit den eigenartigen gelblichen Augen lächelte ihr zu.

„Wollen Sie vielleicht Ernests anderes Ohr übernehmen?“, fragte er leise, als spüre er ihre Nervosität.

Dankbar legte sie eine Hand auf das weiche Hundefell, sah sich dabei aber unruhig um.

„Keine Sorge“, flüsterte Libby. „Joy ist draußen und wird jeden Moment kommen.“

Tatsächlich öffnete sich wie aufs Stichwort die Flügeltür, und die Braut trat ein. Joy trug ein schlichtes weißes Satinkleid und einen kleinen Brautstrauß aus cremefarbenen Rosen. Strahlend schritt sie auf Gray zu.

Doch nicht nach ihr hatte Cassandra Ausschau gehalten. Sicher, Alex war nicht in Bestform, aber es ging ihm ja wohl nicht so schlecht, dass er Joys Hochzeit verpasste?

Gerade, als der Pfarrer sein Buch aufschlug, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Langsam humpelte Alex auf Krücken in den Raum, lehnte sich ganz hinten in eine Ecke und streckte das Gipsbein aus. Er hatte sich rasiert und das Haar zurückgekämmt, wodurch seine markanten Gesichtszüge noch deutlicher hervortraten.

Zur schwarzen Schlafanzughose, die an einem Bein aufgeschnitten war, trug er ein weißes, frisch gebügeltes Oberhemd, das ordentlich im Hosenbund steckte. Viel zu spät merkte Cassandra, wie lange sie ihn schon anstarrte, und war froh, dass er aufmerksam der Zeremonie folgte. Hastig richtete auch sie den Blick wieder nach vorn.

Erleichtert atmete Alex auf, als Cassandra sich endlich wieder umdrehte, und gab sich Mühe, auf das Geschehen vorne zu achten. Doch dann stellte der Pfarrer die berühmte Frage – „wirst du sie lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, sie trösten und bewahren …“ –, und automatisch stahl sich sein Blick doch wieder zu Cassandra.

Sie trug ein dunkelrotes, maßgeschneidertes Kostüm, das ihre Figur an genau den richtigen Stellen betonte. Doch wie immer war es ihre wunderbare, natürliche Art, die ihn faszinierte. Sie stand auf ihren hohen Absätzen etwas schief, weil sie mit einer Hand den Hund streichelte, der sich eng an sie drängte. Dabei schien es sie nicht zu stören, dass er seine blonden Hundehaare auf ihrem Rock verteilte. Ganz im Gegenteil, sie lächelte auf ihn hinunter und drückte ihn noch enger an sich.

Wirst du sie lieben …

Ja, das werde ich, dachte er. Für den Rest meines verpfuschten Lebens. Und er hätte sie auch gerne getröstet, aber das ging nun mal nicht, wenn er seinen Freund nicht noch im Tod hintergehen wollte. Cassandra war und blieb für ihn Reeses Frau.

Nachdem das Brautpaar sich geküsst hatte, wandte es sich der kleinen Gästeschar zu. Joys Augen leuchteten auf, als sie Alex sah, und er war froh, dass er sich doch noch überwunden hatte herunterzukommen.

Er lächelte seiner Schwester zu und wandte sich dann ab, um wieder in sein Zimmer hinaufzugehen. Auf keinen Fall wollte er mit irgendjemandem reden müssen.

In der großen Halle starrte er nachdenklich auf die geschwungene Freitreppe. Sein Zimmer lag im dritten Stock. Er würde mindestens zehn Minuten brauchen, die vielen Stufen zu überwinden, und dabei gewaltig ins Schwitzen kommen.

„Hey, kann ich dir helfen?“, fragte Spike beiläufig hinter ihm. Natürlich hatten Nate und er es sich nicht nehmen lassen, das Hochzeitsmenü selbst zuzubereiten.

„Danke, es geht schon.“ Zielstrebig humpelte Alex in Richtung Küche, um die Hintertreppe zu nehmen. Die hatte zwar genau so viele Stufen, aber wenigstens würde niemand sehen, wie er sich abmühte.

Als er die Küchentür aufstieß, stieg ihm ein fantastischer Duft in die Nase. Überrascht stellte er fest, dass sein Magen knurrte und ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Trotzdem ging er weiter, bis er Joy seinen Namen rufen hörte.

Lächelnd drehte er sich zu ihr um. „Na, wie fühlt man sich als verheiratete Frau?“

„Danke, dass du dabei warst“, rief sie, schlang die Arme um ihn und drückte ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam. Weil er die Umarmung wegen der Krücken nicht erwidern konnte, legte er den Kopf auf ihre Schulter. Es erschütterte ihn ein wenig, wie viel ihr seine Anwesenheit bedeutete.

„Danke“, wiederholte sie leise.

„Ich hätte doch nie die Hochzeit meiner kleinen Schwester verpasst“, murmelte er.

Draußen hörte man Gelächter, dann öffnete sich die Tür, und Grays Trauzeuge platzte herein – einen Arm um Cassandra gelegt.

„Tja, dann werden wir die beiden Spitzenköche mal für eine Weile ablösen und das Büfett aufbauen, Schätzchen“, sagte er lachend, als er mit Cassandra herankam.

Alex kniff die Augen zusammen und starrte den Kerl feindselig an. Am liebsten hätte er sich mit ihm geprügelt, aber das war natürlich lächerlich. Schließlich ging es ihn überhaupt nichts an, von wem Cassandra sich anfassen und „Schätzchen“ nennen ließ. Und außerdem schien der Mann mit Prügeleien Erfahrung zu haben, denn obwohl er einen teuren Maßanzug trug, nahm er reflexartig eine unauffällige Kampfpose ein, als er Alex’ finsteren Blick auffing.

Früher hatte es Alex nie etwas ausgemacht, auf einen würdigen Gegner zu treffen. Jetzt wurde er sich wieder einmal schmerzlich bewusst, dass er nicht mehr der Alte war. Ganz abgesehen davon, dass er am Hochzeitstag seiner Schwester schlecht eine Schlägerei anfangen konnte.

Joy schien von der angespannten Lage gar nichts mitzubekommen. „Alex, darf ich dir Sean O’Banyon vorstellen? Er ist ein guter Freund von Gray.“

Erst jetzt ließ der Mann Cassandra endlich los und streckte Alex die Hand hin, die gerade noch auf ihrer Hüfte geruht hatte.

„Ich habe leider keine Hand frei“, bemerkte Alex mit eisigem Lächeln.

O’Banyon nickte kurz und ließ den Arm sinken. Verwirrt schaute Cassandra erst ihn, dann Alex an.

Joy dagegen schien nun doch zu merken, was los war, denn sie trat entschlossen zwischen die beiden. „Soll ich dir etwas zu essen raufbringen?“, fragte sie an ihn gewandt.

„Nein. Schließlich ist das deine Feier.“ Und bevor er zum Nachdenken kam, fuhr er fort: „Cassandra wird mir was bringen. Das machst du doch gern, nicht wahr? Schätzchen.

Cassandra runzelte die Stirn und sah ihn verständnislos an, doch sie nickte. „Sicher.“

Ohne ein weiteres Wort humpelte Alex zur Treppe. Bestimmt würden die anderen über sein seltsames Verhalten reden, kaum, dass er außer Hörweite war. Das störte ihn nicht. Aber wie hatte er so dumm sein können, ausgerechnet Cassandra mit dem Essen in sein Zimmer zu bitten?

Weil dieser irische Kerl im Maßanzug wenigstens nicht seine schmierigen Hände auf ihr haben kann, solange sie bei mir ist, gab er sich selbst die Antwort.

Alex fluchte leise vor sich hin, während er die ersten Stufen in Angriff nahm. Idiotisch. Einfach idiotisch. Er hätte wohl besser doch die Freitreppe nehmen sollen, als noch Zeit dazu gewesen war.

2. KAPITEL

Nachdem Cassandra zusammen mit Sean die vorbereiteten Speisen auf dem Büfett angerichtet hatte, wartete sie, bis alle beim Essen saßen, und nahm sich dann einen der edlen Porzellanteller.

Nachdenklich betrachtete sie das reichhaltige Angebot und versuchte zu erraten, was Alex gern aß. Mochte er sein Roastbeef lieber medium oder durchgebraten? Lieber Reis oder gratiniertes Gemüse? Viel Soße oder gar keine?

Von den frisch gebackenen, noch warmen Brötchen legte sie ihm gleich zwei auf den Teller und fügte ein extra großes Stück Butter hinzu.

„Bin gleich wieder da“, sagte sie zu niemand Bestimmtem.

Trotzdem schienen die anderen sie gehört zu haben, denn plötzlich verstummten die Gespräche, und alle sahen sie mitleidig an. Als ob sie in die Höhle des Löwen ginge.

Wieso hat er gerade mich ausgesucht?, fragte sie sich, als sie die Treppe hinaufstieg. Ob es ihm Spaß macht, mich zu quälen?

Vor seiner Tür hielt sie inne und versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er ein ganz normaler Mann war. Aber das stimmt nicht, widersprach ihre innere Stimme. Alex ist anders als andere Männer. Wild und ungezähmt, nicht zivilisiert und angepasst. Kein Wunder, dass er das Meer liebt. Die See ist genauso unberechenbar und frei wie er, und nur dort kann er sein ungezügeltes Wesen ausleben.

Unwillkürlich musste sie an Reese denken. Ihr Mann war passionierter Segler gewesen, doch ebenso gern hatte er sein erfolgreiches Unternehmen geführt und sein Leben an Land genossen. Wenn er eine Woche oder länger gesegelt war, hatte er sich immer gefreut, wieder zu Hause zu sein.

Alex dagegen ging nur an Land, wenn es unbedingt sein musste – alles in allem vier oder fünf Wochen im Jahr. Den Rest der Zeit trainierte er Mannschaften, überführte Jachten von einem Hafen zum anderen oder nahm an Regatten teil.

Die letzten drei Monate mussten die Hölle für ihn gewesen sein.

„Soll ich im Flur essen?“, rief Alex von drinnen.

Erschrocken zuckte sie zusammen und öffnete die Tür. „Woher wusstest du …“

„Es duftet.“

Suchend sah sie sich um. „Wo soll ich das hinstellen?“

„Hier.“ Er schob Tablettenröhrchen und ein leeres Glas auf seinem Nachttisch zur Seite.

„Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich von allem etwas gebracht.“ Sie stellte den Teller ab und griff nach dem Glas. „Soll ich dir Wasser holen?“

„Ja, danke.“

Erleichtert ging sie ins angrenzende Badezimmer, ließ das Wasser laufen, bis es kalt war, und füllte das Glas. Als sie zurückkam, hatte er das Essen noch nicht angerührt.

„Du solltest anfangen, bevor es kalt wird“, sagte sie verunsichert, als sie seinen durchdringenden Blick auffing.

„Ja, wahrscheinlich.“ Noch immer sah er sie unverwandt an. „Wie gut kennst du diesen Kerl?“

„Wen?“

„O’Banyon. So hieß er doch, oder?“

Darauf war sie nun gar nicht gefasst. „Ganz gut, würde ich sagen“, stotterte sie überrascht. „Er war Reeses Investmentbanker, aber er ist auch eng mit Gray befreundet. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Willst du nichts essen?“

„Du klingst schon wie meine Schwestern“, bemerkte er mürrisch, aber er griff tatsächlich nach dem Besteck, das Cassandra in eine Damastserviette eingerollt hatte. Auf einen Arm gestützt, nahm er den Teller in Augenschein. Sehr begeistert wirkte er allerdings nicht.

Es fiel ihm in dieser Lage schwer, das Fleisch zu schneiden, und die Erbsen kullerten ihm immer wieder von der Gabel.

„Komm, ich helf dir“, bot sie an und nahm ihm das Besteck ab.

„Ich brauche keine …“

Ohne sich um seine Einwände zu kümmern, setzte sie sich auf die Bettkante und nahm den Teller auf den Schoß. Stöhnend rückte er zur Seite. Sie bemühte sich, seine offensichtliche Abneigung zu ignorieren, und schnitt das Fleisch in mundgerechte Happen. Dann spießte sie den ersten auf die Gabel und wandte sich ihm zu.

Mit fest zusammengepressten Lippen starrte er sie finster an.

„Mund auf“, befahl sie.

„Ich bin doch kein Kind.“

„Dann beweis es, indem du meine Hilfe annimmst und was isst.“

Obwohl er vor Wut zitterte, gehorchte er, und sie begann, ihn zu füttern. Gabel für Gabel verschwanden Nates köstliche Kreationen in seinem Mund. Cassandra beobachtete fasziniert, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten, als er kaute. Ihr Blick wanderte zu seinem Adamsapfel, der sich beim Schlucken hob und senkte, und von dort zu seinen breiten Schultern und den starken Muskelsträngen, die sich oberhalb seiner Schlüsselbeine abzeichneten. Er hatte den Hemdkragen geöffnet, und sie sah feines dunkles Haar darunter.

„Cassandra“, sagte er ungeduldig.

Erschrocken sah sie ihn an. Sein Blick war eisig.

„Ich habe gesagt, es reicht. Ich komme schon alleine klar.“

Er nahm ihr die Gabel aus der Hand und griff nach dem Teller.

Cass sprang auf. „Ich hole das Geschirr nachher ab.“

„Nicht nötig.“

„Es macht mir nichts …“

„Außerdem hast du heute Abend bestimmt was anderes zu tun, oder?“

„Wie bitte?“

„Hat es O’Banyon gern, wenn du ihn verwöhnst? Schneidest du ihm auch das Fleisch klein und fütterst ihn dann? Mich macht so was überhaupt nicht an, aber da ist wohl jeder Mann anders, nicht wahr?“

Völlig fassungslos starrte Cassandra ihn an. Sein schneidender Tonfall machte seine Worte noch beleidigender. Sie öffnete den Mund, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Falls du mir jetzt sagen willst, dass ich ein Mistkerl bin – das weiß ich schon. Und auch sonst haben mir große, starke und sehr kreative Seeleute schon so einiges an den Kopf geworfen. Wenn du das toppen willst, musst du dir schon was ganz Originelles ausdenken, Süße. Ach nein, Verzeihung, es heißt ja Schätzchen, nicht wahr?“

Er fixierte sie mit solcher Verachtung, dass es ihr fast den Atem nahm.

Als sie schwieg, lachte er höhnisch. „Na, versuchst du es gar nicht erst? Kluges Mädchen. Glaub mir, ich hab schon alles gehört, was es an Schimpfwörtern so gibt.“

Sie spürte Tränen in sich aufsteigen und strich sich mit der Hand über die Stirn, um es zu verbergen.

„Ich verstehe einfach nicht, was dich an mir so abstößt“, flüsterte sie. „Was habe ich denn nur getan, dass du …“

Als sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte, unterbrach sie sich und drehte sich um. Besser, sie bot ihm nicht noch mehr Angriffsfläche. Auf keinen Fall durfte er merken, dass er sie zum Weinen brachte.

Sie hastete zur Tür und zuckte zusammen, als er einen Fluch ausstieß.

„Cassandra.“

Blind tastete sie nach der Klinke.

„Cassandra.“

Sie hörte das Bett knarren, dann fiel etwas auf den Boden. Erschrocken blickte sie sich um. Alex war aufgestanden und versuchte sie zu erreichen, hatte aber eine Krücke fallen lassen. Wenn er noch einen Schritt machte, würde er umkippen.

Mit einem Aufschrei stürzte sie zu ihm.

Alex ahnte, dass er jeden Moment hinfallen würde, aber das machte ihm nicht so viel aus wie Cassandras leise, traurige Worte. Als er das Gleichgewicht verlor, wollte sie ihn auffangen, doch er stieß sie zur Seite und streckte die Arme aus, um den Aufprall abzumildern.

Lieber holte er sich beim Sturz blaue Flecken, als in Cassandras Armen zu landen. Die Prellungen würden vergehen, doch die Erinnerung, wie sich ihr weicher Körper an seinem anfühlte, würde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen und quälen.

Er landete auf der rechten Schulter, sodass das Gipsbein geschont wurde. Allerdings hatte er sich das andere Knie verdreht. Fluchend rollte er sich auf den Rücken und sah, dass er Cassandra aufs Bett gestoßen hatte. Sie zupfte ihren Rock zurecht und stand auf.

Besser, er beeilte sich mit der Entschuldigung, denn sie sah nicht so aus, als würde sie noch länger in seiner Nähe bleiben wollen. Verständlich.

„Es tut mir leid“, sagte er rau.

Schweigend blickte sie auf ihn hinunter. Ihre Augen glänzten verdächtig. Hatte er sie zum Weinen gebracht?

„Es tut mir verdammt leid“, wiederholte er.

Sie hob die Schultern. „Ich würde dir ja aufhelfen, aber ich nehme an, das willst du nicht.“

„Cassandra, ich … Es tut mir leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe. Ich finde dich nicht abstoßend.“

Ihr Lachen klang unecht. Kein Wunder, bei einer so lahmen Entschuldigung. Aber was hätte er sonst sagen sollen? Ich will dich so sehr, dass es wehtut? Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und brauche dich mehr als alles andere im Leben? Unmöglich. Denn schließlich wusste er nur zu gut, dass er sie niemals haben konnte.

„Ich stoße dich also nicht ab“, wiederholte sie langsam. „Deshalb fällst du auch lieber hin, als dich von mir anfassen zu lassen, ja? Herrgott, du bist der einzige Mensch, der es je fertiggebracht hat, dass ich mich schmutzig fühle.“

Wieder fluchte er. „Das ist nicht …“

„Bitte.“ Sie hob abwehrend die Hand und trat einen Schritt zurück. „Bitte sag nichts mehr. Noch eine Entschuldigung ertrage ich nicht – die sind schlimmer als deine Beleidigungen.“

„Verdammt, komm her“, befahl er.

Ihre Augen blitzten auf. „Du kannst mich mal.“

Als sie über ihn hinwegstieg, umfasste er ihren Knöchel und hielt sie fest. „Bleib hier.“

„Fahr zur Hölle.“

„Cassandra, bitte.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich zu ihm hinunter. Dabei fiel ihr Haar nach vorn, und der Duft ihres Kräutershampoos stieg ihm in die Nase.

Sofort tauchte in ihm die Erinnerung an den einzigen Segeltörn auf, den sie zu dritt unternommen hatten. Es war Reeses Idee gewesen, dass Cassandra mitkam. Er hatte wohl gehofft, dass sich sein bester Freund und seine Frau dabei besser kennenlernten.

Nach zwei Tagen hatte Alex am ersten Hafen, den sie anliefen, vorzeitig das Boot verlassen. Es war die Hölle gewesen. Die ganze Zeit hatte er Cassandra beobachtet, um irgendwelche Fehler zu finden. Er wollte sich selbst beweisen, dass sie nicht so perfekt war, wie er glaubte, dass sie schlechte Angewohnheiten hatte, oberflächlich oder langweilig war. Stattdessen lernte er immer neue Seiten an ihr kennen, die ihn faszinierten. Ihren Sinn für schrägen Humor. Ihre mit Melancholie getränkte Bewunderung für das Meer, die er von sich selbst so gut kannte. Ihr wunderbares Lachen.

Zu allem Überfluss gab es auf dem Boot nur ein Bad. Jedes Mal, wenn er duschte, roch er ihr Shampoo, und nachts lag er wach und quälte sich mit der Vorstellung, dass nur eine dünne Kabinenwand ihn von ihr trennte.

Und dann hatte sie ihn nackt gesehen. Weil er dachte, dass sie mit Reese an Land war, spazierte er nach dem Duschen sorglos im Adamskostüm aus dem Bad und hörte hinter sich einen erschrockenen Atemzug.

Als er sich über die Schulter umsah, stand Cassandra in der Pantry. Sie war dabei, sich Limonade einzugießen, und verschüttete die Hälfte, während sie ihn anstarrte.

Hastig hatte er sich das Handtuch umgeworfen und war zurück ins Bad geflüchtet, wo er versuchte, sich zu fassen. Zum Glück hatte sie ihn nur von hinten gesehen und nicht bemerkt, wie sehr ihr eindringlicher Blick ihn erregte.

Eine Stunde später hatte er das Boot verlassen.

Jetzt, als ihn der Duft ihres Shampoos daran erinnerte, hätte er sie am liebsten neben sich auf den Boden gezogen und sein Gesicht in den kupferfarbenen Locken vergraben. Er wollte, dass sie sich auf ihn setzte, wollte ihren Rock hochschieben, wollte …

„Lass mich los“, sagte sie gepresst.

„Nein. Komm näher.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Bitte.“

Tatsächlich schien das Wort sie umzustimmen, denn sie ging langsam in die Hocke. Er hätte sie gern berührt, doch das wagte er nicht.

„Hör zu, ich habe zu viel Zeit auf See verbracht – mit Männern, die nicht immer die besten Manieren haben. Und vorher war ich auch schon nicht besonders umgänglich. Ich bin berüchtigt für meine Ausbrüche – aber in letzter Zeit ist es besonders schlimm. Ich hätte dich gar nicht erst bitten dürfen, mir das Essen zu bringen. Es tut mir wirklich leid.“

Sie blickte ihn nachdenklich an, und ihm fiel auf, wie viel Wärme ihre Augen ausstrahlten, obwohl sie von diesem hellen Grün waren, das ihn an die See erinnerte.

„Du kannst es wiedergutmachen“, sagte sie schließlich.

„Wie?“

„Sag mir, wie es deinem Bein geht. Heilt es?“

Obwohl er nichts mehr hasste, als über seine Verletzung zu reden, rang er sich zu einer Antwort durch.

„Nein, es heilt nicht. Sie haben den zertrümmerten Schienbeinknochen entfernt und einen Titanstab eingesetzt, aber das verdammte Ding ist nicht angewachsen. Also haben sie es vor sechs Wochen mit einer anderen Sorte probiert. Am Montag erfahre ich, wie’s jetzt weitergeht.“

„Was passiert, wenn er wieder nicht angewachsen ist?“

„Dann war’s das wohl mit meinem Bein.“

„Was?“ Sie schlug die Hand vor den Mund, und er sah, dass ihre Finger zitterten. „Oh Alex.“

„Mach dir deshalb keine Gedanken“, sagte er kopfschüttelnd. „Ganz gleich, wie’s ausgeht, ich komme schon zurecht.“

Das war die gerechte Strafe dafür, dass er einen Mann hatte sterben lassen. Ihren Mann.

Als er sich mit den Händen abstützte, um sich aufzurichten, fragte sie: „Darf ich dir jetzt helfen?“

„Nein. Aber du kannst mir die Krücke geben.“

Er war dankbar, dass sie sich abwandte, denn nichts war schlimmer, als vor anderen seine Hilflosigkeit zu demonstrieren. Als er endlich wieder auf dem Bett lag, schloss er erschöpft die Augen und hörte, wie ihre Schritte sich entfernten.

„Bitte, iss den Rest noch auf“, sagte sie leise. „Du musst genug essen, wenn dein Bein heilen soll.“

Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Ich hole den Teller nachher wieder ab und hoffe, dass er dann leer ist.“

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.

In seinem Bein pulste der Schmerz im Takt seines Herzschlags. Er wartete eine Weile, um zu sehen, ob das Pochen nachließ, doch stattdessen wurde es schlimmer. Da stand ihm wohl eine lange, qualvolle Nacht bevor.

Er tastete nach den Medikamenten auf seinem Nachttisch, bis er das Röhrchen mit den Schmerztabletten gefunden hatte. Nach Möglichkeit vermied er das Zeug, weil es ihn müde und benommen machte, aber nach dem Sturz blieb ihm wohl keine andere Wahl. Er schüttelte zwei Tabletten heraus und griff dann stöhnend nach der Whiskyflasche.

Als er gerade einen Schluck nehmen wollte, dachte er an Cassandra. Sein Blick fiel auf den Teller, den sie ihm gebracht hatte.

Verdammt, fühlte er sich jetzt etwa schon schuldig, weil er im Alkohol Vergessen suchte? Er brauchte seinen Schlaf, und ohne den Scotch quälten ihn die ganze Nacht Albträume.

Na ja, und mit dem Whisky nur die halbe Nacht. Wenn sich der Alkoholnebel gelichtet hatte, verfolgten ihn die Bilder vom Hurrikan trotzdem, und er wachte schwitzend und von Übelkeit geschüttelt auf. Aber immerhin hatte er ein paar Stunden Ruhe.

Wieder setzte er die Flasche an die Lippen – und wieder fiel sein Blick auf den Teller, den Cassandra ihm gebracht hatte.

„Na, ist oben alles in Ordnung?“, fragte Gray, als Cassandra ins Esszimmer kam. „Wir haben einen dumpfen Schlag gehört, als ob etwas auf den Boden gefallen wäre. Etwas Großes.“

„Nein, es ist alles okay.“

Cass bediente sich am Büfett und steuerte den leeren Platz neben Sean an. Er stand auf und rückte ihr den Stuhl zurecht.

„Hab ich dir schon erzählt, dass ich mit Mick Rhodes gesprochen habe?“, fragte er, als sie sich hingesetzt hatte. „Er ist völlig begeistert von deiner Arbeit an seinem Haus in Greenwich. Er hält dich für ein Architekturgenie – und ist besonders beeindruckt davon, wie du die Handwerker im Griff hast.“

Cass lächelte, als sie an den Auftrag dachte, der ihr großen Spaß gemacht hatte.

„Hast du schon wieder ein neues Projekt?“, fragte Sean.

„Nein, ich habe nicht gearbeitet, seit …“ Sie räusperte sich. „Seit Reese gestorben ist.“

Sean legte ihr die Hand auf die Schulter. Seine grauen Augen wirkten normalerweise selbst dann etwas kühl, wenn er lächelte, aber in diesem Moment sprach große Wärme daraus.

„Wie kommst du zurecht?“, fragte er leise.

„Besser, als ich dachte.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Wir waren wirklich gute Freunde, und es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, nicht mehr alles mit ihm zu teilen. Aber es wird schon.“

Lustlos starrte sie auf ihren Teller. Auf einmal hatte sie keinen Appetit mehr, und sie verstand, warum Alex so wenig aß.

„Kann ich irgendwas für dich tun?“

Gerührt legte sie ihre Hand auf seine. „Ich komme schon klar. Es wird mir auch helfen, wieder zu arbeiten. Ich hätte Lust, wieder ein großes Projekt anzugehen. Ich glaube, ich bin so weit.“

„Suchst du wirklich ein neues Projekt?“, fragte Joy, die am Kopfende des Tisches saß.

Cassandra nickte.

„Vielleicht solltest du dir dann mal das White Caps anschauen.“

„Den Moorehouse-Familiensitz?“

„Ja. Wir wollen den Brandschaden so schnell wie möglich beheben, damit das Haus zur nächsten Saison im Juni wieder bewohnbar ist. Aber wir wissen nicht so recht, wo wir anfangen sollen.“

Cass dachte kurz nach. „Wir könnten es uns morgen früh anschauen, bevor ich mit Sean nach New York zurückfahre.“

„Das wäre wunderbar. Ich habe dich nicht drauf angesprochen, weil ich nicht wusste, ob du schon wieder arbeiten willst – aber wir wären so froh, wenn du uns zumindest einen Rat geben könntest, wie wir vorgehen sollen.“

„Wie groß ist der Schaden denn?“

„Die Küche und unser Wohntrakt, der ehemalige Dienstbotenflügel, haben am meisten abbekommen, aber zwei Gästezimmer müssen wegen des Löschwassers auch renoviert werden. Zum Glück zahlt die Versicherung alles.“

„Ich würde es mir sehr gerne ansehen.“

Als Cassandra am Abend zu ihrem Zimmer ging, blieb sie vor Alex’ Tür stehen. Eigentlich gab es keinen Grund, warum sie hineingehen sollte – aber dann drückte sie doch vorsichtig die Klinke hinunter und spähte durch den Türspalt. Die Nachttischlampe brannte, und Alex lag noch immer angezogen auf der Bettdecke. Das Buch, das er gelesen hatte, war ihm aus der Hand gerutscht. Es sah aus, als ob er schliefe, allerdings wirkten seine Gesichtszüge angespannt und gequält.

Leise trat sie ein und schloss die Tür hinter sich, damit das helle Flurlicht ihn nicht weckte. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett, doch dann stieß sie mit dem Fuß gegen etwas, das auf dem Boden lag. Eine Whiskyflasche, fast leer.

Besorgt betrachtete sie die Tablettenröhrchen neben der Nachttischlampe. Einige der Namen kannte sie. Es waren starke Schmerzmittel.

Hatte er etwa die Tabletten mit Alkohol hinuntergespült? Sein Atem ging nur sehr flach und langsam.

Wenigstens hatte er gegessen, denn der Teller war fast leer.

„Alex?“, fragte sie leise und berührte seinen Arm. Seine Haut fühlte sich warm an. „Alex?“

Sie beugte sich über ihn und atmete ein, konnte jedoch keine Fahne feststellen. Er schläft nur, sagte sie sich. Nimm den Teller und lass den armen Mann in Ruhe.

Doch stattdessen ertappte sie sich dabei, wie sie nachdenklich sein Gesicht betrachtete. Ohne zu überlegen, berührte sie seine Wange, zuckte dann zurück, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Wenn er wach gewesen wäre, hätte er sie schon längst hinausgeworfen.

Aber er schlief ja. Und sie konnte den Blick einfach nicht von seinen markanten Gesichtszügen abwenden. Wieder streckte sie die Hand aus.

Alex wachte auf, als etwas seine Wange streifte, aber er rührte sich nicht und ließ die Augen geschlossen, weil er nicht sicher war, ob er nicht träumte.

Dann wiederholte sich die Berührung, diesmal am Kinn.

Er atmete tief durch, um die Benommenheit abzuschütteln, doch dabei stieg ihm der Duft von Kräutershampoo in die Nase. Verwundert holte er erneut Luft. Als er wieder Rosmarin roch, wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen.

Seine sonst so schrecklichen, grausamen Träume hatten ihm endlich Cassandra geschickt.

Er drehte den Kopf ein wenig, um der Berührung näher zu kommen.

„Du bist es, meine Wunderbare“, flüsterte er mit geschlossenen Augen. „Du bist es wirklich …“

Die Berührung endete, und er protestierte halblaut. Im wirklichen Leben konnte er sie nicht haben, denn es hätte ihn umgebracht, seinen besten Freund zu betrügen. Aber in seinem Träumen gehörte sie ihm. Zumindest eine kleine Weile lang.

„Bitte“, bettelte er leise. „Bitte hör nicht auf. Noch einmal.“

Sein Wunsch ging in Erfüllung. Diesmal fühlte es sich so an, als hätte sie die ganze Hand auf seine Wange gelegt. Er rieb das Gesicht an ihrer Handfläche und drückte einen Kuss darauf.

Jemand atmete scharf ein – und er war es nicht.

Alex brauchte nicht lang darüber nachzudenken, was als Nächstes kam. In dieser Fantasie zwischen Traum und Wirklichkeit konnte er mit der Frau, die er liebte, tun, was er wollte. Konnte sie anfassen und sich anfassen lassen und es endlich genießen. Schließlich war es nur ein Traum, nicht wahr?

Ohne Zögern nahm er ihre Hand und schob sie unter seinen Hemdkragen, dann bewegte er sie streichelnd hin und her. Die Gewissheit, dass es tatsächlich Cassandra war, erfüllte ihn mit nie gekannter Glückseligkeit.

Er konnte nicht genug von ihr bekommen, wollte sie überall auf seinem Körper spüren, sie selbst auch berühren, sie streicheln, küssen, in ihr sein. Er bog den Rücken nach oben, um ihr noch näher zu kommen. Sein Hemd war im Weg, und er nestelte an den Knöpfen, wobei er sich kurz wunderte, warum er in seinem Traum angezogen war.

Als er ihre Hand wieder nahm und mit ihr über seine nackte Brust strich, hörte er wieder dieses überraschte Keuchen. Gab er das Geräusch von sich? Vielleicht.

Doch dann legte er ihre Hand auf seinen Bauch, und er hörte es wieder. Nein, das war nicht er, das war sie. Und dieses leise Geräusch sagte ihm, dass ihr gefiel, was sie sah, und dass sie es genoss, ihn zu berühren.

Allerdings passte es nicht ganz in sein Traumbild, dass er Widerstand spürte, als er ihre Hand zum Bund seiner Schlafanzughose führte. Nun fühlte er auch, dass etwas Schweres auf seinem Unterleib lag. Ein Buch, dachte er verwirrt. Seine deutlich spürbare Erregung wurde von einem Buch beschwert.

Meine Güte, er sollte seine Fantasien wirklich weniger real gestalten. Kleidung. Bücher. Warum machte er sogar seine Träume unnötig kompliziert?

Er ließ ihre Hand los und schob das Buch zur Seite, damit sie sah, wie sehr er sie begehrte. Dann führte er ihre Hand langsam tiefer. Und dann noch tiefer.

Kaum hatten ihre Finger seine überempfindliche Stelle gestreift, war er es, der aufstöhnte. Unversehens befand er sich am Rand eines unglaublichen Höhepunkts, der sich nicht mehr aufhalten ließ. Inmitten des Gefühlssturms stieß er die drei Worte hervor, die er schon viel zu lange als sein Geheimnis bewahrte: „Ich liebe dich …“

Die Erleichterung, endlich die Wahrheit sagen zu dürfen, brachte ihm unglaublichen Frieden. Im Traum gab es keine Strafe dafür, seine Gefühle offen auszusprechen. Keine Schuldgefühle, weil er seinen besten Freund hinterging. Keinen Selbsthass, weil er eine Frau begehrte, die einem anderen gehörte.

Als es diesmal dunkel um ihn wurde, gab er sich dem Schlaf gelassen hin. Und zum ersten Mal seit dem Sturm blieben die schrecklichen Albträume aus.

3. KAPITEL

Mit weichen Knien ging Cass in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. War das gerade wirklich passiert?

Sie senkte die Lider und legte die Hände vors Gesicht. Natürlich hatte sie nicht vorgehabt, so weit zu gehen. Schon, als er ihre Hand unter sein Hemd schob, hatte sie sie wegziehen wollen. Doch sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, denn die Berührung schien ihm so viel zu bedeuten – als ob er sich schon seit Jahren danach sehne. Als ob er verzweifelt auf jedes winzige Zeichen ihrer Zuwendung warte.

Nur, dass er dabei nicht von mir träumt, sagte sich Cass. Mich mag er ja nicht einmal.

Obwohl sie einen Moment lang wirklich geglaubt hatte, dass Alex wusste, wessen Hand ihn da streichelte. Dass sie es war, nach der er sich verzehrte.

Aber das war wohl Wunschdenken.

Doch Alex’ muskulöser Oberkörper ging ihr einfach nicht aus dem Kopf – ganz zu schweigen von dem überdeutlichen Zeichen seiner Erregung. Seine leidenschaftliche Reaktion auf ihre Berührung war überaus erotisch gewesen. Als sie spürte, wie er …

„Jetzt hör aber auf“, murmelte sie ärgerlich.

Und dann seine drei Worte.

Ich liebe dich.

Wen liebt er?, fragte sie sich mit einem seltsamen Ziehen im Herzen. Welche Frau hat es geschafft, seinen harten Panzer zu durchdringen?

Sie musste wirklich außergewöhnlich sein, denn jemand mit so hohen Ansprüchen wie Alex würde sich nur in eine Frau verlieben, die in jeder Hinsicht perfekt war.

Und er liebte sie wirklich, das war überdeutlich gewesen. Die Leidenschaft in seiner Stimme, die ungezügelte Reaktion seines Körpers, seine Sehnsucht – diese Frau musste die Liebe seines Lebens sein.

Cass löste sich von der Tür und ging langsam ins Bad, wo sie lange in den Spiegel starrte und an Reese dachte. Sie hatte ihren Mann sehr respektiert und ihn als Freund und geschäftlichen Berater geschätzt. Außerdem schuldete sie ihm viel und war deshalb bereit gewesen, ihm alles zu geben.

Aber geliebt hatte sie ihn nicht. Jedenfalls nicht mit solcher Kraft und Leidenschaft, wie Alex seine „Wunderbare“ liebte.

Reese war zwanzig Jahre älter gewesen als sie und hatte schon zwei Ehen hinter sich gehabt. Dennoch hatte sie Ja gesagt, als er ihr einen Antrag machte – weil sie sich nach einer schweren Kindheit nach einem Zuhause, einer Familie und einem sicheren Hafen sehnte. Sie wusste, dass Reese sie immer beschützen und für sie da sein würde – obwohl ihr bald der Verdacht gekommen war, dass er auf seinen Segeltörns regelmäßig fremdging.

Es lag wohl einfach in seiner Natur. Er war ein großer Bewunderer von Schönheit, und was ihm gefiel, das wollte er besitzen. Firmen. Kunst. Boote. Häuser.

Frauen.

Immerhin war er diskret gewesen. Doch als sie schließlich einen Beweis für seine Seitensprünge bekam, hatte es sie nicht sonderlich überrascht. Und sie hatte ihn nicht zur Rede gestellt, sondern einfach darüber hinweggesehen.

Heute verstand sie das nicht mehr. Andererseits hatte es sie vielleicht wirklich nicht besonders gestört. Sie empfand eben keine Leidenschaft für ihn, sondern Freundschaft.

Sie vermisste ihn, sie trauerte um ihn – und darum, dass sie trotz aller Versuche einfach nicht schwanger geworden war.

Aber er war nicht die Liebe ihres Lebens gewesen.

Unwillkürlich dachte sie an Alex. Wie würde es sich anfühlen, von einem Mann so geliebt zu werden? Von einem Mann, der nur sie wollte. Für den es keine andere gab und der sich leidenschaftlich nach ihr sehnte, wenn sie nicht bei ihm war …

Das musste wirklich was Besonderes sein.

Cassandra konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte Alex leicht beunruhigt, und als er an sich hinuntersah, fiel ihm der Traum wieder ein. Sein Hemd war offen, das Buch lag neben ihm.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. War es doch kein Traum gewesen? War sie wirklich zu ihm gekommen? Und was um alles in der Welt hatte er in diesem halb wachen Zustand zu ihr gesagt?

Unbehaglich drehte er sich zum Nachttisch um, doch als sein Blick auf den leeren Teller fiel, entspannte er sich etwas. Vielleicht hatte er sich ihre Anwesenheit doch nur eingebildet.

Beruhig dich, sagte er sich, es war einfach eine besonders realistische Fantasie. Du willst diese Frau schon so lange, und sie schläft nur ein paar Zimmer weiter. Da hat dir dein Unterbewusstsein einen schönen Streich gespielt.

Er stand vorsichtig auf und ging ins Bad, wo er eine große Plastiktüte um seinen Gips band und sich unter die Dusche stellte. Es fühlte sich gut an, auf den Beinen zu sein, deshalb beschloss er, sich auf den Weg in die Küche zu machen, um zu frühstücken.

Bevor er hinausging, horchte er nach draußen, doch dort war alles still. Offenbar hatte er den Aufbruch der Übernachtungsgäste verschlafen. Cassandra fuhr sicher gerade mit O’Banyon nach New York zurück.

Diesmal nahm er die Haupttreppe, und es dauerte zehn Minuten, bis er schließlich vor der Küche stand.

„Libby? Sind Sie da drin?“, rief er. Er wollte sicher sein, dass sie den Hund festhielt, wenn er eintrat, denn der große Golden Retriever hätte ihn in seiner Begeisterung glatt umgeworfen.

„Alex? Ist alles okay?“

„Ja, halten Sie nur Ernest fest, ja? Ich komme rein.“

Als er die Tür öffnete, konnte Libby den Hund kaum bändigen und umklammerte mit beiden Händen sein Halsband. Er winselte freudig, als er Alex sah, und gab erst Ruhe, als der ihn ausgiebig hinter den Ohren gekrault hatte.

„Möchten Sie Frühstück?“, fragte die Haushälterin hoffnungsvoll.

„Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht …“ Er hasste es, sich bedienen zu lassen, aber es kam so selten vor, dass er wirklich Appetit hatte. Besser, er nutzte die Gelegenheit.

„Ich hätte gerne Pfannkuchen. Mit Butter und Ahornsirup. Und gebratenen Speck. Und Kaffee.“

Meine Güte, er hatte wirklich Hunger.

Libby strahlte ihn an und rückte ihm einen Stuhl in der Essecke zurecht. „Setzen Sie sich, ich mache Ihnen ein richtiges Frühstück.“

Zuerst brachte sie ihm eine Tasse dampfend heißen Kaffee, dann begann sie geschäftig, den Pfannkuchenteig anzurühren.

Genüsslich nahm Alex einen Schluck. Wie lange war es her, dass er Kaffee getrunken hatte? Ernest, der offenbar nie genug Streicheleinheiten bekommen konnte, legte ihm den Kopf auf sein gesundes Bein, und Alex kraulte ihm abwesend das Ohr. Es war einer dieser Momente, in denen die Welt in Ordnung war. Der wütende Schmerz vom Vorabend war einem beständigen, aber erträglichen Pochen gewichen. Das Surren der Rührmaschine im Hintergrund erinnerte ihn an die Sonntage seiner Kindheit, an denen seine Mutter Pfannkuchen für die Familie gebacken hatte. Durch eins der hohen Fenster fiel Sonnenlicht genau auf seinen Platz, und er genoss die wärmenden Strahlen auf der Haut.

Als Libby den Teller brachte, machte er sich mit so großem Appetit darüber her, als hätte er wochenlang nichts gegessen. Nun ja, das stimmte ja fast. Auch Libby schien überrascht zu sein, als sie den leeren Teller abräumte.

„Möchten Sie noch eine Portion?“, fragte sie.

Alex lächelte, und es fühlte sich gut an. „Ehrlich gesagt – ja.“

In Gedanken noch ganz im White Caps, stieg Cassandra vor Grays Haus aus dem Auto. Sie hatten das alte Haus zu sechst besichtigt – Frankie und Nate, Joy und Gray, und auch Sean hatte es sich nicht nehmen lassen mitzukommen.

Vor allem Frankie war wegen des Brandschadens sehr besorgt gewesen.

„Wir müssen den Flügel doch nicht ganz abreißen lassen, oder?“, fragte sie.

„Um Himmels willen, nein“, hatte Cassandra erwidert. „An den alten Strukturen darf nichts verändert werden. Das Haus ist eine unglaubliche Kostbarkeit, die man nur ganz behutsam renovieren darf.“

Gray ließ sie durch die Hintertür zur Küche ins Haus, und Ernest sprang ihnen hechelnd entgegen und begrüßte jeden Einzelnen von ihnen freudig.

„Und, machst du es?“, fragte Frankie, als der Hund von ihnen abließ.

„Mache ich was?“

White Caps wieder zu einer strahlenden Schönheit. Du hast gesagt, dass wir einen Architekten und Bauunternehmer brauchen, der sich auf Restaurierungen versteht. Wie ich gehört habe, bist du die beste im ganzen Staat.“

Cassandra blieb wie erstarrt stehen, was aber nicht an der Frage lag. Am Küchentisch saß Alex, und die Bilder der vergangenen Nacht schossen ihr durch den Kopf.

„Am Geld soll’s nicht scheitern“, fuhr Frankie fort. „Die Versicherung hat uns bestätigt, dass der Hersteller des defekten Gasherds für alle Kosten aufkommt. Wir brauchen an nichts zu sparen.“

„Ich … äh …“

Cassandra suchte nach Worten. Ihr war auf einmal etwas schwindelig, und ihre Beine schienen sie nicht recht tragen zu wollen. Wie konnte Alex’ bloße Anwesenheit einen solchen Effekt auf sie haben?

„Cass, hast du schon gepackt?“, fragte Sean. „Wir müssen gleich los.“

Sie atmete tief durch und räusperte sich. „Ja, steht alles in meinem Zimmer.“

„Dann bringe ich das Gepäck schon mal ins Auto.“

Als Sean an Alex vorbeikam, nickte er kurz. „Moorehouse.“

„O’Banyon“, erwiderte Alex ebenso frostig.

Der Klang seiner Stimme weckte in Cassandra neue Erinnerungen an die letzte Nacht. Wie er ihre Hand umklammert und sie immer weiter nach unten geschoben hatte, bis sie …

Nimm dich zusammen, schalt sie sich.

Vorsichtig sah sie sich um, ob die anderen ihr die heißen Gedanken ansahen. Doch Frankie war zum Glück vollauf mit dem White Caps beschäftigt.

„Ich hab doch gesehen, wie sehr dich das Haus beeindruckt hat“, sagte sie. „Es wäre das perfekte Projekt.“

Cassandra bemühte sich um Konzentration, bemerkte aber, dass Alex sie abschätzend ansah. Bestimmt gefiel es ihm nicht, wenn sie den Auftrag übernahm.

„Warum besprecht ihr drei das nicht noch einmal unter euch?“, schlug sie vor. „Ich muss mich sowieso zuerst bei meinen Partnern zurückmelden und meinen Terminkalender durchsehen. Die Wiedereröffnung soll zur Sommersaison sein?“

„Ja, im Juni. Da ist noch über ein halbes Jahr Zeit, selbst wenn du erst in vier Wochen anfängst.“

Mit Koffern und Taschen bepackt, kam Sean zurück. „Unglaublich, wie viel Sachen du für drei Tage brauchst“, bemerkte er augenzwinkernd, als er an ihr vorbeiging. „Und jetzt lass uns fahren, meine Schöne.“

Die anderen folgten Sean nach draußen, doch Cassandra blieb absichtlich zurück. Sie konnte nicht wegfahren, ohne noch einmal mit Alex gesprochen zu haben. Doch als sie ihn ansah, war sein Blick kühl und distanziert wie immer.

„Ich hoffe, dass bei deinem Arzttermin alles gut läuft“, sagte sie.

Er nickte kurz. „Danke.“

Du bist es, meine Wunderbare. Du bist es wirklich …

Bitte berühre mich noch einmal.

Ich liebe dich …

Wer ist deine wunderbare Frau?, dachte sie, während sie ihn schweigend anstarrte. Und wo ist sie jetzt, wenn du sie brauchst? Warum lässt sie dich gerade jetzt allein?

Sie räusperte sich. „Es ist okay, wenn du Nein sagst“, erklärte sie. „Wegen der Restaurierung von White Caps, meine ich. Ich wollte nicht, dass du damit überrumpelt wirst, deshalb habe ich vorgeschlagen, dass …“

„Ich bin schon groß und kann gut alleine auf mich aufpassen“, unterbrach er sie schneidend. „Wenn mir was nicht gefällt, sage ich es schon.“

„Natürlich.“ War das wieder eine Anspielung darauf, dass er Frauen nicht leiden konnte, die ihn bemutterten?

„Gibt’s sonst noch was?“

Bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Sean schaute herein.

„Mensch, Cass, jetzt komm aber. Ich habe heute Nachmittag einen Termin in der Stadt. Wir müssen wirklich los.“

„An einem Sonntag?“, fragte sie unwillkürlich.

„Du kennst mich doch, ich arbeite sieben Tage die Woche. Los jetzt, Frau.“

Die Tür schloss sich hinter ihm. Als sie sich wieder zu Alex umdrehte, wirkte sein Blick mörderisch.

„Dann beeil dich mal besser und lass ihn nicht länger warten“, sagte er verächtlich. „Dein Freund ist wohl ziemlich ungeduldig.“

Seine Missbilligung war überdeutlich. Offenbar nahm er an, dass sie mit Sean ein Verhältnis hatte, und hielt das für viel zu früh nach Reeses Tod. Doch sie verschwendete keine Energie darauf, seinen Irrtum zu korrigieren. Ganz gleich, was sie sagte, er würde ihr doch nicht glauben.

„Leb wohl, Alex“, flüsterte sie.

Er schwieg nur.

Als sie das Haus verließ, war sie wirklich überzeugt, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Und es überraschte sie, wie weh dieser Gedanke tat.

4. KAPITEL

Vier Wochen später schaute Alex gedankenverloren aus dem Sprossenfenster der Werkstatt seines Vaters. Um diese Jahreszeit war es hier herrlich ruhig – keine Boote auf dem See, keine Wanderer in den Wäldern, die Hälfte der Läden in der Stadt geschlossen.

Ob Cassandra das wohl gefallen würde? Wahrscheinlich nicht. Sie lebte ein Jet-Set-Leben in Manhattan, besuchte ständig Galas und Theaterpremieren, und in der Vanity Fair erschienen Fotos von ihr. Das hatte jedenfalls Reese erzählt. So eine Frau konnte man mit einem gemütlichen Abend vor dem offenen Kamin wohl kaum reizen.

Alex griff nach seinem Stock, humpelte in das winzige Bad und griff auf dem Weg nach einem Protein-Riegel. Es war sein dritter heute, und bestimmt nicht der letzte. Die altmodische Waage im Bad zeigte ihm, dass sein neuer Lebensstil Wirkung zeigte. Er hatte fast wieder sein altes Gewicht erreicht.

Diesmal war die Operation geglückt, der Titanstab angewachsen. Der Gips war durch einen Plastikstützverband mit Klettverschlüssen ersetzt worden, sodass er ihn stundenweise ablegen konnte. Alex bemühte sich, jeden Tag mindestens fünftausend Kalorien zu sich zu nehmen, was angesichts der zweiflammigen Kochplatte und des Minikühlschranks gar nicht so einfach war. Zum großen Teil ernährte er sich von Proteindrinks und spezieller Aufbaunahrung für Sportler.

Cassandra würde darüber sicherlich die Nase rümpfen. Sie war Fünf-Sterne-Restaurants gewohnt, in denen französisches Essen in mehreren erlesenen Gängen serviert wurde …

Fluchend verließ Alex das Bad. Er musste wirklich damit aufhören, ständig alles an Cassandra zu messen. Doch je näher der Tag ihrer Ankunft rückte, desto öfter sah er sein Leben und seine provisorische Behausung durch ihre Augen.

Was nicht nur dumm, sondern auch überflüssig war. Erstens war die Werkstatt ja auch für ihn nur ein Übergangsquartier, und zweitens würde Cassandra nicht bei ihm einziehen, sondern in Grays Haus wohnen, während sie die Restaurierung von White Caps überwachte.

Die Werkstatt war ohnehin winzig. Zwar hielt Alex peinlichst Ordnung, schon allein, um nicht über irgendetwas zu stolpern und sein Bein zu gefährden. Doch einen Teil des Raumes nahm eine große Hantelbank zum Muskelaufbautraining ein, und im Rest drängten sich ein Einzelbett, der Kanonenofen, ein altmodischer Schreibtisch und ein kleiner Tisch, unter dem der Kühlschrank stand.

Er befestigte den MP3-Player am Bund seiner Jogginghose, setzte den Kopfhörer auf und legte sich auf die Trainingsbank. Der Plastikbezug fühlte sich kühl an auf seinem nackten Oberkörper, aber das würde sich schnell ändern. Da er die Wäsche in Grays Haus erledigen musste, sparte er sich beim Training das T-Shirt, weil es sowieso innerhalb von Minuten durchgeschwitzt war.

Normalerweise kam Spike vorbei, um mit ihm zu trainieren, aber heute hatte er was anderes zu tun. Deshalb gab es beim Training keine Ablenkung, und Alex’ Gedanken wanderten wieder zu Cassandra, während er die schweren Gewichte stemmte.

Dass Frankie und Joy ihn in die Entscheidung, wer das White Caps renovieren sollte, überhaupt einbezogen hatten, war schon sehr großzügig von ihnen gewesen. Schließlich hatte er sich jahrelang nicht um das Haus oder seine Schwestern gekümmert. Nun wollten sie unbedingt, dass Cassandra den Auftrag übernahm, und hatten ihm Fotos ihrer früheren Projekte gezeigt. Er musste zugeben, dass sie geradezu ein Genie war, wenn es darum ging, ein altes Haus zu restaurieren. Sie schaffte es, das Neue alt aussehen zu lassen und den ursprünglichen Charakter eines Bauwerks zu erhalten.

Also hatte er zugestimmt.

Sie nach Joys Hochzeit mit O’Banyon wegfahren zu sehen hatte ihm fast das Herz gebrochen. Nach ihrem leisen Lebewohl war er aufgestanden und zum Fenster gehumpelt – und hatte beobachten müssen, wie dieser irische Mistkerl auf dem Weg zum Wagen wieder den Arm um sie legte.

Aber natürlich passte sie viel besser zu einem Mann wie O’Banyon mit seinem schicken Mercedes und teuren Maßanzug. Cassandra war an Designer-Kostüme und ein Penthouse am Central Park gewöhnt und brauchte einen Mann, der sich in den besseren Kreisen ebenso sicher bewegte wie sie.

Er dagegen war sich immer schon wie ein unzivilisierter Wilder vorgekommen. Ein Mann ohne Feinschliff, der sich auf einer Party verloren fühlte. Solange er sich ausleben konnte und sich nicht ständig anpassen musste, stellte er keine großen Ansprüche – aber bisher hatte er diese Freiheit nur auf dem Meer gefunden.

O’Banyon dagegen war sicherlich der Star auf Cassandras Partys. Auch in ihm steckte ein harter Bursche, aber den verbarg er gut unter der zivilisierten Oberfläche. Wahrscheinlich konnte er sogar tanzen.

Ja, er passte hervorragend zu ihr. Natürlich überraschte es Alex ein wenig, sie nur wenige Monate nach Reeses Tod mit einem anderen zu sehen, aber das musste nichts bedeuten. Man konnte schließlich um den Ehemann trauern und trotzdem eine Affäre haben. Vielleicht wollte sie nachts nur nicht allein sein?

Sicher kümmerte sich O’Banyon rührend um sie – in jeder Beziehung. Der Mann war ihm nicht besonders sympathisch, aber wenigstens schien er zu wissen, dass Cassandra nicht einfach irgendeine Frau war, sondern etwas ganz Besonderes.

Immer schneller und unerbittlicher stemmte Alex die Gewichte, bis seine Muskeln wie Feuer brannten, doch die düsteren Gedanken vertrieb auch das nicht.

Cassandra hielt vor dem White Caps und stellte den Motor ab. Der große Range Rover, den sie fuhr, war ein Geschenk von Reese gewesen. Während ihr der Wagen in der Stadt überdimensioniert vorkam, war sie hier auf dem Land dankbar für die Geländetauglichkeit.

Sie stieg aus und warf einen kurzen Blick auf das Haus, um ihre Erinnerung aufzufrischen, dann schaute sie zu der großen Scheune hinüber, an die sich ein kleiner Anbau anschloss. Aus dem Schornstein stieg Rauch.

Joy hatte ihr erzählt, dass Alex jetzt hier wohnte. Es gehe ihm viel besser, und sein Bein heile gut.

Vorsichtig stöckelte sie über die gepflasterte Auffahrt. Sie war seit sechs Uhr früh auf den Beinen und nach einer Reihe von Besprechungen direkt hierher gefahren, deshalb trug sie noch immer das Escada-Kostüm und hohe Absätze. Eigentlich brauchte sie nur die Originalpläne, die laut Frankie in der Werkstatt aufbewahrt wurden. Da das White Caps auf dem Weg zu Grays Haus lag, bot es sich an, sie jetzt zu holen.

Außerdem wollte sie die erste Begegnung mit Alex hinter sich bringen. Immerhin würde sie die nächsten drei Monate am Haus arbeiten, und weil er nun auf dem Gelände wohnte, würden sie sich sicher öfter über den Weg laufen. Besser, sie gewöhnte sich dran.

Die rot gestrichene Scheune mit den etwas schiefen Wänden bot einen malerischen Anblick. Auf dem Weg dorthin zupfte sie am Kragen ihrer Seidenbluse und an dem goldenen Kettengürtel, den sie trug. Als ob sie Alex Moorehouse mit ihrem Aussehen beeindrucken konnte!

An der Tür zur Werkstatt gab es keine Klingel, also klopfte sie, doch es kam keine Antwort. Auch beim zweiten Versuch tat sich nichts, und in der kühlen Abendluft begann sie zu frieren. Sie wollte gerade zum Wagen zurückgehen, als sie von drinnen ein metallisches Geräusch hörte.

Kurz entschlossen öffnete sie die Tür.

„Hallo?“

Das Geräusch wurde lauter, und sie trat ein und schloss die Tür hinter sich, um die Wärme nicht hinauszulassen. Als sie sich umdrehte, wurden ihr die Knie weich.

Du lieber Himmel …

Alex lag auf dem Rücken auf einer Trainingsbank und arbeitete mit einer schweren Hantelstange. Außer locker sitzenden Jogginghosen trug er nichts, und seine nackte Brust glänzte vor Schweiß.

Sie versuchte, den Blick abzuwenden, brachte es aber nicht über sich. Die kraftvollen Bewegungen seiner Muskeln waren zu faszinierend und zu sexy. Der Anblick erinnerte sie an den unglaublichen Moment, den sie in jener Nacht geteilt hatten.

Und von dem nur sie etwas wusste.

Er stemmte die Hantelstange auf die Halterung zurück und setzte sich auf, bemerkte sie aber nicht, sondern konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beruhigen. Aus seinem Kopfhörer drangen leise Musikfetzen, also hatte er die Lautstärke wohl ziemlich aufgedreht.

Sie wollte sich gerade bemerkbar machen, als er den Kopf wandte. Wie erwartet runzelte er ungnädig die Stirn.

„Ich habe geklopft“, bemerkte sie. „Mehrmals.“

Er bedachte sie mit einem abschätzenden Blick, der verriet, wie wenig Interesse er an ihr hatte, und legte erst dann den Kopfhörer ab. Noch immer schweigend stand er auf, griff nach seinem Stock und humpelte in die andere Richtung. Auch sein Rücken war beeindruckend muskulös, und auf seiner Schulter prangte ein schwarzes Tattoo, das eine wunderschöne altmodische Kompassrose zeigte.

Was für einen Unterschied vier Wochen machen können, dachte sie erleichtert. Alex wirkte wieder gesund und fit, zumindest sein Körper schien sich gut erholt zu haben. Wie es ihm seelisch ging, konnte sie nicht einschätzen, denn bis jetzt hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, ihm in die Augen zu sehen.

Höflich drehte sie sich um, als er sich an der rückwärtigen Wand nach einer Reisetasche bückte und ein T-Shirt herausholte.

„Deine Schwester hat gesagt, dass hier irgendwo die Originalpläne vom White Caps liegen“, bemerkte sie über die Schulter.

Erst, als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich wieder um. Er ging zu dem Mini-Kühlschrank, der neben der Eingangstür unter einem Tisch stand, holte drei kleine Getränkedosen heraus und öffnete in aller Ruhe eine nach der anderen.

Noch immer sagte er kein Wort, und Cassandra wurde das Schweigen langsam unbehaglich.

Sie fragte sich schon, ob sie einfach wieder gehen sollte, als er endlich den Mund aufmachte. „Du bist früh dran. Ich habe dich erst nächste Woche erwartet.“

„Ich kann es kaum abwarten, endlich anzufangen. Deshalb brauche ich ja auch die Pläne.“

„Ich hab hier noch keine gesehen.“ Er griff nach der ersten Dose und leerte sie in einem Zug, dann nach der zweiten und dritten.

„Was trinkst du da?“, fragte sie, um das Gespräch – wenn man es so nennen konnte – nicht wieder einschlafen zu lassen.

„Einen Proteindrink mit Vitaminen. Schmeckt wie Tapetenkleister mit Vanillearoma, hat aber so viel Kalorien wie eine kleine Mahlzeit.“

„Du siehst viel besser aus“, bemerkte sie lahm. In Wahrheit wirkte er umwerfend. Er hatte wieder Farbe bekommen und strahlte seine frühere Kraft und Energie aus.

Noch immer weigerte er sich allerdings, sie direkt anzuschauen. Doch sie wusste auch so, dass er sie in diesem Raum nur duldete und es nicht abwarten konnte, bis sie wieder ging.

Nachdem er die dritte Dose geleert hatte, deutete er mit dem Kopf zu einer Tür an der rückwärtigen Wand, neben der ordentlich aufgereiht mehrere Reisetaschen standen, in denen Alex seine Kleidung aufbewahrte. „Wenn die Pläne hier irgendwo sind, dann bestimmt in der Scheune.“

Er humpelte hinüber, öffnete die Tür und betätigte einen Lichtschalter. „Bin gleich wieder da.“

„Kann ich dir helfen?“

„Ja, indem du hier bleibst.“

„Stell dich doch nicht so an.“

„Na schön, aber mit den Schuhen wirst du dir dort drin den Hals brechen.“

Cass folgte ihm und machte große Augen, als sie einen Blick in die Scheune warf. „Ach, und du mit dem Gips vielleicht nicht?“

Die große Halle war bis obenhin angefüllt mit Schrott und Gerümpel. Cass erkannte einen Sitzmäher, eine Schneefräse, einen uralten Pritschenwagen und … konnte das eine Haubitze sein? Das alles türmte sich wild durcheinander, und es war nicht zu erkennen, wie man sich einen Weg hindurch bahnen sollte.

Vorsichtig folgte sie Alex zu einem riesigen Safe an einer Seitenwand. Das Stahlungetüm sah aus, als wäre es die Requisite in einem alten Bankräuber-Film gewesen. Alex drehte an dem Zahlenkranz und drückte den Hebel hinunter, ging dann in die Hocke. Im Innern herrschte ein ebenso großes Durcheinander wie in der Scheune, doch Alex zog ein Dokument nach dem anderen heraus, sah es kurz durch und brachte die Akten beim Zurücklegen gleich in eine sinnvolle Ordnung.

Erstaunlich, wie ordentlich er war. Auch in der Werkstatt hatte alles seinen festen, logischen Platz. Wahrscheinlich wurde das zur zweiten Natur, wenn man sein Leben auf Booten verbrachte.

„Nicht dabei?“, fragte sie, als er den Safe wieder schloss.

„Nein.“

Er stand schneller auf, als sie erwartet hatte. Erschrocken wich sie zurück und blieb mit dem Absatz an einer Seilrolle hängen. Sie geriet aus dem Gleichgewicht, suchte instinktiv Halt – und griff dabei ausgerechnet nach Alex’ Arm.

Mühelos fing er ihr Gewicht auf. Sie sah, wie sich sein Bizeps anspannte, doch ansonsten stand er völlig reglos da. Das war der Alex, den sie von früher kannte: stark. Unerschütterlich. Kraftvoll.

Unter ihrer Hand spürte sie seine harten Muskeln und die warme Haut.

„Ich hab dich ja gewarnt“, sagte er mürrisch. „Mit diesen Schuhen …“

Sie ließ ihn los und strich ihren Rock glatt. „Es lag nicht an den Schuhen, sondern daran, dass ich hinten keine Augen habe.“

Erstaunlicherweise zuckten seine Mundwinkel, doch er unterdrückte das Lächeln.

„Es gibt noch eine Stelle, wo wir suchen können“, sagte er und deutete zur Werkstatttür. „Du gehst vor.“

Gehorsam drehte sie sich um und ging voran, und sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass sie noch einmal stolperte.

In der Werkstatt trat er an einen altmodischen Schreibtisch. Als er die Klappe öffnete, quollen Dutzende von aufgerollten Blaupausen hervor.

Cassandra griff nach einer. „Das sieht ja aus wie auf meinem Schreibtisch“, bemerkte sie. „Wer ist denn bei euch der Architekt?“

„Das sind Konstruktionspläne für Boote.“

Achtlos schob Alex die Papiere zur Seite, doch Cassandra entrollte eins und studierte die Zeichnung. Es war das sehr detaillierte Grundgerüst einer Segeljacht, in das alle Maße sorgfältig eingetragen waren.

„Das ist wundervoll. Wer …“

„Mein Vater.“

Aus einer Schublade holte Alex einen Schlüssel und humpelte zu einem Wandschrank, aus dem er eine Stahlkassette holte. „Hier sind sie“, erklärte er, als er den Deckel geöffnet hatte, und reichte ihr eine ledergebundene Dokumentenrolle.

Sie wollte die Hülle öffnen, doch er schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, dass sie da drin sind.“

Es war ein ziemlich eindeutiger Rauswurf, und Cassandra nickte und ging zur Tür.

„Falls du übers Wochenende bleibst“, bemerkte er, „denk dran, dass für Sonntag ein Sturm angesagt ist. Da könnte es auf den Straßen ungemütlich werden.“

„Ich fahre Sonntag nicht zurück.“

„Gut.“

„Ich werde bis zu den Feiertagen bleiben.“

„Einen ganzen Monat lang? Was willst du hier denn machen?“

„Den Job, mit dem ihr mich beauftragt habt.“

Alex betrachtete sie von oben bis unten, und sein Blick blieb an ihrem goldenen Kettengürtel hängen.

„Gibt’s ein Problem?“, fragte sie kühl.

„Versteh mich nicht falsch. Eins meiner besten Crewmitglieder ist eine Frau, und sie hat mehr drauf als die meisten meiner Männer. Aber dich kann ich mir nur schwer mit Werkzeug in der Hand vorstellen.“

Dann warte nur, bis du mich morgen siehst, dachte sie und öffnete die Tür. Über die Schulter hinweg sagte sie: „Morgen früh kommen die Handwerker. Ich sage ihnen, dass sie leise sein sollen, damit sie dich nicht stören.“

„Keine Sorge, ich bin Frühaufsteher.“ Er runzelte die Stirn. „Sind Gray und Joy wieder in New York?“

„Ja, und Nate und Frankie auch. Sie haben gesagt, dass wir das Haus ganz für uns haben.“

„Wir?“

Sie nickte und dachte daran, wie sehr sie sich darauf freute, es sich nach einem langen Tag auf der Baustelle mit Libby und Ernest vor dem Kamin gemütlich zu machen. Als Alex’ Miene sich verdüsterte, beeilte sie sich hinauszukommen. Immerhin hatte er sie beim ersten Treffen nicht gleich in der Luft zerrissen.

„Bis morgen dann“, murmelte sie und ging zu ihrem Wagen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Alex schaute dem Range Rover nach, bis er auf die Landstraße eingebogen war. Er war einfach nicht vorbereitet gewesen. Nicht darauf, dass sie ihn beim Training überraschen und ihn halb nackt sehen würde. Und nicht darauf, wie eindeutig sein Körper innerhalb von Sekunden reagierte. Ein Blick von ihr genügte, und …

Frustriert rieb er sich die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was Cassandra und O’Banyon in Grays Haus anstellen würden, wenn sie es ganz für sich allein hatten. Hoffentlich riefen die Geschäfte den Investmentbanker bald in die Stadt zurück, sonst konnten die kommenden Wochen heiter werden. Immerhin musste Alex sich regelmäßig zum Wäschewaschen bei Gray blicken lassen.

Nachdenklich starrte Alex auf die Blaupausen und entrollte die, die auch Cassandra sich angesehen hatte. Das Grundgerüst der Jacht war gut entworfen und versprach Stabilität und Schnelligkeit. Aber das Heck war falsch. Es musste schmaler sein.

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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