Das Geheimnis der schönen Lady

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"Wir werfen ihn von den Klippen." Eiskalt überläuft es Lucas bei den rauen Worten der Whiskyschmuggler, denen er in den Highlands in die Hände gefallen ist. Aber eine geheimnisvolle Lady taucht auf und lässt ihn frei. Im Dunkel der Nacht raubt Lucas seiner Retterin einen leidenschaftlichen Kuss, wie berauscht von ihrem süßen Duft nach Glockenblumen. Denn er sofort erkennt, als er am nächsten Tag Lady Christina, Tochter des Duke of Forres, auf Kilmory Castle begegnet! Ist diese sinnliche Schönheit etwa die Anführerin der Schmugglerbande? Das wäre perfekt für seinen geheimen Plan, der ihn auf das schottische Schloss geführt hat …


  • Erscheinungstag 06.11.2018
  • Bandnummer 333
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734145
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Edinburgh, April 1817

Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir unter die Arme greife“, sagte Jack Rutherford.

Lucas Black lachte. „Vielleicht, weil du in meinem Club den besten Brandy von ganz Edinburgh bekommst?“ Er goss seinem Freund nach.

„Da magst du recht haben“, gab Jack zu. „Aber das ist es nicht allein.“

„Dann vielleicht, weil du Schulden bei mir hast?“

Die Karten lagen vergessen auf dem Kirschholztisch zwischen ihnen. Sie befanden sich allein in einem der Privaträume des Clubs. Hinter der Tür befand sich der größte Salon der privaten Spielhölle, in der sich heute die reichsten Männer der Stadt versammelt hatten. Lucas Black waren die Vorfahren dieser Männer herzlich egal, ihn interessierte nur, ob seine Gäste ihre Schulden bezahlen konnten oder nicht. Er befand sich inzwischen in der Position, sich seine Gäste aussuchen zu können. Kaum etwas war in der schottischen Gesellschaft so begehrt wie eine Einladung ins The Chequers.

Jack zog seine Brieftasche hervor. „Das macht fünfundzwanzig Guineen, nicht wahr?“

Lucas machte eine ablehnende Handbewegung. „Mir wäre deine Hilfe lieber.“

Sein Freund schwenkte leicht sein Glas und blickte schweigend auf den sich wirbelnden Brandy.

„Fürchtest du einen Loyalitätskonflikt?“, fragte Lucas. Er und Jack waren seit langem Geschäftspartner. Sie hatten einander häufiger aus der Klemme geholfen, als Lucas sich erinnern konnte, und gerade deshalb verwunderte ihn Jacks Zögern.

„Wohl kaum.“ Jack sah auf. „Ich habe für meinen Schwiegervater wenig übrig“, sagte er. „Er wollte sowohl meine Frau als auch meine Schwägerin zu Ehen zwingen, die ihnen irreparable Schäden zugefügt hätten. Die Leute halten ihn für exzentrisch, aber diese Einschätzung ist allzu freundlich.“ Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Nein. Ich sorge mich eher um die betrügerische Note in dieser Angelegenheit. Bisher hielt ich dich für einen Mann, der geradewegs in ein Haus geht und seine Angelegenheit vorträgt, statt sich als Diener zu verkleiden und die Leute auszuspionieren.“

„Du hast recht. Normalerweise suche ich die direkte Konfrontation“, stimmte ihm Lucas zu, „aber kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn ich auf Kilmory Castle auftauche und behaupte, einer seiner Bewohner habe meinen Bruder umgebracht und ich sei nun dort, um den Schuldigen zu finden, um ihn der Justiz zu überantworten? Sie würden mich vor die Tür setzen oder in Bedlam einsperren lassen.“

Er schwieg. Sein trockener Tonfall hatte seine Gefühle verbergen sollen, doch Jack ließ sich davon nicht täuschen. Lucas sah seinen mitleidigen Blick.

„Das mit Peter tut mir leid“, sagte Jack mitfühlend. „Ich verstehe, dass du wissen willst, was passiert ist …“

Lucas unterbrach ihn mit einer heftigen Handbewegung. „Ich will nichts weiter als Gerechtigkeit“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es war kein Unfall.“

Er sah, wie Jack nach der passenden Antwort suchte.

Nicht, dachte Lucas ärgerlich. Sag jetzt bitte nicht, dass du weißt, wie ich mich fühle! Erzähl mir nicht, dass Peters Tod untersucht wurde und dass ich wenige Chancen habe, den Schuldigen zu finden, wenn es schon andere nicht geschafft haben!

Wut und Hilflosigkeit wallten in ihm auf. Er ballte die Fäuste. Er war seinem Halbbruder als Erwachsener nach Jahren der Entfremdung nur ein einziges Mal begegnet. Damals hatten sie gemeinsam die Grundlage für eine Beziehung gelegt, von der sie gehofft hatten, sie werde sich zu einer starken Bindung entwickeln. Und dann war Peter gestorben. Damit war ihnen die Möglichkeit für jede gemeinsame Zukunft geraubt worden. Damals war er gerade neunzehn Jahre alt, kaum mehr als ein Halbwüchsiger.

Als ihm sein Halbbruder geschrieben hatte, dass er nach Schottland komme, um ihn zu treffen, hatte Lucas den Brief ignoriert. Mit dem Tod seiner Mutter war der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, Lucas hatte es auch nicht anders gewollt. Die Erinnerungen an seine Kindheit in Russland waren alles andere als glücklich.

Du bist ein Bastard und deine Mutter ist eine Hure, hatten ihm die anderen Kinder zugeflüstert. Diese hässlichen Worte passten nicht zur opulenten Pracht des Palasts seines Vaters.

Bastard, Bastard …

Der Spott klang noch heute in seinen Ohren nach. Er schob den Gedanken daran beiseite und sperrte die damit verbundenen Gefühle fort, wie er es immer getan hatte, seit er wusste, was diese Worte bedeuteten. Seine Abstammung interessierte ihn nicht. Unterm Strich war er sogar dankbar für die Sticheleien, weil sie ihm den Anstoß gegeben hatten, sich zu beweisen. Er hatte unermüdlich gearbeitet, um ein Imperium aufzubauen, das ihm mehr Reichtum und Einfluss verlieh, als seine Familie je besessen hatte. Der Hass auf seine Verwandten hatte ihn beflügelt.

Und dann stand Peter plötzlich vor ihm und alles war anders. Er sah seinen Halbbruder noch immer in der Türschwelle seines Hauses am Charlotte Square stehen, ein großer, schlaksiger Jüngling, der seine Haut noch nicht ganz ausfüllte, dessen Haltung aber bereits den Mann erahnen ließ, der er eines Tages werden würde. Peter kauerte sich zusammen, weil der Wind, der von Edinburgh Castle herabblies, eisig war.

„Lieber Gott, in diesem Land ist es wirklich kalt!“ Peter war ohne Einladung geradewegs hereinspaziert. Er sprach russisch und umarmte Lucas, der einfach nur verblüfft und sprachlos dastand. Es gab nicht viel, was Lucas überraschen konnte. Peter jedoch hatte es innerhalb von nur fünf Sekunden geschafft.

„Ich habe dir geschrieben!“, sagte Peter damals freudestrahlend.

„Ich weiß“, erwiderte Lucas. „Ich habe nicht geantwortet.“

Peter zu widerstehen, erwies sich als aussichtslos. Hinter seinem unbezähmbaren Geist verbarg sich stahlharte Entschlossenheit. Lucas kannte diese Entschlossenheit, sie war ihm selbst zu eigen, und er konnte sich gegen Peters Zuneigung nicht wehren. Sie verbrachten zwei zügellose Wochen in Edinburgh. Peter war oft unglaublich betrunken und Lucas musste ihn aus dem Gefängnis retten, wo sie ihn zur Ausnüchterung eingesperrt hatten. Peter stürzte sich kopfüber ins Nachtleben, wanderte von Partys zu Bällen und Abendessen und wurde überall als russischer Prinz gefeiert. Peters Aufpasser, ein leidgeprüfter Bursche, der den Jungen und drei seiner Kameraden durch Europa begleitete, bestand darauf, dass die jungen Leute auch Ausstellungen besuchen sowie an wissenschaftlichen Diskursen an der Akademie in Edinburgh teilnehmen sollten, doch Peter verschwand spätestens nach der Hälfte jedes Vortrages, um sich in einem Bordell zu vergnügen. Lucas holte ihn dort immer wieder heraus.

Nach zwei Wochen machten sich Peter und seine Kameraden auf in die Highlands.

„Ich will unbedingt Fingals Höhle sehen!“, rief Peter. „Sie soll so wild und romantisch sein!“ Nach einer Bootstour zur Insel Staffa verfasste er gefühlvolle Verse über ihre Schönheit und schrieb Lucas, dass sie auf ihrer Reise zurück einen Abstecher nach Ardnamurchan machen würden. Er wollte unbedingt den westlichsten Punkt der britischen Hauptinsel sehen.

Und dann erreichte Lucas die Nachricht von Peters Tod. Seine Leiche war in Kilmory, einem Dorf am Ende der Halbinsel von Ardnamurchan, neben einem Küstenpfad gefunden worden. In der Nacht vor seinem Tod hatten er und seine Kameraden mit dem Duke of Forres und seiner Familie auf Kilmory Castle gespeist. Danach war Peter offenbar zum Kilmory Inn zurückgekehrt, um kurz darauf noch einmal allein aufzubrechen. Niemand wusste, wen er treffen wollte und warum. Doch am nächsten Morgen fand man ihn halbbekleidet, zusammengeschlagen und beraubt. Trotz des schlechten Rufs der Highlands und seiner Bewohner gehörten Raub und Mord dort nicht zur Tagesordnung. Doch das tröstete Lucas nicht, der seinen Halbbruder verloren hatte, ohne ihn richtig kennenlernen zu können.

Die Holzscheite auf dem Kaminrost sackten lautstark zusammen und der Lärm holte ihn in die Gegenwart zurück. Ihm wurde klar, dass Jack mit ihm gesprochen hatte. Er unterdrückte seine Trauer und seine Wut und versuchte, zuzuhören.

„Ich glaube wirklich, dass Lord Sidmouth dich nur benutzt, um Kapital aus der Angelegenheit zu schlagen, Lucas“, sagte Jack vorsichtig. „Er benutzt deinen Kummer, um dich zu beeinflussen.“

Lucas schüttelte missmutig den Kopf. „Ich helfe Lord Sidmouth aus freien Stücken“, erwiderte er. „Als Gegenleistung für Informationen und Mittel.“

Nach Peters Tod hatte das Innenministerium Leute aus London nach Kilmory geschickt, um Peters Mörder zu fassen, doch sie fanden nichts. Lord Sidmouth war überzeugt, dass der Fall mit den überall in den Highlands verbreiteten illegalen Whiskydestillerien zusammenhing. Er behauptete, Peter sei, ohne es zu wissen, über eine berüchtigte Schmugglerbande aus Kilmory gestolpert. Deren Mitglieder töteten ihn, bevor er etwas ausplaudern konnte. Lucas sah nicht den geringsten Grund, an der Einschätzung des Innenministers zu zweifeln, er verspürte nur den brennenden Wunsch, sich an den Schurken, die für Peters Tod verantwortlich waren, zu rächen.

„Ich weiß, es ist reine Spekulation“, sagte er. „Aber vielleicht finde ich etwas, was diese Deppen aus London übersehen haben. Wenn diese Whiskyschmuggler Peter auf dem Gewissen haben, sind meine Möglichkeiten, es herauszufinden, größer als die der offiziellen Stellen. Aber ich kann nicht so einfach nach Kilmory fahren und meine Nase in die Angelegenheit stecken.“ Er richtete den Blick aufs Feuer. Es glimmte nur noch, füllte das Zimmer aber immer noch mit Wärme und Licht. Dennoch fror Lucas innerlich. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihm das letzte Mal warm gewesen war. Er wusste nicht einmal mehr, ob ihm jemals richtig warm gewesen war, jedenfalls nicht seelisch und nur darauf kam es schließlich an.

Er war der illegitime Sohn eines schottischen Lairds und einer russischen Prinzessin, das Produkt einer Nacht jugendlicher Leidenschaft, während sein Vater Russland bereiste. Seine Geburt hatte in der russischen Gesellschaft Anstoß erregt und Schande über seine Mutter gebracht. Fünf Jahre später war sie eine unglückliche Ehe mit einem Mann eingegangen, der wegen ihrer Mitgift bereit war, ihren befleckten Ruf hinzunehmen.

Lucas hatte seine Mutter nach ihrer Heirat begleitet, doch er blieb stets das Wechselbalg, das im Haus seines Stiefvaters zwar geduldet, aber nicht gern gesehen wurde. Er war sich des Rangunterschieds zu den anderen Kindern seiner Mutter immer bewusst. Sein Großvater hatte Zarin Katharina die Große gebeten, ihn zu legitimieren, aber das hatte seine Situation nur noch verschlimmert. Seine Cousins und Cousinen, ja selbst sein Stiefvater hatten ihn weiterhin einen Bastard genannt und im Blick seiner Mutter lag stets Scham und Kummer, wenn sie ihn ansah. Peter war der Einzige, der den dunklen Schatten, den Lucas’ Existenz warf, ignorierte, dabei war er damals kaum mehr als ein Kleinkind, offen, vertrauensvoll und herzlich.

Sein kleiner Bruder, dessen Leben durch einen Fremden in einem fremden Land ausgelöscht wurde. Wieder spürte Lucas die innere Kälte und die eiskalte Entschlossenheit, die Wahrheit herauszufinden.

„Peter verdient Gerechtigkeit“, wiederholte er. „Ich kann es nicht einfach auf sich beruhen lassen, Jack. Er war der Einzige, der mir von meiner Familie geblieben ist.“

„Nein, war er nicht“, erwiderte Jack. „Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Was ist mit deiner Tante?“

Lucas lächelte zögernd. „Gut, das räume ich ein.“ Die Schwester seines Vaters war eine Naturgewalt. Sie war in Lucas’ Leben getreten, als er sich mehr schlecht als recht auf den Straßen von Edinburgh durchschlug. Obwohl er sie mürrisch abwies, hatte sie ihn nicht fallen gelassen. Er war undankbar gewesen, zerfressen von der Verbitterung über die Familie seines Vaters. Doch seine Tante hatte eine breite Schneise in seinen Ärger geschlagen. Sie hatte ihn dazu gebracht, sich selbst aus der Gosse zu ziehen und dafür liebte er sie inbrünstig. Sie war die einzige Frau, die er liebte, und die einzige, die er sich zu lieben erlaubte.

Die Männer schwiegen. „Du sprichst nie über deinen Vater“, sagte Jack nach einer Weile.

Lucas zuckte widerwillig die Achseln. Er spürte die altbekannte Spannung, die ihn wieder einmal zu lähmen schien. „Zu ihm gibt es nichts zu sagen.“

„Er hat dir immerhin seinen Besitz in Black Strath hinterlassen“, bemerkte Jack. „Das ist etwas.“

Aber nicht für Lucas. Der alte Ärger und der Hass rührten sich wieder in ihm, wie er überhaupt in letzter Zeit ununterbrochen verärgert zu sein schien. Es ärgerte ihn, dass Peter tot und ihm keinerlei Gerechtigkeit widerfahren war und dass dies offenbar niemanden zu interessieren schien. Jack hatte recht. Lucas wusste, dass Lord Sidmouth ihn benutzte. Der Innenminister wollte den organisierten Whiskyschmugglern das Handwerk legen, die seine Steuereintreiber hintergingen. Er wollte all’ ihren Mitgliedern habhaft werden und sie ins Gefängnis werfen. Peters Tod kam Lord Sidmouth entgegen, weil er ihm Lucas’ Unterstützung sicherte. Aber was spielte das für eine Rolle, wenn sie beide das bekamen, was sie wollten.

„Ich habe mich immer gefragt, warum deine Mutter so lange gewartet hat, bevor sie dir von deiner Erbschaft erzählt hat“, sagte Jack. „Dein Vater starb immerhin, als du noch ein Baby warst.“

„Ich glaube, sie fürchtete sich“, erwiderte Lucas langsam. Er erinnerte sich noch immer an ihren festen Griff und an ihren verzweifelten Blick. Ihre Finger waren feucht und kalt gewesen.

Gib deinem Vater nicht die Schuld daran, hatte seine Mutter gesagt. Er war ein guter Mann. Ich habe ihn geliebt.

Aber Lucas hatte Niall Sutherland die Schuld gegeben. Er hatte seinem Vater nie vergeben, dass er Lucas’ Mutter so feige und schwach im Stich gelassen hatte. Sie hatten ihre Romanze geheim gehalten. Ihre Schwangerschaft wurde erst Monate nach Sutherland Abreise entdeckt. Obwohl Prinzessin Irina ihm schrieb, kehrte er nicht nach Russland zurück. Lucas fühlte nichts als Verachtung für ihn, weil er Irina der Scham und dem Stigma ausgesetzt hatte, ein illegitimes Kind auszutragen, und Lucas den endlosen Sticheleien und dem Spott, die mit seinem Status als Bastard einhergingen. Wenn Lucas seinem Vater schon für nichts dankbar sein konnte, so hatte der ihn dennoch eines gelehrt: Er wollte unbedingt das Gegenteil von Niall Sutherland werden: hart, skrupellos und stark.

Jack musterte Lucas, wie er einen Schluck Brandy trank. Er schmeckte bitter und Lucas stellte das Glas unvermittelt ab.

„Sie war unglücklich“, sagte er. „Ich glaube, sie fürchtete, ich könnte sie verlassen, um nach Schottland zu gehen und dort mein Erbe einzufordern. Ich war schon als Kind sehr eigensinnig.“ Er lächelte reuevoll. „Sie hat sich natürlich geirrt. Ich hätte sie niemals verlassen.“

„Aber du bist gegangen, nachdem sie gestorben war“, sagte Jack.

„Es gab nichts mehr, was mich in Russland hielt.“ Lucas ging zum Kamin und warf einige Scheite Holz auf die Glut. Sie zischte und schon bald flackerte das Feuer auf. „An dem Tag, an dem sie starb, jagte mich mein Stiefvater mit der Peitsche aus dem Haus.“ Er versuchte möglichst unberührt zu sprechen, obwohl er bis heute spüren konnte, wie die Peitsche den dünnen Stoff seines Hemdes zerriss und einen beißenden Schmerz auf seinem Rücken hinterließ. Bei einem Schlag hatten sich die Riemen sogar um seinen Hals gewickelt, Lucas wäre beinahe daran erstickt. Bei dem Gedanken daran raste sein Herz erneut. Er war Hals über Kopf nach Schottland geflohen, nur um dort festzustellen, dass sich diejenigen, die den Besitz seines Vaters verwalteten, von einem fünfzehnjährigen mittellosen Jungen nicht beeindrucken ließen.

Er schüttelte heftig den Kopf, um die Erinnerungen an die Vergangenheit zu vertreiben. Seine Tante hatte schließlich dafür gesorgt, dass er seine Ländereien erhielt. Doch er war kein Laird, also hatte er Black Strath verpachtet. Er interessierte sich fürs Geschäft und nicht für Land.

„Du warst Peters Held“, sagte Jack. „Offenbar ist es seinem Vater nicht gelungen, ihn gegen dich aufzuhetzen.“

Lucas lächelte verhalten. „Peter hatte ein liebevolles Gemüt. Er war wie unsere Mutter.“

Jack nickte. „Ich verstehe“, er räusperte sich, „ich meine, ich verstehe, dass du das Bedürfnis hast, Peters Mörder der Justiz zu übergeben.“ Er seufzte. „Du wirst übrigens einen unglaublich schlechten Diener abgeben.“

„Ich weiß nicht, was du damit meinst“, erwiderte Lucas. „Ich kann hart arbeiten.“

„Aber du verstehst es nicht, zu gehorchen“, sagte Jack und leerte sein Glas. „Eher bist du es gewohnt, selbst Befehle zu erteilen.“

„Du glaubst also, dass ich die Anforderungen der Anzeige nicht erfülle?“, fragte Lucas und tippte auf die Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch zwischen ihnen lag. Er las vor: „Diener auf Kilmory Castle gesucht. Sollte gewissenhaft, zuverlässig, gut ausgebildet und ehrerbietig sein.“

„Du bist in nahezu allen Belangen eine eindrucksvolle Fehlbesetzung“, erwiderte Jack.

Lucas lachte. „Dann werde ich dich nicht darum bitten, mir eine Referenz auszustellen.“ Er griff nach einer der Spielkarten, spielte damit herum, indem er sie müßig zwischen den Fingern drehte.

„Erzähl mir etwas über den Haushalt deines Schwiegervaters, damit ich mich vorbereiten kann.“

„Ich war noch nie auf Kilmory Castle“, antwortete Jack. „Soweit ich weiß, ist es eine Burg aus dem vierzehnten Jahrhundert, die weder über vernünftige Wasserleitungen noch über eine Heizung verfügt. Es ist also höllisch unkomfortabel dort. Der Duke mag es aber so.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und er setzt sich immer durch.“

„Lebt noch jemand aus der Familie beim ihm?“, fragte Lucas. Er wusste, dass zum Zeitpunkt von Peters Tod auch Mitglieder des MacMorlan-Clans auf der Burg gewesen waren. Das hatte ihm Lord Sidmouth gesagt.

„Derzeit gibt es dort einen regelrechten Haushalt“, sagte Jack. Er zählte sie an den Fingern ab: „Sobald du dich umdrehst, stolperst du über ein Familienmitglied. Gerade sind Angus und Gertrude dort, Mairis entsetzlicher älterer Bruder, der Marquess of Semple, und seine noch grässlichere Ehefrau. Er wird den Titel erben und nimmt sich ungemein wichtig. Ich glaube, ihre Tochter Allegra ist bei ihnen.“

Lucas zog eine Grimasse. „Und von mir wird erwartet, dass ich all diese Leute bediene?“

„Es ist deine Entscheidung“, sagte Jack ohne jedes Mitgefühl.

„Hm. Wer noch?“

„Lachlan.“ Jack grinste. „Der jüngere Bruder. Er ist wie ein Parasit. Seine Frau hat ihn vor einigen Monaten verlassen und er ertränkt seinen Kummer.“

Lucas pfiff lautlos. „Das ist auch keine Lösung.“ Er hob sein Glas mit einem ironischen Grinsen, als wolle er auf etwas anstoßen. „Und das war’s?“

„Ja“, erwiderte Jack, „oder besser nein“, schob er rasch nach. „Christina, Mairis älteste Schwester, lebt noch dort.“ Er runzelte die Stirn. „Man vergisst Christina immer.“

„Warum?“, fragte Lucas.

„Weil …“ Jack zögerte, „weil sie leicht zu übersehen ist.“ Er klang, als schäme er sich dafür. „Christina ist zurückhaltend, eher altjüngferlich. Sie fällt niemandem auf.“

Lucas fand das schwer zu glauben, denn sowohl Lucy als auch ihre Schwester Mairi MacMorlan, Jacks Frau, waren unglaublich hübsch und funkelten wie erstklassige Diamanten. Seltsamerweise tat ihm Lady Christina leid.

Er ließ die Spielkarte aus seinen Fingern gleiten. Sie fiel auf den Teppich und blieb dort liegen.

Es klopfte leise an der Tür und Lucas Manager, Duncan Liddell, steckte den Kopf herein.

„Tisch vier“, sagte Duncan. „Lord Ainsly. Er kann seine Schulden nicht begleichen, oder er will es nicht. Bin nicht sicher, was von beidem.“ Er war kein Freund großer Worte.

Lucas nickte und stand auf. Das passierte hin und wieder, wenn adelige Sprösslinge ein bisschen zu viel getrunken hatten und glaubten, sie hätten das Recht, umsonst zu spielen, doch meist ließ sich die Sache mit wenigen diskreten Worte klären.

„Ich überlasse dich deinen Geschäften“, sagte Jack. Auch er stand auf und schüttelte Lucas die Hand. „Viel Glück! Ich hoffe, du findest die Wahrheit heraus.“ Er zögerte. „Mir ist es egal, was mit den anderen passiert“, sagte er, „aber tut Christina nicht weh. Andernfalls würde mich Mairi kastrieren, wenn sie erfährt, dass ich dir geholfen habe.“

Lucas grinste. „Ich weiß, dass deine Frau eine Meisterschützin ist. Ich möchte ihr auf keinen Fall in die Quere kommen.“ Dann wurde er wieder ernst. „Du hast mein Wort, Jack. Ich will keinen Streit mit dem Forres-Clan. Ich bezweifle sogar, dass ich viel mit ihm zu tun haben werde. Ich will nur die Whiskybande unterwandern und herausfinden, was Peter zugestoßen ist.“

Während er Duncan in den Salon folgte, fiel Lucas eine Spielkarte auf, die unter dem Tisch lag. Er beugte sich herab, um sie aufzuheben. Es war der Karo-Bube. Er legte ihn oben auf den Kartenstapel. Die Karte schien zum Bastard eines Lairds und einer Prinzessin, der sein Vermögen selbst gemacht hatte, gut zu passen.

1. KAPITEL

Ardnamurchan in den schottischen Highlands, Mai 1817

So hatte Lucas nicht sterben wollen, mit verbundenen Augen und gefesselt in einer Schmugglerhöhle kniend, den penetranten Geruch verrottenden Fischs in der Nase und das Brüllen des Ozeans in den Ohren, der einige hundert Meter unter Lucas gegen die Felsen rollte.

In der einen Minute war er noch in der Dämmerung die Klippen entlanggeschlendert, um sich nach der schier endlosen Reise aus Edinburgh ein bisschen Bewegung zu verschaffen, in der anderen befand er sich in diesem Albtraum wieder. Man hatte ihn überfallen und gefangen genommen. In London hieß es, dass die Highlands im Mai besonders schön seien, doch da hatte man sich wohl geirrt. Im Mai sollte man die Highlands weiß Gott meiden, wenn man kein Messer an der Kehle spüren wollte.

Er war unvorsichtig gewesen und das ärgerte ihn ungemein. Lord Sidmouth wäre jetzt sicher sehr stolz, dass sich sein Spion in den Händen genau der Männer befand, die er auskundschaften sollte. Aber Lucas war so müde gewesen. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war, direkt über die Füße der Schmuggler zu stolpern, die mit einer Ladung illegal gebranntem Whiskey unterwegs waren. Er fragte sich, ob Peter vielleicht auch so gestorben war. Hatte sein Bruder ebenfalls etwas gesehen, was er nicht hatte sehen sollen? War Peter, so wie er, in eine unkontrollierbare Situation gestolpert? Es käme einem Wunder gleich, wenn er die Wahrheit so rasch und so leicht aufdecken, sie aber nicht mehr beweisen könnte, weil er dann nicht mehr lebte.

Die Schmuggler stritten miteinander. Ihr schottischer Akzent war so breit, dass Lucas sie kaum verstand. Doch worum es ging, war nicht schwer zu erraten.

„Wir sollten ihn von den Klippen werfen. Dann kommen keine falschen Fragen auf.“

„Ich bin dafür, dass wir ihn gehen lassen, er hat doch gar nichts gesehen.“

„Das ist viel zu gefährlich. Was ist, wenn er ein Spion ist? Er muss sterben.“

„Und ich sage, wir warten auf die Lady. Sie wird wissen, was zu tun ist.“

Es entstand eine kurze, angespannte Pause.

„Ich halte es für keine gute Idee, sie zu holen.“ Der erste Mann fluchte. „Verdammt noch mal, du weißt genau, was sie sagen wird.“

„Sie ist gegen jedes unnötige Blutvergießen.“ Er klang wie einstudiert. Lucas kam nicht umhin, sich zu fragen, ob man das Vergießen seines Blutes trotzdem für notwendig befinden würde.

Lucas verhielt sich still. Er war völlig durchnässt, müde und unglaublich hungrig. Und er fror.

Wer war diese ominöse Lady? War sie vielleicht so brutal wie ihr Geschäft?

Lord Sidmouth hatte ihn über den illegalen Handel mit Whisky in den Highlands unterrichtet. Die Regierung in London verlangte, dass jeder Highlander, der Whisky brannte, Steuern darauf zahlte, doch die Highlander weigerten sich. Daraufhin hatte die Regierung Steuerbeamte entsandt, um die Schmuggler auszuheben. Deshalb hielt ihn diese Bande sicher für einen Spion, was er ja auch war, und zwar ein ziemlich unfähiger.

Verdammt noch mal!

Lucas erinnerte sich an den Whisky, den er in den Armenvierteln von Edinburgh probiert hatte. Sie nannten ihn auf Gälisch Uisge Beatha, Wasser des Lebens, aber in seinen Augen war er rauer als die Haare am Hintern eines Dachses.

Eine schwache salzige Brise durchschnitt plötzlich den widerlichen Geruch in der Höhle, und die Schmuggler verstummten. Eine unangenehme Stille setzte ein. Lucas hatte niemanden kommen hören und durch die dicke, grob gearbeitete Augenbinde konnte er auch nichts sehen. Um ihn herum war alles dunkel, und doch spürte er die Anwesenheit der Lady. Sie stand ganz in seiner Nähe.

Er versuchte, auf die Füße zu kommen. Doch sofort packte ihn einer der Schmuggler an der Schulter und zwang ihn auf die Knie zurück.

„N’abend, Ma’am.“ Der Tonfall der Männer hatte sich verändert. In ihrer gemurmelten Begrüßung schwang Respekt mit und ein wenig Vorsicht. Lucas fiel auf, dass sie alle auf der Hut waren. Sie wussten nicht, wie die Frau reagieren würde. Ihre Unsicherheit war seine Hoffnung. Plötzlich befand er sich auf Messers Schneide zwischen Leben und Tod.

„Gentlemen.“

Lucas’ Herz klopfte wild gegen seine Rippen. All seine Sinne waren erwacht. Ein Wort von ihr genügte und er war tot. Er unterdrückte die würgende Angst, die sich seiner bemächtigen wollte. Es gab zwar nichts, für das sich sein Leben lohnte, dennoch verspürte er nicht den ausdrücklichen Wunsch zu sterben.

Die Fremde stand jetzt ganz nah bei ihm. Er konnte hören, wie edle Stoffe über den Felsen raschelten, vermutlich waren es Seide oder Samt, und er roch den flüchtigen Duft nach Glockenblumen, sehr süß und sehr unschuldig. Der Widerspruch zauberte ein fades Lächeln auf seine Lippen. Die ehrlose Anführerin einer Bande von kriminellen Schmugglern roch ausgerechnet nach Frühlingsblumen.

Jemand schlug hart gegen Lucas’ Rippen und sein Gedanke verwandelte sich in wilden Schmerz. Die Kraft des Schlags warf Lucas auf die Seite. Sie umringten ihn nun wie ein Rudel Wölfe, und er spürte ihren Hass. Es folgte ein weiterer Schlag und noch einer. Er wand sich und rollte sich in dem nutzlosen Versuch, den Schlägen auszuweichen, zur Seite. Durch seine enge Augenbinde und seine gefesselten Hände war er der Barmherzigkeit der Fremden völlig ausgeliefert. Er war zu stolz, um hier um sein Leben anzubetteln. Vielleicht bedeutete diese Schwäche seinen sicheren Tod, doch das war ihm egal.

„Halt!“

Nur dieses eine Wort war nötig, um die Schläger zur Raison zu rufen. Der Ton der Fremden klang scharf und besaß solch eine Autorität, dass die Männer sofort von ihm abließen. Einen Moment nahm Lucas nichts Anderes wahr, als den brennenden Schmerz in seinen Rippen. Als sich das Brennen in ein dumpfes Pochen verwandelte, atmete er mühsam ein.

„Hier.“

Sie half ihm, sich mit dem Rücken zur Höhlenwand aufzurichten. Die Wand war kalt und feucht, aber dank des festen Steins konnte sich Lucas aufrecht hinsetzen. Ihre Berührung war zart, aber entschlossen. Er spürte, dass sie zwischen ihm und ihren Männern stand und dass sie ihn vor ihnen abschirmte. Er schämte sich, weil er außerstande war, sich selbst zu verteidigen, doch er spürte noch etwas Anderes, und das irritierte ihn noch mehr, denn es war ein heftiges Gefühl für diese Fremde, das er nicht verstand.

In der Höhle war es mucksmäuschenstill, doch die Luft knisterte vor Anspannung und Gewalt. Lucas spürte es in jeder Faser seines Körpers, und er spürte, dass das Selbstvertrauen dieser Frau nicht authentisch war.

Hatte sie Angst? Nein, sie fürchtete diese Maulhelden und Raufbolde nicht.

War es Abscheu.

Lucas’ Herz hüpfte. Es war zwar seltsam, aber er spürte, dass sie Brutalität hasste.

Nun ergab das Gespräch der Schmuggler Sinn. Deshalb wollte der Blutdurstigere der beiden nicht, dass sie von seiner Gefangennahme erfuhr.

Die Schmuggler fürchteten, die Lady werde ihn retten.

Er fühlte sich ihr plötzlich so nahe.

So etwas war ihm noch nie widerfahren. Er hasste die Intimität dieses Gefühls und er hasste, dass er nicht verstand, woher sie kam, aber am allermeisten hasste er seine Machtlosigkeit.

„Entschuldigen Sie, Ma’am.“ Einer der Männer klang beinahe so verlegen wie ein ungezogener Schuljunge. Doch in seiner schroffen Entschuldigung lag auch Empörung. „Wir haben ihn auf dem Weg oberhalb der Hütte angetroffen. Er ist uns gefolgt.“

„Hat herumspioniert“, warf der andere Mann ein.

„Wir müssen ihn loswerden.“ Es gab so etwas wie ein zustimmendes Grollen.

„Über die Klippen“, sagte der erste Mann. „Jetzt.“

„Ist das so?“ Anders als bei den Männern sprach sie ohne jeglichen Akzent. Ihre Stimme klang weich, wohlklingend und beruhigend wie Honig. Keine Frage, sie war eine geborene Lady.

„Geht beiseite.“ Lucas hörte das Rascheln ihrer Röcke. Lucas konnte nicht aufstehen, weil einer seiner Häscher ihm den großen Stiefel gegen die schmerzenden Rippen drückte. Der Stiefel drückte fester und Lucas schnappte nach Luft, als ihn eine neue Schmerzwelle durchfuhr.

„Bitte unterdrückt für einen Moment eure Neigung zur Gewalt.“ Sie klang plötzlich abgespannt, doch der Druck des Stiefels nahm ab.

Die Frau legte ihre Hand unter Lucas’ Kinn, vermutlich drehte sie gleich sein Gesicht zum Licht. Sie trug keine Handschuhe. Ihre Haut war zart, ihre Finger lagen behutsam auf seinen Bartstoppeln. Ganz kurz strichen sie liebevoll über seine Wange. Lucas spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief, der nicht von der Angst herrührte. Ärgerlich unterdrückte er das Gefühl. Sein Leben hing an einem seidenen Faden und alles, woran er denken konnte, war ihre Berührung.

Reiß dich gefälligst zusammen, Lucas!

„Welcher Spion würde sich so leicht fangen lassen?“, fragte sie spöttisch.

„Ein ganz besonders schlimmer“, erwiderte einer der Männer mürrisch.

„Oder ein unschuldiger Reisender“, sagte die Frau. Ihr Tonfall war scharf. Sie löste ihre Hand. Lucas nahm an, sie setzte sich auf die Hacken.

„Unschuldig oder nicht, das Meer ist genau der richtige Ort für ihn“, grummelte der Mann. Er schien der Sprecher zu sein. Die anderen Männer gaben sich damit zufrieden, ihm das Reden zu überlassen. „Etwas Anderes können wir nicht tun, Ma’am.“

„Unsinn“, erwiderte sie ärgerlich. „Mit solchen wie ihm hier liegen wir nicht im Clinch und das weißt du.“

„Und Sie wissen, dass er keine Gefahr für uns darstellt“, erwiderte der Mann barsch. „Wir haben keine andere Wahl.“ Er ließ sich nicht unterkriegen und die anderen unterstützten ihn. Lucas konnte ihre Sturheit und ihre Angst geradezu riechen. Sie wollten ihn tot sehen.

Er wusste, dass es die Frau ebenfalls spürte. Eine falsche Bewegung und sie würden beide in Schwierigkeiten stecken. Es wunderte ihn, mit welch’ absoluter Sicherheit er wusste, dass sie auf seiner Seite war.

„Niemand wird je davon erfahren“, sagte der Mann. „Wer sollte ihn vermissen?“

„Das kann nur er uns verraten.“ Ihre Stimme verriet nichts von all’ den schnellen, sorgfältigen Überlegungen, die Lucas hinter ihren Worten wahrnahm. „Vielleicht wird es Zeit, ihn ein bisschen besser kennenzulernen.“ Ihre Hand berührte Lucas’ Arm und enthielt eine Warnung, obwohl ihre Stimme nun wieder spöttisch klang. „Wie heißt du, mein Hübscher?“

„Lucas“, antwortete er. Das war nicht besonders schlagfertig, das wusste er.

Einer der Männer lachte. „Wir sollten ihm seine hübsche Visage polieren. Das würde ihm eine Lektion erteilen.“

„Wage es ja nicht!“, erwiderte die Frau spöttisch. „Ich brauche etwas Hübsches in meiner Nähe, das ich anschauen kann.“ Ihre Worte klangen abschätzig, als zähle er nicht. Lucas hasste es, so behandelt zu werden, doch er erkannte, wie schlau sie handelte. Sie ließ ihn wie ein kleines Bürschchen erscheinen, das völlig harmlos war.

„Wie ist dein Nachname?“, fragte sie.

Lucas räusperte sich. „Lucas Ross, Ma’am“, sagte er. „Zu Ihren Diensten.“ Es war nicht einmal gelogen.

„Du sprichst so hübsch, wie du aussiehst.“ Ihre Stimme klang kühl. „Was machst du hier in Kilmory, Lucas Ross?“

„Ich suche Arbeit“, antwortete er. „In der Burg. Diener. Ich bin aus Edinburgh hochgekommen.“

„Schicke Stadtmanieren“, schnauzte einer der Schmuggler. Es war kein Kompliment.

„Eines Tages möchte ich Butler werden“, sagte Lucas.

„Dann wollen wir hoffen, dass du lange genug lebst, um dein Ziel zu erreichen.“ Die Lady klang trocken. „Wo übernachtest du?“

„Im Gasthof im Dorf. Ich habe ein Zimmer gemietet und Abendessen bestellt. Dem Wirt wird auffallen, wenn ich nicht zurückkehre.“

„Tom McArdle wird uns keine Schwierigkeiten bereiten.“ Dieses Mal sprach ein anderer Schmuggler. „Eher verkauft er uns noch deine Sachen, oder woher glaubst du, bekommt er seinen Whisky, Bürschchen?“

Die anderen lachten leise. Sie rückten wieder näher an ihn heran, um ihn zu töten. Lucas wusste, dass er keinen schlagenden Beweis geliefert hatte, um ihn am Leben zu lassen. Kein liebendes Weib würde ihn vermissen, keine Eltern und keinerlei Geschwister. Er hätte einige erfinden und ihnen eine herzzerreißende Geschichte erzählen sollen, wie sehr sie alle von ihm abhingen. Seine Lippen verzogen sich zur bitteren Nachahmung eines Lächelns.

„Wir verschwenden nur unsere Zeit.“ Einer der Männer zog ihn auf die Füße.

„Warte!“ Wieder sprach die Frau. Ihre Autorität war in ihre Stimme zurückgekehrt. „Du bist zu hastig, mein Freund. Noch eine Leiche hier wird die Steuereintreiber nur allzu rasch auf unsere Fährte führen. Dann kannst du gleich ein Leuchtfeuer entzünden. Hast du vergessen, dass seit dem letzten Mal nur sechs Monate vergangen sind?“

Eine weitere Leiche …

Lucas spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Sie sprach über Peter.

Die Stille schien vor Anspannung zu knistern. Lucas wartete mit gestrafften Muskeln. Er hörte, wie sich die Männer um ihn herum bewegten und etwas murmelten.

„Aber damit hatten wir nichts zu tun.“ Der Anführer klang jetzt trotzig. „Wir wissen nichts darüber.“

„Ob ihr daran beteiligt wart oder nicht, ist gleichgültig“, sagte die Frau geduldig. „Zwei Leichen erregen nur unerwünschte Aufmerksamkeit. Verstehst du? Außerdem hat sich Mr. Ross um Arbeit auf der Burg beworben. Zu viele Leute wissen, wer er ist. Wir können dieses Risiko nicht eingehen.“

„Verflucht noch mal.“ Die Geduld des Mannes war erschöpft. „Ich sage, er stirbt, und die anderen sind meiner Meinung. Wir können die Leiche loswerden, ohne dass sie jemand findet.“

„Genug!“ Lucas hörte, wie sich die Fremde schnell bewegte, dann hörte er das unverkennbare Klicken einer Pistole, die entsichert wurde. Die Männer um ihn herum hielten erschrocken den Atem an. Er war in großer Sorge um seine Beschützerin, nicht um sich selbst. Absurd und absonderlich, aber die Verbindung zwischen ihnen schien noch enger geworden zu sein.

„Ihr verrennt euch gerade ganz gefährlich“, sagte sie leise, doch mit eisernem Unterton. „Wollt ihr das Risiko wirklich auf euch nehmen? Wollt ihr euren Profit nur wegen eines dummen Jungen, der sich in den Highlands verirrt hat, wegwerfen? Denkt noch einmal darüber nach, liebe Freunde, bevor es zu spät dafür ist.“

Wieder hielt Lucas den Atem an. Gewalt führte zu Gegengewalt und sie nahm ein gewaltiges Risiko auf sich, um sein Leben zu retten. Die anderen waren mindestens zu viert. Sie konnten sie ohne weiteres überwältigen. Diese Frau hatte nur eine einzige Patrone.

Lucas spürte, wie die Sekunden verrannen.

Dann wandelte sich die Stimmung abrupt. Lucas bemerkte es zuerst an den scharrenden Füße der Schmuggler, dann am Gemurmel, das er nicht verstand, doch die Spannung löste sich allmählich auf.

„Sie hat recht“, sagte einer der Männer missmutig. „Denkt daran, wieviel wir mit den letzten Fässern verdient haben. Keiner von uns will, dass die Steuereintreiber hier wieder überall herumschnüffeln.“

Es folgte ein zustimmendes Murmeln, auch wenn es eher missmutig und resigniert klang. Jemand seufzte, als sei er enttäuscht, dass ihm das Recht abgesprochen worden war, ein Strafgericht mit tödlichem Ausgang zu vollziehen.

Lucas war so erleichtert, dass seine Beine zitterten. Wenn sie ihn jetzt gehen ließen, müsste er gar nicht erst so tun, als sei er schwach. Er spürte auch die Erleichterung der Lady, auch wenn sie sie gut verbarg.

„Schafft ihn weg!“, erklang ihre Stimme von fern. Offenbar war sie von ihm weggetreten, als sei sie sich der Kapitulation der Männer sicher gewesen.

„Mylady.“ Das war der Sprecher, der noch ein Rückzugsgefecht auskämpfen wollte. Dann korrigierte er sich: „Ma’am.“

„Ja?“, fragte sie kühl. „Falls du dir immer noch Sorgen machst, weil ich Gnade walten lasse, dann beruhigt dich vielleicht der Gedanke, dass wir genau wissen, wo wir ihn finden können, falls er so dumm sein sollte, auch nur ein einziges Wort über heute Abend zu verlieren.“ Sie wandte sich an Lucas. „Kein unbedachtes Wort im Gasthaus nach dem ein oder anderen Schluck, Mr. Ross“, sagte sie. „Und hüten Sie sich vor dem Versuch, ihr Erlebnis der Obrigkeit mitzuteilen. Sie würden ganz schön dumm dastehen, wenn Sie eine solche Lügengeschichte verbreiten. Ich rate Ihnen, jeden Gedanken an Arbeit auf der Burg aufzugeben, rasch wieder nach Edinburgh zurückzukehren und das alles hier zu vergessen.“

„Ja, Ma’am“, sagte Lucas. Wieder nahm er den süßen und betörenden Duft nach Glockenblumen wahr. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass er diese Frau je vergessen würde. Er zwang seinen Körper, nicht mit einer Erektion zu reagieren. Jesus! Wie konnte diese Frau nur eine solche Wirkung auf ihn haben, obwohl er sie noch nicht einmal gesehen hatte?

„Schafft ihn weg!“, befahl sie streng. Dieses Mal widersprach ihr niemand.

Halb zogen die Männer Lucas, halb trugen sie ihn zum Höhleneingang. Es war inzwischen Nacht geworden, Dunkelheit legte sich vor seine Augenbinde. Die kalte Luft war wie ein Schlag ins Gesicht, frisch und scharf und sie roch nach Meer. Plötzlich war die Brandung, die peitschend gegen die Felsen unten schlug, ohrenbetäubend laut. Er nahm an, dass er sehr nah am Rand der Klippen stand.

„Bindet ihn los!“, sagte die Fremde. Offenbar wollte sie ihren Männern nicht die Gelegenheit geben, Lucas über die Klippen zu stoßen, sobald sie ihnen den Rücken zuwandte. Er wusste es und die Männer wussten es ebenfalls.

Jemand fummelte hinter seinem Rücken herum, um die Stricke um seine Handgelenke zu lösen. Der Schmuggler fluchte ununterbrochen, weil er nicht sehen konnte, was er tat. Schließlich war Lucas frei und bewegte die Hände. Sie schmerzten, als das Blut in sie zurückfloss.

„Beherzigen Sie meinen Rat“, sagte die Frau.

„Vielen Dank, Ma’am“, erwiderte Lucas.

Der Schmuggler nahm ihm die Augenbinde ab.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war eine mondlose Nacht. Das Licht der Sterne war schwach und bleich, nicht viel mehr als ein Glitzern auf dem Meer. Lucas blickte hinab und bekam es mit der Angst zu tun. Er stand nur wenige Zentimeter vom Rand der Klippen entfernt. Ein Schritt und er würde herunterfallen. Kleine Steine rutschten unter den Sohlen seiner Stiefel weg in die Tiefe. Einen Augenblick war ihm schwindelig und übel, und er unterdrückte den starken Drang, auf der Suche nach einem sicheren Stand panisch nach hinten zu treten. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, atmete langsam und richtete den Blick auf den dunklen Horizont, bis die Welt um ihn herum wieder stillstand.

Die Schmuggler waren verschwunden. Sie waren so rasch mit der Dunkelheit verschmolzen, wie sie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Vielleicht beobachteten sie ihn noch. Ihm blieb nichts Anderes übrig, als ins Gasthaus zurückzukehren und das zu tun, was jeder Mann vermutlich tat, der dem Tod knapp von der Schippe gesprungen war, und das bedeutete, sich mit schlechtem Whisky zu betrinken und darauf zu hoffen, das alles ganz schnell wieder zu vergessen.

Er drehte dem schwindelerregenden Abhang den Rücken zu und begann, die Klippen hinaufzuklettern. Das war schwierig genug. Die rauen Stängel des Heidekrauts stachen ihm in die Handflächen. Steine lösten sich unter seinen Füßen und rutschten dort weg, wo der torfige Boden zerbröckelte. Er brauchte über zehn Minuten, um den Weg oben wieder zu erreichen. Dort wandte er sich landeinwärts, den schwachen Lichtern in einiger Entfernung zu, wo sich die Häuser des Dorfs zusammenkauerten. Er fror, seine Kleidung war klamm und er selbst zerschrammt, aber er war verdammt dankbar, noch am Leben zu sein. Die Luft schien süßer, das Schreien der Eule klarer und Licht und Schatten schienen schärfer als je zuvor. Selbst den ununterbrochenen Schmerz in seinen Rippen nahm er als angenehm wahr, erinnerte er Lucas doch daran, dass er lebte.

Als er das Dorf erreichte und an der Kirche vorbeiging, die sich hinter den niedrigen, moosbewachsenen Mauern duckte, erwachten seine Instinkte, die ihn früher am Tag im Stich gelassen hatten, auf einen Schlag. Lucas spürte, dass er nicht allein war. Im Schatten der Friedhofseibe blieb er stehen und wartete. Seine Haut prickelte.

Sie war hier, er konnte sie spüren.

Eine Sekunde später fühlte er die eiskalte Liebkosung einer Pistole an seinem Hals.

„Denk an das, was ich gesagt habe! Geh nach Edinburgh zurück, Stadtjunge! Du hast hier nichts zu suchen!“ Ihr Flüstern klang wütend.

Lucas überrumpelte sie. Er wirbelte herum und ergriff ihr Handgelenk so fest, dass sie aufkeuchte und die Pistole klappernd fallen ließ. Die Waffe blieb vor seinen Füßen liegen. Er trat sie beiseite, zog die Frau an sich und hielt sie grausam fest gepackt. Es war inzwischen so dunkel, dass er ihr Gesicht kaum erkennen konnte, doch er hörte ihren unregelmäßigen Atem und fühlte, wie sich ihre Brüste an seinem Oberkörper hoben und senkten.

Es war erstaunlich, die Frau, der er sein Leben verdankte, in den Armen zu halten. Das Blut pochte heiß in seinen Adern und bescherte ihm eine sofortige Erektion. Alles, was sich an diesem Abend ereignet hatte, floss in diesem einen Moment zu heißer Lust zusammen, die ebenso verzehrend war wie ein Feuer im Kamin.

Lucas hob die Hand, um die Kapuze ihres Samtumhangs zurückzuschieben. Der Stoff fühlte sich rau an, die Reibung großartig. Im schwachen Mondlicht wirkte ihr Haar dunkel, ein seidenweicher Wasserfall, der über seine Finger floss. Er strich mit dem Daumen über ihren Kiefer und hob ihr Kinn, um sie zu küssen.

Sie japste erschrocken auf, wodurch Lucas’ Erektion noch härter wurde, und dann öffnete sie ihre Lippen unter dem Druck seines Mundes. Zuerst reagierte sie zögernd, dann süß und leidenschaftlich, und offenbarte dabei einen Mangel an Erfahrung, der ihn mitten ins Herz traf. Ihr Körper entspannte sich und gab nach und sofort entbrannte in Lucas ein ungehemmtes Verlangen. Dieses Gefühl war neu, bisher war Lucas der Inbegriff eiserner Kontrolle, doch jetzt lief er Gefahr, sich völlig aufzugeben.

Mit seinen Fingerspitzen spürte er, dass der Umriss ihres schönen Kinns und die Linie ihres Halses sowohl zart waren als auch Entschlossenheit ausdrückten. Er streichelte über die warme Kuhle an ihrem Hals und fühlte ihren rasenden Puls. Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wer sie war, wie alt sie war und wie sie aussah. Vielleicht küsste er ja gerade eine Frau, die alt genug war, um seine Großmutter zu sein, doch das schien ihm gerade völlig nebensächlich. Diese Frau zu küssen war die explosivste, schönste Erfahrung, die er je gemacht hatte.

Er presste seine Lippen erst auf ihren Hals und dann auf ihre Schulter und schob dabei ihren Umhang und die hauchdünne Seide beiseite, die er darunter fühlen konnte, um der Linie ihres Schlüsselbeins mit der Zunge zu folgen. Sie keuchte kurz auf, dann gaben ihre Knie nach und Lucas sank mit ihr zu Boden. Dort küsste er sie wieder, dieses Mal jedoch tief und langanhaltend, sodass die Zeit stehenzubleiben schien. Er vergaß alles um sich herum und konzentrierte sich nur auf ihre leidenschaftliche Zunge, ihren warmen Körper und ihre weiche Haut.

Über ihnen zogen die Sterne ihre Bahn und der Mond stieg höher. Doch seine Sichel war zu schmal, um die Dunkelheit zu erleuchten. Lucas war es egal, dass er die Frau kaum sehen konnte. Sie war das Einzige, was für ihn real war.

Er ließ eine Hand unter ihr Mieder gleiten und fühlte ihre nackten Brüste unter seinen Handflächen. Sie bog sich ihm entgegen und presste sich gegen seine Hand. Ihr Entgegenkommen ließ seine Männlichkeit beinahe unerträglich hart anschwellen. Er rieb ihre Brustwarze mit seinem Daumen und hörte sie keuchen. Die Seide und die Spitzen ihres Mieders schienen neu und teuer zu sein, doch ihre Haut darunter fühlte sich noch vielversprechender an. Ihr Körper war wie ein sinnliches Paradies, in dem sich ein Mann verlieren konnte.

Die Kirchenuhr verkündete laut die volle Stunde. Ihre zehn Schläge klangen in ihm wider und brachen den Zauber. Er spürte, wie sie sich in seinen Armen versteifte. Dann rappelte sie sich auf und zog den Umhang um sich.

„Warten Sie!“, sagte Lucas und griff nach ihrer Hand. Er spürte ihr Zittern und ihre Verletzbarkeit, und er wünschte sich, er könnte sie noch einmal in die Arme schließen und zu Ende bringen, was sie begonnen hatten. Seine Sinne waren von ihr beseelt und er wollte sie nicht gehen lassen. „Ich habe Ihnen noch nicht gedankt, dass Sie mir das Leben gerettet haben“, sagte er.

Sie hielt inne. „Ich glaube, Sie haben sehr viel mehr getan, als sich bei mir zu bedanken“, erwiderte sie trocken. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Ihre Stimme verriet nichts.

„Wann werde ich Sie wiedersehen?“, fragte Lucas.

„Das werden Sie nicht.“ Sie klang amüsiert. „Gute Nacht, Mr. Ross.“

Eine Sekunde später schon war sie ein dunkler Schatten in der Dunkelheit und dann war sie auch schon verschwunden. Die Nacht lag wieder still und leer vor ihm. Lucas lehnte den Rücken gegen die Kirchhofmauer und wartete, bis sich der unerträgliche Schmerz in seinem Körper legte. Er war schockierend nahe daran gewesen, eine Frau zu lieben, die er weder kannte noch gesehen hatte. Der bloße Gedanke reichte, um ihn erneut zu erregen. In diesem Zustand würde der Weg zum Gasthaus lang und extrem unangenehm werden, aber er bereute es nicht. Hinter ihm lag ein ganz und gar ungewöhnlicher Abend.

Zehn Minuten später war Lucas zurück auf der Hauptstraße des Dorfes und stolperte ins Kilmory Inn. Der Gastwirt warf ihm einen neugierigen Blick zu, als Lucas die Tür zum Schankraum aufstieß. Lucas fragte sich, wie er wohl mit seinen schmutzigen, zerrissenen Sachen aussah. Auf seinen Handgelenken leuchteten noch immer die tiefroten Abdrücke des Seils, mit dem die Schmuggler ihn gefesselt hatten. Sie waren nicht besonders zimperlich mit ihm umgegangen.

„Einen Drink, Sir?“ Die Stimme des Gastwirtes klang ruhig, doch sein Blick war scharf. „Haben sich wohl bei Ihrem Abendspaziergang verirrt, nicht wahr?“

Lucas nickte und ließ sich auf einen harten Holzstuhl am Feuer gleiten. Seine geprellten Rippen pochten schmerzhaft wegen der wenig komfortablen Sitzposition, doch Lucas bezweifelte, dass sie gebrochen waren. Er konnte es nicht riskieren, zu einem Arzt zu gehen. Da er sich als Diener ausgab, musste er ohnehin so tun, als könne er sich keinen leisten. Er würde einfach warten müssen, bis die Prellungen abheilten.

Er tastete nach der Pistole in seiner Tasche. Die Fremde hatte sie wie eine tödliche Version von Aschenputtel zurückgelassen, als sie gegangen war. Das legte die Vermutung nahe, dass sie ihre Gefühle nicht so gut im Griff hatte, wie es scheinen sollte. Diese Tatsache verschaffte Lucas Befriedigung. Er beschloss, sich die Pistole später in seinem Zimmer genauer anzusehen.

Er ließ den Blick verstohlen durch den beinahe überfüllten Schankraum schweifen. In der gegenüberliegenden Ecke spielten drei Männer Cribbage. Sie beugten sich über das Brett und waren ganz in ihr Spiel versunken. Offenbar beobachtete ihn niemand. Aber schon bald würde es Gerede über den weichen Burschen aus Edinburgh geben, der wegen eines Jobs auf der Burg gekommen und aus Versehen mit der örtlichen Schmugglerbande in Konflikt geraten war. Auf den Dörfern hielten die Leute zusammen. Jeder hier musste von der Whiskybrennerei wissen.

Der Gastwirt schob ihm ein Glas über den Tisch zu. Das Getränk schmeckte nach Rauch und Torf und war so stark, dass sich Lucas beinah daran verschluckte. Lucas sah, wie amüsiert die Augen des Mannes aufblitzen. Vielleicht hielt er Lucas für einen Sassenach, einen Fremden aus England, der nichts vertrug. Vielleicht wies ihn sein Akzent auch als Lowlander aus. Die Highlander mochten ihre Landsleute aus dem Süden kaum mehr als die Engländer. Dabei war er eher eine Mischung aus verschiedenen Rassen und Sprachen. Seine Mutter war eine gebildete Frau gewesen, die ihn gelehrt hatte, sowohl Französisch als auch Englisch fehlerfrei zu sprechen. Nachdem ihn sein Stiefvater aus dem Palast geworfen hatte, war Lucas nach Schottland gekommen, wo er den Akzent annahm, der auf den Straßen gesprochen wurde, um nicht aufzufallen. Erst als seine Geschäfte florierten und er sein erstes Vermögen besaß, legte er den Gossenslang wieder ab und übernahm erneut das akzentfreie Englisch seiner Kindheit.

Und nun saß er ganz ruhig inmitten des Lärms des Schankraums und dachte nach. Der Geschmack des Whiskys auf seiner Zunge wurde milder und Lucas spürte, wie ihn eine wohltuende Trägheit erfasste. Anders als bei seinem ersten Schluck schmeckte der Whisky nun vorzüglich. Jetzt, wo Lucas sich an die Stärke gewöhnt hatte, fand er ihn warm und nuancenreich. Der Brenner aus Kilmory war offenbar höchst talentiert.

Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und starrte in die tiefgoldene Flüssigkeit. Sie waberte wie reine Magie, als sei sie durch eine Hexe verzaubert. Das war die Eigenschaft des Whiskys, dachte er: Er schenkte Vergessen, milderte unangenehme Erinnerungen ab und linderte die Wunden der Vergangenheit. Doch heute schienen ihm die Schatten der Vergangenheit über die Schultern zu schauen. Hier in Kilmory war Peter gestorben. Er war mit seinen Freunden in genau diesem Gasthaus abgestiegen, hatte in der Burg gegessen und war dieselben Klippen entlanggegangen.

Lucas dachte über die Whiskyschmuggler nach. Er hatte gehört, wie die Männer jede Verbindung mit Peters Tod bestritten. Aber er glaubte ihnen nicht. Sie hätten sich seiner ohne mit der Wimper zu zucken entledigt, wäre die Lady nicht dazwischengegangen. Außerdem war ihre Täterschaft naheliegend.

Aber er wusste auch, dass diese geheimnisvolle Fremde der Schlüssel zur Wahrheit war. Er würde nie imstande sein, die einzelnen Mitglieder der Bande zu identifizieren, doch mit ihr war es anders. Er konnte sie finden und sie würde ihn zu den anderen bringen. Danach konnte er sie an Lord Sidmouth verraten.

Doch was wusste er von dieser Frau? Er dachte an ihre Berührung, an ihre weiche, warme Haut und an ihren Duft nach Glockenblumen. Er dachte an ihren Kuss, an seine Hitze und Süße und die blinde Verbundenheit, die er gespürt hatte. Die Erinnerung daran verstörte ihn immer noch. Wäre er ein fantasievoller Mann, hätte er es wohl Liebe auf den ersten Blick genannt.

Aber er war kein fantasievoller Mann.

Es war um Lust gegangen.

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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