Das Tagebuch der Verführungen

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Höchst verführerisch - und ebenso gefährlich: Die schöne Niki hat die Macht, Sawyer Laytons Familie zu zerstören. Um ihr schnellstmöglich das Handwerk zu legen, verfolgt Sawyer sie bis in die Wildnis von Colorado. Dort hat sich Niki im Haus ihrer Brüder versteckt und sucht verzweifelt nach dem berüchtigten Tagebuch ihrer Mutter - dasselbe Tagebuch, hinter dem Sawyer her ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Sawyer muss das Buch finden, bevor es einen Skandal provozieren kann. Und bevor er komplett Nikis fataler erotischer Anziehungskraft verfällt …


  • Erscheinungstag 09.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775841
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

In der bedrückenden Stille des Krankenzimmers hielt Niki Gerard ihrer schlafenden Mutter die Hand.

Das Seabreeze Hospital in Washington war eine Luxusklinik, die sich auf reiche Privatpatienten spezialisiert hatte. Entsprechend edel sah das Krankenzimmer aus. Designermöbel ersetzten die sonst üblichen Billigstühle. Gegenüber vom Bett hing ein großer Flachbildschirm, über den man nicht nur fernsehen, sondern auch das Internet nutzen konnte. Die Wände waren nicht steril weiß, sondern in angenehmen Pastelltönen gestrichen, die Bilder Originale, keine Drucke.

Doch auch die geschmackvolle Einrichtung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was dieser Raum war: ein Krankenzimmer. Die schlafende Gabriella Gerard war an zahlreiche Überwachungsgeräte angeschlossen, und über einen Tropf erhielt sie ständig Morphium.

Sie wirkte abgemagert. Nicht dramatisch, sie lag nur etwa fünf Pfund unter ihrem Idealgewicht, aber ihre Tochter Niki hatte in den vergangenen zwei Wochen schmerzlich feststellen müssen, dass man es einem Menschen durchaus ansah, warum er an Gewicht verloren hatte. Ob durch Sport und eine gesunde Diät – oder durch eine kräftezehrende lebensbedrohliche Krankheit.

Ihre vierzigjährige Mutter war an einer äußerst seltenen und hochgefährlichen Virusinfektion erkrankt. Mit Mühe und Not hatte sie heftige Fieberschübe überstanden, aber ihr Herz hatte dadurch sehr gelitten. Insgesamt war sie sehr schwach.

Gabriellas Lider flatterten. Plötzlich öffnete sie die Augen.

„Niki?“ Sie wirkte verwirrt und verängstigt.

„Ich bin hier, Mom.“

Krampfhaft drückte Gabriella die Hand ihrer Tochter. „Du … musst gut auf dich aufpassen.“

„Ja, natürlich.“ Zärtlich strich Niki ihrer Mutter über den Arm. „Mach dir um mich keine Gedanken. Du brauchst deine Ruhe.“

Gabriella hob den Kopf etwas an und sah sich im Zimmer um. Dann flüsterte sie: „Du weißt, wo das Geld ist?“

„Ja, das hast du mir doch gestern schon gesagt. Es ist in der Schweiz.“

„Du … du wirst es brauchen.“

Niki wusste, welch großes Vermögen ihre Mutter allein im Inland besaß. Das allein würde reichen, um sie ein Leben lang zu versorgen. Wofür sollte sie denn noch mehr Geld benötigen?

„Wir müssen es noch einmal durchgehen“, forderte ihre Mutter mit schwacher Stimme. „Bitte …“

„Die Geheimzahl für das Konto?“, fragte Niki. „Na gut. Mein Geburtsdatum, dein Geburtsdatum und dann noch unsere Hausnummer.“ Eigentlich hatte sie gehofft, die erhöhten Morphiumgaben würden ihre Mutter ruhiger machen. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein.

„Sie dürfen es auf keinen Fall bekommen“, flüsterte Gabriella keuchend.

„Von wem redest du überhaupt?“

„Du darfst ihnen nicht trauen. Du darfst keinem von ihnen trauen.“

„Ganz ruhig, Mom, alles ist in bester Ordnung. Keiner kann an das Geld.“

„Es ist wirklich wichtig, Niki. Das Tagebuch ist deine einzige Chance. Es garantiert deine Sicherheit, es hält sie davon ab …“ Gabriella schien den Faden zu verlieren. „Wilton.“ Sie seufzte tief. „Himmel, ich wünschte …“

Das Tagebuch? Gabriella sorgte sich um ihr Tagebuch? Niki hatte es zwar nie zu Gesicht bekommen, aber sie wusste, dass ihre Mutter über viele Jahre eines geführt hatte. Sie hatte immer darüber gescherzt, dass es ungeheure Geheimnisse barg. Intime Details über die verheirateten Männer, die mit ihr eine Affäre gehabt hatten …

Kraftlos stemmte sich Gabriella in den Kissen hoch. „Sie wissen es. Zu viele Menschen wissen …“ Plötzlich schien eine Welle des Schmerzes sie zu durchströmen. Sie stieß einen Schrei aus und sackte aufs Laken zurück.

Niki sprang aus ihrem Stuhl auf. „Mom …“

„Sie dürfen auf keinen Fall das Tagebuch bekommen.“ Gabriella presste die Lippen zusammen und atmete schwer.

Niki bekam furchtbare Angst. Sofort drückte sie den Knopf, der die Krankenschwester alarmierte. „Mom, bitte …“

Gabriella riss die Augen weit auf, dann wurde ihr Blick plötzlich leer.

Niki hatte Tränen in den Augen. „Die Krankenschwester kommt gleich. Halt durch, Mom.“

Der Bildschirm des Herzüberwachungsgeräts, der eben noch wilde Zacken gezeigt hatte, präsentierte nun eine durchgehende gleichmäßige Linie.

In diesem Moment liefen zwei Schwestern ins Zimmer. Sie drängten Niki beiseite, um sich um ihre Mutter zu kümmern.

Niki nahm alles, was nun geschah, wie durch eine Nebelwand wahr. Ein Arzt kam, dann noch einer. Doch alle Wiederbelebungsversuche waren vergeblich. Dann wich die hektische Betriebsamkeit einer betroffenen Ruhe und Resignation. Einer der Ärzte zog Gabriella die Decke übers Gesicht, und eine der Krankenschwestern führte Niki auf den Gang und bat sie mit beruhigenden Worten, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Gabriella war tot. Nikis schöne temperamentvolle unbezähmbare lebenslustige Mutter war nicht mehr lebendig. Viel zu früh gestorben.

Niki fühlte eine bleierne Schwere in sich. Plötzlich bekam sie das Gefühl, als ob jemand sie beobachtete. Nur eine Person war im Gang, weit vorne bei den Glastüren. Ein Mann in einem Anzug. Als er sah, dass sie ihn bemerkt hatte, wandte er sich schnell um und verschwand.

Gabriellas Worte hallten in ihrem Kopf nach. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Ein Tagebuch voller Geheimnisse, Geld auf einem Schweizer Nummernkonto und unheimliche Unbekannte, die Gabriella immer nur „sie“ genannt hatte.

„Oh je, Mom“, murmelte Niki vor sich hin. „Was hast du nur angestellt?“

1. KAPITEL

Drei Monate später hatte Niki sich daran gewöhnt, mit einer Lüge zu leben. Das Schlimmste daran war nicht einmal die Angst, entdeckt zu werden. Nein, am unerträglichsten war es, dass sie sich inzwischen wünschte, dass die Lüge Wirklichkeit werden würde.

Das bemerkte sie zum ersten Mal, als Sawyer Smith im Ranch-Haus ihres Halbbruders erschien, wo gerade Bauarbeiten in vollem Gange waren.

Sawyer war eine imposante Erscheinung: gepflegter als die meisten Cowboys, gründlich rasiert, mit kurzem Haar. Er hatte breite Schultern und kräftige Hände und strahlte eine unnachahmliche Lässigkeit aus.

Niki kniete auf dem Holzfußboden, eine Bohrmaschine in der Hand. Ihre Jeans waren schmutzig, ihr T-Shirt verschwitzt, und sie hatte Sägemehl im Haar.

„Ich habe gestern das Raklin-Anwesen übernommen“, erzählte Sawyer stolz ihrem Halbbruder Reed. Mehr oder weniger heimlich beobachtete Niki die beiden. So attraktiv Reed auch war – Sawyer übertraf ihn. Er war ein wenig schlanker, offenbar trieb er viel Sport. Jede Modelagentur hätte ihn mit Kusshand genommen. Und seine dunkelblauen Augen waren einfach umwerfend.

„Na dann, willkommen in Lyndon Valley“, antwortete Reed freundlich und schüttelte Sawyer die Hand.

Sawyer warf einen Blick zu Niki herüber, und schnell wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Er brauchte ja nicht zu merken, dass sie ihn angestarrt hatte!

Normalerweise stand sie nur auf weltgewandte Männer, städtische Typen eben. Aber in letzter Zeit war viel passiert; sie hatte aus Washington fliehen und sich ins ländliche Colorado zurückziehen müssen, ins Gebiet der Rinderzüchter.

Und plötzlich fand sie Cowboys gar nicht mehr so unattraktiv …

Nicht, dass das eine Rolle spielen würde. Kein Mann würde sich für sie interessieren, solange sie so aussah wie jetzt.

In Washington hatte sie ihr blondes Haar lang getragen, immer perfekt frisiert. Sie hatte Kontaktlinsen gehabt und ihr Penthouse stets geschminkt verlassen, in elegantem Outfit. Sie war ins Theater gegangen und hatte in Sternerestaurants gespeist.

Ihre Mutter hatte ihr beigebracht: Wenn ein Mann nicht mindestens einen Mercedes oder Jaguar fuhr, konnte er genauso gut auf einem Fahrrad daherkommen. Er war dann eindeutig unter ihrer Würde.

Aber da war sie auch noch Niki Gerard gewesen.

Hier in Lyndon Valley war sie Nellie Cooper, die harmlose unauffällige Halbschwester von Reed und Caleb Terrell. Sie trug ihr Haar jetzt kurz und brünett gefärbt. Statt Kontaktlinsen besaß sie wieder eine Brille. Make-up hatte sie schon seit Wochen nicht mehr aufgelegt, und ihre Jeans hatten im Kramerladen in Lyndon City nicht mal zwanzig Dollar gekostet.

Niemand aus ihrem alten Leben hätte sie so erkannt. Aber genau das war ja der Sinn der Sache.

„He, Nellie“, rief Reed. „Komm doch mal. Ich möchte dir unseren neuen Nachbarn vorstellen.“

Eher widerwillig stand Niki auf. Ich muss ja ein prächtiges Bild abgegeben, schoss es ihr durch den Kopf. Verschwitzt und voller Sägemehl. Aber eigentlich ist das egal. Ich bin hier auf einer Baustelle, nicht auf einem Opernball.

Sawyer musterte sie interessiert.

„Das ist meine Schwester“, stellte Reed sie vor.

Sie kannten sich ja erst seit drei Monaten, aber Reed nannte sie nie Halbschwester, und sein Zwillingsbruder Caleb auch nicht. Sie war die neue Schwester, Punkt.

Nachdem ihre Verwandtschaft durch DNA-Tests nachgewiesen worden war, hatte Familie Terrell Niki mit offenen Armen willkommen geheißen. Ihre neu entdeckten Halbbrüder hatten sich als ehrliche und zuverlässige Männer erwiesen. Und mit jedem Tag, der verstrich, schmerzte es Niki mehr, sie angelogen zu haben.

„Hallo“, sagte sie, wischte sich die Hand an der Jeans ab und kam auf Sawyer zu. Ihr wurde ganz heiß. Ihre Hormone begannen, verrückt zu spielen!

„Sawyer Smith“, sagte er mit angenehm sonorer Stimme und streckte ihr die Hand entgegen.

„Nellie Cooper“, erwiderte sie und ergriff seine Hand. Sie fühlte sich warm und stark an.

„Ich habe gerade das Raklin-Anwesen gekauft“, erklärte er.

„Herzlich willkommen“, brachte Niki mühsam hervor. Ob er es auch spürte? Dieses … merkwürdige Gefühl der Anziehungskraft?

„Ist Ihre Familie schon lange hier ansässig?“, fragte er.

„Seit Ewigkeiten“, antwortete Reed. „Der Besitz geht auf viele, viele Generationen von Terrells zurück. Bis weit vor den Bürgerkrieg.“

„Wirklich beeindruckend“, kommentierte Sawyer ernsthaft.

„Wie sieht’s bei Ihnen aus?“, fragte Reed. „Stammen Sie auch aus Colorado?“

„Nein, ursprünglich aus Montana. Nach dem College war ich erst mal eine Zeit lang bei der Navy. Dienst fürs Vaterland. Und jetzt – na ja, man könnte sagen, ich kehre zu meinen Wurzeln zurück.“

„Landleben ist doch das einzig Wahre“, kommentierte Reed. In diesem Moment klingelte sein Telefon. „Kleinen Moment mal bitte.“ Er nahm das Handy ans Ohr, lauschte ein paar Sekunden, dann überzog ein breites Lächeln sein Gesicht. „Hallo, meine Süße.“

Aha, seine Frau Katrina ist dran, dachte Niki. In dieser Woche waren sowohl Reed als auch Caleb auf der Ranch in Lyndon Valley, was nicht sehr oft vorkam, denn beide hatten auch noch anderswo einen Wohnsitz.

Reed und seine Frau Katrina verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit in New York City, weil Katrina von Beruf Ballerina war. Calebs Frau Mandy war zwar in der Nähe aufgewachsen, aber Caleb hatte in Chicago ein Schwermaschinen-Unternehmen aufgebaut. Deshalb verbrachten die beiden ungefähr die Hälfte ihrer Zeit in Chicago, die andere im Lyndon Valley.

Es entging Niki nicht, dass Sawyer sie verstohlen musterte. Warum, das war ihr ein Rätsel. Sicher, in Washington, wenn sie geschminkt und gut gekleidet war, drehten sich die Männer nach ihr um. Aber hier, so wie sie jetzt rumlief? Vielleicht blickte er sie auch nur so an, weil sie Schmutz auf der Wange hatte.

Sawyer hingegen sah makellos aus. Seine Stiefel waren geputzt, und er trug ein weißes Westernhemd mit schwarzen Knöpfen. Der Stetson, den er auf dem Kopf trug, war zwar offensichtlich nicht mehr ganz neu, aber immer noch gut genug erhalten, um zum restlichen Outfit zu passen.

Reed steckte sein Handy wieder ein. „Das war meine Frau“, erklärte er Sawyer. „Sie kommt gleich nach Hause und bringt uns Zutaten für ein kräftiges Barbecue. Wollen Sie vielleicht noch bleiben und einen Happen mitessen?“

Sawyer nickte zustimmend. „Danke, da bin ich gerne dabei. Kann ich so lange noch irgendwo mit anpacken?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, krempelte er sich die Hemdsärmel hoch. Seine Arme waren muskulös. Ganz offensichtlich war er an harte körperliche Arbeit gewöhnt.

„Zu tun gibt es genug“, antwortete Reed. „Hinter dem Haus laden die Männer gerade Holz ab.“

„Gut, dann packe ich da mit an“, sagte Sawyer. Noch einmal warf er einen Blick auf Niki. „Freut mich, Sie kennengelernt zu haben.“

Als er verschwunden war, wandte Reed sich an Niki. „Du warst ja so still. Gefällt dir der Mann etwa?“

„Ich bin Fremden gegenüber immer etwas schüchtern“, erwiderte sie.

Reed lachte auf. „Und das soll ich dir abkaufen?“

„Natürlich.“

Sie konnte nur hoffen, dass Reed nicht weiter nachbohrte. Auf keinen Fall wollte sie zugeben, dass Sawyer ihr Blut in Wallung gebracht hatte. Das wäre zu erbärmlich. Denn was das Aussehen anging, spielte sie auf keinen Fall in seiner Liga.

Unwillkürlich zog sie einen Vergleich zu Katrina und Mandy. Ja, die Frauen ihrer Halbbrüder sahen wirklich gut aus, jede auf ihre Art. Katrina strahlte Eleganz und Glamour aus, Mandy war eine natürliche Schönheit, die selbst in Jeans und T-Shirt noch umwerfend wirkte.

Nellie Cooper hingegen war ein graues Mäuschen. Früher, als Niki Gerard, hatte sie genug Zeit und Geld gehabt, das Beste aus ihrem Aussehen zu machen. Schminke und teure Kleidung konnten so einiges bewirken. Doch ohne diese Zutaten blieb nicht allzu viel übrig.

Es war nicht besonders lustig, so unscheinbar auszusehen. Aber Nellie Cooper würde damit leben müssen. Denn sie durfte nicht riskieren, dass jemand zwischen ihr und Niki Gerard eine Verbindung herstellte!

Sawyer Layton konnte es kaum fassen, dass er Niki Gerard endlich gefunden hatte. Verglichen mit ihrem Foto sah sie wirklich völlig verändert aus!

Er ließ sich von den Männern ein paar Arbeitshandschuhe geben und half ihnen beim Holzabladen. Gleichzeitig dachte er über die neueste Wende der Ereignisse nach.

Niki nannte sich jetzt also Nellie. Es wunderte ihn nicht, dass sie sich einen anderen Namen zugelegt hatte. Aber wie sie wohl die Terrells überzeugt hatte, dass sie ihre Schwester war? Die Brüder waren wohl kaum in ihre Pläne eingeweiht. Schwer vorstellbar, dass sie mit ihr unter einer Decke steckten.

Auf jeden Fall war es ganz schön raffiniert, sich auf einer Ranch irgendwo in der Wildnis von Colorado zu verstecken. Dann noch eine alteingesessene Familie dazu zu bringen, sie ins Herz zu schließen und bei sich aufzunehmen – das war schon fast ein Geniestreich. Einfallsreich und dreist: Niki war ganz eindeutig die Tochter von Gabriella Gerard.

Einer der Männer pfiff anerkennend durch die Zähne, als er sah, wie viel Holz Sawyer sich auflud.

Genau wie Niki war auch Sawyer unter einer falschen Identität hier. Immerhin hatte er nicht gelogen, was das Nachbar-Grundstück anging – er hatte es tatsächlich gekauft.

Und es entsprach auch den Tatsachen, dass er aus Montana stammte. Immerhin war er dort zur Welt gekommen, wenn auch eher zufällig. Seine Eltern kamen eigentlich aus Washington, aber sie hatten gerade in Montana, auf der Ranch der Familie, Urlaub gemacht, als bei seiner Mutter die Wehen einsetzten. Später hatte er dort auch oft seine Ferien verbracht und dabei immerhin genug aufgeschnappt, um als Rancher durchgehen zu können.

Sawyer war in Washington aufgewachsen, zusammen mit einem Bruder, einer Schwester und unzähligen Cousins des Layton-Clans. Sein Bruder arbeitete als Jurist mit Fachgebiet Steuerrecht im Familienunternehmen. Seine Schwester war mit Miles Carter verlobt, einem jungen Kongressabgeordneten aus Delaware.

Sawyer selbst hatte Politikwissenschaften studiert und sich anschließend bei der Navy verpflichtet. Die Disziplin und Kameradschaft dort hatten ihm sehr imponiert. Es gab eindeutige und strenge Regeln: weiß war weiß und schwarz war schwarz.

Mit einem Ruck hob Sawyer noch eine Ladung Holz. Allmählich begann er zu schwitzen.

So wohl er sich auch bei der Navy gefühlt hatte – seine große Familie hatte ihn vermisst. Mit seinem Einfallsreichtum, seiner Risikobereitschaft und seinen breit gestreuten Talenten war er unverzichtbar, besonders, da viele Mitglieder der Familie Layton ein verhängnisvolles Talent dafür hatten, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Also hatte Sawyer seine Navy-Karriere aufgegeben, um der Familie zu helfen – mit vielen kleinen Tricksereien.

Er war gewissermaßen der Problemlöser der Laytons, zur Not auch der Privatdetektiv. Er hatte neugierige Reporter auf falsche Fährten gelockt, diskret Spielschulden beglichen und entfernte Verwandte in teuren Entzugskliniken untergebracht.

Aber das war alles nichts im Vergleich zu der Sache, die Gabriella Gerard betraf. Nach ihrem Tod – und dem darauffolgenden spurlosen Verschwinden ihrer Tochter Niki – war Sawyers Onkel, der Senator, in Panik geraten.

Onkel Charles hätte viel zu verlieren, wenn Gabriellas berüchtigtes Tagebuch ans Licht kommen würde. Dann würde nämlich die ganze Welt erfahren, dass er seine Frau betrogen hatte und obendrein – wenn auch unwissentlich – illegale Wahlkampfspenden entgegengenommen hatte.

Jeder wusste, dass Niki das Tagebuch hatte …

„Hallo“, sprach ihn plötzlich ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann an. „Mein Bruder hat mir erzählt, Sie seien neu hier …“

Sawyer setzte die Holzladung ab. „Sawyer Smith.“ Er zog die Arbeitshandschuhe aus, um seinem Gegenüber die Hand zu schütteln.

„Caleb Terrell.“

„Ihre Ranch gefällt mir wirklich sehr“, lobte Sawyer. Es gehörte zu seinem Plan, sich mit den Terrells anzufreunden. Niemand durfte ahnen, warum er wirklich hier war. Zum Glück hatte er genug Geld, um sich als Tarnung die Rinderfarm zuzulegen. Wenn alles vorbei war, würde er sie wieder verkaufen.

„Ja, es ist schön hier“, antwortete Caleb stolz. „Das Hauptgebäude ist weiter südlich den Fluss entlang. Aber Reed hatte schon lange vorgehabt, hier sein Haus zu bauen.“

Während die beiden sich unterhielten, tauchte Reed vor dem Haus auf. Er scherzte mit den Männern, die den großen Grill aufbauten, dann legte er seinen Arm um eine zierliche blonde Frau und gab ihr einen Kuss.

„Ist das seine Frau?“, fragte Sawyer.

„Ja, Katrina.“

„Haben die beiden denn viele Kinder, dass sie ein so großes Haus brauchen?“, fragte Sawyer, um die Unterhaltung nicht abreißen zu lassen.

„Noch haben sie überhaupt keins. Katrina ist von Beruf Tänzerin – deswegen dauert es wahrscheinlich auch noch ein Weilchen, bis sie an Nachwuchs denken.“

Sawyer hatte Nachforschungen angestellt und wusste daher alles über Katrina. Lustigerweise hatte er sie zufällig schon vorher ein paar Mal in New York City tanzen sehen. Seine Familie besaß eine Loge im Emperor’s Theatre.

Jetzt tauchte auch Niki vor dem Haus auf und half einem der Männer, die Klapptische aufzustellen. Sie war zierlich und etwa einen Meter sechzig groß. Sawyer wusste auch, dass sie einundzwanzig Jahre alt war und Kunst studierte.

Auf jedem Foto hatte sie umwerfend gut ausgesehen – glamourös wie eine Prinzessin. Dieser schöne Schein fehlte ihr hier, dennoch empfand er sie als außerordentlich attraktiv. Ohne das ganze Drumherum und mit dem brünetten Haar wirkte sie jünger, aber mindestens ebenso sexy.

„Ist nicht zu übersehen, dass Sie meine Schwester im Blick haben“, sagte Caleb. Er sagte das durchaus humorvoll und locker, aber ein warnender Unterton war nicht zu überhören.

„Tut mir leid.“ Sawyer rief sich innerlich zur Ordnung. Normalerweise war er hochprofessionell, wenn es um seine Arbeit ging. Er wusste selbst nicht, was heute mit ihm los war.

Caleb lachte auf. „Schon in Ordnung, sie ist nun mal ein schönes Kind. Sie sollten nur nicht vergessen, dass ihre Brüder immer ein wachsames Auge auf sie haben und sie vor allen Gefahren beschützen.“

„Ich werde es mir merken“, gab Sawyer knapp zurück.

Die Brüder machen sich wirklich völlig unnötig Sorgen, dachte er. Hier draußen wirkt Niki vielleicht süß und unschuldig, aber ich weiß ja, dass das nur Fassade ist. In Wirklichkeit ist sie genauso gefährlich wie ihre Mutter.

Gabriella Gerard war eine wunderschöne, aber auch raffinierte und berechnende Frau gewesen. Mit Charme und erotischer Ausstrahlung hatte sie die Männer um den Finger gewickelt – und zwar ausschließlich reiche mächtige Männer. Nicht, dass sie ein Callgirl gewesen wäre, aber sie hatte sich durchaus gerne von ihren Liebhabern beschenken und versorgen lassen.

Dabei ging es nicht nur um Dinge wie Kleider und Parfüms, sondern auch um heiße Börsentipps oder – und das war vielleicht das Wichtigste – Geheimnisse, die so mancher Mann in schwachen Stunden ausplauderte … Krampfhaft hielt sich das Gerücht, dass Gabriella all diese Dinge fein säuberlich in ihrem Tagebuch aufgeschrieben hatte. Darunter fiele dann sicherlich auch ihre Affäre mit Sawyers Onkel Charles und die Geschichte mit den illegalen Parteispenden.

Sawyer war hier, weil er das Tagebuch wollte, nicht mehr und nicht weniger. Um die durchaus attraktive Niki ging es ihm nicht, das war schon mal klar!

„Ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie verheiratet sind“, sagte Caleb.

Sawyer schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht verheiratet. Und ich habe auch keine Freundin. Ich bin Single.“

Caleb blickte ihn mitleidig an. „Wie schade.“

Das sah Sawyer anders. Er fühlte sich als Junggeselle ziemlich wohl. Außerdem waren Ehen in seiner Familie selten glücklich gewesen.

„Kommen Sie, ich stelle Ihnen meine Frau vor“, unterbrach Caleb seine Gedanken. Gemeinsam gingen sie zur Veranda, und Caleb steuerte zielstrebig auf eine Frau in Jeans und Karohemd zu. Sie trug ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hielt ein kleines Baby in den Armen.

„Ihr Kind, Caleb?“, fragte Sawyer.

„Das wollen wir doch wohl hoffen“, scherzte Caleb.

Sawyer musste grinsen.

Caleb stellte die beiden einander vor. „Glückwunsch zu dem Kleinen“, sagte Sawyer zu Mandy. „Wie alt ist er denn?“

„Drei Monate.“

Versonnen betrachtete Sawyer das Baby. Wie zart und zerbrechlich es wirkte! Er verstand einfach nicht, wie vernünftige Menschen so etwas Empfindliches in eine derart unsichere und gefährliche Welt setzen konnten. Machten sie sich gar keine Sorgen, was alles passieren könnte? Wie konnten sie bei einer derartigen Verantwortung nachts überhaupt in den Schlaf finden?

Wobei Lyndon Valley ja noch relativ sicher war. Kein Vergleich mit den Gefahren der Großstädte! Obendrein waren Caleb und Mandy sicherlich hervorragende Eltern, herzensgut und fürsorglich.

Eigentlich war es ganz schön übel, solche offenen und freundlichen Leute anzulügen! Sawyer konnte mit den Schuldgefühlen leben, weil er als Problemlöser der Familie unterwegs war, da gehörte ein gewisses Maß Tricksen und Täuschen dazu. Aber Niki – ob die sich gar nicht schämte? Wahrscheinlich war sie wirklich genau wie ihre Mutter: eiskalt.

Unwillkürlich hielt er nach ihr Ausschau. Als er sie entdeckte, stellte er fest, dass sie ihn genau beobachtete. Dann wandte sie den Blick – fast schuldbewusst – wieder ab. Ein ungeheuerlicher Verdacht stieg in ihm auf: Konnte es sein, dass sie ihn schon durchschaut hatte? Dass sie bereits genau wusste, wer er war und warum er hier war? Konnte sie so gut schauspielern? Soviel zumindest stand fest: Er durfte kein Risiko eingehen.

„Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?“, sagte er zu Caleb und Mandy. Er wollte zu Niki, die sich mittlerweile von den anderen entfernt hatte und auf die kleine weiße Brücke am Bach zuging. Er musste noch einmal mit ihr reden und ihr diskret auf den Zahn fühlen. Wenn sie auch nur den Verdacht hatte, dass er ein Layton war, würde sie sich aus dem Staub machen, sobald er ihr den Rücken zuwendete.

Versonnen blickte Niki auf den Bach, der munter vor sich hin sprudelte. Ein Vierteljahr war sie jetzt hier, in dieser Ruhe und Idylle, und die Erinnerungen an Washington begannen bereits zu verblassen.

Trotzdem fühlte sie sich unwohl. Und zwar, weil sie hier nicht sie selbst sein durfte. Sie war nicht Nellie Cooper. Sie war Niki Gerard, Tochter der berüchtigten Gabriella Gerard.

Dass sie den Vater mit Caleb und Reed gemeinsam hatte, war nur ein Zufall. Ihre reale Welt war doch so ganz anders als das Leben der beiden Brüder. Inzwischen hatte sie begriffen, dass es falsch gewesen war, mit ihren Problemen hier aufzutauchen. Sie wünschte, sie würde die beiden nicht so sehr mögen. Auch Mandy und Katrina waren immer so liebevoll zu ihr gewesen …

Wenn sie das Tagebuch ihrer Mutter gefunden hätte, wäre sie wahrscheinlich auch nie hier aufgetaucht. Aber keine Spur von dem verflixten Ding! Dabei hatte sie Gabriellas Penthouse ganz gründlich durchsucht, hatte geheime Schließfächer aufgestöbert. Aufgetaucht waren Wertsachen zuhauf – aber kein Tagebuch. Sogar den Computer ihrer Mutter hatte Niki von einem IT-Spezialisten durchforsten lassen, für den Fall, dass die Eintragungen nur elektronisch existierten. Aber auch hier: kein Erfolg.

Sie wünschte, sie könnte die Aufzeichnungen ihrer Mutter lesen und wüsste wenigstens, gegen wen sie sich zur Wehr zu setzen hatte.

„Schöner Ausblick“, hörte sie plötzlich eine männlich-markante Stimme hinter sich. Es rieselte ihr heiß den Rücken herunter.

„Ja, ja, es ist wirklich schön hier“, bestätigte sie und hoffte, Sawyer würde seinen Spaziergang fortsetzen. Doch er blieb neben ihr stehen.

„Haben Sie gar keinen Hunger?“, fragte er freundlich.

Es duftete schon verlockend nach Hamburgern und Steaks. Ihr Magen knurrte. „Doch, ich könnte jetzt einen Happen vertragen“, gab sie zu. „Ich komme gleich.“

Er schwieg einen Augenblick lang. Dann fragte er: „Das wird also Reeds Haus?“

Niki nickte.

„Ganz schön groß für nur zwei Leute“, kommentierte Sawyer.

„Es soll ja noch Nachwuchs geben. Reed wünscht sich vier Kinder.“

„Vier?“, fragte Sawyer überrascht.

„Ich glaube, er hätte sogar gerne noch mehr, wenn Katrina damit einverstanden wäre.“

„Und Sie? Was ist mit Ihnen?“

Die indiskrete Frage überraschte sie. „Oh, an Kinder habe ich bisher wirklich noch nicht gedacht.“

Selbst wenn die Gefahr vorüber sein und sie in ihr wahres Leben zurückkehren würde – sie hatte große Zweifel, ob sie zur Mutter geboren war. Ihre eigene Mutter hatte jedenfalls nicht gerade ein gutes Vorbild abgegeben.

Gabriella war erst achtzehn gewesen, als sie Niki bekommen hatte. Sie waren mehr wie Freundinnen gewesen, kaum wie Mutter und Tochter. Zweifellos hatte Niki in Kindheit und Jugend viel Aufregendes erlebt, aber oft hätte sie der Hektik und dem Chaos eine normale, ruhige Kindheit vorgezogen.

Autor

Barbara Dunlop
<p>Barbara Dunlop hat sich mit ihren humorvollen Romances einen großen Namen gemacht. Schon als kleines Mädchen dachte sie sich liebend gern Geschichten aus, doch wegen mangelnder Nachfrage blieb es stets bei einer Auflage von einem Exemplar. Das änderte sich, als sie ihr erstes Manuskript verkaufte: Mittlerweile haben die Romane von...
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