Cinderella in New York

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Ausgerechnet New York! Buchhändlerin Jessica ist hin- und hergerissen, als man ihr einen Traumjob in der schillernden Metropole anbietet, denn sie liebt nichts so sehr wie ihr beschauliches Kleinstadtleben. Bis sie bei dem Vorstellungsgespräch den faszinierenden Jamie Gilbert-Cooper kennenlernt. Während ihr möglicher neuer Boss ihr die schönsten Seiten Manhattans zeigt, fühlt sie sich wie verzaubert und genießt seine zärtlichen Küsse. Doch das märchenhafte Glück endet so jäh wie es begann, als sie Jamies Geheimnis entdeckt …


  • Erscheinungstag 18.05.2021
  • Bandnummer 102021
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718756
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Es ging alles so unglaublich schnell …

Aber das würden wohl die meisten Leute angesichts einer Katastrophe sagen. Es ist ja nicht so, dass man morgens aufsteht und eine Katastrophe plant. Nein, sie springt einen an, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet. In meinem fortgeschrittenen Alter von vierundsiebzig Jahren dürften mich Dinge oder Ereignisse, die unerwartet schieflaufen, eigentlich nicht überraschen.

Aber das tun sie trotzdem, auch diesmal.

Ich spazierte durch Faelledparken und freute mich genauso darüber, meinem lästigen Sicherheitschef entronnen zu sein, wie an der Verwandlung des berühmten Kopenhagener Parks anlässlich des Ascot Music Festivals, das jeden Sommer in einem anderen Land stattfand.

Der gesamte Park war zu einer reizvollen bunten Zeltstadt mutiert, in der Essen und Getränke aus aller Welt angeboten wurden sowie Souvenirs und Tand sämtlicher Couleur. Außer der Hauptbühne gab es kleinere Podien für weniger bekannte Sänger und Bands. Überall ringsum tummelten sich Akrobaten, Jongleure, Zauberer.

Das diesjährige Festival trug den Titel Von Carlene zu Celine und alles dazwischen. Ich fand es eingängig und modern, obwohl einer der PR-Leute – die sich inzwischen Marketing Executives schimpfen – es tatsächlich gewagt hatte, die Augen zu verdrehen, als ich es vorschlug.

Dabei hätte mich das nicht wundern dürfen. Denn nachdem ich beschlossen hatte, mein Familienerbe in Richtung Erfolg zu pushen, begriff ich schnell, dass Frauen besser beraten waren, wenn sie klug und vorsichtig auftraten, damit niemand merkte, wie gerissen sie tatsächlich waren. Inzwischen war das Ascot-Logo zum Synonym für Produkte einer enormen Bandbreite avanciert, die von Pharmazeutika bis zu Küchenarmaturen reichte.

Die gefeierte Sängerin Carlene würde in einer Viertelstunde auftreten, und viele Besucher hatten sich bereits auf den Weg in Richtung Bühne gemacht. Zwischen all den bunten Vögeln fiel ich, eine liebenswürdige ältere Dame mit Sonnenbrille, buntem Kopftuch und einem Pullover, der … ähm … vielleicht etwas voluminös wirkte, kaum auf.

Alles um mich herum schien vor einer Energie zu vibrieren, die ebenso an- wie aufregend war. Ich dagegen verspürte zunehmend eine Beklemmung, die mich daran erinnerte, warum ich Menschenmassen für gewöhnlich aus dem Weg ging.

Der Mann dort bräuchte dringend Vitamin C …

Jene Frau würde am Ende des Sommers ein Kind zur Welt bringen …

Gedankenfetzen, die mich ungebeten befielen und meine Wahrnehmung unangenehm steigerten. Ich hatte das Gefühl, von der Menschenmasse zermalmt zu werden. Außerdem war es furchtbar heiß.

Mit dieser Hitze hatte ich nicht gerechnet, als ich an einen Sommerabend in Dänemark gedacht hatte. Und schon gar nicht, als ich Max unter meinen Pullover gestopft hatte.

Die Leute fällen immer so schnell ein Urteil. Bestimmt hätten die meisten von ihnen mir gesagt, dass es nur Ärger geben würde, wenn ich einen Dackel an so einen überfüllten Ort mitnehme.

Aber Max litt unter notorischer Trennungsangst, die der Jetlag und ein fremdes Hotelzimmer noch verschlimmert hatten. Der einzige Ort, der ihm ein gewisses Maß an Sicherheit verlieh, war das Innere meines Pullovers. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Mutterkänguru … ein schönes Gefühl, da ich selbst nie Kinder hatte.

Diese wundervolle Empfindung hielt so lange an, bis einer der Straßenmusiker exakt in dem Moment, als ich an ihm vorbeilief, auf eine übergroße Pauke haute.

Max stieß einen unartikulierten Laut aus, kraxelte in Richtung Pulloverausschnitt an mir hoch, wobei er rote Striemen auf meiner Haut hinterließ. Er zögerte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er über meine Schulter hechtete. Ich wirbelte schnell genug herum, um ihn in seinem entzückenden Seemanns-Outfit auf dem Boden landen zu sehen. Blitzschnell rappelte er sich auf und peste los. Nur sein kleiner Hut blieb zurück.

„Max!“

Man sollte annehmen, dass die Verzweiflung in meiner Stimme den kleinen Rabauken gestoppt hätte – aber nein, der Blick, den er mir über die Schulter hinweg gönnte, war eher animiert als verängstigt. Und in der nächsten Sekunde war er auch schon im Meer der Beine abgetaucht.

Bei dem Versuch, ihm zu folgen, riskierte ich mein Leben. Ich kann die Panik nicht beschreiben, als ich sein zerknautschtes Hütchen an meine Brust drückte. Dieser kleine Hund war meine ganze Welt. In dieser Sekunde erkannte ich, dass ich mein gesamtes, nicht unbeträchtliches Vermögen gegen ihn eintauschen würde.

Ihn weiter zu verfolgen, war sinnlos. Es war wie in einem Albtraum, in dem man versucht zu laufen und nicht von der Stelle kommt.

Meine Unbeholfenheit war erschreckend. Ich erntete immer wieder verärgerte Blicke. Viele schienen zu glauben, ich hätte zu viel getrunken. Und um dieses Vorurteil noch zu bestätigen, stolperte ich plötzlich und spürte, wie sich mein Knöchel verdrehte. Ich erlaube mir nur selten einen schwachen Moment, aber der Schmerz war höllisch.

Und dann erschien sie … mein sprichwörtlich rettender Engel.

Inmitten der Menschenmassen, die zur Konzertbühne strömten, blieb sie stehen und sah mich an. Wir waren wie zwei Felsen in einem wild strömenden Fluss.

Auf den ersten Blick wusste ich, dass sie ein guter Mensch war. Ihre Augen waren riesig und goldbraun, ihr Blick sanft und mitfühlend.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Sie sprach Englisch, allerdings ohne Akzent, weshalb ich sie für eine Nordamerikanerin hielt. Instinktiv klammerte ich mich an ihr fest. Und anstatt die durchgeknallte Alte abzuschütteln, legte sie einen Arm um meine Schulter und stützte mich. Sie war sehr schlank, groß und hatte enorme Kraft.

„Mein Hund!“, schluchzte ich. „Er ist weggelaufen … da lang.“

Weil ich mich meiner Schwäche und Hysterie schämte, wollte ich mich von ihr lösen, doch der sengende Schmerz in meinem Knöchel ließ mich zusammenzucken. Eine Sekunde später realisierte ich, dass ein Mann zu meiner Retterin gehörte. Einer dieser attraktiven, selbstverliebten Typen, die ernsthaft glaubten, der Frau, die sich ihrer Aufmerksamkeit erfreuen durfte, damit einen Gefallen zu tun.

Obwohl sie meine Retterin war, hatte ich das Gefühl, sie beschützen zu müssen.

„Ralph … diese arme Frau hat ihren Hund verloren. Kannst du ihn für sie finden?“

Ralph starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren, dann blickte er mit gerunzelter Stirn auf seine protzige Armbanduhr. Keine Frage, er wollte auf keinen Fall zu spät zum Konzert kommen. Wahrscheinlich hatte er eine Menge Geld für Plätze in der ersten Reihe ausgegeben.

Seine Begleiterin ließ ihn nicht aus den Augen, und ich bemerkte, dass sie ihn plötzlich in einem völlig anderen Licht sah. Auch ihm schien dieser Wandel nicht entgangen zu sein, denn nach einem kaum merklichen Zögern wandte er sich mir widerwillig zu.

„Welche Rasse?“

„Ein Dackel … im Matrosenanzug.“

Er hob maliziös eine dunkle Braue, und ich entschied, dass ich diesen Ralph nicht ausstehen konnte. Stellvertretend für sie hasste ich ihn sogar.

Endlich machte er sich offensichtlich widerwillig auf den Weg.

„Er heißt Max!“, rief ich ihm hinterher, wohl wissend, dass ein Typ wie er niemals inmitten all dieser Menschen nach einem entlaufenen Hund grölen würde. Plötzlich begann ich unkontrolliert zu zittern, teils weil mein Knöchel pochte, teils weil ich Max vor meinem inneren Auge sah … völlig verloren im Menschenmeer.

„Sind Sie verletzt?“, fragte mein Engel besorgt.

„Anscheinend habe ich mir den Knöchel verstaucht.“

Sofort schob sie ihren Arm unter meine Achsel und trug mich praktisch aus dem Gewimmel in Richtung eines improvisierten Cafés. Unter einem weißgelb gestreiften Sonnenschutz warteten nicht zusammenpassende Plastiktische und Stühle auf Gäste.

Eine junge Frau stand gerade von einem der Tische auf. Sie umklammerte ihr Carlene-Konzert-Ticket so fest, als hätte sie ihr Leben lang auf diesen Moment gewartet. Als sie sah, dass ich weinte, schaute zu meiner Begleiterin und zögerte. Dann traf sie eine Entscheidung.

„Ist alles in Ordnung? Oder kann ich helfen?“

Sie hatte kurzes dunkles Haar, war sehr zierlich und hätte ohne Weiteres als Tinker Bell in Peter Pan besetzt werden können. Über ihrer Schulter hing ein Instrumentenkoffer – vielleicht eine Geige oder Ukulele –, was mich vermuten ließ, dass sie nicht nur zu dem Carlene-Konzert gehen wollte, sondern vielleicht selbst eine weniger bekannte Musikerin war. Genau wie ich war sie Engländerin, was mich irgendwie irritierte.

„Nicht wirklich, meine Freundin hat ihren Hund verloren“, klärte mein Engel sie auf. „Außerdem hat sie sich am Knöchel verletzt.“

Ihre Freundin … nicht eine verrückte Alte, die sie von ihrem Konzertbesuch abhielt.

„Ach, Sie Ärmste!“

Plötzlich hatte ich zwei hilfreiche Engel, einen auf jeder Seite, die mich zu einem freien Tisch führten.

„Brauchen Sie einen Arzt?“, fragte das englische Mädchen.

„Nein, ich brauche meinen Hund!“ Peinlicherweise schwankte meine Stimme.

„Welche Rasse?“, erkundigte sie sich sanft.

Wie schön, dass sie nicht wissen wollte, warum ich einen Hund zu diesem Massen-Event mitschleppte. Obwohl Dänemark eine der hundefreundlichsten Nationen auf der Welt ist, war es wohl wirklich nicht besonders klug, Max heute Abend hierher mitzunehmen.

„Ein Dackel.“

„Ich liebe Dackel!“ Damit hatte sie mich endgültig gewonnen. Ihre grünen Augen funkelten vor Begeisterung. „Ich schaue mich mal nach ihm um. Wie heißt er?“

„Max.“ Ich zögerte kurz, dachte an Ralphs negative Reaktion, gab mir dann aber einen Ruck. „Er trägt einen Matrosenanzug.“

„Ein Dackel in einem Matrosenanzug …“ Sie blinzelte und lachte. „Wissen Sie was? Sie haben meinen Tag gerettet. Ach, was sage ich … die ganze Woche!“

Und das von jemandem, der auf dem Weg zum begehrtesten Konzert des Jahres war! Aber sie steckte das Carlene-Ticket in ihre Tasche, als wäre es ihr egal, und verlor sich bald in der Menge. Ich hörte sie nach Max rufen.

Mein verbliebener Engel hatte inzwischen einen Becher Tee für mich organisiert.

Sie war attraktiv, auf eine unaufgeregte Weise. Zur schlichten Caprihose trug sie ein gestricktes Tank-Top in einer Nichtfarbe. Abgesehen von ihren riesigen schokobraunen Augen und der beachtlichen Größe war sie eher unauffällig mit ihrem schulterlangen, hellbraunen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen und der typischen Figur von Menschen, die sich nicht fürs Essen interessierten.

Obwohl sie eher zurückhaltend wirkte, plauderte sie munter drauflos, offenbar in der Absicht, mich von meinem Kummer und meinen Schmerzen abzulenken. Sie erzählte mir, dass sie Jessica Winton heiße und aus einer kleinen Stadt in Kanada stamme, in der sie einen Buchladen mit dem Namen The Book and Cranny betreibe.

„Muss schwierig sein, mit den Online-Giganten zu konkurrieren“, sagte ich.

„Nicht wirklich, da ich finde, in einem Buchladen geht es nicht nur darum, Bücher zu verkaufen“, kam es zurück. „Meiner Meinung nach schafft die Online-Welt nur ein noch tieferes Bedürfnis nach echter menschlicher Begegnung.“

Dass viele glaubten, traditionellen Buchhandlungen würde zwangsläufig das Schicksal eines Dinosauriers drohen, hielt sie für einen Irrtum und meinte stattdessen, man sollte sie als Zentrum der Gemeinschaft neu etablieren.

Ich spürte, dass sie das Charisma hatte, um diesen Traum Realität werden zu lassen, und dass sie außerdem eine kluge Geschäftsfrau war. Noch dazu erinnerte sie mich an mein jüngeres Ich. Wie geschickt es ihr gelungen war, mich sowohl von meinem verschwundenen Hund als auch von meinem pochenden Knöchel abzulenken.

„Reisen Sie viel?“

Da lachte sie kurz auf und erzählte mir, dass dies ihre erste Reise ins Ausland sei. Und ihr erstes richtiges Abenteuer. Alle früheren hätten sich ausschließlich zwischen Buchdeckeln abgespielt. Dann schnitt sie eine kleine Grimasse, die mich vermuten ließ, dass dieses Abenteuer möglicherweise nicht wie geplant verlief.

„Sind Sie mit Ihrem Begleiter fest zusammen?“ Ein Vorteil des Alters ist, dass man so freiheraus sein kann, wie man will.

Jessica zögerte und zuckte dann mit den Schultern. „Wir haben seit etwa einem Jahr eine Online-Beziehung. Die Tage hier sind die ersten, die wir wirklich gemeinsam verbringen. Ich dachte …“

Sie ließ den Satz unbeendet. Armes Ding. Angesichts seines Aussehens und eines Ozeans zwischen ihnen hatte sie bestimmt gedacht, er wäre ihr Prince Charming.

Ich hatte meinen Tee ausgetrunken und sehnte mich nur noch nach meinem Hotelzimmer, um mich auszuruhen und um meinen geliebten Max zu trauern.

Aber bevor ich etwas sagen konnte, tauchte Tinker Bell in Begleitung eines anderen Mädchens auf, die mit ihrer stacheligen Kurzhaarfrisur und der zierlichen Figur ihre Schwester hätte sein können. Doch das Haar des Mädchens war heller, außerdem hatte sie Sommersprossen – und sie hielt den sich windenden Max fest in ihren Armen.

Die beiden jungen Frauen strahlten und wirkten so fröhlich und voller Leben, dass mein Herz einen verrückten Sprung machte. Dazu das Wunder, Max wiederzusehen, wenn auch mit zerfleddertem Outfit … es brachte mich zum Weinen.

Ich hatte ihn wieder, meinen kleinen Affen! Er schleckte mich ab, als wäre er gewaltsam entführt worden und überglücklich, wieder bei mir zu sein.

Seine beiden Retterinnen lachten zufrieden und stellten sich mir vor. Das englische Mädchen hieß Daisy und das dritte erwies sich als Australierin namens Aubrey. Sie hatte blitzschnell reagiert und den kleinen Streuner aufgehalten, als er an ihr vorbeigelaufen war, und sich dann umgeschaut, zu wem er gehören könnte.

Dabei war sie auf Daisy gestoßen, und jetzt saßen wir alle bei einem frischen Tee zusammen, und ich fand ein bisschen über jede von ihnen heraus.

Daisy war in der Tat eine angehende Musikerin, die auf einigen der kleinen Bühnen des Festivals spielen würde. Und obwohl Aubrey sehr offen und kontaktfreudig wirkte, hatte sie etwas Zerbrechliches an sich, was mich befürchten ließ, sie sei nicht ganz gesund. Sie und ihre Brüder arbeiteten in der familieneigenen Malerfirma, erzählte sie mit wenig Begeisterung.

Ich genoss die Gesellschaft der drei jungen Damen sehr und hätte dabei fast vergessen, dass ich sie von ihrem Konzert abhielt, das jede Minute losgehen würde. Also klemmte ich mir Max unter den Arm, wollte aufstehen und hatte meinen Knöchel völlig verdrängt, was sich sofort rächte. Der stechende Schmerz entlockte mir ein dumpfes Aufstöhnen, und geschlagen sank ich auf meinen Stuhl zurück.

Dabei bemerkte ich Ralph, der den Hals reckte und offensichtlich nach Jessica Ausschau hielt. Sobald er sie entdeckte, steuerte er auf unseren Tisch zu.

„Ich sehe, der Hund wurde gefunden“, stellte er kühl fest. „Jessica, lass uns gehen.“

Sie schaute auf, und ich war froh, ein herausforderndes Funkeln in den samtenen Augen aufblitzen zu sehen. „Meine Freundin wird Unterstützung brauchen, um mit Max ins Hotel zurückzukommen.“

Natürlich hätte ich protestieren können, doch mir schien, dass dies ein entscheidender Moment im Leben meines Engels war.

„Wir verpassen das Konzert“, warf Ralph ein.

„So sieht es aus“, gab sie ruhig zurück.

„Die anderen beiden können ihr doch helfen.“

„Du hältst unser Vergnügen an dem Konzert für wichtiger als ihres?“

Daisy und Aubrey schauten mit offenen Mündern von einem zum anderen. Ralph holte tief Luft, warf Jessica einen vernichtenden Blick zu und stapfte in Richtung Konzertbühne davon. Wir anderen hielten unisono den Atem an.

Aubrey brach als Erste das lastende Schweigen.

„Was für ein Idiot!“, platzte sie heraus.

Dann kicherten wir alle wie alberne Schulmädchen. Ich fühlte mich plötzlich so zugehörig – ein Gefühl, das ich in meiner Schulzeit immer schmerzlich vermisst hatte.

„Ich komme schon allein zurecht“, behauptete ich kühn. „Bitte, macht euch endlich auf den Weg und genießt das Konzert.“

„Du und allein zurechtkommen? Das sehe ich aber völlig anders“, wandte Aubrey energisch ein und schaute um sich. „Ich versuche mal, eins von diesen Golf-Carts zu erwischen, die hier überall rumfahren.“

„Ich muss gleich schließen“, meldete sich jetzt auch noch die Frau, die das improvisierte Café betrieb. „Wenn Sie noch etwas möchten …“

Ich sah, dass sie mindestens so erschöpft war, wie ich mich fühlte, und wusste sofort, was ich ihr Gutes tun könnte. „Hier, nehmen Sie bitte, ich brauche es nicht mehr.“ Damit hielt ich ihr mein Ticket für das Carlene-Konzert hin.

„Wenn Sie einen Freund haben, der sich kurzfristig herbeischaffen lässt, können Sie meins auch noch haben“, bot Jessica ihr an, gefolgt von Daisy.

Plötzlich hielt die Frau drei Tickets in der Hand. Ihre offenkundige Müdigkeit war wie weggewischt.

„Meine Kinder … wir wohnen ganz in der Nähe. Sie wollten unbedingt ins Konzert, aber die Tickets waren unmöglich zu bekommen.“

„Nichts ist unmöglich“, erklärte ich streng und erntete dafür ein Lächeln von Daisy.

„Das gefällt mir … nichts ist unmöglich“, wiederholte sie sonnig.

„Aber du hättest trotzdem gehen können. Ihr müsst doch nicht …“ Ich brach ab, als ich sah, wie Daisy die überglückliche Kellnerin anschaute. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Karte auf keinen Fall zurückgenommen hätte. Was für ein Glück hatte ich, in unserer selbstsüchtigen Welt auf drei solche Zauberwesen wie meine rettenden Engel zu treffen.

Ein Golfwagen, in dem Aubrey neben einem Sanitäter saß, steuerte direkt auf uns zu. Der junge Mann stellte seinen Erste-Hilfe-Koffer auf den Stuhl neben mir, zog mir Schuh und Socke aus und tastete behutsam meinen Knöchel ab.

„Könnte gebrochen sein“, lautete seine Diagnose. Dann zog er sein Handy hervor und bestellte ungeachtet meines Protestes einen Krankenwagen zum nächstliegenden Parkausgang.

Obwohl ich darauf bestand, weigerten sich meine Engel standhaft, mich zu verlassen – sogar Aubrey, die immer noch ihr Ticket hatte.

„Was soll denn mit Max in der Notaufnahme passieren?“ fragte Daisy. „Nein, wir kommen mit und kümmern uns abwechselnd um ihn, bis du wieder raus darfst.“

Und so landeten wir alle im Golfwagen, der damit völlig überladen war. Trotz meines pochenden Knöchels fühlte sich die wackelige Fahrt durch Faelledparken fast wie ein lustiger Ausflug an. Am Ausgang ging es dann in Begleitung zweier Sanitäter plus Jessica im Krankenwagen weiter, dem Aubrey und Daisy zusammen mit Max in einem Taxi folgten.

Mein Knöchel war zum Glück nicht gebrochen, sondern nur verstaucht. Und so fielen wir uns Stunden später vor dem Krankenhaus in die Arme und strahlten uns an, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen.

Erst jetzt konnte ich mir die drei jungen Frauen, die ihre eigenen Pläne so selbstlos aufgegeben hatten, um mich zu unterstützen, endlich genauer anschauen.

Wirklich anschauen, meine ich … mit dem Herzen.

Eine ungewöhnliche Gabe, über die ich bereits im Kindesalter verfügte.

Meine Mutter entsetzte dieses Talent. Sie ging sogar so weit zu vermuten, ich wäre möglicherweise keine echte Ascot, sondern als Baby irischem fahrenden Volk unterwegs verloren gegangen. Die Vorstellung, sie könnte damit recht haben, hat mich – aufgewachsen in einer steifen Aristokratenfamilie, regiert von Traditionen und Anstandsregeln – immer wieder Mut schöpfen und durchhalten lassen.

Ich war längst nicht so verrückt, wie man mir unterstellte, und konnte weder hexen noch hellsehen. Allerdings musste ich den Menschen nur tief in die Augen schauen, um intuitiv zu wissen, was sie brauchten.

Als ich jung war, überforderte mich diese Fähigkeit oft und quälte mich manchmal sogar, besonders in Menschenansammlungen, wenn die Bedürfnisse der Menschen, große wie kleine, mich umschwärmten und bedrängten wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk. Sie müsste einen Arzt aufsuchen … er bräuchte eine Brille … sie einen neuen Beruf … er eine andere Frau …

Mit zunehmendem Alter lernte ich, meine Beobachtungen größtenteils für mich zu behalten. Die Menschen schätzen es nicht wirklich, wenn eine Fremde mit ungebetenen Einsichten und Ratschlägen auf sie zukommt. Mit den Jahren gelang es mir immer besser, mich innerlich abzugrenzen oder mein Wissen weder preiszugeben noch auszunutzen, selbst wenn es mir einen geschäftlichen Vorteil verschafft hätte.

Auch als ich mir jetzt meine drei Engel anschaute, wusste ich mit erstaunlicher Klarheit, was jede von ihnen brauchte. Aber ich hätte meinen phänomenalen geschäftlichen Erfolg nicht gehabt, wenn ich mich allein auf meine Instinkte verlassen hätte.

„Ich habe einen Wagen geordert, der Max und mich zum Hotel zurückbringen wird“, sagte ich und hob die Hand, als Jessica protestieren wollte. Sie hatte wahrlich genug für mich getan. „Aber ich würde gern mit euch in Verbindung bleiben. Ich bin zwar eine blutige Anfängerin, was die sozialen Medien betrifft, aber wenn es euch nichts ausmacht …“

Natürlich waren sie absolut reizend und versorgten mich umgehend mit allen notwendigen Informationen, die sie auf einen Zettel schrieben.

Untereinander hatten sie ihre Daten längst ausgetauscht und in ihren Handys abgespeichert. Das gute alte Papier war keine Option für diese Generation.

Aber für mich war ein einziges kleines Blatt in diesem Fall Gold wert, denn so konnte ich jetzt schamlos das gesamte Privatleben meiner Engel ausspionieren. Junge Leute waren sich häufig nicht bewusst, was sie online alles enthüllten. Ich brauchte diese Informationen nur, um bestätigt zu sehen, ob das, was ich für nötig hielt, wirklich das war, was sie brauchten.

Und glücklicherweise war ich in der einzigartigen Position, es ihnen auch gewähren zu können. Aber ich fühlte überhaupt keine Eile. Sie waren jung und in einem Alter, in dem sich Bedürfnisse noch ständig änderten. Ich hatte Zeit und Geduld und würde warten, bis ich mir hundertprozentig sicher war.

Was mich am meisten freute, war, dass alle drei mich einfach als Viv akzeptiert hatten. Keine von ihnen ahnte, wer sich tatsächlich hinter diesem Namenskürzel verbarg: Vivian Ascot, Hauptsponsorin dieses Musikfestivals und CEO einer der größten und ältesten Familienunternehmen der Welt.

„Was für ein schlauer Kerl und guter Junge du warst …“, lobte ich Max, während ich den Mädchen nachschaute, als sie untergehakt davonmarschierten, auf dem besten Weg, lebenslange Freundinnen zu werden. „Mir so eine wundervolle Chance zu ermöglichen.“

Jessica wollte heute Nacht bei Aubrey bleiben, um nicht Gefahr zu laufen, Ralph noch einmal in ihrem Hotel zu begegnen. Morgen wollten sie sich alle erneut auf dem Festival treffen, um Daisys Auftritt gemeinsam zu erleben

Ich hingegen sinnierte darüber, was meine rettenden Engel wirklich brauchen könnten. Sie waren so jung, so voller Hoffnung und Zuversicht, schon das Richtige zu finden. Aber wirklich wissen konnten sie es nicht.

Den längsten Kontakt hatte ich zu Jessica gehabt und sie dadurch auch am besten kennengelernt. Mir hatte gefallen, wie sie Timber Falls beschrieb, den kleinen Ferienort in den kanadischen Rocky Mountains, in dem sie aufgewachsen war, ihren Buchladen hatte und in dem ihre Eltern noch lebten.

Aber während es sich wie ein großartiger Ort für alternde Eltern und möglicherweise einen kurzen Urlaub angehört hatte und Jessica sich dort zweifellos sicher fühlte, blieb eine Frage offen: Welche Sehnsucht hatte sie nach Kopenhagen geführt? Egal, was sie selbst dachte, ich wurde das Gefühl nicht los, dass es bei ihrer Reise zum Musikfestival weniger um eine Romanze als um die drängende Sehnsucht nach Weite und Neuem ging. Junge Menschen brauchen Herausforderungen. Doch nach dem Fiasko mit Ralph konnte es leicht passieren, dass Jessica sich zurück in ihr vertrautes Nest flüchtete, anstatt alles zu erkunden, was das Leben ihr bot.

Aber nicht, solange ich noch ein Wörtchen mitzureden hatte …

Während ich auf meine Limousine wartete, verspürte ich ein Glücksgefühl, wie ich es lange nicht mehr empfunden hatte. Spontan beschloss ich, für meine drei Engel die gute Fee zu spielen. Das könnte sich möglicherweise als der größte Spaß meines Lebens herausstellen.

1. KAPITEL

Jessica Winton verließ den Zoll- und Einwanderungstrakt und trat in den brodelnden Ankunftsbereich des John F. Kennedy International Airport. Sie schluckte einmal und umfasste den Griff ihres Rollkoffers noch eine Spur fester.

Seit dem besonderen Musikfestival in Kopenhagen hatte sie keine derart große Menschenansammlung mehr erlebt, und das war inzwischen … etwa zwei Jahre her? Tatsächlich! Sie blinzelte überrascht. Sogar fast auf den Tag genau.

Und was war bei dem hoffnungsvollen Ausbruch aus ihrer Normalität damals herausgekommen? Ihre virtuelle Romanze hatte dem schonungslosen Licht der Realität nicht standgehalten und war als naive Jungmädchenseifenblase zerplatzt.

Etwas Ähnliches könnte ihr auch diesmal passieren.

Was hat mich nur geritten, mich auf dieses Wagnis einzulassen? Dabei hatte es sich auf den ersten Blick so gut angefühlt. Inzwischen hingegen glaubte Jessica, es wäre klüger gewesen, die E-Mail, die sie hergebracht hatte, einfach zu löschen. Denn vermutlich war sie nicht mehr als eine typische Lockvogel-Masche wie „verwaiste nigerianische Prinzessin findet ihr Glück in New York City“.

Damals war es der Traummann gewesen, dieses Mal der Traumjob. Ob es mir bestimmt ist, immer wieder auf Traumgelegenheiten hereinzufallen?

Autor

Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
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