Kein Laird für eine Nacht?

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Nur aus einem Grund lässt sich Lady Mairi von dem geheimnisvollen Fremden auf dem Maskenball verführen: Im Rausch der Sinne will die junge Witwe für eine Nacht den Schmerz über den Verlust ihres Ehemannes vergessen. Doch groß ist ihr Entsetzen, als sie im ersten Morgenlicht erkennt, wer der kundige Liebhaber ist, der sich hinter der Maske verbirgt - ausgerechnet der arrogante Jack Rutherford, der in ganz Schottland als dreister Eroberer berüchtigt ist! Heimlich stiehlt Mairi sich davon und lässt ihn schlafend zurück. Doch seine Berührungen kann sie nicht vergessen. Und schneller als gedacht kommt sie ihrem verführerischen Laird erneut gefährlich nah …


  • Erscheinungstag 05.12.2017
  • Bandnummer 321
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768409
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Edinburgh, Schottland, April 1815

Mit der Kutsche brauchte man von der Altstadt bis in die Neustadt von Edinburgh zehn Minuten, und während dieser gesamten Zeitspanne hatte Jack die stärkste Erektion seines Lebens. In den vergangenen zehn Jahren hatte er gelernt, dass Vorfreude die Erregung steigern konnte wie kaum etwas anderes. Die Vorfreude, mit der er es heute zu tun hatte, war so heftig, dass sie nur schwer zu ertragen war.

Die Frau, die für seine missliche Lage verantwortlich war, saß ihm gegenüber. Im vorbeigleitenden Licht der Laternen konnte er sie zwar nicht genau sehen, war sich ihrer Gegenwart jedoch mehr als deutlich bewusst. Jack konnte das Jasminparfüm auf ihrem Haar und ihrer Haut riechen. Er erkannte unter ihrer Maske die Andeutung eines Lächelns, und er spürte noch immer den Geschmack des Kusses auf den Lippen, den er ihr vor einigen Minuten gestohlen hatte. Sie hatte ihn zwar von sich gestoßen, doch eher spielerisch – auf eine Art, die mehr versprochen hatte, sehr viel mehr.

Obgleich Jack allgemein als Wüstling galt, hatte er schon länger nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Er fragte sich, ob das vielleicht der Grund dafür war, dass er jede Vorsicht leichtfertig in den Wind geschlagen hatte – einer Frau wegen, der er erst vor knapp vier Stunden begegnet war. Jack wusste nicht, wer sie war, hatte noch nicht einen Blick auf ihr Gesicht geworfen. Und doch begehrte er sie dermaßen heftig, dass er fürchten musste, zu explodieren, wenn er sie nicht bald haben konnte.

Sie wusste es. Er war sicher, dass sie die vibrierende Erregung in der Kutsche spürte, die angespannte Erwartung, die sich wie eine aufgezogene Feder um sie beide zu winden schien. Am liebsten hätte er ihr das zufriedene Lächeln mit einem Kuss vom Mund gewischt. Er wollte sie hier in der Kutsche nehmen, wollte im Rhythmus der Räder, die über das Kopfsteinpflaster holperten, in sie hineinstoßen. Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn so erregte, und er mochte dieses quälende Verlangen nach ihr nicht besonders, weil er nahe daran war, die Gewalt über sich zu verlieren. Er wusste nur eins: Von dem Moment an, in dem er sie zum ersten Mal sah, hatte er sie gewollt.

Die Kutsche blieb mit einem Ruck stehen. Ein schwarz gekleideter Stallbursche mit undurchdringlicher Miene öffnete die Kutschentür und ließ die Stufen herab. Jack machte Platz, um seiner Begleiterin den Vortritt zu lassen. Sie raffte mit einer Hand ihre silberfarbenen hauchdünnen Röcke und stieg leichtfüßig aus. Jack folgte ihr und sah sich neugierig um. Die Kutsche hielt in Edinburghs Royal Mile. Er konnte die massigen Umrisse der St.-Giles-Kathedrale erkennen. Die Straßenlampen schimmerten im Nieselregen.

Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn in eine der engen Gassen, die sich abseits der größeren Straßen hügelabwärts wanden. Hier war es völlig dunkel. Er hörte das Klappern ihrer Sohlen auf dem Kopfsteinpflaster und fühlte den Regen, der ihm ins Gesicht wehte und Haare und Jacke durchnässte. Auf beiden Seiten der Gassen erhoben sich Mietshäuser.

Er war dabei, sich kopfüber in eine gefährliche Situation zu stürzen. In diesen Gässchen könnte er ausgeraubt und umgebracht werden, ohne dass ihm jemand beistehen würde. Ein Messer zwischen den Rippen wäre der Lohn für seine besinnungslose Leidenschaft. Er blieb stehen, und einen Moment lang schien die Vernunft über seine Lust zu siegen. Doch dann drehte sie sich um, drückte sich an ihn und küsste ihn. Die kalte Wand eines Miethauses drückte gegen seinen Rücken, aber die Frau war nichts als Hitze und süßer Duft. Ihr Kuss war heftig und dringlich, er übersprang jede Art von Vorspiel und forderte eine Antwort. Sie legte eine Hand auf seinen Nacken, sorgte dafür, dass ihre Lippen sich nicht lösten und spielte mit seinem Haar. Ihre Zunge glitt in seinen Mund und er stöhnte.

Er griff unter ihren Umhang und fühlte die glatte Seide ihres Kleides auf seinen Handflächen. Er packte die Frau über der Taille und zog sie enger an sich. Ihre Brüste pressten sich gegen seinen Oberkörper; sie rieb ihre Hüften gegen seine. Es war bitter, so sehr Sklave seiner Sinne zu sein. Immerhin war er ein erfahrener Mann und kein Schuljunge mehr. Doch gegenüber der Lust, die jede Zelle seines Körpers erfüllte, war Jack machtlos.

Etwas funkelte in ihren Augen, ganz schwach, und sie lächelte ihn an. Nur kurz ließ sie ihn los, um einen Türknopf irgendwo in einer dunklen Mauerecke zu drehen. Dann nahm sie wieder seine Hand und zog ihn hinein.

Das Innere des Hauses war anders, als er erwartet hatte. In dieser ärmlichen Umgebung mit ihrem abblätternden Putz und dem schmutzigen Straßenpflaster wirkte es wie ein kleiner Palast. Die Austattung – das Holz, das Silber und das Gold – war blank poliert, schimmerte und sah nach Reichtum aus. Doch all das und auch die leuchtenden Farben der langen Vorhänge, die die Nacht ausschlossen, und die Kissen auf der Polsterbank nahm er nur flüchtig wahr, während sie ihn eine steinerne Treppe hochzog. Als sie auf dem geschwungenen Absatz stehen blieb, mit einer Hand in seine Hosen fuhr und seine Erektion streichelte, wäre er beinahe auf der Stelle gekommen. Er keuchte vor Vorfreude und Lust, sein Mund war trocken, sein Herz pochte.

Der Raum, in den sie ihn zog, war ganz und gar in Dunkelheit gehüllt. Nur auf einem Feuerrost glühte die Asche nach. Sie schloss sachte die Tür und stand einen Augenblick lang nur da, die Hände gegen ihn gestützt. Er spürte, dass sie ihn ansah. Die Dunkelheit schärfte seine Sinne. Er konnte sie atmen hören. Das leichte Stocken ihrer Atemzüge zeigte ihm, dass sie nicht so gelassen war wie sie schien. Das erfüllte ihn mit einer wilden Befriedigung. Er hätte es gehasst, wenn nur er allein um seine Beherrschung rang.

Das leise Geräusch von Samt durchschnitt die tiefe Stille, während sie das Band an ihrem Umhang löste und ihn auf den Boden fallen ließ. Das spinnwebdünne Gewebe ihres Seidenkleides schimmerte im Takt ihrer Bewegungen, als sie auf ihn zukam. Sie legte eine Hand auf seine Brust und machte sich geschickt an den Knöpfen seiner Jacke zu schaffen, schob sie ihm ungeduldig über die Schultern und fuhr mit den Händen unter sein Hemd. Er hörte, wie sie scharf einatmete, während sie ihre Finger über seine erhitzte nackte Haut gleiten ließ. Trotz seiner tobenden Begierde blieb er ganz still stehen und ließ sie gewähren. Es fühlte sich wie ein kleiner Sieg an, ihr widerstehen zu können.

Wieder küsste sie ihn. Sie war groß, aber er war größer als sie. Er nahm eine Locke ihres seidenweichen Haares, dessen Farbe er nicht kannte, da sie einen Domino mit Kapuze getragen hatte. Seine Fingerspitzen ertasteten Haarnadeln, die weitere Locken an Ort und Stelle hielten. Er zog daran. Sie fielen mit einem leisen Klirren auf die Dielenbretter und ihre Mähne ergoss sich über seine Hände.

Sie knabberte an seiner Unterlippe, schob dann ihre Zunge in seinen Mund und katapultiere ihn ins Reich der Leidenschaft. Er grub eine Hand in ihr Haar, um ihren Kopf festzuhalten und sie besser küssen zu können. Er suchte ihre Zunge, fand sie und forderte mehr ein. Was immer er tat, sie folgte ihm. Ungeduldig spielte sie mit seiner Zunge. Sie biss ihm in die Lippen, nahm seinen Geschmack auf, in aller Ausführlichkeit.

Hin und wieder machte sie auch ihre Bedürfnisse klar: Sie war es, die ihm den kalten Griff eines Dolchs in die Hand drückte und sich dann wortlos umdrehte, damit er die Schnürbänder ihres Mieders zerschneiden konnte. Im Dunkeln grenzte das an Wahnsinn, doch irgendwie bekam er es hin. Er schob die Klinge unter die Bänder, hörte das Geräusch von reißendem Stoff, bevor das Ganze nachgab und ihr Kleid und ihre Unterröcke zu Boden rutschten.

Sie war jetzt nackt. Er konnte es spüren. Er fühlte ihre Wärme. Wieder roch er den Duft von Jasmin, der jetzt schwächer war, sich auf ihrer Haut in etwas anderes, etwas Süßes und Heißes verwandelt hatte. Er dachte an das sensationelle Gefühl, als sie ihre Brüste an ihn gedrückt hatte, und griff nach ihr. Doch plötzlich lag die Schneide des Dolchs an seiner Kehle. Er taumelte zurück und sie stieß gegen seinen Oberkörper. Seine Schenkel prallten gegen den Rahmen eines Betts. Die Klinge wurde fester gegen seinen Hals gedrückt und er ließ sich auf die weichste, größte und bequemste Matratze der Welt fallen.

Sie zog ihm das Hemd aus und setzte sich rittlings auf ihn, die Schenkel fest an seinen Hüften. Mit einer Hand knöpfte sie seine Hose auf, befreite seine Erektion und griff nach ihr. Er versuchte, die Frau auf den Rücken zu drehen, doch die Klinge an seiner Kehle wies ihn an, still zu liegen. Die Spitze des Dolchs glitt über seinen Oberkörper, folgte seinem Brustbein und setzte ihren Weg über seinen Bauch fort. Im selben Moment, in dem sie seine pulsierende Eichel mit der flachen Klinge berührte, presste sie seinen erigierten Penis fest zusammen.

Gott, sie war total verrückt! Und auch er war dabei, komplett den Verstand zu verlieren.

Sie warf den Dolch weg, beugte sich vor, setzte sich auf ihn und nahm ihn in sich auf. Er öffnete den Mund und wollte schreien, so heiß und feucht war sie. Doch sie unterdrückte jedes Geräusch mit einem Kuss. Sie hob und senkte sich auf ihm, nahm ihn tiefer und noch tiefer in sich auf, umschloss ihn enger und noch enger, und dann zersplitterte sein Bewusstsein in Abertausend Stücke. Er packte ihre Hüften und hielt sie mit eisernem Griff, während er wild und verzweifelt und mit einem Schrei kam.

Sie ließ sich neben ihn aufs Bett fallen. Er keuchte und hörte auch sie mit kurzen Atemzügen nach Luft ringen. Trotz der erschreckenden Schamlosigkeit, mit der sie sich gepaart hatten, hatte Jack das Gefühl, als fehlte etwas, etwas, von dem er nicht wusste, was es war.

Er wandte den Kopf, um sie anzuschauen, was dumm war, weil er sie in der absoluten Dunkelheit ohnehin nicht sehen konnte. Plötzlich hatte er den Eindruck, sie sei kurz davor zu fliehen. Er spürte es an der Art, wie sich ihr Körper zitternd bewegte und am veränderten Rhythmus ihres Atems.

Seine Hand schoss in dem Moment vor, in dem die Frau sich erheben wollte. Er packte sie am Handgelenk, zog sie an sich und hielt sie fest.

„Weißt du nicht, dass es von schlechten Manieren zeugt, einen Mann so schnell zu verlassen, nachdem man ihn gerade erst gehabt hat?“ Er flüsterte es in ihr Haar, das über seinen Mund strich.

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns lachte sie und schmiegte sich an ihn. Doch sie sagte nichts.

„Wie heißt du?“ Er hatte das verzweifelte Bedürfnis mit ihr zu reden. Die körperliche Verbindung zwischen ihnen war ihm einfach nicht genug. Seltsam, bisher war immer er derjenige gewesen, der nichts als Sex wollte.

„Rose.“ Sie hatte kurz gezögert, bevor sie den Namen aussprach. Also log sie.

„Ich heiße Jack.“ Er hatte mit Lügen, Halbwahrheiten und Ausweichmanövern nichts am Hut. So etwas war nicht sein Stil.

Statt zu antworten rieb sie mit einer Hand über seine nackte Brust. Sie mochte ja nicht viel sprechen, aber sie verstand es eindeutig, sich auch ohne Worte auszudrücken. Sein Blut begann bei ihrer Berührung sofort wieder zu sieden.

„Ich möchte dich anschauen.“

„Nein.“ Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und mit einem Hauch von Panik in der Stimme.

„Warum nicht, Süße?“ Mit Rücksicht auf ihre Angst sprach er wie nebenbei, schob ihr das zerzauste Haar aus dem Gesicht und liebkoste dabei ihre Wange.

„Ich möchte kein Licht.“ Jetzt klang ihre Stimme unmissverständlich befehlend. Sie war also eine Frau, die es gewohnt war, anderen Anweisungen zu geben. Das machte sie noch interessanter.

„Und was geschieht, wenn ich mich nicht daran halte?“

„Du musst dich damit zufriedengeben, mich anzufassen.“

Sie nahm seine Hand und legte sie auf eine ihrer Brüste. Es war eine Geste, die das Gespräch beenden sollte. Das war ihm klar. Trotzdem gab er nach. Ihre Brustwarzen wurden bei seiner Berührung hart und sein Körper reagierte umgehend darauf. Er spielte mit ihren Brüsten, liebkoste sie mit Lippen, Zähnen und Zunge, ließ sich ablenken und hatte Spaß an ihrem Keuchen und daran, wie sich ihr Körper bei seiner Berührung anspannte. Leise flüsternd bat sie ihn darum, fester zu beißen und zu saugen, bis sich der Genuss in Schmerz verwandelte. Zu diesem Zeitpunkt war er schon wieder so stark erregt, dass sein Glied schmerzte. Sie spreizte die Beine und bat ihn, sie hart zu nehmen und dann noch härter. Ihre Hände umklammerten das hölzerne Kopfende des Bettes, und er stieß in sie hinein, tief und machtvoll. Es war wild und verrucht, und er fühlte sich wie in einem heißen, dunklen Traum. Doch noch in dem Moment, in dem er über sie herfiel, kam es ihm vor, als streifte ihn ein Schatten, als wäre irgend etwas irgendwie falsch. Es fühlte sich beinahe so an, als wollte sie bestraft werden, als sei jede Bewegung seines Körpers und jeder seiner Stöße, jeder seiner Bisse in ihre Brüste eine Art Buße für sie.

Während der gesamten langen Nacht durfte er mit ihr machen, was er wollte. Sie war sein Spielzeug, und das war sensationell und unvorstellbar aufregend. Er war erschöpft und befriedigt, doch noch immer wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas fehlte. Als er sie zum letzten Mal liebte, tat er es langsam, fast träge und versuchte, ihre intime Begegnung in etwas anderes, Tieferes umzuwandeln. Jack hatte nicht die geringste Ahnung, warum er diese bedeutsamere Verbindung zwischen ihnen wollte; er hatte eigentlich schon immer zu der Sorte Mann gehört, die nichts weiter anstrebte als eine oberflächliche Affäre. Vielleicht ging es um so etwas wie eine Herausforderung. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen etwas verbargen. Normalerweise wollten sie ihn zu einer Nähe zwingen, die er nicht schätzte.

Inzwischen war ihre Haut gerötet und feucht und fühlte sich glitschig an. Sie bewegte sich mit ihm auf demselben dunklen Gezeitenfluss der Begierde und der Lust; sie kam, wenn er es von ihr verlangte. Ihr Körper gehörte ihm, und doch schien es ihm, als ob sie ihm in jeder wirklich wichtigen Hinsicht auswich. Später schlief sie, doch er lag wach und lauschte ihrem Atem. Irgendwann schrie sie. Er zog sie in seine Arme, hielt sie fest, und sie beruhigte sich wieder. Doch da, wo sich ihre Wangen gegen seine Brust drückten, spürte er Tränen.

Irgendwann machte ihn das Gefühl ihres warmen Körpers in seinen Armen müde, und auch er schlief ein. Stunden später erwachte er. Die Sonne stand hoch am Himmel und erleuchtete das Zimmer.

Schon bevor Jack die Augen öffnete, wusste er, dass sie nicht mehr da war.

Als Mairi erwachte, war es noch dunkel. Einen Augenblick lang fühlte sie sich leer und leicht und frei. Ihr Körper war schwer von der gestillten Begierde, zufrieden und befriedigt. Eine Sekunde später befiel sie die alte Trostlosigkeit. Sie war schwarz und kalt und brachte die Einsamkeit einer Winternacht mit sich, die alles Helle verdrängte.

Immer, wenn sie erwachte, war es so. Es gab einen allzu kurzen Moment gesegneten Friedens, bevor sie wieder ins Dunkel stürzte. Trauer und das Gefühl der Verlorenheit lauerten in den Schatten und warteten nur darauf, zu anzuspringen. An diesem Morgen war der Kummer noch schärfer und schmerzhaft wie die Klinge eines frisch gewetzten Messers. Sie hatte versucht, ihr Unglück in sinnlichem Genuss zu ersticken und hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

Sie schlüpfte aus dem Bett und vermisste Jacks Wärme sofort. Er hatte auf der Seite gelegen und sie mit einem Arm an seinen Körper gedrückt. Sie wusste nicht, wie sie in dieser Position hatte schlafen können – in den Armen eines Fremden. Es schien falsch zu sein, inakzeptabel, wo sie doch jede Art von Vertrautheit mit anderen ablehnte. Seltsam, dass sie ihm ihren Körper ganz und gar überlassen konnte, ohne etwas zurückzuhalten, und es dennoch bereute, mit ihm in einem Bett geschlafen zu haben.

Frierend zog sie ihre Unterwäsche an und ging auf Zehenspitzen zu einer Truhe, aus der sie ein einfaches Kleid und ein Umschlagtuch herauszog. Ihre Hände zitterten, als sie an den Verschlüssen herumpfriemelte. Sie konnte nicht sehen, was sie tat. Dann ging sie auf Zehenspitzen, die Schuhe in der Hand, zur Tür. Inzwischen krochen die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterläden. Sie wollte eigentlich nicht zurückschauen, doch irgend etwas brachte sie dazu, sich noch einmal umzudrehen.

Jack lag im Zentrum des großen Bettes, inmitten zerknitterter Laken und achtlos beiseitegeschobener Decken, die seine Hüften bedeckten, aber seinen muskulösen, von feinem blonden Haar bedeckten Oberkörper frei ließen. Dunkelblondes Haar fiel ihm über die Stirn und bildete einen Kontrast zu dem Schatten aus Bartstoppeln auf seinen Wangen. Er hatte die Augen geschlossen, seine Wimpern waren dicht und schwarz. Das stärker werdende Licht strich über sein Gesicht und fiel auf eine markante Nase und ein kraftvolles Kinn. Es war ein entschlossenes Gesicht, attraktiv genug, um jede Frau nach Luft schnappen zu lassen. Aber das war nicht der Grund, warum Mairi leise aufkeuchte.

Jack Rutherford.

Das konnte nicht sein!

Sie streckte die Hand aus und griff nach einem Bettpfosten, um sich zu stützen. Nein. Das war unmöglich. Sie hatte auf dem Kostümball absichtlich einen Fremden ausgewählt. Sie hatte ihn im Ballsaal in seinem schwarzen Domino und seiner Maske gesehen. Etwas an ihm hatte ihr Interesse geweckt. Sie fand, dass er ein bisschen gefährlich aussah, ein bisschen wild. Sie kannte ihn nicht, und er schien sich perfekt für ihre Zwecke zu eignen. Sie hatten nicht einmal miteinander gesprochen. Sie hatten ein einziges Mal miteinander getanzt, und sie war von ihrem ungestümen Verlangen derart besessen gewesen, dass sie ihn am Ende des Tanzes bei der Hand genommen und hierhergebracht hatte. In das geheime kleine Haus, das sie in den Gassen der Altstadt von Edinburgh besaß. Alles sollte ganz still und diskret ablaufen, doch unglücklicherweise hatte sie sich dafür einen Mann ausgesucht, der ganz und gar kein Fremder für sie war.

Jack Rutherford. Es hätte ihr schon in der vergangenen Nacht auffallen müssen, schließlich hatte er seinen wahren Namen genannt. Andererseits hießen viele Männer Jack. Nicht mal seine Stimme hatte sie erkannte, aber das war kein Wunder, da sie sich in letzter Zeit so selten gesehen hatten.

Sie war erschüttert und völlig verwirrt. Sie mochte Jack Rutherford nicht einmal. Er war arrogant, selbstgefällig und sich seiner Wirkung auf alle Frauen nur allzu sehr bewusst. Sie hatte ihn vor drei Jahren getroffen, auf der Hochzeit von Mairis Schwester mit Jacks Cousin. Jack hatte damals vorgeschlagen, dass sie einander näher kennenlernen sollten. Es war klar, dass er Intimität gemeint hatte. Sie hatte seine Annäherungsversuche mit eiskalter Verachtung abgewehrt. Danach hatten sie kaum noch miteinander gesprochen und in gegenseitiger Abneigung miteinander verkehrt.

Sie umklammerte den Bettpfosten so fest, dass ihre Finger schmerzten. Ihr pochte das Blut in den Ohren. Sie verstand einfach nicht, warum sie sich vergangene Nacht ausgerechnet zu Jack hingezogen gefühlt hatte. Ohne es zu wissen, hatte sie sich den Mann ausgesucht, dem sie am wenigsten hätte nahekommen sollen. Sie standen sich durch Heiratsbande und gemeinsame Bekannte nahe. Sie wusste nicht, wie sie ihre Identität in Zukunft vor ihm verbergen sollte.

Ein kalter Luftzug ließ sie erneut zittern. Sie bereute die vergangene Nacht ohnehin schon. Sie hatte sich – wenn auch nur kurz – in einer Welt verlieren wollen, die ausschließlich körperlich war, um dem Elend zu entgehen, das ihr Leben überschattete. Auch wenn der Sex mit Jack sensationell gewesen war, so hatte sie ihrer Trauer doch nicht entrinnen können.

Jack bewegte sich im Schlaf und seufzte leise, als er sich umdrehte. Wieder überkam Mairi die Angst. Er durfte niemals herausfinden, dass sie die Frau war, mit der er die Nacht verbracht hatte. Er würde zwangsläufig Fragen stellen, Fragen, die sie nicht beantworten wollte. Sie musste sichergehen, dass sie ihn nie wiedersah, auch wenn die Verbindungen zwischen ihren Familien das nahezu unmöglich machte.

Sie rieb sich hilflos und wütend über die Stirn. Es schien fast so, als habe sie ihn absichtlich ausgesucht, und dieser Gedanke verstörte sie am meisten.

Sie konnte gehen, die Tür hinter sich schließen, verschwinden und ihn vergessen. Sie konnte so tun, als sei nichts von alledem geschehen.

Sie riskierte einen letzten Blick. Jack war ein Mann mit Ecken und Kanten, ein rücksichtsloser Mann. Doch heute Nacht hatte er ihr auch eine zärtliche Seite gezeigt. Die Erinnerung daran bewirkte, dass sie sich verwundbar fühlte. Es fiel ihr schwer, den Jack Rutherford, den sie zu kennen geglaubt hatte – ein überheblicher Prahlhans und anmaßender Charmeur – mit dem Mann dort im Bett in Verbindung zu bringen. Sie fühlte sich seltsam, als seien all ihre Annahmen über ihn überholt, weil er ein so zärtlicher Liebhaber gewesen war. Er hatte etwas über sie wissen wollen und nicht nur ihren Körper begehrt. Das verwirrte sie.

Sie fühlte sich plötzlich elend, wandte sich ab und schloss die Tür. Ihr gedankenloses Verhalten hatte ihr und Jacks Verhältnis zueinander verändert: Aus einer flüchtigen Bekanntschaft war tief greifende Nähe geworden. Nun war es an ihr, die Zeiger der Uhr zurückzustellen.

Frazer erschien in dem Moment, in dem sie die Halle betrat. Sie fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte.

„Es gibt keinen Grund, mich so missbilligend anzusehen“, sagte sie. „Sie sind nicht mein Vater.“

Der Gesichtsausdruck ihres Butlers blieb unverändert – wie immer undurchdringlich. Er hatte eine dunkle, verschlossene Miene aufgesetzt, streng und geheimnisvoll. Frazer war in der Tat alt genug, um ihr Vater sein zu können – er war immerhin der Vater der kräftigen jungen Männer, die sie als Diener und Stallburschen beschäftigte. Seit ihrer Heirat vor zehn Jahren arbeitete er für sie. Obwohl Frazer ein Dienstbote war, hatte Mairi irgendwie ständig das Gefühl, um seine Achtung kämpfen zu müssen. An diesem Morgen hatte sie seinen Respekt vermutlich ein für alle Mal verloren.

„Kann ich etwas für Sie tun, Ma’am?“ Frazer klang außerordentlich zuvorkommend. „Möchten Sie, dass das Mädchen ein Bad für Sie bereitet?“

„Nur eine Kutsche, wenn Sie so freundlich wären“, entgegnete Mairi. Sie würde keine weitere Zeit verlieren. Sie fummelte an ihren Handschuhen herum. „Wenn Sie das Schlafzimmer aufräumen könnten …“

„Selbstverständlich, Ma’am.“ Seine Stimme klang eisig.

„Der Herr schläft noch“, sagte Mairi.

„Möchten Sie, dass ich ihn wecke? Ihn rasiere? Frühstück?“ Mairi war sicher, dass Frazers Stimme nun sarkastisch klang. Sie sah ihn scharf an. Er erwiderte ihren Blick offen.

„Lassen Sie ihn schlafen.“ Mairi spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Und dann zeigen Sie ihm bitte den Ausgang. Oh, und Frazer …“ Sie zögerte. „Falls er Fragen stellen sollte …“

Frazer nickte. „Natürlich, Ma’am. Kein Wort.“

„Vielen Dank!“ Mairis Kehle fühlte sich rau an. Sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Frazer mochte ihr Verhalten missbilligte, doch er blieb ihr treu ergeben. Es war inzwischen vier Jahre her, seit ihr Mann Archie gestorben war, und es schien ihr immer noch, als ob die Trauer über seinen Tod ihr Herz wie ein Schraubstock zusammendrückte.

Draußen auf der Candlemaker Row blies ein scharfer Wind. Über Edinburgh breitete sich ein perlweißer Himmel aus. Mairi zog das Umschlagtuch enger um sich. Als sie die Royal Mile erreichte, wartete die Kutsche bereits auf sie, und einer von Frazers attraktiven Söhnen stand bereit, um den Schlag für sie zu öffnen. Sie stieg ein und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus am Charlotte Square, um zu baden und frische Sachen anzuziehen. Ihr Körper schmerzte von den Ereignissen der Nacht, doch ihr Herz schmerzte noch mehr.

Sie schloss die Augen. Trotz der ungewöhnlichen Nähe der vergangenen Stunden fühlte sie sich einsamer als je zuvor.

2. KAPITEL

Juli 1815

Du wirkst deprimiert.“ Robert, Marquis of Methven, warf seine Karten hin und musterte seinen Freund mit zusammengekniffenen Augen. „Geldsorgen, oder?“

„Warum sagst du das?“ Jack Rutherford legte seine Karten bedächtig auf den Tisch und griff nach seiner Kaffeetasse. Das Gebräu war kräftig, heiß und außerordentlich gut. Seine Nerven beruhigte es allerdings nicht. Er hätte jetzt sehr viel lieber einen Brandy gehabt, aber neuerdings trank er nicht mehr. In seiner Jugend hatte er eine enge Beziehung zu Alkohol gepflegt, doch er hatte nicht die Absicht, je wieder die Kontrolle über seine Trinkgewohnheiten zu verlieren.

„Du spielst so zugeknöpft wie eine alte Jungfer, die ihren letzten Schilling beim Whist gesetzt hat“, gab Methven fröhlich zurück. „Deine Gedanken sind ganz woanders. Und es ist wohl kaum eine Frau, die dein Kartenspiel ruiniert. Du hast noch nie zugelassen, dass …“

Jack rutschte unruhig hin und her. Er vergoss etwas Kaffee. Als er aufblickte, schaute er in das lachende Gesicht seines Cousins.

„Verdammt, Rob“, sagte er ruhig.

„Ich habe dich noch nie so erlebt“, bemerkte Methven. „Ich nehme an, so etwas musste irgendwann einmal passieren. Wer ist sie?“

Jack zögerte. Der Club war zu Dreiviertel leer und lag still da. Das war gut so, weil Jack nicht vorhatte, sein romantisches Unglück vor einer beliebigen Zuhörerschaft darzulegen. Er war in einer Lage, in der er sich bisher selten – wenn überhaupt je – befunden hatte. Normalerweise erwehrte er sich der Frauen, statt sich nach ihrer Gesellschaft zu sehnen.

„Ich weiß es nicht“, bekannte er nach einer Weile.

Methven hob fragend eine Braue. „Kein Name?“

„Wir haben nicht viel miteinander geredet.“

Sein Cousin seufzte matt. Robert kannte ihn gut. „Beschreibung?“, fragte er.

„Sie war groß“, erwiderte Jack. „Sie war schlank und hatte langes Haar. Ich weiß nicht“, wiederholte er. „Es war zu dunkel, um viel zu sehen.“

Methven hätte sich fast an seinem Brandy verschluckt. „Zum Teufel, Jack! Wo hat diese … ähm … Begegnung stattgefunden?“

„Auf einem Kostümball“, antwortete Jack. „Jedenfalls hat es dort begonnen. Es endete …“ Er zuckte die Achseln. „Anderswo. Irgendwo in der Altstadt.“

Methven lachte jetzt wieder. Jack musste einräumen, dass sein Dilemma in gewisser Weise komisch war. Da genoss er seit Jahren den Ruf, die Frauen sitzen zu lassen, bevor die Laken kalt waren, und saß nun hier und sehnte sich nach einer Frau, die ihn ihrerseits benutzt und dann verlassen hatte, und das mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm den Atem verschlug. Die Situation gefiel ihm nicht. Er war stets derjenige, der als Erster ging.

Aber das war nicht der Grund, warum er sie finden wollte. Er war unruhig und zerstreut – und das seit drei Monaten. Es war bizarr. Er hätte sie schon vor zwei Monaten und neunundzwanzig Tagen vergessen sollen. Doch die Erinnerung an sie blieb hartnäckig bestehen. Erst am Vortag war ihm ihretwegen ein Geschäft durch die Lappen gegangen. Er hatte nicht genau genug zugehört, und es war einem Konkurrenten gelungen, ihn mit einem besseren Angebot aus dem Feld zu schlagen. Noch nie zuvor hatten sich Frauen zwischen ihn und seine Arbeit gedrängt. Die Tatsache, dass es dieser Frau gelungen war, frustrierte ihn und machte ihn gleichzeitig wütend.

„Was weißt du überhaupt über sie?“, fragte Methven.

Nicht viel, worüber er reden wollte, dachte Jack. Er wusste, sie war anmutig und geschmeidig und dass ihre Haut nach Jasmin roch und zart wie Seide war. Er wusste, dass sie lockiges Haar hatte. Er hatte den Umriss ihres Gesichts mit den Fingern nachgezogen und wusste, dass es zartknochig war, mit einer geraden Nase und einem stolzen kleinen Kinn. Er wusste, dass sie runde hohe Brüste hatte, klein, aber perfekt geformt, dass sich ihr Bauch auf eine Weise rundete, dass er sie sofort wieder haben wollte, wenn er nur daran dachte, und die Haut auf der Innenseite ihrer Schenkel unfassbar zart war.

Er wusste, dass allein der Gedanke an sie ihm eine Erektion bescherte und dass er verrückt werden würde, wenn er sie nicht bald fand. Er war sicher, dass seine Entschlossenheit, sie zu finden, allein einem körperlichen Drang entsprang. Sein Unbehagen hatte mit Lust zu tun und würde sich legen, sobald seine Begierde befriedigt war. Aber bis er sie gefunden hatte, würde er unbefriedigt bleiben.

„Sie war eine Dame.“ Er dachte an ihre Ausdrucksweise und die befehlsgewohnte Stimme. Keine Jungfrau, denn eine Jungfrau wäre ganz sicher nicht so hemmungslos gewesen. Und dennoch: Obwohl sie offensichtlich erfahren war, hatte er ihre Verwundbarkeit gespürt. Und sie war traurig gewesen. Er erinnerte sich daran, wie sie im Schlaf geschrien hatte und an die Tränen auf ihren Wangen und fühlte ärgerlicherweise das Bedürfnis, sie zu beschützen.

„Vergiss sie“, empfahl Methven gerade. „Du kennst doch die Gesellschaft hier in Edinburgh. Deine Dame ist wahrscheinlich entweder eine gelangweilte Ehefrau oder eine lüsterne Witwe. Du bist für sie nur einer von vielen. Für mich hört es sich so an, als hättet ihr beide das bekommen, was ihr wolltet.“ Er hob die Schultern. „Verdirb dir nicht die Erinnerung daran, Jack.“

Das war ein guter Rat, aber auch einer, der unmöglich zu befolgen war. Jack war nicht so eitel anzunehmen, dass seine mysteriöse Verführerin nur mit ihm geschlafen hatte. Die unauffällige schwarze Kutsche und das luxuriöse Liebesnest sprachen dagegen. Er war wahrscheinlich nur der Letzte in einer langen Reihe amouröser Eroberungen gewesen. Er hatte eine Nacht hemmungsloser Leidenschaft erlebt, die mit keinerlei Verpflichtungen verbunden gewesen war; eine Nacht, für die viele Männer töten würden. Er sollte dankbar sein. Und er sollte sie hinter sich lassen. Und vor allem sollte er keinen Trottel aus sich machen und zum dritten Mal zu dem Haus in der Candlemaker Row gehen, um sie entweder zu finden oder zu versuchen, den Butler, der verschlossen wie eine Miesmuschel war, zu überreden, ihm irgendetwas zu verraten, was ihm bei seiner Suche nach ihr helfen konnte.

Methven schob die Kaffeetasse in Jacks Richtung. „Sie muss ziemlich gut gewesen sein“, sagte er. „Oder schlecht, je nachdem, wie man es sehen will.“

Jack antwortete nicht. Sein Mund wurde schmal. Oh ja, sie war gut gewesen, sogar sehr gut. Er war noch nie mit einer Frau wie dieser zusammen gewesen, hatte sich noch nie so in seinen primitiven Trieben verloren und noch nie ein solch schmerzhaftes Verlangen gespürt.

„Hast du schon versucht, mit einer Dirne zu schlafen, um dich zu kurieren?“, fragte Methven. „Die eine Hure einfach durch eine andere zu ersetzen?“

Jack war schon halbwegs auf den Füßen und hatte nach seinem Degen gegriffen, bevor ihm aufging, was er da tat. Er sah, wie sein Cousin amüsiert die Brauen hob, merkte, dass er hereingelegt worden war und fragte sich, wie – um Himmels willen – er wohl auf Methven wirkte.

„Ich entschuldige mich“, sagte sein Cousin schnell. „Ich wusste nicht, dass die Sache so liegt.“

„Tut sie auch nicht“, erwiderte Jack verdrossen. Er ließ sich seufzend auf seinen Stuhl sinken und goss sich frischen Kaffee ein. „Ich weiß nicht …“ Er hielt inne. Er wusste tatsächlich nicht, warum er eben so heftig reagiert hatte, wo doch Methven sehr wahrscheinlich richtig lag. Die Frau war vermutlich eine Edeldirne. Andererseits wusste er irgendwie, dass sie es doch nicht war. Und aus irgendwelchen Gründen war ihm das wichtig.

„Sie war keine Hure“, behauptete er dickköpfig.

„Bist du noch einmal dorthin gegangen, wo ihr euch begegnet seid?“, erkundigte sich Methven. Seine blauen Augen sahen Jack nun fest und aufmerksam an. Er wollte sehen, wie Jack reagierte. Jack achtete sorgsam darauf, einen nichtssagenden Gesichtsausdruck beizubehalten.

„Bin ich“, gab er zu. Der Kostümball hatte im Stadthaus von Lady Durness am Charlotte Square stattgefunden. Das Haus war jetzt für den Sommer geschlossen, und der Butler hatte ihm mit der Gästeliste Ihrer Ladyschaft nicht weiterhelfen können. Die unbekannte Kutsche hatte kein Familienwappen gehabt. Das Haus in der Candlemaker Row, so groß es auch war, hatte ebenfalls keine Hinweise geliefert.

Er musste hinnehmen, dass sie nicht gefunden werden wollte. Und da er nicht der Typ war, der sich mit unwilligen Frauen beschäftigte, war es das wohl gewesen. Er war einfach nur frustriert und verärgert über die Tatsache, dass er benutzt und sitzen gelassen worden war.

„Es spielt keine Rolle“, sagte er. Er setzte ein falsches Lächeln auf. „Gibt es etwas Bestimmtes, weshalb du mich sprechen wolltest? In deiner Karte war von einem Gefallen die Rede.“

Sein Cousin nickte. Er sah an Jack vorbei ins Leere, was Jack unsicher machte. Dann hob er den Blick und schaute ihm direkt in die Augen. „Du weißt, dass Ewan in einem Monat in Methven getauft werden soll?“, erkundigte er sich. „Wir möchten gern, dass du kommst.“

Robert hatte Lady Lucy MacMorlan vor drei Jahren geheiratet. Das Paar hatte bereits zwei Söhne. Das jüngste Kind war erst vor zwei Monaten auf die Welt gekommen. James, der Erbe, war im vergangenen Jahr bei einer prachtvollen Zeremonie getauft worden. Wie es schien, würde dem anderen Sohn nun das Gleiche widerfahren.

„Ich nehme an, das wird mal wieder eine eurer großen Clan-Versammlungen“, sagte Jack.

Robert spielte mit dem Stil seines Glases. „Die Taufe wird natürlich eine ganz formelle Sache“, sagte er. „Aber das Fest ist als reine Familienangelegenheit geplant.“

Jack unterdrückte ein lautes Stöhnen. Er hasste Familienfeste, egal ob formell oder informell. Die Tauffeier würde sicher ebenso unangenehm werden wie beim letzten Mal. Die Clans der Methvens und der MacMorlans waren früher einmal verfeindet. Einige Familienmitglieder schienen zu glauben, dass das immer noch so war.

„Allein eure Hochzeit hätte doch eigentlich ausreichen sollen, um den Graben zwischen euren Clans zu überbrücken“, bemerkte er. „Musst du denn wirklich noch mehr tun?“

Roberts blaue Augen funkelten amüsiert. „Oh ja, das muss ich. Lucy und ich haben Lachlan und Dulcibella nicht mehr gesehen, seit sie miteinander durchgebrannt sind. Sie hatten immerhin den Anstand, im vergangenen Jahr James’ Taufe fernzubleiben.“

„Nun, da verpasst du nichts“, erwiderte Jack. „Lade sie lieber nicht ein! Großmutter kann sie nicht ausstehen. Eigentlich kann sie keiner ausstehen. Sei froh, dass du Dulcibella entgangen bist, Rob.“

Roberts Blick wurde weich und Jack wusste, dass er an seine Frau dachte. Vor drei Jahren war Robert noch mit Miss Dulcibella Brodrie verlobt gewesen. Doch dann hatte die sich mit Lucys Bruder Lachlan davongemacht. Jack fand, dass Robert unglaubliches Glück gehabt hatte. Lucy war charmant, klug und schön und liebte Robert abgöttisch. Dulcibella war verwöhnt, oberflächlich und boshaft und liebte nur sich selbst. Es kursierten bereits Gerüchte über ein Zerwürfnis zwischen ihr und Lachlan.

„Ich sollte mich mit Lachlan gut stellen“, erklärte Robert. Seine Stimme klang nun schroffer. „Schließlich sind wir jetzt, nachdem Dulcibella die Cardross-Ländereien geerbt hat, Nachbarn. Ich will keine Grenzstreitigkeiten.“ Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Da ist noch etwas anderes, Jack. Wir haben uns gefragt … Möchtest du Ewans Pate werden?“

Sofort veränderte sich die Atmosphäre; es wurde ganz still. Jack fand nicht die richtigen Worte. Die Frage seines Cousins ließ ihn bis auf die Knochen frösteln. Als Pate würde er familiäre Verpflichtungen übernehmen und die Familienbande pflegen müssen. Er würde sich um das Leben seines Patenkindes kümmern müssen. Gott möge verhüten, dass Robert und Lucy je etwas zustieß, doch sollte so etwas geschehen, konnte es sein, dass er sich sogar um beide Söhne würde kümmern müssen. Für eine solche Rolle war er gänzlich ungeeignet. Jack unterdrückte ein Schaudern.

„Ihr braucht mich dafür nicht“, sagte er leichthin. „Ewan besitzt einen ganzen Clan von Verwandten, die sich dafür wesentlich besser eignen als ich.“

Robert kniff die Augen zusammen. „Jack“, sagte er, „sollte Lucy oder mir etwas passieren, dann möchte ich, dass du James’ und Ewans Vormund wirst.“

Die nackte Angst kroch durch Jacks Körper. Es war unmöglich.

„Rob …“, begann er. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu reden.

„Lucy und ich würden uns sehr freuen“, sagte Robert höflich. „Falls du in der Lage bist, diese Rolle anzunehmen.“

Jack sah seinen Cousin nicht an. Stattdessen hielt er den Blick fest auf den Kaffeesatz in seiner Tasse gerichtet.

„Ich bin nicht gerade ein gutes Vorbild.“ Er bemühte sich um einen leichten Ton. „Ewan verdient etwas Besseres.“

„Im Gegenteil“, erwiderte sein Cousin gleichmütig. „Ewan könnte es gar nicht besser erwischen.“ Als Jack weiterhin schwieg, wurde Robert ungeduldig. „Jack, um Gottes willen, hab einfach ein bisschen Vertrauen in dich selbst. Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber du hast für Averil das getan, was du für das Beste hieltest.“

Jack schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab. Er sprach nie über seine Schwester und würde jetzt nicht damit anfangen. „Ich habe sie in dieser schrecklichen Schule verrotten lassen, Rob“, sagte er. „Ich habe nichts für sie getan.“

Ein ausgedehntes Schweigen, in dem viel Unausgesprochenes mitschwang, legte sich über sie. Dann seufzte Robert. „Nun gut, ich respektiere deine Offenheit und verstehe das.“ Er setzte sich in seinem Stuhl zurecht. „Du wirst aber doch trotzdem zur Taufe nach Methven kommen, oder?“

„Das ist keine richtige Frage, oder?“ Jack hob die Brauen. „Eher eine Art Befehl.“

Roberts Augen funkelten vergnügt. „Du weißt sehr gut, dass ich dir nichts befehlen kann.“ Er ließ einen Moment verstreichen. „Großmutter würde sich sehr freuen. Wie du weißt, ist sie in letzter Zeit etwas kränklich. Es würde ihr guttun, dich zu sehen.“

„Ich reagiere nicht auf Erpressung.“ Jack seufzte tief. „Na schön. Solange sie nicht ständig versucht, mich zu verheiraten.“

„Es würde sie glücklich machen, wenn du verheiratet wärst“, erwiderte Robert.

„Du wirkst auf mich, als würdest du etwas zurückhalten“, bemerkte Jack.

Sein Cousin seufzte. „Großmutter könnte – und ich sage nur ‚könnte‘ – eventuell einige passende Damen zum Fest auf Methven eingeladen haben …“

„Eine Art Viehmarkt.“ Jack verzog angewidert den Mund. „Du solltest nicht versuchen, mich für dumm zu verkaufen, Rob.“

„Jetzt, wo du Glen Calder besitzt, ist es Zeit, über die Zukunft nachzudenken“, wich Robert aus.

„Meine Zukunft beinhaltet weder eine Frau noch eine Familie.“ Jacks Ton war abweisend. „Nicht alle Männer wünschen sich das.“ Er schluckte einen Mundvoll Kaffee herunter und dann noch einen. Er schmeckte ihm nicht. Was er jetzt wollte – nein, brauchte – war der brennende Geschmack von Brandy. In letzter Zeit dachte er selten daran, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, aber heute war die Vorstellung äußerst reizvoll. Zu reizvoll. Er kannte seine Schwächen, wusste, wie wenig es bedurfte, sich ihnen zu überlassen. Er schob die Flasche weg und wünschte sich, dass Robert nicht ausgerechnet Brandy trinken würde. Doch es war nicht der Fehler seines Cousins. Robert hatte ihm angeboten, ebenfalls Kaffee zu trinken. Jack hatte abgelehnt und den Brandy für Robert bestellt. Er hasste es, wenn ihn jemand an seine Schwäche erinnerte.

„Jack, du solltest dir keine Vorwürfe machen“, beschwor Robert ihn und unterdrückte einen Fluch. „Du solltest nicht die Last der Fehler eurer Eltern tragen.“

„Lass uns bitte nicht darüber sprechen.“ Jacks Kehle war rau, seine Stimme angespannt. Er verstand die Worte seines Cousins zwar, doch sie erreichten ihn nicht wirklich. Er glaubte ihm auch nicht. Die Wahrheit war, dass er versagt hatte. Als einziger Sohn des Hauses wäre es seine Pflicht gewesen, Mutter und Schwester nach dem Tod seines Vaters zu beschützen. Und er hatte in beiden Fällen schändlich versagt.

Er betrachtete die Brandyflasche. Es juckte ihn in den Fingern, nach ihr zu greifen. Der Zwang danach stieg in ihm auf wie eine dunkle Flut.

Er sollte besser allein bleiben. So bestand nicht die Gefahr, dass er noch einmal bei jemandem versagte – außer im Hinblick auf sich selbst. Seine Hand glitt über den Tisch in Richtung Flasche.

„… Lady Mairi MacLeod“, sagte Robert.

Jack hielt inne, sein Kopf flog herum. „Wie bitte?“

„Ich habe gesagt, dass ich möchte, dass du Lady Mairi MacLeod zur Taufe begleitest“, wiederholte Robert. Als Jack nicht sofort darauf reagierte, fügte er hinzu: „Ich weiß, du magst sie nicht, aber sie ist nun mal meine Schwägerin. Es ist eine Sache der Höflichkeit.“

Jack stöhnte. „Muss ich?“, fragte er. Gerade, als er geglaubt hatte, der Abend könnte nicht mehr schlimmer werden, war genau das geschehen.

Nicht mögen beschrieb seine Gefühle für Mairi MacLeod nicht einmal annähernd. Als er ihr vor drei Jahren bei der Hochzeit ihrer Schwester zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie faszinierend gefunden. Gelassen, unabhängig, eine Herausforderung. Er mochte reiche Witwen und sie mochten ihn auch. Er hatte keine Zeit verschwendet und Mairi vorgeschlagen, seine Mätresse zu werden. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, wo er sich sein Angebot hinstecken konnte und ihn danach mit äußerster Gleichgültigkeit behandelt. Jack war Ablehnungen nicht gewohnt, und es ärgerte ihn, dass er Mairi MacLeod selbst nach dieser Zurückweisung noch attraktiv fand. Sie zog ihn an, auf eine dunkle, machtvolle Weise. Eine Woche in ihrer Gesellschaft zu verbringen, sie auf einer langen beschwerlichen Reise über schlechte Straßen zu begleiten, würde dazu führen, dass er sie entweder erwürgen oder lieben wollte. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht.

Robert stieß einen übertriebenen Seufzer aus. „Ich kann deine Abneigung einfach nicht nachvollziehen.“

„Dann lass mich dich aufklären“, sagte Jack. „Lady Mairi ist stolz und überheblich. Sie ist zu reich, zu schön und zu klug.“

Wieder stieg die vertraute Feindseligkeit in ihm hoch. Es machte ihn wütend, dass ihm Mairi MacLeod nicht gleichgültig war. Nicht einmal die Nacht entfesselter Leidenschaft mit seiner mysteriösen Verführerin konnten den Bann brechen. Es war sogar seltsamerweise so, dass das Ganze seine Begierde sogar noch steigerte. Jetzt gab es schon zwei Frauen, nach denen es ihn verlangte und die er nicht haben konnte.

Robert lachte. „Hat sie noch andere Fehler, die du mir mitteilen willst?“

Jack fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich möchte sie wirklich ungern begleiten“, sagte er. „Warum kann sie nicht mit ihrer Familie reisen?“

„Weil die Familie in Forres ist und Lady Mairi in ihrem Haus in der Nähe von Edinburgh“, gab Robert ungerührt zurück. „Es ist einfach höflich, Jack. Wie ich schon gesagt habe, wir versuchen, die Beziehung zwischen den Clans zu kitten.“ Er zuckte die Achseln. „Wenn Lady Mairi dich so wenig mag wie du behauptest, dann wird sie sich ohnehin nicht von dir begleiten lassen.“

„Möglicherweise stimmt sie nur zu, um mich zu quälen“, murmelte Jack. Wieder seufzte er tief. „Na gut, aber du schuldest mir einen Gefallen.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Robert trocken.

„Fünf Minuten“, sagte Jack. „Ich werde genau fünf Minuten darauf verwenden, sie zu fragen und mir anzuhören, dass sie ablehnt.“ Er würde keine Sekunde länger bleiben. Er würde nach Ardglen fahren, Mairi anbieten, sie nach Methven zu begleiten, sie würde Nein sagen, und dann würde er wieder gehen. Und wenn sie bei der Taufe in Methven waren, konnten sie einander bequem aus dem Weg gehen.

Er lehnte sich zurück, die Spannung in seinen Schultern ließ nach. Er und Mairi MacLeod würden es sicher schaffen, für eine kurze Zeit zivilisiert miteinander umzugehen. Fünf Minuten. Danach hätten sie es hinter sich.

„Sagen Sie Lady Mairi MacLeod, Mr. Rutherford wünscht sie zu sprechen.“

Mairi hatte sich im Gesellschaftszimmer aufgehalten, als sie den Türklopfer hörte. Das Geräusch klang arrogant und fordernd. Einen Augenblick später waren Stimmen in der Eingangshalle zu hören. Eine davon – tief und gedehnt – erkannte sie sofort. Mairi fuhr so stark zusammen, dass sie beinahe ihren Finger abgeschnitten hätte statt die Stiele der Rosen, die sie gerade arrangierte. Sie legte die Gartenschere leise auf den Tisch, ging auf Zehenspitzen zur halb geöffneten Tür und blieb dort nervös stehen. Der schwere Duft der Rosen schien die Luft ganz und gar zu füllen und machte ihr das Atmen schwer. Das Blut pochte laut in ihren Ohren. Sie griff nach dem Türknauf und schloss die Augen, während sich alles um sie herum drehte.

Die vergangenen Monate hatten sie eingelullt und ihr ein falsches Gefühl von Sicherheit gegeben. Sie hatte Edinburgh an dem Morgen verlassen, an dem sie Jack in ihrem Bett zurückgelassen hatte, wo er sich von ihren nächtlichen Exzessen ausruhte und schlief. Sie war zu ihrem Landhaus gefahren und hatte sich – in der Hoffnung, ihm so aus dem Weg gehen zu können – bei gesellschaftlichen Ereignissen nicht mehr sehen lassen. Sie hatte begonnen, sich in Sicherheit zu wiegen.

Und nun war er hier.

Sie versuchte, ruhig zu atmen und sagte sich, dass keine Gefahr bestand. Selbst wenn Jack herausbekommen haben sollte, wer sie war, musste sie ihn nicht sehen. Sie hatte die Diener angewiesen, niemanden vorzulassen, und ihre Diener waren äußerst gehorsam. Selbst jetzt hörte sie, wie einer von ihnen Jack freundlich, aber bestimmt verdeutlicihte, dass Lady MacLeod niemanden sehen wollte.

„Es tut mir leid, aber Lady Mairi empfängt zurzeit keine Besucher.“

„Mich wird sie sehen wollen“, erklärte Jack knapp.

Mairi trat einen Schritt zurück, aber es war bereits zu spät. Vielleicht hatte Jack ihren Schatten über den schwarz-weißen Marmorboden der Eingangshalle huschen sehen. Vielleicht hatte er ihre Anwesenheit auch gespürt. Ihr blieben nur wenige Sekunden bis er das Gesellschaftszimmer betrat. Seine Haltung strahlte gleichzeitig Autorität und natürliche Anmut aus. Es war ihr, als ob jegliche Luft aus ihren Lungen herausgepresst wurde. Schauder jagten über ihren ganzen Körper. Sie merkte, dass sie zitterte, und verschränkte die Hände, damit man es nicht sah.

Das Erste, was ihr auffiel, war der elegante Schnitt seiner Kleidung. Er hatte sich offenbar eine Menge Gedanken über sein Aussehen gemacht, bevor er zu ihr aufgebrochen war. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Jack war immer gut angezogen, doch heute sah er sensationell aus: Seine Garderobe war teuer und außerordentlich gut geschnitten, das Hemd blendend weiß, die Stiefel glänzend poliert. Außerdem fühlte er sich offenbar in seiner Aufmachung wohl, er trug sie mit äußerster Eleganz. Viele Männer wirkten albern, wenn sie sich nach der Mode kleideten, eingezwängt von hohen Hemdkragen, der Rock mit Leinen verstärkt. Jack Rutherford brauchte keinerlei künstliche Hilfe, um gut auszusehen. Sein grüner Rock aus besonders feinem Zwirn umschloss seine Schultern, ohne eine einzige Falte zu werfen. Die Hose lag um seine Beine wie eine zweite Haut und modellierten seine muskulösen Schenkel.

Mairi spürte, wie sich irgendwo tief in ihrem Inneren eine leise Erregung ausbreitete. Sie hielt den Atem an; ihr Herz begann zu rasen. Jack sah ein wenig gefährlich aus und mehr als nur ein bisschen attraktiv mit den zerzausten Haaren, die ihm über die Stirn fielen, den schmalen lachenden Augen und dem kantigen Kinn, das säuberlich rasiert war. Die unglaubliche Intimität, die sie miteinander geteilt hatten, bewirkte, dass sie sich seiner Gegenwart außerordentlich stark bewusst war. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihre Gefühle würde verbergen können.

Sie starrte ihn an. Dann tadelte sie sich innerlich deswegen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.

Er vollführte eine makellose Verbeugung. „Lady Mairi.“

Es gab keine Entschuldigung dafür, dass er hier einfach so hereinplatzte und ihr Bedürfnis nach Abgeschiedenheit ignorierte. In Edinburgh war sie diejenige gewesen, die ihr Zusammentreffen herbeigeführt hatte. Das schien jetzt völlig abwegig. Jack Rutherford schien ihr viel zu stark, um die Kontrolle über irgendeine Situation verlieren zu können. Sein lässiger Charme verbarg einen Willen aus Stahl.

„Mr. Rutherford.“ Sie begegnete seiner Gleichgültigkeit mit derselben kühlen Höflichkeit.

Er ließ den Blick über ihr Gesicht gleiten. In seinen Augen lag keinerlei Wiedererkennen.

Er wusste es nicht.

Vor Erleichterung wurden ihr die Knie ganz weich. Sie hätte beinahe nach dem Tisch gegriffen, um sich abzustützen. Verstörenderweise war sie nicht nur beruhigt, auch andere Gefühle stiegen in ihr auf. Sie erkannte, dass sie enttäuscht war und spürte, wie alles Weibliche in ihr aufbegehrte, in dem Wunsch, dass er sich an sie erinnern möge.

Wahnsinn! Sie sollte glücklich sein, dass sie so leicht davonkam. Sie sollte dankbar und erleichtert sein, statt diese eitle und dumme Unzufriedenheit zu empfinden.

„Wie geht es Ihnen, Sir?“, fragte sie. „Ich hoffe, gut.“

Jacks Lippen kräuselten sich, als wisse er genau, dass diese Sätze nichts weiter als Höflichkeitsfloskeln waren. Er machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.

„Wie ich höre, werden Sie zur Taufe Ihres Neffen nach Methven fahren“, sagte er. Er ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen, als hätte er nicht das geringste Interesse, sie anzusehen. „Ich bin hier, um Ihnen meine Begleitung anzubieten.“

Er war wegen Ewans Taufe hier. Mairi fühlte sich erleichtert, weil sie nun den Grund für seinen Besuch kannte, und war gleichzeitig verdrossen, weil er sein Angebot so lässig vorbrachte.

„Wie freundlich“, gab sie zurück. Dann fügte sie spöttisch hinzu: „Ich wusste ja nicht, dass Sie sich so nach meiner Gesellschaft sehnen.“

Sein Blick kehrte zu ihr zurück, haselnussbraun, kühl und abwesend. „Das Angebot wird auf Bitte meines Cousins ausgesprochen, Madam, weniger aus eigener Neigung.“

„Natürlich“, sagte Mairi. „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie es nicht freiwillig tun.“ Sie lächelte ihn ebenfalls kühl an. „Bitte sagen Sie Lord Methven, dass ich seine Rücksichtnahme zu schätzen weiß, aber selbst Vorkehrungen für die Reise treffen werde.“

Jack nickte. Sie wusste, er würde nicht versuchen, sie zu überreden. Wahrscheinlich war das Letzte, was er tun wollte, sie nach Methven zu begleiten. Alles an seinem Verhalten legte den unmissverständlichen Schluss nahe, dass er ihr Gesellschaftszimmer gerne auf der Stelle verlassen würde – und ihr Leben vermutlich auch. Sie verstand das. Während sie an nichts anderes als an ihre gemeinsam verbrachte Nacht denken konnte, war sie für Jack einfach nur eine Frau, die seine Avancen zurückgewiesen und ihn verächtlich behandelt hatte – und an die er unglücklicherweise durch angeheiratete Verwandte gebunden war.

Wenn er es wüsste! Die Ironie der Situation ließ sie beinahe lächeln.

„Auf Wiedersehen, Mister Rutherford“, sagte sie. „Glücklicherweise ist Methven Castle so groß, dass wir uns während unseres Aufenthalts nur selten begegnen müssen.“

Sie nahm die Blumenschere und spürte das kühle Metall in ihren erhitzten Handflächen.

Gleich würde er weg sein.

Jacks Blick fiel auf die Rosen mit ihren dunkelroten Blüten. Vor dem goldbraunen Hintergrund des Tischs wirkten sie üppig und leuchtend. Die Sonnen schien ihm ins Gesicht und hob seine hohen Wangenknochen und das kantige Kinn hervor. Mairis Herz setzte einen Schlag lang aus. Er schaute auf und sah ihren Blick. Ihr Herz tat einen Sprung, weil sie erneut fürchtete, sie könnte ihre Gefühle nicht verbergen.

Jacks nächste Worte überraschten sie. „Meine Großmutter würde diese Blumen mögen. Sie liebt Rosen. Züchten Sie sie hier?“

„In einem eingefriedeten Garten“, antwortete Mairi. Sie berührte die Blütenblätter sanft. „Diese wurden für mich gezüchtet und nach mir benannt: Mairi Rose …“ Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass sie gerade dabei war, ihm einen Hinweis auf ihre Identität zu geben. In jener Nacht in Edinburgh hatte sie ihm gesagt, ihr Name sei Rose.

Jack schien es nicht aufgefallen zu sein. Er hielt den Kopf gesenkt, während er die Blumen betrachtete, und bewegte sich nicht.

Nach einem kurzen Schreckmoment konnte Mairi wieder leichter atmen. Sie ging zur Tür, fasste nach dem Knauf und öffnete die Tür – ein deutliches Zeichen, dass es für Jack Zeit wurde, sich zurückzuziehen.

„Einen schönen Tag, Sir“, sagte sie scharf.

Jack schaute auf und sah sie an.

Bei dem, was sie in seinen Augen sah, blieb ihr das Herz stehen. Die kühle Gleichgültigkeit war daraus verschwunden. An ihre Stelle war eine Mischung aus Ungläubigkeit und Ärger getreten und ein Funkeln, das ihr den Atem nahm.

„Rose“, wiederholte er sehr leise.

Das Gefühl von Enge in Mairis Brust wurde stärker, bis es schier unmöglich wurde, Luft zu holen. Der Türknauf entglitt ihren feuchten Händen. Sie hatte das starke Bedürfnis, zur Treppe zu stürzen, wegzurennen, sich zu verstecken. Aber es gab nichts, wo sie sich hätte verstecken können.

„Ich glaube“, sagte sie und ihre Stimme klang nun ganz dünn, „dass Sie im Begriff waren zu gehen, Mr. Rutherford.“

Jack kniff die Augen zusammen; sein bohrender Blick wurde intensiver. Ihr lief ein neuer Schauder über den Rücken. Dann lächelte er.

„Genau genommen“, sagte er sehr leise, „glaube ich nicht, dass ich das war.“

Er kam zu ihr, schob sich an ihr vorbei, legte eine Hand gegen die Tür des Gesellschaftszimmers und drückte dagegen, bis sie ins Schloss fiel.

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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