Das skandalöse Angebot des Dukes

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Seit acht Jahren arbeitet Penelope still und effizient als Sekretärin für den ehrenwerten Hugh Brinsley-Norton, Duke of Kingsland. So manche unangenehme Aufgabe hat sie für ihn erledigt – doch ihr neuester Auftrag ist eine wahre Qual: Penelope soll ihm helfen, eine passende Duchess zu finden. Und das, obwohl sie selbst ihn seit dem ersten Tag verzweifelt liebt! Bei der Auswahl der Kandidatinnen verbringen Penelope und Hugh mehr Zeit als üblich miteinander, und plötzlich ist da dieser Funke zwischen ihnen … Aber eine Sekretärin kommt als Ehefrau für einen Duke einfach nicht infrage. Deshalb macht Hugh ihr einen Vorschlag, auf den eine echte Lady niemals eingehen würde!


  • Erscheinungstag 18.07.2023
  • Bandnummer 152
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517737
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London,

2. Juli 1874,

sechs Wochen vor dem Kingsland-Ball

Gab es eine undankbarere Aufgabe, als dem Mann, den man liebte, seine zukünftige Ehefrau auszusuchen? Penelope Pettypeace konnte sich keine vorstellen. Andererseits hatte sie in den acht Jahren, da sie die Sekretärin des Duke of Kingsland war, so manche unangenehme Pflicht erledigen müssen, und eigentlich hätte sie inzwischen daran gewöhnt sein sollen. Dieser jüngste Auftrag allerdings war eine Zumutung.

Den Brieföffner mit dem grünen Marmorgriff in der Hand, den er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, saß sie am Schreibtisch ihres kleinen Büros in seiner Londoner Stadtresidenz, schlitzte geschickt ein weiteres Kuvert auf, ohne das Wachssiegel zu beschädigen, und nahm den Briefbogen aus schwerem Pergament heraus. Sie faltete ihn auf, rückte ihre Brille zurecht und überflog die Zeilen einer naiven unverheirateten junge Dame, die ausführlich und mit ungebremster Hoffnung auf die kürzlich erschienene, aufsehenerregende Zeitungsanzeige des Dukes geantwortet hatte, in der dieser eine junge Dame von Stand im heirats- und gebärfähigen Alter suchte, die seine Duchess werden sollte. Das Gleiche hatte er im Jahr zuvor schon einmal versucht, allerdings mit verheerendem Resultat.

Seinerzeit hatte er die Auswahl persönlich vorgenommen und seine Entscheidung auf einem von ihr arrangierten und beaufsichtigten Ball in der Londoner Stadtresidenz öffentlich gemacht. Penelope hatte sich im Hintergrund gehalten, als das Dröhnen des prächtigen Gongs bis in die letzten Winkel erklungen war und allen mitgeteilt hatte, dass der Duke im Begriff war, seine Wahl zu verkünden. Sie hatte nicht gewusst, wer es war, bis ganz London den Namen aus seinem Mund vernahm: Lady Kathryn Lambert.

Er hatte der Frau fast ein Jahr lang den Hof gemacht, aber am Ende hatte sie ihn zugunsten eines titellosen Taugenichts, dessen Vater als Hochverräter hingerichtet worden war, abblitzen lassen. Penelopes Meinung nach hätte Kingsland seine Lektion bei der Gelegenheit lernen können. Seine unpersönliche Herangehensweise war nicht geeignet, eine passende Ehefrau zu finden.

Aber nein. Gerade einmal zwei Tage, nachdem Miss Lambert seinen Antrag abgelehnt hatte, war eine weitere Anzeige in der Times erschienen, mit der der Duke die komplizierte Angelegenheit, eine Frau zu finden, mit der er einverstanden sein konnte, auf einfache Art zu lösen hoffte. Anschließend hatte er, ohne auch nur einen einzigen der ungefähr sieben Dutzend Briefumschläge zu öffnen und eines der sorgfältig formulierten Anschreiben zu lesen, die Aufgabe Penelope überantwortet.

Trotz ihres Ärgers über die lästige Pflicht nahm sie ihre Arbeit ernst und hatte auf einem Bogen Metzgerpapier, der fast so groß war wie die Platte ihres Eichenschreibtischs, eine Art Tabelle skizziert. In der ersten Spalte notierte sie die Namen der Kandidatinnen, dann folgten Rubriken für jede Eigenschaft, von der sie glaubte, dass der Duke sie von einer Ehefrau verlangte, auch wenn er außer den dringendsten keine besonderen Erfordernisse genannt hatte. „Ich will eine schweigsame Duchess. Sie soll da sein, wenn ich sie brauche, und sich ansonsten unauffällig verhalten.“

Während alle Frauen einen Mann wollten, der da war, wenn sie nicht erkannten, dass sie ihn brauchten. Einen charmanten, anständigen, verständnisvollen Mann. Einen Mann, dem es nichts ausmachte, wenn eine Frau von ihm hören wollte, dass sie ihm etwas bedeutete.

So ein Mann war Hugh Brinsley-Norton, neunter Duke of Kingsland, eindeutig nicht.

Und dennoch hatte Penelope Pettypeace es geschafft, sich in ihn zu verlieben. Und schuld daran war nur ihr unzuverlässiges Herz.

Er hatte sie niemals zu tieferen Gefühlen ermutigt, und ihr war nicht klar gewesen, dass sie sie hegte, bis er den Namen jener anderen jungen Dame ausgerufen hatte und die Worte sie getroffen hatten wie ein Schlag gegen die Brust. Wenn sie ehrlich war, hatte die Erkenntnis, wie tief ihre Gefühle für den Duke waren, sie einigermaßen überrascht. Vielleicht lag es an dem Vertrauen, das er in sie setzte, wenn er ihr während seiner Abwesenheiten sämtliche geschäftlichen Angelegenheiten überließ. Er war oft unterwegs auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten – sein vorrangiger Lebenszweck, der ihm wenig Zeit für andere Unternehmungen wie etwa eine anständige Werbung ließ. Er trug die Verantwortung für vier Anwesen – das Herzogtum, zwei Grafschaften und eine Vizegrafschaft – sowie das Wohlergehen all jener, die von ihm abhängig waren, wenn es um ihren Lebensunterhalt ging. Ehe Penelope die Stellung bei ihm angenommen hatte, hatte sie die Aristokratie stets als einen verderbten, faulen Haufen betrachtet, doch seit sie Kingsland kannte, wusste sie, wie es wirklich war: die Verpflichtungen lasteten schwer auf den Adligen. Sie hatte den größten Respekt vor dem Duke, und ihr Herz ebenfalls.

„Miss Pettypeace?“

„Was zum Teufel wollen Sie?“ Ihr Kopf ruckte hoch, und sie starrte den bedauernswerten Lakaien, der sie gestört hatte, finster an. Im nächsten Moment meldete sich ihr schlechtes Gewissen, denn der junge Mann riss erschrocken die Augen auf, als sei er unerwartet einer abscheulichen Riesenspinne begegnet, die es übelnahm, dass man sie bei der Herstellung ihres Netzes gestört hatte. „Entschuldigen Sie, Harry. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Seine Gnaden hat nach Ihnen geläutet. Er ist in der Bibliothek.“

„Danke. Ich mache mich sofort auf den Weg.“

„Sehr wohl, Miss.“

Ruhig ging Harry davon, und Penelope legte den Brief mit der beeindruckenden Liste von Talenten wie Pianoforte spielen, Singen, Croquet und Fechten – eine Fähigkeit, die bis jetzt keine andere der Bewerberinnen ins Feld führen konnte – beiseite. Fechten würde eine weitere Rubrik erforderlich machen und womöglich dazu führen, dass der Duke sich eine Verletzung einhandelte, wenn die Frau entdeckte, dass er gar keine Zeit hatte, irgendeine ihrer Fähigkeiten zu bewundern. Penelope schnappte sich den Briefbeschwerer aus schwarzem Marmor mit der goldgeprägten Inschrift „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, ein Geschenk des Dukes zum einjährigen Bestehen ihres Arbeitsverhältnisses, und stellte ihn auf den Pergamentbogen als Erinnerung, dass sie, was die Verfasserin und ihre Eignung als potenzielle Duchess anging, noch nicht zu einem Ergebnis gekommen war.

Energisch schob sie den Stuhl zurück und stand auf, strich sich vorsichtig über das Haar, um sicherzustellen, dass dem nüchternen Knoten keine Strähne entkommen war. Sie nutzte jede einzelne Minute des Tages und erledigte eine Vielzahl von Dingen gleichzeitig, wo immer es möglich war. Auch ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild, machte sie sich auf den Weg zur Bibliothek und folgte dem Korridor, der zum Küchentrakt führte und an dessen Wand die beiden Klingelzüge – einer für das reguläre Personal, einer für sie – samt der Anzeige, in welchem Raum es geläutet hatte, angebracht waren. Sie kam an der Treppe vorbei, die zu ihrer kleinen Schlafkammer in den Dienerquartieren führte, folgte einem weiteren Korridor zu der abgetretenen Stiege, die die Lakaien benutzten, wenn sie servierten, oder der Butler, wenn er die Eingangstür öffnete, aber auch die Zofe, die sich um die Bedürfnisse der Dowager Duchess kümmerte, wann immer sie zugegen war, und ebenso der Kammerdiener des Duke. Weil Penelope eng mit ihrem Dienstherrn zusammenarbeitete, wenngleich nicht auf eine so persönliche Art wie sein Kammerdiener, durfte auch sie diese Treppe benutzen, wenn sie in den Hauptteil der Stadtresidenz wollte. Wobei sie selbstverständlich der Auffassung war, dass ihre Aufgaben weit bedeutender waren als die des Kammerdieners. Darin hätte ihr zweifellos der gesamte Dienerstab zugestimmt, denn ihre Anwesenheit hielt den Haushalt geräuschlos am Laufen. Und gegen ihre Art, mit Seiner Gnaden umzugehen, wenn er schlechter Laune war, hatte der Butler nicht ein einziges Mal Einwände erhoben.

Es wäre ihr lieber gewesen, wenn ihr Büro näher bei seinem Arbeitszimmer gelegen hätte, aber danach pflegte der Duke nicht zu fragen. Bedauerlicherweise würde er das bei seiner Ehefrau genauso wenig tun. Sein Blickfeld war eng, es ging kaum über das Geschäftsimperium, das er aufgebaut hatte, hinaus. Außer Geld zu verdienen und um jeden Preis erfolgreich zu sein interessierte ihn wenig. Doch die Gerissenheit, die Geschicklichkeit und Skrupellosigkeit, mit der er seine Geschäfte abwickelte, machte sie immer wieder sprachlos. Es war eine unvergessliche Erfahrung, und sie hatte viel von ihm gelernt, so viel, dass sie wie auch andere Frauen einen Teil ihres Einkommens in privatwirtschaftliche Unternehmen und Staatsanleihen investierte, und das mit erstaunlichem Erfolg. Nie wieder würde sie gezwungen sein, das Undenkbare zu tun, um zu überleben.

Sie näherte sich der Bibliothek, und der livrierte Lakai, der davor postiert war, nickte ihr bestätigend zu und öffnete die Tür. Die Schultern gestrafft, kerzengerade, ihre Gefühle unter Kontrolle, trat sie ein, ohne im Entferntesten erkennen zu lassen, dass allein der Anblick Seiner Gnaden ihr weiche Knie verursachte. Es waren nicht seine teuflisch attraktiven Gesichtszüge. Sie hatte haufenweise gut aussehende Männer gekannt. Es war das Selbstbewusstsein, das sich in seiner Haltung ausdrückte, die Direktheit seines festen Blicks, die Macht und der Einfluss, die er so gänzlich ungezwungen ausübte. Es war die Art, wie er sie ansah, ohne auch nur eine Spur von Lüsternheit. Er betrachtete sie wie einen Mann, den er respektierte, einen Mann, dessen Meinung er schätzte. Und auf sie, für die all das völlig neu war, wirkte es wie ein Aphrodisiakum.

Sein schwarzes Haar, einen halben Zoll länger, als es die Mode vorschrieb – sie würde die Sache mit seinem Kammerdiener besprechen müssen –, war wie eine Aufforderung für ihre Finger, ihm die widerspenstige Locke, die ihm über die dunklen Augen fiel, aus der Stirn zu streichen, als er sich erhob und den langgliedrigen Körper entfaltete, der in jeder Art Kleidung vorteilhaft wirkte. Dass sein Schneider penibel darauf achtete, jeden Stich perfekt zu setzen, trug nur dazu bei, den Duke umso umwerfender aussehen zu lassen.

Sie hatte ihn natürlich beim Frühstück gesehen. Er bestand darauf, dass sie ihm wegen der Einfälle, die ihm im Halbschlaf oder beim Aufwachen zu kommen pflegten, der Nachforschungen, die angestellt werden mussten, Gesellschaft leistete, und mitunter diktierten seine Überlegungen Penelopes weiteren Tagesablauf. Auch sie war anfällig für Schlafstörungen, wenn ihr Lösungen für Probleme einfielen, mit denen sie sich herumschlugen, und sie besprach sie mit ihm, während sie aßen. Für sie war es eine wunderbare Art, den Tag zu beginnen, selbst wenn es nichts zu bereden gab und sie jeder ihre Zeitung lasen, die der Butler gebügelt und neben ihren Plätzen bereitgelegt hatte. Der Duke betrachtete es als einen persönlichen Vorteil, wenn sie möglichst gut informiert war.

„Pettypeace, großartig, dass Sie gekommen sind.“ Seine tiefe, sanfte Stimme erzeugte eine Wärme in ihrem Bauch wie der Brandy, den sie sich vor dem Zubettgehen gegönnt hatte. „Gestatten Sie mir, Ihnen Mr. Lancaster vorzustellen.“

Penelope nickte dem Gentleman in dem schlecht sitzenden Tweedjackett zu. „Sir.“

„Lancaster, Miss Pettypeace, meine Sekretärin.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Miss.“

Sie schätzte ihn ein paar Jahre älter als die achtundzwanzig, die sie selber zählte. Er strahlte etwas Hungriges aus, einen Eifer wie jemand, dem bewusst war, dass er kurz davorstand, ein Vermögen zu machen, doch gleichzeitig las sie eine Skepsis in seinen grauen Augen, so, als sei ihm klar, dass es nur zweier Worte des Dukes bedurfte, um alle Hoffnungen zu zerschlagen: kein Interesse.

„Miss Pettypeace wird sich Notizen machen, damit ich die Angelegenheit anschließend besser beurteilen kann. Ich pflege über Investitionsmöglichkeiten eingehend nachzudenken, müssen Sie wissen.“

Was eine höfliche Form war, dem Mann mitzuteilen, dass er genaue Nachforschungen anstellen und alles über ihn herausfinden würde, einschließlich des Tages, der genauen Stunde und der Person, mit der er seine Unschuld verloren hatte und wie lange er von seiner Mutter gestillt worden war.

So unaufdringlich wie möglich entnahm sie ihrer Rocktasche einen Stift und ein kleines ledergebundenes Notizbuch, das sie stets bei sich trug, ließ sich in einem der Lehnsessel vor dem Kamin nieder und schob ihre Brille zurecht. Die beiden Gentlemen setzten sich ebenfalls.

„Schießen Sie los, Lancaster. Beeindrucken Sie mich mit Ihrer Idee, garantieren Sie mir, dass sie mich noch reicher macht, als ich es bereits bin.“

King besaß die beneidenswerte Fähigkeit, sich auf mehr als eine Sache gleichzeitig konzentrieren zu können, und während Lancaster von seiner Erfindung schwärmte – einer Uhr, die zu einem von ihrem Besitzer bestimmten Zeitpunkt schellte –, schien er dem Mann seine volle Aufmerksamkeit zu widmen, während er gleichzeitig aus dem Augenwinkel Pettypeace’ neues Kleid begutachtete. Es war dunkelblau. Selbstverständlich war es dunkelblau. Sie trug ausschließlich Dunkelblau. Allerdings besaß er auch ein hervorragendes Gedächtnis und wusste, dass es, obwohl es nicht einmal die Vertiefung über ihrem Schlüsselbein enthüllte, zwei Knöpfe weniger hatte als ihre anderen Kleider, dass die bis zum Handgelenk reichenden Ärmel ein wenig enger saßen als sonst und dass die Turnüre kleiner war. Er fragte sich, wann sie die Zeit gehabt hatte, es anfertigen zu lassen, doch dann fiel ihm ein, dass sie ein Muster an Effizienz war. Einmal hatte er sie gefragt, warum sie nur Dunkelblau trug statt fröhlicherer Farben, und sie hatte umgehend Anstoß genommen. „Fragen Sie etwa Ihren Anwalt, warum er nicht in bunten Gehröcken herumstolziert wie ein Pfau?“

Selbstverständlich nicht. Es war ihm völlig egal, wie Beckwith herumlief, aber sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. Sie nahm ihre Arbeit ernst und trug nichts, das den Eindruck hätte vermitteln können, sie sei ein oberflächliches Wesen. Trotzdem, so dachte er, die gleiche Wirkung würde auch Jagdgrün erreichen, aber gleichzeitig den Grünton ihrer Augen – scharf blickender, intelligenter Augen – unterstreichen. Sie waren der Grund, weshalb er sie angestellt hatte.

Ein Dutzend Männer hatte sich um die ausgeschriebene Position beworben. Sie war die einzige Frau gewesen. Und die Einzige, die seinen Blick unverwandt erwidert hatte, ihm nicht ausgewichen, nicht zusammengezuckt war, selbst als sie gelogen hatte. Sie war so viel eine Pfarrerstochter wie er der Sohn eines Bettlers.

Er hatte die besten Ermittler, Detektive, Spione engagiert, und es war ihnen nicht gelungen, auch nur das Geringste über sie herauszufinden. Es schien, als habe sie nicht existiert bis zu dem Moment, da sie zum Bewerbungsgespräch in sein Arbeitszimmer getreten war.

Er mit seinem Scharfsinn, der Gewinnchancen zutreffend einzuschätzen vermochte, der bereit war, Verluste hinzunehmen, wenn sie langfristige Gewinne versprachen, der Risiken abzuwägen verstand, war ein beachtliches Wagnis eingegangen und hatte ihr die Stellung gegeben. Ohne mehr von ihr zu wissen als das, was sie ihm an jenem ersten Nachmittag mitgeteilt hatte. Und er hatte es nicht bereut.

Sie war ein Genie. Wahrscheinlich die intelligenteste Person, die er kannte. Auch das hatte sich im Blick ihrer smaragdfarbenen Augen gespiegelt.

Den sie im Moment auf ihren Notizblock gesenkt hielt, während Lancaster sprach. Sie hatte eine perfekte Handschrift, egal, wie schnell sie schrieb. Obwohl sie sich gerade eines Systems bediente, das unter dem Namen Pitman-Kurzschrift bekannt war, eine Reihe von Bögen, Schrägstrichen und Punkten, die King absolut nichts sagten, es aber auch nicht mussten. Sie pflegte ihre Aufzeichnungen zu transkribieren und ihm später vorzulegen. Zwar vergaß er nur selten etwas, zog es aber vor, auf eine Gedächtnisstütze zurückgreifen zu können. Außerdem entgingen ihr nicht die kleinsten Einzelheiten, die er mitunter übersah oder als unwichtig abtat – nur um später festzustellen, dass sie ausschlaggebend waren. Pettypeace und er waren ein fabelhaftes Gespann. Außer seinen drei besten Freunden aus der Studentenzeit in Oxford gab es niemanden, dem er mehr vertraute.

Dabei war er keineswegs sicher, dass sie das Gleiche von ihm behaupten würde. Warum sonst hätte sie ihm praktisch nichts von sich erzählen sollen, außer den wenigen Auskünften an jenem ersten Nachmittag? Zwar hatte er das Gefühl, sie genauso gut zu kennen wie sich selbst, aber die klaffenden Informationslücken über ihr Leben, die umso größer wurden, je mehr Zeit verging, konnte er nicht leugnen. Er sagte sich, dass ihre Vergangenheit unwichtig war. Sie tat, was man ihr auftrug, und sie erledigte es tadellos.

Abgesehen davon hatte sie das Recht, ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Immerhin war auch er verdammt gut in dieser Disziplin.

Trotzdem, manchmal fragte er sich …

Übergangslos wurde er sich der erwartungsvollen Stille im Raum bewusst. Völlig untypisch für ihn, hatte er aufgehört, konzentriert zuzuhören, wusste jedoch ungefähr, was Lancaster wollte. „Interessant. Ihre Erfindung würde Aufwecker überflüssig machen.“ Die Männer, die dafür bezahlt wurden, dass sie an die Fensterscheiben klopften, um Arbeiter zu früher Stunde aufzuwecken. Lancaster wirkte betroffen, fast als habe er die Folgen seiner Erfindung nicht bedacht. „So gesehen geht jeder Fortschritt damit einher, dass jemand etwas verliert. Denken Sie nur an die Eisenbahn. Kutschenfahrdienste werden seltener gebraucht, und die Gasthöfe an den viel befahrenen Straßen haben weniger Gäste. Aber anderswo bieten sich Gelegenheiten. Die Menschen gelangen schneller an die See, und die Badestädte erleben einen Aufschwung. Sie brauchen also eine Fabrik. Das ist es, was Sie von mir als Investor wollen, nehme ich an.“

„In der Tat, Euer Gnaden.“

„Ich werde darüber nachdenken, Mr. Lancaster, aber zuvor ein paar Nachforschungen anstellen. In etwa zwei Wochen treffen wir uns wieder in meinem Londoner Büro.“ Er zog dessen nüchtern geschäftsmäßige Atmosphäre vor, wenn Verhandlungen anstanden. „Bis dahin werde ich eine Antwort für Sie haben.“ Er erhob sich und reichte dem Mann, der ebenfalls aufstand, eine Karte. „Geben Sie Ihre Karte Miss Pettypeace. Sie wird sich wegen des Datums und der Zeit unserer nächsten Verabredung mit Ihnen in Verbindung setzen.“

„Ich danke Ihnen, Euer Gnaden.“

Lancaster eilte zu der Sekretärin und gab ihr seine Karte. Sie lächelte. „Gut gemacht, Sir.“

Ihre Reaktion gab King keinerlei Hinweis darauf, was sie wirklich dachte, denn sie sagte die gleichen Worte im gleichen aufmunternden Tonfall zu jedem, der ihm eine Geschäftsidee präsentierte, egal, wie abwegig oder lächerlich sie sein mochte. Beinahe so, als wisse sie, wie es war, niemals ermutigt zu werden, als wolle sie Hoffnung machen in einer Welt, in der es keine gab. Als Lancaster gegangen war, ließ King sich wieder in seinen Sessel fallen, suchte Pettypeace’ Blick und bereitete sich auf den schönsten Teil jedes Investitionsvorhabens vor. „Was denken Sie über die Sache, Pettypeace?“

Wie immer, wenn sie ihre ersten Eindrücke schilderte, nahm sie die Brille ab und massierte sich sanft den Nasenrücken. Einzelne blonde Haarsträhnen hatten es geschafft, dem strengen Knoten zu entkommen, und hingen ihr nun lose von den Schläfen herunter, streiften ihre Wange. Sie zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, weil es so gut wie nie etwas Ungebärdiges an ihr gab. Ein Umstand, der sie zu einer vorbildlichen Angestellten machte, doch plötzlich ertappte er sich bei der Frage, ob sie auch abends, wenn sie sich zurückzog, oder an ihren freien Tagen so sorgfältig zurechtgemacht war. War das, was er von ihr zu sehen bekam, nur eine Fassade oder handelte es sich um ihr wahres Selbst? Die absolute Sachlichkeit, die sie ausstrahlte, war ganz in seinem Sinne, doch gleichzeitig störte es ihn, dass er nicht einmal den Klang ihres Lachens kannte.

„Sie werden eine Möglichkeit finden müssen, die Apparate billig herzustellen. Diejenigen, die davon profitieren, werden nicht viel Geld ausgeben können für etwas, das die meisten zweifellos als einen Luxusgegenstand betrachten.“ Sie setzte die Brille wieder auf.

„Ganz meiner Meinung. Ich hatte ähnliche Gedankengänge.“ Er stützte den Ellbogen auf die Armlehne und das Kinn in die Hand, strich sich nachdenklich mit dem Finger über die Unterlippe. „In Frankreich habe ich schon einmal etwas Ähnliches gesehen, aber es ließ sich nur auf einen einzigen festen Zeitpunkt einstellen und machte einen Höllenlärm.“

„Wohingegen man die Klingel von Mr. Lancasters Erfindung für jeden beliebigen Zeitpunkt einstellen kann, sodass jemand, der nicht um halb sechs aufstehen muss, auch eine halbe Stunde länger schlafen kann.“

„Wann wären Sie jemals nicht zur vollen Stunde aufgestanden, Pettypeace? Wann hätten Sie je verschlafen?“

Ihre Mundwinkel bogen sich unmerklich nach oben. „Jedes Jahr am Weihnachtsmorgen schlafe ich aus, als Geschenk an mich selbst.“

Unwillkürlich zog sich sein Magen zusammen, so fest, dass es fast schmerzte. Davon hatte er nichts gewusst. Heiliger Himmel, wartete er so verzweifelt auf jedes winzige bisschen Information über sie, dass sein Körper reagierte, als wäre sie aufgesprungen und hätte sich nackt vor ihm ausgezogen? Oder lag es daran, dass die Vorstellung von ihr im Bett ihm so zusetzte? Das Bild von ihr, eingekuschelt in die Decken … wie sie aufwachte, sich streckte, daran dachte, dass es Weihnachten war, und sich auf die Seite drehte, um noch einmal einzuschlafen, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen? Oder war es das schlichte Geschenk, das sie sich selber machte, eine Erfahrung, die sie an jedem beliebigen anderen Tag des Jahres machen könnte, aber darauf verzichtete, weil es ihr, genau wie ihm, wichtig war, bedeutende Dinge zu vollbringen, gleichgültig, wie groß das persönliche Opfer war? Der Gedanke führte ihn zu einer weiteren Frage – was zum Teufel sie eigentlich antrieb.

„Sie sind zu streng mit sich, Pettypeace. Als Weihnachtsgeschenk sollten Sie sich etwas Extravagantes gönnen.“

„Die besten Geschenke kosten meist gar nichts.“ Sie lächelte gewinnend, als sei sie in Erinnerungen versunken, und er war versucht, sie zu fragen, was das beste Geschenk war, das sie je erhalten hatte. Der Teufel sollte ihn holen, aber er wollte tatsächlich wissen, wer es ihr gemacht hatte.

Alle Geschenke, die er ihr gemacht hatte, Gegenstände, die man einer Sekretärin schenkte, damit sie ihre Pflichten besser verrichten oder wenigstens mehr genießen konnte, zogen an seinem inneren Auge vorbei – einen vergoldeter Stift, ein Kristalltintenfass, das kleine Ledernotizbuch, das sie soeben benutzt hatte, und einiges andere. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie wirklich mochte, was ihr ein Lächeln auf das Gesicht zaubern würde, das ähnlich warmherzig war wie das, das sie Lancaster geschenkt hatte. Plötzlich erschien es ihm zwingend, ihr etwas zu schenken, auf das sie anders reagieren würde als mit den Worten: „Danke, Euer Gnaden, ich werde es einer nützlichen Verwendung zuführen.“

Er wollte ihr etwas schenken, das nicht im Mindesten nützlich war.

Abrupt senkten sich ihre Mundwinkel, sie setzte ihre geschäftsmäßige Miene wieder auf und erhob sich. Die Manieren, die man ihm von der Wiege an beigebracht hatte, zwangen ihn, ebenfalls aufzustehen, was er nicht getan hätte, wäre sie ein Angestellter gewesen, der ihm bei seinen Geschäften zuarbeitete.

„Ich übertrage die Notizen und bringe sie Ihnen heute Nachmittag. Soll ich Ihre üblichen Spürhunde beauftragen, sich Mr. Lancaster an die Fersen zu heften?“ Sie hielt die Visitenkarte des Mannes hoch.

King nickte. Es gab eine Menge Gründe, weshalb er Lancaster veranlasst hatte, seine Karte dazulassen, angefangen damit, dass einige der Männer, die er beschäftigte, in der Lage waren festzustellen, wo der Erfinder sie hatte drucken lassen.

„Unbedingt.“

„Wollen Sie Kaufpreise für Fabriken anfordern, um sie mit den Kosten für einen Neubau zu vergleichen?“

„Sie kennen mich wirklich gut, Pettypeace.“

Beinahe hätte sie gelächelt. Er sah, wie es um ihre Lippen zuckte.

„Sonst noch etwas, Euer Gnaden?“

„In der Tat. Heute Abend dinieren wir mit den Schachfiguren im Club.“

Wir, Sir?“

„Ich brauche Sie. Der Läufer will mir ein paar Ideen präsentieren, und ich möchte, dass Sie Notizen machen.“

„Aber im Club sind nur Herren erlaubt.“

„Ich habe einen Privatsalon mit einem privaten Eingang gemietet. Lassen Sie die Kutsche um halb sieben vorfahren.“

Sie nickte knapp. „Sehr wohl, Sir.“

Dann wandte sie sich zum Gehen.

„Pettypeace?“

Noch ehe sie sich ganz zu ihm umgedreht hatte, kam er bereits auf sie zu. Mit sechs weit ausgreifenden Schritten war er bei ihr. Sie hatte nicht annähernd so lange Beine wie er. Wie auch, bei einer Größe von etwas über einem Meter fünfzig? Vorsichtig berührte er die seidigen blonden Strähnen, die ihr an den Schläfen herunterhingen, und schob sie ihr aus dem Gesicht. „Wir tragen formelle Kleidung. Wenn Sie etwas haben, das weniger … bieder aussieht, zögern Sie nicht, es anzuziehen.“

Sie blinzelte, schluckte, nickte. „Aber es geht um Geschäftliches?“

„Selbstverständlich, ohne Frage.“

Sie strich sich über das Haar, lächelte. Warmherzig und strahlend. „Ehrlich gesagt, ich freue mich darauf, einen Herrenclub von innen zu sehen.“

Sie ging davon, und wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis, dass er, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Vermögen gezahlt hätte, nur damit sie nicht aufhörte, so verführerisch zu lächeln.

2. KAPITEL

Grundgütiger. Dinner im Club mit den Schachfiguren! Den Spitznamen hatten die Freunde des Dukes sich während ihrer Zeit in Oxford verdient, und er war ihnen bis heute erhalten geblieben. Sie waren berühmt für ihre Skrupellosigkeit und die Überlegenheit ihrer Strategien bei taktischen Investitionen und geschäftlichen Entscheidungen.

Penelope konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte schon vorher mit ihnen diniert, sowohl in der Stadtresidenz als auch auf dem herzoglichen Landgut. Aber im Club … ein beispielloses Ereignis. Niemand wurde der Zutritt zu diesem inneren Zirkel gestattet, und obgleich auch sie nicht dazugehörte, war sie ihm doch nahe, atmete dieselbe Luft. Die Schachfiguren. Selbst wenn sie nur als Sekretärin mit der speziellen Aufgabe, sich Notizen zu machen, dabei war, fühlte sie sich doch bevollmächtigt.

Was die formelle Kleidung anging, so fehlte sie in ihrer Garderobe. Für gewöhnlich verzehrte sie ihr Abendessen zusammen mit den Dienern, und bei den seltenen Gelegenheiten, da der Duke sie bat, ihm und seinen Gästen Gesellschaft zu leisten, handelte es sich ausschließlich um informelle Treffen. Selbst wenn die Dowager Duchess in der Stadt weilte und geruhte, Penelope beim Dinner dabeizuhaben, verstand es sich ohne Worte, dass die alte Dame sich großzügig zeigte und von der Sekretärin ihres Sohnes erwartete, dass sie wie eine Bedienstete auftrat. Daher trug Penelope bei diesen Gelegenheiten stets eins ihrer dunkelblauen Kleider.

Das einzige Kleidungsstück in ihrer Garderobe, das entfernt formell genannt werden konnte, war das hellgrüne Abendkleid, das sie bei dem Ball im vergangenen Jahr getragen hatte, um nicht allzu deplatziert zu wirken, wenn sie unter den Gästen umherschlenderte, um sich zu vergewissern, dass alles so ablief, wie es sollte. Das Kleid war sehr zurückhaltend mit dem viereckigen Ausschnitt, der nicht mehr als ihre Schlüsselbeine und ungefähr anderthalb Zoll Haut darunter enthüllte, ganz sicher jedoch nicht die Ansätze ihrer Brüste oder das Tal dazwischen und auch sonst keinen Hauch anrüchiger Körperpartien. Es hatte kurze Puffärmel, die ihre Schultern freigaben und nur einen schmalen Streifen ihrer Oberarme bedeckten, eine eher bescheidene Turnüre und einen Rock ohne Bordüren und Rüschen, dafür aber mit einer zusätzlichen Stoffdrapierung, die in mehreren Stufen bis zum Boden fiel. Was ihr Haar anging …

„Lucy, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Bemühungen schätze.“

Im Drehspiegel konnte Penelope das Zimmermädchen lächeln sehen. „Ach was, Miss Pettypeace. Es macht mir Spaß, Ihr Haar zu frisieren. Zumal es sich so wunderbar leicht zurechtmachen lässt. Wenn Sie wollten, würde ich es jeden Morgen tun.“

Nein, das wollte sie nicht. Lucy Smithers hatte genug Arbeit, wenn sie sich um all die Zimmer im oberen Stockwerk kümmerte. Selbst wenn nur eines belegt war, musste sie sicherstellen, dass auch in allen anderen Staub gewischt und gefegt wurde, sodass sie von einem Moment auf den anderen benutzt werden konnten. Trotzdem, als Penelope ihre Frisur im Spiegel begutachtete, die Art und Weise, wie Lucy das Haar aufgesteckt und zu Locken geformt hatte, die ihr den Rücken herunterrieselten, konnte sie nicht umhin, sich zu wünschen, dass sie nicht zu weiblich aussah, um ernst genommen zu werden. Der Perlenkamm, der die Nadeln verdeckte und alles an Ort und Stelle hielt, war ein hübscher Blickfang. Penelope hatte ihn für den Ball letztes Jahr erstanden – eine Extravaganz, die ihre Mutter gerne besessen hätte, daher hatte sich die Ausgabe als Andenken an die Verstorbene rechtfertigen lassen.

„Sie sehen nicht weniger schick aus als alle Damen, die ich kenne. Und ich würde mich nicht wundern, wenn der Duke seine Meinung hinsichtlich der Zeitungsanzeige ändert, sobald er Ihrer ansichtig wird.“

Das Herz trommelte Penelope so fest gegen die Rippen, dass sie sicher war, ihr Mieder im Spiegel pochen zu sehen. Sie trat an das Bett, griff nach den weißen Seidenhandschuhen, die sie dort abgelegt hatte, und streifte sie über. „Machen Sie sich nicht lächerlich. Er kommt aus einer zu vornehmen Familie, um sich mit einer Frau aus dem gemeinen Volk abzugeben.“ Zumal mit einer Geschichte wie ihrer.

„Das kann man nie wissen. Er wäre nicht der erste Duke, der so etwas tut.“

Wäre sie an ein Wettbuch herangekommen, sie hätte ihr Jahreseinkommen gewettet, dass er so etwas nicht tat. Im Gegensatz zu Lucy, die eine romantische Ader hatte, war Penelope fest in der Realität verankert. Genau wie Kingsland. Der Mann hatte keinen Sinn für Romantik. Sie wusste es, weil er jedes Mal, wenn er während seiner Werbung um Lady Kathryn Lambert verreist war, sie, Penelope, angewiesen hatte, der jungen Dame alle paar Tage Blumen oder sonst etwas zu schicken, damit sie wusste, dass er an sie dachte.

Mit anderen Worten, er hatte überhaupt nicht an sie gedacht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie musste eine Frau für ihn finden, die nicht klammerte, der man nicht ständig die Hand halten musste und die stark genug war, sich um sich selbst zu kümmern. Eine Frau mit eigenen Interessen, eigenen Zielen, die fähig war, sich die Rolle als Ehefrau des Duke of Kingsland anzueignen und darin aufzugehen. Eine unabhängige Frau, eine wie sie selbst, die ihren Wert nicht an dem Mann in ihrem Leben bemaß, sondern an dem, was sie erreichte. Bis hierher hatten die jungen Damen in ihren Bewerbungen Bücher aufgelistet, die sie gelesen hatten, Melodien, zu denen sie gerne tanzten, Musikinstrumente, die sie beherrschten. Dass sie einen Haushalt zu führen vermochten. Aber wie beurteilte man weibliche Stärken, die erst einmal nur Worte auf dem Papier waren? Möglicherweise würde sie sich mit den wirklich vielversprechenden Kandidatinnen treffen müssen.

Wenn die Frau, die sie wählte, seinen Antrag später ablehnte, war es ihr Versagen, auch wenn die Gesellschaft es ihm anlasten würde – und ein solches Ergebnis konnte sie nicht riskieren. Zwar schien ihm das Debakel im vergangenen Jahr nichts ausgemacht zu haben, doch der Duke of Kingsland war an Erfolg gewöhnt. Noch ein Fiasko, eines, das sie zu verantworten hatte, würde womöglich dazu führen, dass sie ihre Stellung verlor.

Andererseits, konnte sie weiter für ihn arbeiten, wenn sie ihn Tag ein, Tag aus und Nacht für Nacht bei einer anderen Frau wusste? Er war sehr diskret mit seinen Affären, so diskret, dass sie mitunter nicht einmal sicher war, ob er überhaupt welche hatte. Doch ein Mann, der so viril war wie er, hielt es sicher nicht lange aus, ohne seine erotischen Bedürfnisse zu befriedigen.

Sie nahm ihr Retikül, in dem sich ihr Notizbuch und ein Stift befanden. Das Kleid hatte keine Tasche, obwohl sie die Modistin gebeten hatte, zwei einzunähen. Doch die Frau hatte sich geweigert und behauptet, sie würden die Linie zerstören. Linien waren nicht so wichtig wie Taschen, aber Penelope hatte das Kleid gebraucht und keine Zeit gehabt, ein anderes schneidern zu lassen. Und da stand sie nun mit einem mängelbehafteten Kleid, warf einen letzten raschen Blick in den Spiegel und kam zu dem Schluss, dass sie ziemlich gut darin aussah.

„Wecken Sie mich, wenn Sie nach Hause kommen.“ Lucy begleitete sie in den Korridor. „Ich will genau wissen, wie Ihr Abend gewesen ist und wie es in der Spielhölle war. In allen Einzelheiten.“

„Es dauert sicher nicht so lange, dass Sie schon im Bett sind, wenn ich zurückkomme.“ Penelope ging die Treppe hinunter. Als sie die letzte Stufe erreichte, blieben zwei Lakaien, die auf dem Weg durch die Halle waren, stehen und grinsten sie blöde an. So als wäre sie nicht die Frau, die sie regelmäßig zurechtwies, weil sie so laut waren, dass sie sie in ihrem Büro hören und sich kaum konzentrieren konnte. „Fort mit Ihnen. Haben Sie nichts zu tun?“

„Sie sehen ziemlich umwerfend aus, Miss Pettypeace“, sagte der eine von ihnen – Harry.

Sie spürte, dass sie rot wurde, konnte sich nicht erinnern, wann ihr das zuletzt passiert war – möglicherweise an diesem Morgen, als der Duke ihr eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr geschoben hatte. So vertraulich war er noch nie geworden, und es hatte sie fast eine Stunde gekostet, bis sie wieder normal atmen konnte. „Danke, Harry.“

„Viel Spaß heute Abend.“

„Den werde ich haben.“

„Und denken Sie daran“, brachte Lucy sich in Erinnerung, „mich zu wecken und mir alles zu erzählen.“

„In Ordnung. Obwohl ich wahrscheinlich nichts Bedeutsames zu berichten habe.“ Immerhin war es nur ein Dinner, und sie sollte Notizen machen. Nichts, das von ihren ganz normalen Aufgaben abwich, außer dem Ort. Bei dem Gedanken grinste sie genauso dümmlich wie zuvor die beiden Lakaien. Sie würde einen Herrenclub besuchen.

King eilte die Treppe hinunter und war nicht im Mindesten überrascht, seine Sekretärin schon in der Halle stehen zu sehen. Pettypeace verspätete sich nie. Sie war wie ein frischer Wind, nachdem er einen Großteil seines Erwachsenenlebens damit verbracht hatte, seine Mutter zu bedienen, wann immer er sie irgendwohin begleitete. Die Dowager Duchess betrachtete Abfahrtszeiten als bloßen Vorschlag, nicht als in irgendeiner Weise verbindlich. Für Pettypeace dagegen war auch Pünktlichkeit eine Verpflichtung, die es zuverlässig einzuhalten und womöglich zu unterbieten galt. King hätte wetten können, dass sie bereits mehrere Minuten wartete, und er war hingerissen von der freudigen Aufregung, die sie ausstrahlte, einer Aufregung, die er, wie er sich erinnerte, selbst empfunden hatte, als er als junger Bursche im Begriff gewesen war, das erste Mal einen Herrenclub zu besuchen. Im nächsten Moment trat er vor sie hin und stellte fest, dass er recht gehabt hatte. Das Kleid brachte ihre Augenfarbe wunderbar zur Geltung.

Und noch mehr. Der helle Grünton ließ ihren Teint erstrahlen und ihr Haar aussehen wie aus Mondlicht gesponnen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass die Art, wie die seidigen Strähnen bis auf ein paar Locken, die ihr Gesicht umrahmten, zurückgekämmt waren, sie jünger wirken ließ, sorglos und unbeschwert. Es juckte ihn in den Fingern, die Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als an diesem Morgen.

„Pettypeace“, begrüßte er sie kurz angebunden und versuchte, nicht erkennen zu lassen, dass er es verdammt schwierig fand, sie in diesem Moment als seine Sekretärin zu sehen. Sein Butler, Keating, reichte ihm Hut und Spazierstock.

„Euer Gnaden“, grüßte sie sachlich zurück.

„Ihr Kleid gefällt mir. Grün steht Ihnen.“

Ihre Wangen röteten sich, erst das zweite Mal, seit sie für ihn arbeitete, in seiner Gegenwart. Er war nicht wirklich einverstanden damit, dass ihre Reaktion ihm so schmeichelte, auch nicht damit, dass es sie umso faszinierender erscheinen ließ. Erröten erschien ihm fehl am Platz bei einer so nüchternen Frau wie ihr. Was er ebenso wenig bei ihr kannte, war, dass ihr offenbar die Worte fehlten. Keine Meinung zu haben, sie nicht zum Ausdruck zu bringen war absolut untypisch für sie.

„Die Farbe ist nicht praktisch“, brachte sie schließlich zustande.

„Trotzdem.“ Er schlug einen unbeteiligten Ton an, in der Hoffnung, damit zum Ausdruck zu bringen, dass es sich um ein galantes, aber unbedeutendes Kompliment handelte, während er in Wahrheit weit größeren Gefallen an ihrem Anblick fand, als ihm zuträglich war. „Können wir?“

Keating eilte zur Tür und öffnete sie, und King folgte Pettypeace, die ihm vorausging. Unterwegs zog er sich die Handschuhe an.

„Sind Sie sicher, dass es Ihnen keine Schwierigkeiten einbringt, wenn Sie mich in den Herrenclub mitnehmen?“

Bilder von der Art der Schwierigkeiten, in die er geraten konnte, mit ihr zwischen zerwühlten Laken …

Energisch schob er seine unpassenden Gedanken beiseite. Sie war tabu für Bettgeschichten. Überhaupt wäre es tollkühn von ihm gewesen, irgendetwas zu tun, das dazu führte, dass sie ihre Stellung kündigte. Er würde nie wieder jemand so Fähigen finden wie sie. „Das möchte ich sehen, dass jemand Einwände erhebt gegen etwas, das ich tue.“

Sie lachte leise in sich hinein, zurückhaltend, und plötzlich meldete sich in ihm der Wunsch zu hören, wie sie lachte – schallend, aus voller Kehle. Ob sie je die Kontrolle verlor und sich gestattete, ganz und gar aus dem Bauch heraus zu lachen?

Kurz darauf saßen sie einander auf den ledergepolsterten Sitzbänken gegenüber, und die Kutsche fuhr los. Pettypeace musterte ihn. „Wie ich sehe, hat Ihr Kammerdiener Ihnen die Haare geschnitten.“

King nickte. „Auf Ihr Geheiß hin, wie er mich wissen ließ. Offenbar waren Sie zu dem Schluss gelangt, dass ich anfange, ein wenig zottelig auszusehen.“

„Wirklich nur ein wenig.“

„Was würde ich nur ohne Sie anfangen, Pettypeace?“

„Ich hoffe, Sie müssen es nie herausfinden.“

Das hoffte er ebenfalls, mehr als klug war. Was, wenn sie einen Bewunderer hatte? Was, wenn sie heiratete und ihr Ehemann nicht wollte, dass sie weiterarbeitete? Ob es jemanden gab, der ihr den Kopf verdreht hatte? Trug sie das grüne Kleid auch bei anderen Gelegenheiten? Bei Verabredungen mit einem Mann? Unvorstellbar, dass sie niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben sollte. „Ich glaube nicht, dass ich dieses Kleid kenne.“

„Ich habe es letztes Jahr bei dem Ball getragen.“

Tatsächlich? Sie war so gut darin, mit dem Hintergrund zu verschwimmen, Dinge unaufdringlich zu erledigen, wenig oder gar keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war leicht, sie zu übersehen, besonders wenn er mit anderen Dingen beschäftigt war. Sie schien es vorzuziehen, nicht aufzufallen, aber heute Abend war er außerstande, den Blick von ihr abzuwenden. „Aha. Aber lassen Sie uns lieber über den diesjährigen sprechen.“ Er sollte im August stattfinden, am letzten Abend der Saison. „Wie geht es mit den Vorbereitungen voran?“

„Glänzend. Ich glaube, der Ball wird sogar ein noch größerer Erfolg. Plant die Dowager Duchess zu kommen?“

„Das schon, aber ein paar Tage danach will sie mit Freunden auf den Kontinent reisen.“

„Ihre Mutter genießt das Reisen.“

King nickte. „Es macht sie glücklich. Und sie verdient alles Glück, das sie finden kann.“

„Sie verwöhnen sie.“

Jedenfalls versuchte er es. „Mein Vater hat sie nie geliebt. Und nachdem sie ihm einen Erben und einen zweiten Sohn geschenkt hatte, fand er keine Verwendung mehr für sie.“

„Wird man von Ihrer Ehefrau das Gleiche behaupten?“

„Bedauerlicherweise habe ich das Herz meines Vaters geerbt, mit anderen Worten, gar keines. Aber ich werde versuchen, sie stets meiner Wertschätzung zu versichern.“ Etwas, das sein Vater bei seiner Gemahlin nie getan hatte.

„Mit Blumen, Schmuck und Tand?“

„Mit teurem Schmuck. Diamanten und Perlen.“

Sie sah aus dem Fenster, und er hatte das Gefühl, dass seine Worte nicht gut angekommen waren. Er hatte eine merkwürdig aufrichtige Beziehung zu seiner Sekretärin und ihr nie etwas verschwiegen. „Sie sind nicht einverstanden.“

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Ich finde, sie wird sich glücklich schätzen können, Sie zu haben. Aber sich glücklich schätzen zu können bedeutet nicht unbedingt, dass man glücklich ist.“

Mit einem Mal wirkte sie traurig. „Sind Sie glücklich, Pettypeace?“

„Ich habe keinen Grund, es nicht zu sein.“

„Das ist keine Antwort.“

„Sicher, es gibt Zeiten, wenn ich mich nach mehr sehne … aber ich glaube, ich bin nicht ausersehen für diese Dinge.“

„Ich glaube, Sie können alles erreichen, was Sie sich vornehmen.“

Sie schenkte ihm ein vorsichtiges kleines Lächeln. „Ich weiß Ihren Glauben an mich zu schätzen.“

„Verdientermaßen. Ich wäre arm dran, wenn ich Sie nicht eingestellt hätte.“ Und ja, verdammt, dabei ging es nicht so sehr um seine Vermögensverhältnisse, sondern vielmehr um jene Bereicherung seines Lebens, die gar nicht zu messen war und Penelope Pettypeace einschloss. Wenn er von einer Geschäftsreise zurückkam, war sie da und versicherte ihm, dass sie alles im Griff hatte. Seine Sorgen und Nöte waren geringfügiger, wenn er sie am Steuer wusste und seiner fixen Idee folgen konnte, wiederaufzubauen, was sein Vater praktisch vernichtet hatte. Denn obwohl dieses Ziel längst erreicht war, machte er immer weiter, weil ihm das, was er wiederaufgebaut hatte, nie genug erschien.

Sie blickten beide aus dem Fenster, vielleicht, weil sie unversehens einen Weg betreten hatten, der ihnen nicht vertraut war und bei dem sie nicht wussten, wo er hinführte oder ob sie ihn überhaupt einschlagen sollten.

3. KAPITEL

In der Gesellschaft der Schachfiguren hatte Penelope sich von Anfang an wohlgefühlt. Kingsland saß zu ihrer Linken am Kopfende der Tafel, ihr gegenüber hatte der Turm Platz genommen, der Springer am Fußende des Tischs und der Läufer zu ihrer Rechten. Es waren allesamt attraktive Männer, aber es war die Klarheit ihres Geistes, die es ihr angetan hatte, die Art, wie sie Strategien entwarfen, die Zwanglosigkeit, mit der sie ihr Wissen teilten, das Mysterium, das sie umgab. Außer bei King hatte sie keine Ahnung, wo ihre Spitznamen herrührten oder wie ihre richtigen Namen lauteten. Bei dem Treffen mit ihnen pflegten sie einander mit dem Namen der Spielfigur anzusprechen, die jeder von ihnen darstellte. Was ihr nicht im Mindesten merkwürdig erschien. Im Gegenteil, es passte zu ihnen.

Sie genossen ihre zweite Flasche Bordeaux und wandten sich dem Fleischgang zu, Rinderfilet in brauner Soße. Am Küchenchef des Dodger’s Drawing Room jedenfalls gab es nichts auszusetzen.

„Hör mal, King, weißt du eigentlich, dass deine ehemalige Verlobte demnächst Mr. Griffith Stanwick heiraten wird?“, wandte der Springer sich an den Duke.

Die Raumtemperatur schien merklich zu sinken, und Penelope hielt den Atem an, während Kingsland sich ein Stück Fleisch abschnitt und die anderen Gentlemen nach ihren Weingläsern griffen, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Um es klar zu sagen, wir waren nicht verlobt. Ich habe ihr lediglich den Hof gemacht, und ich wünsche ihr nur das Beste.“

„Nun, die Möglichkeit hat sie eindeutig verpasst, oder etwa nicht, alter Junge?“ Der Turm zuckte mit den Schultern. „Immerhin hat sie dich abgewiesen.“

„Sie wäre mit mir nicht glücklich geworden.“

Der Springer wiegte nachdenklich den Kopf. „Wird das überhaupt einer Frau gelingen?“

„Wenn sie ihr Herz bei sich behält, sicher.“

Penelope nahm sich vor, das Thema anzusprechen, wenn sie die Bewerbungsgespräche mit den jungen Damen führte, und herauszufinden, ob das Herz der betreffenden Kandidatin jemand anderem gehörte. Andererseits, wenn Kingsland ohnehin kein Herz hatte, wie er behauptete, war es dann fair, von einer Frau zu verlangen, dass sie sich, selbst nur für kurze Zeit, die Freude des Verliebtseins verweigerte? Und wenn sie einen anderen liebte, hätte sie Kingsland dann überhaupt geschrieben? Ja, so befand Penelope, denn ein Titel, Prestige, Einfluss und Reichtum waren den meisten jungen Damen überaus wichtig und für einige weit wichtiger als Liebe. Wenn dann noch erdrückende Eltern hinzukamen, gab es keine andere Wahl. Widerstand konnten sich Frauen nur selten leisten, wie sie sehr gut wusste. Bedauern über das eine Mal, da sie selbst rebelliert hatte, stieg in ihr auf. Ihre Familie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt.

„Wie ich höre, hat Stanwick großen Erfolg mit seinem Etablissement“, schaltete der Läufer sich ein. „Kennen Sie den Club, Pettypeace?“

Es hatte ihr immer gefallen, dass die Freunde des Dukes, genau wie er selbst, die Anrede Miss fortließen und sie nur Pettypeace nannten. Es gab ihr das Gefühl, dass sie sie als ebenbürtig anerkannten, jedenfalls wenn es um den geschäftlichen Aspekt ihres Lebens ging. „Ich habe Gerüchte darüber gehört.“

Es war ein skandalöser Ort, an dem Unverheiratete beiderlei Geschlechts Gesellschaft für eine Nacht finden konnten. Anstandsdamen hatten keinen Zutritt. Frauen, die sich keine Sorgen um ihren Ruf machen mussten oder nicht auf eine Ehe hoffen konnten, zählten zu den regelmäßigen Gästen. Männer, die etwas anderes wollten als ein geschäftliches Arrangement, das in einem unpersönlichen fleischlichen Akt endete, verbrachten ihre Abende in dem Club.

„Sie sind nicht Mitglied?“

Penelope schüttelte den Kopf. „Wo denken Sie hin.“ Was nicht heißen sollte, dass sie nicht darüber nachgedacht hatte. Sie fragte sich, ob King und seine Freunde Mitglieder waren.

„Wie heißt er noch gleich?“ Mit dem Zeigefinger tippte der Turm sich an die Unterlippe.

„Fair Ladies’ and Spare Gentlemen’s Club“, erwiderte Kingsland stirnrunzelnd, als ginge ihm der Name gegen den Strich. „Erstgeborene Söhne, die einen Titel erben, haben keinen Zutritt. Erstgeborene Söhne von Bürgerlichen dagegen schon. Und es gibt Altersgrenzen bei Frauen. Sie müssen mindestens fünfundzwanzig sein, um Mitglied werden zu können.“

„Dann gehören sie ja fast schon zum alten Eisen“, sagte der Läufer halb zu sich selbst.

„Ich finde es unerhört, dass man Frauen in einem so jungen Alter praktisch aussteuert.“ Penelope holte Luft. „Bei Männern käme niemand auch nur auf die Idee.“

„Das sehe ich genauso“, ließ Kingsland sich neben ihr vernehmen. „Dabei werden Frauen doch erst interessant, wenn sie über ein wenig Erfahrung verfügen.“

Ihr Blick flog zu ihm, und sie stellte fest, dass er sie eingehend musterte und dabei mit Daumen und Zeigefinger sacht am Stiel seines Weinglases auf und ab strich. Es kostete sie Mühe, die Vorstellung zurückzudrängen, wie er sie mit dieser trägen Bewegung streichelte, wie er die Beschaffenheit ihrer Haut genoss, Teile davon seidiger fand als andere. „Interessant war kein Kriterium, das Sie mir bei Ihrer zukünftigen Ehefrau als zwingend erforderlich nannten.“

„Ist es nicht.“

„Dann brauche ich diejenigen nicht auszusortieren, die unerfahren sind.“

„Nein.“

„Allmächtiger.“ Der Läufer schüttelte den Kopf. „Soll das heißen, dass du die Aufgabe, eine Frau für dich zu finden, Pettypeace übergeben hast?“

Kingsland zuckte die Schultern, deren beeindruckende Breite die Götter ihm verliehen haben mussten, damit sie schwere Bürden tragen konnten. „Das letzte Mal habe ich es grandios vermasselt. Abgesehen davon fand ich die ganze Sache ermüdend, und der Grund, weswegen ich es so mache, ist doch, mir Scherereien zu ersparen.“

„Und darum überträgst du die Aufgabe einer Frau, die genauso geschickt darin ist wie wir, eine lohnende Investition zu erkennen?“

Sie war froh, dass sie keins ihrer zweckdienlichen Dienstkleider trug, denn bei der geschwellten Brust, die das Kompliment ihr verursachte, wären ihr vermutlich sämtliche Knöpfe an der Vorderleiste abgesprungen.

„Ich habe Pettypeace eingestellt, damit sie die unangenehmen Aufgaben erledigt.“

Der Läufer stieß ein ironisches Lachen aus. „Selber schuld“, murmelte er kaum hörbar und zwinkerte Penelope zu. „Sollten Sie irgendwann einmal Lust haben, eine Stellung anzutreten, die ausgesprochen angenehm ist, lassen Sie es mich wissen. Ich heuere Sie umgehend an.“

„Pettypeace gehört mir. Wenn du versuchst, sie mir abspenstig zu machen, bringe ich dich um.“

Ihr stockte der Atem, als sie die Drohung vernahm. Im ersten Moment dachte sie, dass Kingsland scherzte, doch die Anspannung in seiner Kieferpartie und das Pochen eines Muskels in seiner Wange belehrten sie eines Besseren.

„Nichts anderes würde ich erwarten“, erwiderte der Läufer lässig. Überrascht stellte Penelope fest, dass seine Hand nicht zitterte, als er, ohne den Blick von Kingsland zu lösen, sein Weinglas hob, beinahe so, als fordere er ihn heraus, sich auf der Stelle mit ihm zu prügeln.

Plötzlich lag Spannung in der Luft, die Männer veränderten ihre Haltung, räusperten sich, und Penelope glaubte die allgemeine Erwartung, dass die beiden Streithähne handgreiflich würden, förmlich mit Händen greifen zu können. Sollte sie versprechen, dass sie Kingsland nie verlassen, nie im Stich lassen würde? Doch noch während sie sich die Frage stellte, wusste sie, dass es gefährlich war, etwas zu geloben, über das die Schicksalsgötter lachen, das sie widerlegen würden. Denn wenn er je die Wahrheit über ihre Vergangenheit erfuhr … sie hielt den Gedanken nicht aus. Und wenn sie feststellte, dass sie mit der Qual, ihn mit seiner Ehefrau zu sehen, nicht leben konnte … jedenfalls würde sie nicht auf das Angebot des Läufers zurückkommen. Sie würde weit weg gehen müssen, irgendwohin, wo sie keine Gelegenheit hatte mit anzusehen, wie Kingsland in der Ehe, die sie für ihn arrangiert hatte, glücklich wurde.

„Aber du wolltest uns etwas über eine Investitionsmöglichkeit erzählen“, sagte der Springer in ihre Gedanken hinein. „War es nicht so, Läufer?“

„Ja, in der Tat, da gibt es etwas, das sich für uns vielleicht als genauso attraktiv erweisen könnte wie Pettypeace.“

Attraktiv? Sie? Er scherzte, denn sie war keine große Schönheit, aber seine Worte klangen freundlich, keineswegs so, als mache er sich über sie lustig, sondern als bewundere er sie. Penelope hoffte inständig, dass man die Röte, die ihr heiß in die Wangen schoss, dem Wein zuschreiben würde.

Sie drehte sich halb um, griff nach ihrem Retikül, das sie an die Stuhllehne gehängt hatte, und zog die Kordel auf. Dann angelte sie nach dem Notizbuch. Sie war im Begriff es herauszuziehen, als plötzlich Kingslands Hand auf ihrer landete und sie fast unter sich begrub mit ihrer Größe und unglaublichen Wärme. Die Empfindung war faszinierend, berauschend geradezu. Nie zuvor hatte er sie so fest berührt, und für eine gefühlte Ewigkeit starrte sie auf seine langen, kräftigen Finger, die glatt polierten Nägel, die hervortretenden Sehnen und Adern, in denen sich so viel körperliche Kraft widerspiegelte. Als sie mit ihrer Begutachtung fertig war und verblüfft den Blick hob, entdeckte sie, dass auch Kingsland ihre beiden miteinander verbundenen Hände betrachtete, als wisse er nicht recht, wie es dazu gekommen war. Aber vielleicht überlegte er nur, wie er sich am besten aus der Affäre zog, ohne zu viel Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

„Sie werden das Notizbuch nicht brauchen“, sagte er in einem gedämpften Flüstern, das er, wie sie vermutete, in Gegenwart seiner Geliebten benutzte.

„Ich dachte, Sie hätten mich mitgenommen, damit ich Notizen mache.“ Ihre Antwort klang atemlos und leise, und es erstaunte sie, wie viel Intimität auf einmal zwischen ihnen herrschte.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf, dann suchte er ihren Blick. In seinen Augen entdeckte sie eine Regung, die sie noch nie zuvor darin gesehen hatte: einen Anflug von Verwirrung. Und das bei diesem kühnen, starken Mann, der stets wusste, was er wollte, der seinen Weg kannte. Denn auch wenn er Wert auf ihre Meinung legte, so wusste sie doch, dass er nur höflich sein wollte und sonst nichts. Seine Entscheidung stand immer schon fest. „Es ist nicht nötig. Genießen Sie den Rest Ihres Dinners und konzentrieren Sie sich auf das, was er sagt. Ich bin sicher, Sie werden sich an alles erinnern.“

Langsam zog er seine Hand zurück, und sie fragte sich, warum sie sich so verwaist fühlte, als habe sie etwas Großartiges, Herrliches und Kostbares verloren, das sie nie wieder würde erlangen können. Am liebsten hätte sie ihre Hand ausgestreckt und sie wieder mit seiner verschränkt. Doch stattdessen ballte sie sie zur Faust und nickte knapp. „Ja, selbstverständlich, in Ordnung.“

Der Läufer begann von einem Bergwerk zu schwärmen, und ihr kamen Zweifel, ob sie in der Lage sein würde, auch nur ein einziges Wort von dem, was er sagte, im Gedächtnis zu behalten. Sie schien sich auf nichts konzentrieren zu können außer auf die wundervollen Empfindungen, als Kingsland ihre Hand mit seiner bedeckt hatte.

Es war das längste, endloseste Dinner, an dem er je teilgenommen hatte. Für gewöhnlich genoss King es sehr, Zeit mit seinen Freunden und mit Investoren zu verbringen und geschäftliche Möglichkeiten mit ihnen zu erörtern. Aber aus irgendeinem Grund konnte er die Schachfiguren an diesem Abend gar nicht schnell genug loswerden. Vielleicht wegen der Art, wie sie Pettypeace zum Lächeln brachten, oder dazu, leise zu lachen und Einblicke in ihre Gedanken zu geben. Nein, es war das verdammte Zwinkern des Läufers gewesen, so, als teile er ein Geheimnis mit ihr. Es hatte nicht viel gefehlt, und King wäre aufgesprungen, um sich auf ihn zu stürzen und ihm einen Schlag zu verpassen, der das verdammte Auge in ein Veilchen verwandelte.

Seine besitzergreifende Reaktion hatte ihn selbst verblüfft, und wie es schien, verschwand der Drang, auf etwas einzudreschen, nicht einfach so. In der Stadtresidenz nahm Pettypeace oft an Mahlzeiten mit seinen Freunden teil, und bei diesen Gelegenheiten wurde er nie aufbrausend. Warum es in seinem Club anders war, wusste er nicht zu sagen.

Für gewöhnlich setzten die Schachfiguren und er sich nach dem Dinner zu einer gemütlichen Runde zusammen und gönnten sich einen Port. Heute entschuldigte Kingsland sich und eskortierte Pettypeace zu der vor dem Gebäude wartenden Kutsche. Er half ihr beim Einsteigen, und als sie Platz genommen hatte, trat er zurück.

„Sie kommen nicht mit?“, fragte sie verwundert.

„Nein, es gibt da noch eine Sache, um die ich mich kümmern muss. Der Kutscher und der Lakai bringen Sie sicher nach Hause.“

„Soll ich die Kutsche zurückschicken?“

„Ich nehme eine Droschke.“

Es bereitete ihm Unbehagen, wie sie die Stirn runzelte und ihn forschend musterte, so, als habe sie das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei und als könne sie es entdecken, wenn sie nur lange und sorgfältig genug danach suchte. „Habe ich etwas getan, das Sie verärgert hat?“

Er schenkte ihr ein kleines und, wie er hoffte, aufmunterndes Lächeln. „Um Himmels willen, nein, nicht doch. Ich hätte Ihnen früher sagen sollen, dass ich nicht mit zurückfahre. Aber es ist alles in Ordnung.“

„Danke für die Einladung. Ich notiere, was ich über die Investitionsmöglichkeiten in die Zeche behalten habe.“

„Nicht nötig.“ Er hatte mit Erleichterung gerechnet, nicht damit, dass die Besorgnis in ihren Zügen sich vertiefte. „Diese Bergwerke interessieren mich nicht. Zumal nachdem der Läufer Ihnen zugezwinkert hat. Weil der Läufer die Frechheit besaß, Ihnen zuzuzwinkern.“ Was war bloß los mit ihm? Sonst gestattete er derart belanglosen Kleinigkeiten nie, seine Investitionsentscheidungen zu beeinflussen. Aber das verdammte Zwinkern kam ihm nicht wie eine belanglose Kleinigkeit vor.

„Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Nach dem, was wir gehört haben, sind die Erzvorkommen ziemlich erschöpft.“ 

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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